GRABSCHRIFT FÜR KARL KRAUS
Verwegenster der Kämpfer ohne Gnade,
Verlorener Rufer in der Mächte Streit,
Verratener Posten auf der Barrikade:
Um einen Beistrich rechtend mit der Zeit!
Zwei Süchten verschrieben,
Die nie von dir lassen:
Die Menschen zu lieben,
Die Leute zu hassen!
Im Jahre 1865 schrieb der Klassiker des Wiener Feuilletons, Ferdinand Kürnberger, auf Ersuchen des heute weniger in die Literaturgeschichte als in die Sexualpathologie eingegangenen ostgalizischen Erzählers Leopold von Sacher-Masoch zu dessen Geschichte aus dem kleinrussischen Milieu „Don Juan von Kolomea“ eine Vorrede, in der sich deutschnationale Denkungsart des Deutschösterreichers und Ärger über die Versandung der zentraleuropäischen deutschsprachigen Literatur derart innig verquicken, daß sie nicht voneinander getrennt werden können. Man möge uns daher nicht des literarischen Kolonialismus verdächtigen, wenn wir ihn zitieren. Er spricht in dieser Vorrede seine Erwartung aus, die unter einem Übermaß an Reflexion krankende und aus diesem Grund der ursprünglichen Sinnlichkeit verlustig gegangene deutsche Literatur könne dadurch ihr Heil erlangen, daß sie „ganz neue östliche Längengrade sich erobert, daß sie ganz neue frische Naturvölker sich annektiert, welche bisher nicht deutsch geschrieben, welche aber im Laufe der Geschichte mehr und mehr es zu tun anfingen“.
Wir sähen einen großen, befruchtenden Strom von Sensualismus gegen das alte, büchergedüngte Deutschland sich in Bewegung setzen. Wir sähen von den Prärien der Weichsel und von den Waldgebirgen des Dnjester deutsche Dichter auferstehen, neue erdgeborne Menschen, welche nicht Bücher aus Büchern machen, sondern Bücher aus der Natur. Ihre ,Quellen‘ sind nicht dumpfe Stadtbibliotheken, sondern die wirklichen Quellen in Feld und Wald… Wir hätten eine Poesie zu hoffen aus einem Naturland, nicht aus einem Beamtenland.
Und weiter, noch schärfer:
Sollen hysterische Blaustrümpfe und gedankenblasse Kandidaten, christbaumaufputzende Goldschnittdichter und Manufakturisten der Leihbibliothek, oder gar poetasternde Menagerien der Höfe (wenn diese zu bestehen fortfahren) den Dichtergarten Deutschlands in Blüte erhalten? Welche Gärtner! Sitzende Menschen, bedürftig der Wasserkur. O, es wäre ein schöner Gedanke, wenn uns… statt der zersungenen Rebe des Rheins, welche von Literatenlippen hinweg in exklusiv fürstliche Keller fließt, die demokratische Traube des Pruth unsere welken Ziegenschläuche füllte, wenn statt des kurz und klein durchforsteten Schwarzwalds das unberührte Urwaldstand der freien Huzulen seine Dorfgeschichten erzählte;… wenn der Fruchtgarten von Kolomea seine Duftwolken aufwirbelte und von dem Schneegipfel der Tschernahora die laubschweren Waldgürtel und honigtriefenden Wiesenhänge der Karpaten herab bis in die italisch sonnigen Talbreiten seiner Obst-, Wein- und Melonenfülle das erbliche Wohlbefinden der deutschen Buchpoesie zuströmte! Es wäre ein schöner Gedanke, von allen deutschen Träumen vielleicht der schönste, weil am wenigsten – Traum.
Läßt man aus heutiger Sicht den Blick über die literarische Produktion auf dem Boden dieses schwärmerisch angekündigten Literaturbezirks schweifen, so muß man sich fragen, was den sonst wohl eher zu Skepsis als zu vorschneller Begeisterung neigenden streitbaren, erzklugen und weitblickenden Publizisten zu solch enthusiastischer Äußerung bewogen haben könnte? Denn Sacher-Masochs „Don Juan von Kolomea“ und die eine oder andere Erzählung aus desselben Autors Novellenbuch Das Vermächtnis Kains – an Turgenjew geschulte kräftige realistische Prosa, atmosphäregesättigt, von Lokalkolorit durchtränkt, doch mitunter arg gefährdet durch eine Neigung zum Knallig-Effektvollen und in der Sprache oft unsicher und hektisch übertrieben – blieben recht lange Zeit eine einsame Blüte auf diesem gärenden Erdreich. Der Sohn des Lemberger (Lemberg heute Lwow) Polizeichefs Sacher-Masoch ging sehr bald von der realistischen Darstellung ostgalizischer Verhältnisse zur pikanten Behandlung erotischer Perversionen über, die seinen Namen verewigten, und weitere zehn Jahre mußten ins Land gehn, bis Karl Emil Franzos mit dem ersten Band seiner packenden Schilderungen aus dieser östlichen Welt und seinen ersten Ghettogeschichten aus, Galizien, Die Juden von Barnow, an die Öffentlichkeit trat. Dies war nun ein von gesellschaftlichen Anliegen bedrängter handfester Erzähler und scharfer, kritischer Beobachter, dank dessen Erzählergabe diese noch immer als exotisch empfundene Welt mit ihren Licht- und Schattenseiten zu dichtem, greifbaren Leben erstand. Doch auch er ragt noch recht vereinzelt aus all dem Mittelmäßigen hervor, das hier vor der Jahrhundertwende, seltener in Bänden, meist in Kalendern, Almanachen und Zeitungen, an Erzählungen und Gedichten in Erscheinung trat. Die Erzählung des in der Bukowina heimisch gewordenen Mähren Ernst Rudolf Neubauer (in der Sammlung Erzählungen aus der Bukowina schon 1868 gesammelt erschienen) und des aus Czernowitz gebürtigen Ludwig Adolf Simiginowicz-Staufe blieben, der Wahrheit die Ehre, ebenso unter dem Durchschnitt wie der weitaus größere Teil ihrer mehr oder weniger gewandten Reime, und was sonst in jenen Jahren in der Bukowina an Versen erschien, stand zumeist unter dem erdrückenden Einfluß von Heines „Jungen Leiden“ – so die epigonalen lyrischen Gefühlsergüsse und sprachlich dürftigen Selbstbespiegelungen eines Gustav Adolf Nadler, Johann Kaufmann, Isidor Friedrich Sauerquell, Moritz Amster oder der deutsch dichtenden rumänischen Brüder Janko und Theodor von Lupul – oder strebte, wie die Balladen eines Johann Kunz und Viktor Umlauff, den Vorbildern Uhland und Anastasius Grün nach. Die Erstarkung des Nationalbewußtseins der sich unter der Habsburgerdynastie unterdrückt fühlenden Völker hatte zugleich dazu geführt, daß ukrainische Dichter der Bukowina, wie Alexander Popowicz, Isidor Worobkiewicz und vor allem Osyp Jury Fedkowicz, die anfänglich deutsch schrieben, sich sehr bald erfolgreicher der Dichtung in ukrainischer Sprache zuwandten. (Fedkowiczs deutsche Gedichte erschienen 1889 anonym im Versband Am Tscheremosch. Lieder eines Uzulen; Alexander Popowicz veröffentlichte seine deutschen Gedichte unter dem Decknamen „Waldburg“.) Soweit die Bukowina. Was indessen Ostgalizien betrifft, so blieb die deutschsprachige Literatur dieses Gebietes jahrzehntelang auf Sacher-Masoch, der mittlerweile nach Graz gezogen war, und auf Karl Emil Franzos beschränkt, der schon als Kind nach Czernowitz kam, wo er Eminescus Mitschüler wurde, und von da den Weg nach Wien und Berlin und zu weltweiter Anerkennung fand. Dem Beobachter bietet sich also zunächst ein im ganzen recht kümmerliches Bild, und viele Jahrzehnte mußten wieder verstreichen, bis Kürnbergers mit so viel Schwung, Begeisterung und Zuversicht in das Zeitendunkel der platten Butzenscheiben-, Gartenlauben- und Makartwelt geschmetterte Wunschtraum-Prophezeiung ihre Erfüllung finden sollte. Karl Emil Franzos’, des bedeutenden Wegbereiters erzählerisches Schaffen fällt vorwiegend in die siebziger und achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts; was in der langen Zeitspanne zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausgang des Ersten Weltkriegs auf Podoliens Boden in deutscher Sprache entstand oder anderswo von Söhnen dieser Landschaft geschaffen wurde, ist kaum nennenswert. Fast genügt ein kurzer Hinweis auf den als Erzähler von Dorfskizzen nicht unbegabten, früh verstorbenen Bukowiner Journalisten Michael Sawka, auf den galizischen Schilderer kleinrussischer Dorfverhältnisse Hanns Weber-Lutkow, den aus Mähren stammenden Verfasser galizischer Sittenbilder Anton Smital, den deutschschreibenden Rumänen Ionel Kalinczuk, der heimatliche Stoffe in der Versmanier eines Julius Wolff behandelte, vielleicht auch noch auf den Verfasser Bukowiner Ghettogeschichten Karl Klüger und den Meister der humoristischen Czernowitzer Lokalskizze Franz Porubsky. Sie alle beanspruchen mehr stoffliches Interesse, als daß sie durch die künstlerische Behandlung des Stoffs aus dem mittelmäßigen Tagesschrieb hervorstächen. Den einzigen hier zu nennenden Roman, Die Königin von Saba, ein seinerzeit vielumstrittenes, später nicht wiederaufgelegtes Buch, das mit den Mitteln psychologischer Instrospektion Probleme der Frauenemanzipation im Kleinstadtmilieu behandelt haben soll, schrieb eine Frau, die Radautzerin Regine Goldschläger. Es blieb ohne Nachfolge. (Raimund Friedrich Kaindls Geschichtsromane Die Töchter des Erbvogts und Lose der Liebe erschienen bereits in späterer Zeit.)
Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des österreichisch-ungarischen Vielvölkerkonglomerats, also sechs Jahrzehnte nachdem Kürnberger seine Prophezeiung ausgesprochen hatte, erhob sich der geographische Raum, der zuvor den äußersten Ostwinkel Kakaniens gebildet hatte, zu einem beachtlichen literarischen Eigenleben. Joseph Roth war es, der große Erzähler und unerreichte Chronist von Kakaniens Zusammenbruch, der zum „raunenden Beschwörer“ der Kräfte dieses blutgedüngten Bodens wurde. Wohl war er bestrebt, in seinem Erzählwerk ein Panorama des gesamten untergangsgeweihten Österreich zu bieten, doch nahm darin das Leben der Menschen seiner engeren Heimat eine bevorzugte Stelle ein. Erbe und Umwelt seiner Kindheit im österreichisch-russischen Grenzgebiet Ostgaliziens – einschließlich der in Hitlers Gasöfen in Rauch aufgegangenen chassidischen Welt – haben das Schaffen des bei Brody geborenen Dichters geprägt und befruchtet, wenn er auch nach dem Krieg nie mehr dahin zurückgekehrt ist und als politischer Emigrant in Paris in tragischer Vereinsamung frühzeitig sein Leben beschloß.
Joseph Roth, der Epiker, Alfred Margul-Sperber, der Lyriker – sie waren es wohl vor allem, die die Berechtigung von Kürnbergers verfrühter Wunschvorstellung in glänzender Weise bestätigten. In beider Werk leben Podoliens Landschaft, Podoliens Geist unvergänglich fort. Wenn jedoch Roths Werk die allerdings eminente Bedeutung eines tragisch getönten Abgesangs auf eine versinkende Welt, die Donaumonarchie, zukommt, steht Sperbers Schaffen an der Kehre zweier geschichtlicher Epochen. Ihm, der gleich dem nur um vier Jahre älteren Roth durch die Feuertaufe des Ersten Weltkriegs hindurchmußte, war es vergönnt, auch noch den Zweiten Weltkrieg zu überleben und im sozialistischen Rumänien seine zweite Heimat zu finden, ihr Sänger zu werden. Daß er nach Jahren des Umherirrens in der Fremde als Gescheiterter zu den Buchenwäldern seiner östlichen Heimat zurückfand, bewahrte ihn vor dem Verstummen, verlieh seiner Dichtung eine neue verheißungsvolle Perspektive.
„Ich heiße Alfred Sperber, bin 23 Jahre alt, verkrachter Jurist, in Storožynetz geboren, kleiner Stadt der Bukowina inmitten roter Buchenwälder und wilder Bauern, von denen Europa nichts weiß…“ heißt es in einem „Letzte Folgerung“ überschriebenen Gedicht aus dem während seiner Wanderjahre entstandenen expressionistischen Zyklus „Große Psalmen“. Als Alfred Sperber am 23. September 1898 in Storožynetz geboren wurde, zählte dieses am linken Serethufer gelegene Städtchen, damals noch Marktflecken und Sitz der k. und k. Bezirkshauptmannschaft gleichen Namens, an die sechstausend Einwohner. Rumänen, Deutsche, Ruthenen und Juden, deren es dreitausend in der Ortschaft gab, lebten hier in vorbildlicher Eintracht zusammen. (Vierzig Jahre später allerdings fielen Hunderte jüdischer Bürger, darunter auch die Schwiegereltern und eine Schwägerin des Dichters, einem blutigen Gemetzel zum Opfer.) Der Dichter entstammte einer seit zwei Jahrhunderten in der Bukowina nachweisbaren, seit langem deutsch assimilierten jüdischen Familie, aus der zahlreiche in intellektuellen Berufen tätige verdienstvolle Persönlichkeiten hervorgegangen sind. Der Vater, Isidor Sperber, arbeitete als Buchhalter in der Verwaltung der bei Storožynetz gelegenen Gutsdomäne Flondoreni; die Mutter, die aus einer verarmten Familie stammte, hatte sich noch als junges Mädchen aus eigener Kraft zu einer angesehenen und beliebten Klavierlehrerin emporgearbeitet und trug, indem sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend tagein, tagaus Klavierstunden gab, unermüdlich zur Bestreitung der bescheidenen Lebenshaltung der kleinen Familie bei, zugleich um die sorgfältige Erziehung ihrer beiden Kinder bemüht, des künftigen Dichters und seiner jüngeren Schwester Irma. Zum Gedenken an seine Mutter, die mit dem biblischen Vornamen Margula (Margarete) hieß, legte sich der Dichter in späteren Jahren das Pseudonym „Margul-Sperber“ bei. Einen ganz außerordentlichen Einfluß auf die geistige Entwicklung des Knaben übte seine Tante Guga Erlich aus, die, Lehrerin von Beruf, das Interesse des Knaben für die Dichtung weckte und ihm auch die ersten Bücher lieh. Die Familie Flondor, in deren Diensten der Vater des Dichters stand, spielte in der Geschichte des Bukowiner Rumänentums eine hervorragende Rolle. Iancu Flondor, der Brotherr des Vaters, stand zur Zeit der österreichischen Herrschaft an der Spitze des Kampfes um die Vereinigung der Bukowina mit Rumänien und wurde nach deren Verwirklichung im Jahre 1918 der erste Minister für die Bukowina. Ein frühverstorbener Bruder Iancu Flondors, Tudor Flondor, war ein bekannter rumänischer Komponist und hat sich besonders durch die Vertonung von Gedichten Mihai Eminescus einen Namen gemacht. Gewiß haben die auf dem Gut empfangenen frühen Eindrücke sowie der Umstand, daß er hier bereits häufig mit rumänischen Bauernkindern zusammentraf, dazu beigetragen, daß er früher als die meisten seiner Bukowiner deutschen Dichtergefährten mit rumänischem Wesen und rumänischen Gebräuchen vertraut wurde. Inmitten der anmutigen Landschaft am Rand seiner Vaterstadt verlebte er eine glückliche, sorglose Kindheit. Nach Absolvierung der Storožynetzer Grundschule kam er an das Gymnasium nach Czernowitz, der Hauptstadt des damaligen Kronlandes Bukowina, 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, übersiedelte die Familie nach Wien, wo Sperber das humanistische Mittelschulstudium fortsetzte, zuerst am Piaristengymnasium, dann am Elisabethgymnasium in der Wieden, wo er den kurz vorher verstorbenen bedeutenden Erzähler und Meister der literarischen Parodie, Robert Neumann und den bekannten Wiener Lyriker Hans Nüchtern, der von 1946 bis zu seinem Tode 1962 der literarische Leiter des Österreichischen Rundfunks war, zu Klassenkameraden hatte. Hier in Wien gewann der Gymnasiast Sperber 1915–1916 ersten Kontakt mit der Arbeiterbewegung als ehrenamtlicher Bibliothekar der literarischen Fachgruppe im Volksbildungshaus Stöbergasse, wo ihn besonders die Volksbildungsvorträge Felix Brauns ansprachen und wo der in jungen Jahren durch Selbstmord geendete Wiener expressionistische Lyriker Georg Kulka auf seine poetischen Anfänge aufmerksam wurde. Im Mai 1916 wurde der überlange Junge nach bestandenem Notabitur als siebzehnjähriger Einjährig-Freiwilliger zur Heeresdienstleistung im Kriege „einrückend gemacht“, den er in Ostgalizien und nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in der Ukraine (Odessa und Jekaterinoslaw, heute Dnjeprepetrowsk) bis zum Zusammenbruch im November 1918 mitmachte. Als k.u.k. Leutnant schrieb er im Schützengraben der Ostfront Gedichte gegen den Krieg – den Zyklus „Die schmerzliche Zeit“ – und pazifistische Artikel, die im Feldgrauenblatt Feldzeitung der II. Armee Aufnahme finden konnten – es waren seine ersten Veröffentlichungen. In Jekaterinoslaw, wo ihn die Revolutionsereignisse überraschten, kam er mit russischen Revolutionären in Verbindung; Ende Oktober wurde seine Teilnahme an einem geheimen bolschewikischen Zirkel aufgedeckt, und nur der Zusammenbruch der Zentralmächte verhinderte im letzten Augenblick seine Überstellung an das Kriegsgericht. Nach Kriegsende entging er mit knapper Not der Erschießung durch die Banden Machnos. Unter ständiger Lebensgefahr schlug er sich nach der Heimat durch; im Frühling 1919 traf er in seinem Heimatstädtchen ein, wohin seine Familie gleich nach Kriegsende zurückgekehrt war und das nun zum Staatsgebiet des Königreichs Rumänien gehörte. Von der Familie zum Richterstand bestimmt, begann er an der Czernowitzer Universität das Studium der Rechte, das ihm jedoch keinerlei Befriedigung bot. Gleichzeitig setzte eine rege schriftstellerische Tätigkeit ein; in den Jahren 1919 und 1920 erschienen Gedichte und Prosaarbeiten von ihm in dem von Albert Maurüber geleiteten Czernowitzer Nerv, in den in Kronstadt (Brasov) von Emil Honigberger herausgegebenen avantgardistischen Zeitschriften Das Ziel und Das neue Ziel, und im Agramer (Zagreber) Zenit, einer in mehreren Sprachen erscheinenden expressionistischen Poesiezeitschrift. Nicht lange hielt es ihn in der heimatlichen Enge. Vom „Heimweh nach der Stadt, die nirgends ist“ getrieben, brach er 1920 neuerlich auf, zunächst nach Paris, wo er sich aufs engste mit Ivan Goll befreundete, und ein Jahr darauf nach New York. Über die in Frankreich und Amerika verlebten Jahre schrieb der Dichter selbst in einer biographischen Notiz für das 1928 in Temeswar von Eugen Bugél herausgegebene „Jahrbuch deutscher Dichter und Schriftsteller Großrumäniens:
War Leiter einer Emigrationsstation in Paris, Metallarbeiter, Straßenhändler, Geschirrwäscher, Beamter und zuletzt Prokurist einer Großbank in New York.
Zugleich arbeitete Sperber ständig an der von der Kommunistischen Partei der USA herausgegebenen New Yorker Volkszeitung mit, für die er Buchbesprechungen, Theater- und Ausstellungsberichte, Beiträge zu Kulturproblemen, aber auch Gedichte und Prosaskizzen schrieb. Der Ausbruch eines schweren Lungenleidens erzwang 1924 seine Rückkehr in die rumänische Heimat. Auf dem Wege dahin unterzog er sich in einem Wiener Lungensanatorium als einer der ersten einer Pneumothorax-Behandlung, die gelang. In sein Elternhaus zurückgekehrt, rief er, notdürftig genesen, den Bukowiner Provinzboten ins Leben, den er nahezu allein mit Beiträgen bestritt. Von 1926 bis 1932 wirkte Sperber als ständiger Redakteur der Tageszeitung Czernowitzer Morgenblatt, in der er laufend eigene Dichtungen, Feuilletons, Pamphlete, Lokalskizzen, Humoresken, Verssatiren, Reportagen, Literaturkritiken veröffentlichte; in seinen ebenso erfolgreichen wie gefürchteten Wochenendpredigten geißelte er in scharf satirischer Weise lokale Mißstände. Als enthusiastischer und selbstloser Entdecker und Förderer literarischer Talente – Moses Rosenkranz, Rose Ausländer, David Goldfeld, Robert Flinker u.v.a. – wirkte er wie kein anderer belebend und anregend auf die dortige geistige Atmosphäre. Mit den Genannten wie mit anderen talentierten Vertretern des Kulturlebens der Stadt – dem Meister der jiddischen Ballade Izik Manger, dem deutschen Dichter Georg Drozdowski , dem Maler George Löwendal, dem ukrainischen Bildhauer Opanas Schewtschukiewitsch, den Sozialaktivisten und Publizisten Lotar Rădăceanu, Albert Maurüber, Ernst Maria Flinker – verband ihn enge Freundschaft.
In jene fruchtbare Zeit fällt auch die aufsehenerregende Piehowicz-Affäre, die seinen Namen erstmals über die Grenzen seiner engeren Heimat trug. Im Czernowitzer Irrenhaus hatte der dort als Arzt wirkende, literarisch interessierte Dr. Walter Kipper, ein Freund Sperbers, einen andauernd Verse schreibenden Irren, den Schlosser Karl Piehowicz, entdeckt und Sperbers Aufmerksamkeit auf dessen Gedichte gelenkt. Sperber, der sie in hohem Maße genial fand, sandte einige von ihnen mit einem Begleitschreiben und einem mit „Uliu“ (rum. Sperber) gezeichneten Artikel, den er im Morgenblatt über seine Entdeckung gebracht hatte, an Karl Kraus nach Wien, der sich vorbehaltlos Sperbers Urteil anschloß und Gedichtproben, von einem enthusiastischen Aufsatz begleitet, unter der Überschrift „Aus Redaktion und Irrenhaus“ in der Fackel vom Juli 1928 veröffentlichte. In diesem Aufsatz von Karl Kraus hieß es unter anderem:
Der Ausschnitt, der beilag, ist beiweitem das Anständigste, was ich seit langem, beiweitem das Wichtigste, was ich je in einer Tageszeitung gefunden habe. Der Autor selbst ist der Einsender, er nennt sich mit einem Pseudonym Uliu.
Nicht lange danach meldeten sich von überallher verschiedene Autoren (Paul Zech, Otto Ernst Hesse, Ernst Waldinger, Franz Hessel, Walter Kordt, Karl von Berlepsch) als Verfasser der angeblich von Piehowicz geschriebenen Gedichte. Die Plagiatsaffäre wirbelte in der deutschen Presse viel Staub auf, Karl Kraus sah sich zur Veröffentlichung einer verteidigenden Stellungnahme genötigt (in der Fackel vom Februar 1929, XXX. Jahr, Nr. 800–805 unter dem Titel: „Eine Riesenblamage“ erschienen), in welcher er den Beweis zu erbringen bemüht war, die von Piehowicz plagierten Gedichte hätten erst dadurch, daß dieser an manchen Stellen das Original in kühner Weise abgeändert hatte, den Stempel des Genialen aufgeprägt erhalten. In diesem, nahezu in der gesamten deutschen Literaturpresse erörterten und zitierten Aufsatz Karl Kraus’ steht zu lesen:
Und nun folgten Zuschriften jenes Alfred Sperber, der aus Storožynetz bei Cernăuƫi gewissenhafter die Interessen der deutschen Kultur betreut, als es im Raum zwischen Berlin und Wien geschieht.
In der Folge zur Klärung dieser Literaturaffäre durchgeführte Nachforschungen ergaben, daß Piehowicz, ein halber Analphabet, der in der Fremdenlegion gedient, in den Kolonien bei verschiedenen Gelegenheiten, bei Kameraden und in Wartezimmern der Ärzte, Zeitschriftenmagazine in die Hand bekommen hatte, in denen er diese Gedichte las und, ein erstaunliches Gedächtnisphänomen, seiner Erinnerung einprägte; bei der nach Jahren erfolgten Niederschrift im Irrenhaus ergaben sich dann da und dort Gedächtnislücken, die er eben auf so geniale Weise nach eigenem Gutdünken ausfüllte. Also doch: Genie und Irrsinn! Viele Jahre später wurde der auf so seltsame Weise als genialer Plagiator in die Literaturgeschichte eingegangene trunksüchtige ruthenische Schlosser (vermutlich als genesen aus der Heilanstalt entlassen) bei einem Einbruchsdiebstahl in einem Schreibmaschinenladen gefaßt und zu einer Gefängnisstrafe verdonnert. (In einem in Ernst Schönwieses Salzburger Zeitschrift Das Silberboot erschienenen Beitrag hat Sperber kurze Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg über die näheren Umstände dieser Plagiatsaffäre berichtet.)
In jenen Jahren nahm Sperber auch Verbindung zur Kronstädter Literaturzeitschrift Klingsor auf, die öfter Gedichte und andere Beiträge von ihm, auf seine Anregung hin aber auch von Izik Manger, M. Rosenkranz, Rose Ausländer, Opanas Schewtschukiewitsch brachte, und trat in freundschaftliche Beziehung zu siebenbürgischen Literaten: Herman Roth, Harald Krasser, Heinrich Zillich, Ernst Jekelius, zu denen sich in späteren Jahren auch Erwin Wittstock, Wolf Aichelburg und der Banater Lyriker Peter Barth gesellten. 1934 und 1939 veröffentlichte Sperber seine ersten Gedichtbände: Gleichnisse der Landschaft und Geheimnis und Verzicht, die bei zahlreichen namhaften Kritikern und Dichtern der Zeit eine außerordentlich günstige Aufnahme fanden.
Von 1933 bis 1940 versah Sperber sodann die Stelle eines Fremdsprachekorrespondenten an einer Selchwarenfabrik in Burdujeni (Suceava Nouă). Zur Eröffnung einer Sperbervorlesung hat Moses Rosenkranz im April 1946 in Bukarest aus eigener Erinnerung ein lebendiges Bild vom Leben und der Arbeit Sperbers in jenen Jahren geboten:
Dieses Paar (das Ehepaar Sperber) bestaunten ein Jahrzehnt lang die sturen Tierhenker des Schlachthofes zu Burdujeni. Durch den Gedichte schreibenden Sekretär der Schlachtbank wurde der rote röchelnde Todesplatz die Sammelstelle edler lebhafter Geister. Wann immer ein Fremder erschien, zogen sich die Schlächterei-Vögte verdrossen zurück, denn man war nicht eingekehrt, ihre Schlagringe und Schweine, sondern den Korrespondenten und seine Manuskripte zu bewundern. Und wie viele kamen! Wen aber nicht die Eisenbahn oder ein Auto oder Zweispänner brachte, der kam im Brief. Das verblüffte Postamt der denkwürdigen Ortschaft registrierte in jener Zeit Eingänge von Thomas Mann, Hermann Hesse, Martin Buber, Knut Hamsun, Georges Duhamel, Erwin Kisch, Stefan Zweig, T.S. Eliot, Alfred Polgar, Felix Braun, Josef Weinheber, Izik Manger und anderen Wortführern des Schönen und Geistigen in der Welt. Und wie intim und persönlich gaben sich alle diese Größen in ihren Zuschriften an Sperber! Seine geheimnisvolle Gabe, Schöngeistige aus Nah und Fern an sich und aus sich herauszulocken, zeigte sich vor allem in Burdujeni in ihrer zauberhaften Unwiderstehlichkeit. Wie eine Riesenspinne, aber eine freundliche, saß Margul im Schlachthaus seines weltumspannenden Beziehungsnetzes und harrte der Gäste. Ich glaube nicht, daß je einer enttäuscht das wohltuende Abseits verlassen hat und nicht gerne wiedergekommen wäre. Wer sich nur brieflich einfand, den lohnten verständnisvolle herzlich bewegte Antworten von vollendeter Sprachgewalt. Wer aber persönlich den Reisefuß in Frau Jettis Reich setzte, schied nicht allein künstlerisch erhoben und geistig erfrischt – nicht zum Geringsten dank dem unerschöpflichen Anekdotenbrunnen, aus dem der Wirt auf das Lustigste aufzuwarten wußte – sondern auch wohlgespeist und – getränkt… Wenn ich an meine Besuche dort zurückdenke, frage ich mich immer noch verwundert, wie es eigentlich dem wirtlichen Freundespaar gelingen konnte, die Atmosphäre von Leiden und Tod, in deren Mitte man ja saß, hinwegzuzaubern und durch eine seelenvolle Welt friedlichen Einklangs zu ersetzen? Die Antwort gibt das Werk des Dichters und der hochgesittete Lebensstil des außerordentlichen Ehepaars. Das habe ich allerdings erst erkannt, nachdem ganz Europa ein Schlachthof geworden war und wir alle darin gesessen haben. Der Haßorkan, der zuerst die Juden und die Geistigen vor sich hertrieb, fegte den Dichter aus dem regionalen Mittelpunkt der Tierschlächterei 1940 in das Landeszentrum der apokalyptischen Menschenschlacht des Zweiten Weltkriegs, wo er mit seiner zarten Frau zeitweilig in den Auftriebräumen des Polizeigefängnisses sichtbar wurde. Das ist der Lebenslauf des Zeitgenossen, der trotzdem und währenddessen die innigsten und leisesten Gedichte schrieb, die nach Rilke auf deutsch und nach Heine aus jüdischer Seele vernommen wurden.
Eine um jene Zeit zum Zweck der Herausgabe der hinterlassenen Schriften des jung verstorbenen Czernowitzer kommunistischen Dichters und Publizisten Sylvius Hermann im Malik-Verlag unternommene Reise nach Prag brachte nicht nur ein Wiedersehen mit dem dort als Kulturrat der Rumänischen Botschaft wirkenden Freund, dem Romancier Oscar Walter Cisek, sondern führte ihn auch in den „Prager Kreis“ Max Brods: er war Gast im Hause Franz Carl Weiskopfs und dessen Gattin, der Jugendschriftstellerin Alex Wedding, und schloß enge Freundschaft mit dem bekannten Prager Dichter und Übersetzer tschechischer u a. Dichtung Petr Bezruć und mit Rudolf Fuchs.
In Bukarest schlug er sich während der Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs mehr schlecht als recht als Sprachlehrer durch und entging nur dank dem Eintreten seiner Dichterfreunde Oscar Walter Cisek und Ion Pillat um Haaresbreite der Verschickung in die Todeslager Transnistriens. Obgleich er all die Zeit in dauernder Gefahr schwebte, verhaftet oder deportiert zu werden, wurde seine bescheidene Wohnung in Bukarest zu einem Sammelpunkt illegal wirkender oder aus rassischen Gründen verfolgter, meist jüngerer Dichterkollegen; gleichzeitig erfreute er sich jedoch auch der Freundschaft und uneingeschränkten Wertschätzung vieler der Wertvollsten unter den rumänischen Autoren der Zeit, eines Ion Pillat, Vasile Voiculescu, Tudor Vianu, Ion Marin Sadoveanu. Al. Philippide, Demostene Botez, Ion Barbu, der ein glühender Bewunderer seiner Übertragungen rumänischer Volksdichtung wurde, F. Aderca u.a. und war ständiger Teilnehmer der literarischen Sonntagnachmittage in Ion Pillats Haus. Wohl überstand er die Zeit der Rassenverfolgungen, zog sich jedoch infolge der seelischen Überforderung, der er in jenen Jahren ausgesetzt war, ein Herzleiden fürs Leben zu.
Nach der Befreiung Rumäniens vom faschistischen Joch am 23. August 1944 entfaltete Sperber eine vielfache intensive Tätigkeit als deutscher Schriftsteller und literarischer Übersetzer bei Presse und Rundfunk. Seit 1952 war er nur noch als freischaffender Schriftsteller tätig. 1954 wurde ihm für seine Übertragungen rumänischer Volksdichtung der Staatspreis für Literatur zuerkannt. Am 3. Januar 1967 ist er seinem langjährigen Herzleiden erlegen.
Nach 1944 veröffentlichte Alfred Margul-Sperber noch folgende Gedichtbände: Zeuge der Zeit (1951), Ausblick und Rückschau (1955), Mit offenen Augen (1956), Taten und Träume (1959), Unsterblicher August (1959), Sternstunden der Liebe (1963), Gedichte (1963), Aus der Vorgeschichte (1964). Nach dem Tode des Dichters erschienen die Auswahlbände Ausgewählte Gedichte (1968), Das verzauberte Wort – Der poetische Nachlaß (1969) und 1973 im Verlag der Nation, Berlin, Verzaubertes Wort (Auswahl: Günther Deicke und Joachim Schreck). Gedichte Sperbers wurden ins Rumänische (die Bände Versuri alese – Ausgewählte Gedichte, 1957, Versuri pentru tineret – Gedichte für die Jugend, 1959, Cele mai frumoase versuri – Die schönsten Gedichte, 1962) und ins Ungarische (Tárgyak a tükörben – Dinge im Spiegel, 1963) übersetzt. Sperbers mit dem Staatspreis 1954 ausgezeichnete Übertragungen rumänischer Volksdichtung erschienen gesammelt in den Bänden Im Wandel der Zeiten, 1953, Rumänische Volksdichtungen, 1954, und (postum) Rumänische Volksdichtungen, dritte erweiterte Auflage (1968). Sperbers Übertragungen aus der Weltlyrik (dem Englischen, Amerikanischen, Französischen, Chinesischen, Jiddischen etc.) sind in dem noch vom Dichter selbst zum Druck vorbereiteten, postum veröffentlichten Band Weltstimmen (1968) enthalten. Sehr umfassend war auch, besonders in seinen letzten Lebensjahren, die Tätigkeit des Dichters als Übersetzer rumänischer Dichtungen: seine Übertragungen der Gedichte von Tudor Arghezi erschienen in drei Ausgaben, davon eine im Bergland-Verlag, Wien; Übersetzungen von Gedichten Mihai Eminescus erschienen, gemeinsam mit Übersetzungen anderer Nachdichter, in drei von Sperber betreuten Auswahlbänden. Ferner erschienen Übersetzungen von Gedichten der rumänischen Lyriker Alexandru Philippide, Mihai Beniuc, Marcel Breslaşu, Maria Banuş etc. Für jugendliche Leser gab Sperber zwei verbreitete Sammlungen heraus: Mein liebstes Buch (1957) und Mein Tierbuch (1958). Aus der weiteren Tätigkeit Sperbers als Herausgeber seien noch Auswahlen von Heines Gedichten (1951) und von Heines Prosaschriften (1956), für die er Einleitungen verfaßte, genannt.
Ehe der Dichter sich für die schwierige Kunst des Einfachen und Klaren entschied, hatte er sich in so manchen Sätteln getummelt. In seinen Vagabundenjahren, auf den Wanderfahrten des unstet Umhergetriebenen, die ihn nach dem Erlebnis des Schützengrabens an der Ostfront in die Absinthkneipen der Pariser Boulevards und die Steinwüste der New Yorker Wolkenkratzerwelt führten, hat er früher als die meisten seiner Altersgenossen unter den deutschen Dichtern die Anfänge der nachexpressionistischen Dichtung an der Quelle kennengelernt. In der Zeit seines Pariser Aufenthaltes, in die seine Freundschaft mit Ivan Goll fällt, lernte er das Werk Jean Cocteaus, Max Jacobs und Guillaume Apollinaires kennen und schätzen, lange ehe es in Deutschland Aufnahme fand. In seinem ersten – zu Lebzeiten unveröffentlichten – Gedichtband, der eine Auslese seines dichterischen Schaffens aus den Jahren 1915–1921 enthält, sind sogar graphische Spielereien in der Art von Apollinaires „Caligrammes“ enthalten. (In einem Brief, den Paul Celan 1963 aus Paris an Sperber schrieb, erinnerte er sich dankbar daran, daß Sperber es gewesen sei, der ihn noch in den vierziger Jahren auf das nachmals von ihm, Celan, übersetzte lyrische Schaffen Henri Michaux’ hingewiesen habe, dem Sperber in seinen Pariser Jahren begegnet war.) Und in New York, wo er im polyglotten Kreis des amerikanischen Schriftstellers und Kritikers Waldo Frank verkehrte, übersetzte Sperber u.a. Gedichte von Robert Frost, Sandburg, Vachel Lindsay, Cummings, Edna St. Vincent Millay, Wallace Stevens; auch soll nicht vergessen werden, daß er als erster, noch vor Ernst Robert Curtius, nicht lange nach Erscheinen des Originals, T.S. Eliots The Waste Land ins Deutsche übertrug. Der damals siebenundzwanzigjährige Sperber sandte diese (postum im Bande Weltstimmen veröffentlichte) Übertragung nach seiner Rückkehr aus Amerika in sein Bukowiner Heimatstädtchen Storožynetz T.S. Eliot ein, und dieser, ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Sprache, bezeichnete sie als „admirable“. Es bedarf wohl nicht erst der Bescheinigung durch den bedeutenden Schweizer Literaturkritiker Max Rychner, der, Sperber gegenüber in einem 1961 an diesen gerichteten Brief sein Staunen darüber äußerte, daß er schon zu einer Zeit, als man die Bedeutung dieser Dichter noch lange nicht erfaßt hatte, Witterung für Eliot und (den damals gleichfalls von Sperber übersetzten) Paul Valéry bewies, um sich darüber Rechenschaft zu geben, daß man fortan bei einer ernsthaften Betrachtung der allgemeinen literarischen Lage der so entscheidenden zwanziger Jahre an Sperbers Wirken keinesfalls achtlos wird vorübergehen dürfen. Max Rychner war es ja auch, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf Sperbers selbstloses Eintreten hin dem fünfundzwanzigjährigen Paul Celan als erster den Weg zu dessen späterem dichterischen Ruhm erschloß. Und daß Sperber vermutlich als erster noch Anfang der zwanziger Jahre Gedichte Gérard de Nervals, des erst viel später in seiner vollen Bedeutung erkannten französischen Romantikers, ins Deutsche übertrug, verdient gleichfalls als eine literarische Pioniertat und als Beweis für sein außerordentliches poetisches Gespür in Erinnerung gerufen zu werden. In New York fand Sperber Anschluß an die Arbeiterklasse und betreute eine Zeitlang den Literaturteil der New Yorker Volkszeitung, eines deutschsprachigen Organs der Kommunistischen Partei der USA, für das er regelmäßig Buchbesprechungen verfaßte.
Hier, in New York, entdeckte Sperber auch den dort niedergelassenen amerikanisch schreibenden rumänischen Erzähler Peter Neagoe, einen realistischen Schilderer der siebenbürgischen rumänischen Dorfwelt. Jahrzehnte später Verfasser eines biographischen Romans um seinen berühmten Freund und Landsmann, den rumänischen Bildhauer Constantin Brâncuş. Sperber setzte sich für das Erscheinen dieses Romanciers im deutschen Sprachbereich ein und übersetzte selbst eine seiner Erzählungen, die im Kronstädter Klingsor erschien.
Bedeutenden und nachhaltigen Einfluß auf Sperbers Denken und Schaffen gewannen in den Jahren seines amerikanischen Aufenthalts die Schriften des heute zu Unrecht vergessenen, von anarchistischen Ideen ausgehenden amerika-deutschen Literaturkritikers, Popularisators und Essayisten Robert Reitzel, der, ein abtrünniger Priester, um die Jahrhundertwende unter dem Pseudonym „Der arme Teufel“ in der von ihm herausgegebenen gleichnamigen Zeitschrift veröffentlichte, und mehr noch Henry David Thoreaus Walden: Die in diesem Buch des einzelgängerischen amerikanischen Eremiten gepredigte Verknüpfung von praktischem Nonkonformismus, Widerstand gegen die Lebensideale der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und Eintreten für eine von bürgerlicher Besitzkultur unabhängige Existenz mit schwärmerischen pantheistischen Naturideen hinterließ in Sperbers dichterischem und publizistischem Werk unauslöschliche Spuren; immer wider kehrte er, noch nach Jahren, gesprächsweise zur Ideenwelt dieses Buches zurück, das er seinen Freunden wärmstens zur Lektüre empfahl. Sperbers unter dem Zeichen des Expressionismus stehende Anfänge lassen deutlich Einflüsse von Ludwig Rubiners „Himmlischem Licht“ und Ivan Golls Dithyrambendichtung und dessen Panamakanal erkennen – es war also die radikal-politische, aktivistische Strömung des Expressionismus, in der er damals trieb. (Wie der Dichter später – nachdem er, diesmal nicht mehr europa-, sondern amerikamüde, in die Heimat zurückgekehrt war – über diese Produktion seiner Jugend dachte, mag man daraus ersehen, daß er jenen bereits angeführten umfangreichen Typoskriptband Übungen in Versen überschrieb.) Prosaarbeiten jener Zeit, wie die 1921 in der Czernowitzer expressionistischen Zeitschrift Der Nerv erschienene, aber schon in Amerika entstandene Erzählung „Die Tschernigowa“, folgen unverkennbar dem Beispiel expressionistischer Erzählweise von Kasimir Edschmids „Rasendem Leben“. Zum entscheidenden Erlebnis wurde Sperber indessen die Bekanntschaft mit Franz Werfels „Weltfreund“-Dichtung, deren über alle Ufer strömendes Menschenbrüdertum in seiner verwandten Natur einen günstigen Nährboden fand und auf lange Zeit seinem dichterischen Schaffen den Stempel aufprägte. Von Werfel führte der Weg seiner dichterischen Entwicklung zu Stefan George und Karl Kraus. Damit war die Wende in seinem Schaffen beschlossen, die Entscheidung gefällt. George lehrte ihn die strenge Zucht des Wortes, der er sich nun mit handwerklicher Treue unterwarf, Karl Kraus den Mut zur Überlieferung und das kämpferische Ethos. So ist er eigentlich – ein seltener, ja vielleicht einzigartiger Fall – den umgekehrten Weg gegangen als die meisten seiner dichtenden Altersgenossen: den Weg von der poetischen Fronde zum klassisch-geläuterten Ausdruck, von Neuerertum zur bewußten Hingabe an das Herkömmliche im Sinne von Rilkes:
Alles Vollendete fällt
heim zum Uralten
Hand in Hand mit diesem Abschwur seiner expressionistisch-ekstatischen Anfänge erfolgte nach der Rückkehr in die Heimat die Abkehr von dem brausenden Wind der Kontinente und dem Liebesbekenntnis zu den lärmenden Metropolen der Welt und, vielleicht nicht unbeeinflußt von Thoreaus Walden, die Hinwendung zur unvergänglichen Landschaft, die er hinfort in ihrer Vielfalt zu besingen nicht müde wurde, und zum Mythos. In der Dichtung „Letzte Folgerung“ aus der bereits zitierten unveröffentlichten Sammlung seiner Jugendgedichte hieß es noch, ganz im Tone expressionistischen Überschwangs:
… schon in frühester Jugend war in mir eine Sehnsucht heiß
unendliches Heimweh nach der Stadt die nirgends ist
und ich habe nachher alle Städte Europas bacchantisch-rasend geküßt
den Zauber der Industrien getrunken die Meetings geliebt und um Bombenanschläge gewußt
alle tausend goldenen Glockentürme Moskaus läuten in meiner Brust
Eiffelturm strotzender Phallus Europas ich kenne deine stählerne Musik
ich ergab mich bis zum Wahnsinn den Martern der Hurenkünste und dem Kartenglück…
Ich saß die fiebernde Stirne gepreßt am Schnellzugfenster vorüberrasende Landschaften küßten mich wild wie ein Weib
ich liebte die fremden Hotelbetten und das Verlassensein in der Großstadt Riesenleib…
Seinem ersten, 1934 veröffentlichten Gedichtband Gleichnisse der Landschaft jedoch stellt er ein Geleitwort voran, das bekenntnisharten, ja programmatischen Charakter trägt und dessen Grundidee er eigentlich bis ans Ende unverrückbar die Treue gewahrt hat. „Der Verfasser bekennt sich freimütig zu allem Veralteten und Herkömmlichen in Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände“, heißt es dort, „und erklärt vorweg, daß er gerne darauf Verzicht leistet, den modernen Dichtern zugezählt zu werden. Er hat in bewußter Absicht seinen Stoffkreis abgegrenzt und zuweilen die Wahl des gleichen Themas bis zu ermüdender Einförmigkeit getrieben, weil er aus der tragischen Erkenntnis der Unmöglichkeit, das Urbild zu erreichen, nicht oft genug den Versuch unternehmen zu müssen glaubte, diesem Urbild wenigstens näherzukommen. Ein Gedicht kann niemals den großen Gegenstand ersetzen, der es hervorruft, und Maßstab der Künstlerschaft sind und bleiben einzig: die Einheit und Stärke des Erlebnisses an diesem Gegenstand und die Fähigkeit, in der Seele des empfänglichen Lesers eine Wiederholung dieses Erlebnisses zu bewirken.“ Und am Ende dieser Geleitzeilen stehen folgende, das Wesen von Sperbers Dichtung deutlich aussprechende Worte:
… allen Wahn und Haß, Kampf und Krampf der Zeit überdauert die ewige Landschaft, lächelnd und erhaben, feierlich und schweigend, und auch über völlig veränderten Formen der menschlichen Gemeinschaft wird sich das gleiche Rätsel des gestirnten Nachthimmels wölben, das sich seit uralten Zeiten im betränten Auge des Dichters spiegelt (geschrieben 1933).
Eine Äußerung Sperbers, die von der Bukarester Essayistin Elisabeth Axmann im Bukarester Neuen Weg wiedergegeben wird, scheint uns in diesem Zusammenhang besonders aufschlußreich, da sie erkennen läßt, in welchem Maße der Dichter bis an sein Lebensende an dieser seiner Auffassung festhielt:
Gleichgültig, aus welchen Sphären des Erlebens die Anregung zu meinem Schaffen kam, ist meine Entwicklung nichts anderes als das gesteigerte Maß der Annäherung an den Gegenstand, der Echtheit, mit der ich diese Anregung zu gestalten vermöchte… Was aber die Wahl des Themas betrifft, vertrete ich einen Grundsatz, den ich für jeden Dichter als unerläßlich betrachte: „Vermeide die Ausschließlichkeit!“ Ich bin ein Gegner des outrierten Modernismus… Andererseits kann man auch mit erstarrten oder erstarrenden Formen nicht arbeiten. Es ist natürlich, daß das Gedicht in unserer Zeit, da es sich an breiteste Leserkreise wendet, großer, einfacher, packender Ausdrucksformen bedarf! Es gibt aber auch vielschichtigere Erlebnisse, die nur durch komplexe, sehr fein abgestimmte Systeme von Bildern und Begriffen gestaltet werden können.
Um des Zieles willen, im Leser die Wiederholung eines durch einen Naturvorgang oder Gegenstand ausgelösten Erlebnisses zu bewirken, hat er mit einem Ernst und einer Hingabe ohnegleichen die sich ihm zur dichterischen Behandlung darbietenden Erscheinungen umworben, hat auf die geheimsten Regungen der Natur gelauscht und erbittert um die Gnade der dichterischen Eingebung gerungen. Immer tiefer stieg er in die Seele der Dinge und Erscheinungen hinab, um ihnen ihr scheu gehütetes Geheimnis abzutrotzen, und erlangte so eine Fähigkeit, das Unaussprechliche in Worte zu fassen, die man nicht anders als mit dem Wort „magisch“ bezeichnen kann. So sehr war er eins mit der Natur geworden, die er seit seiner Kindheit als Vermächtnis der heimatlichen Landschaft in sich trug, daß sie für ihn keine Geheimnisse mehr zu bergen schien. Man stelle etwa sein Gedicht „Die Rose“ in seinem ersten Band Gleichnisse der Landschaft aus dem Jahre 1934 dem späteren „Rosenspruch“ in Geheimnis und Verzicht aus dem Jahre 1939 gegenüber und wird erstaunt sein über den Fortschritt, den der Dichter während jener für sein Schaffen so entscheidenden Jahre in der Erfassung und Vertiefung eines poetischen Vorwurfs, in der Dichte und Beschränkung auf das Wesentlichste der Aussage erzielte. Und auf wie unvergleichliche Weise hat er im Gedicht „Elmsfeuer“ einen dichterisch bis dahin vermutlich unbewältigten seltenen Naturvorgang mit der Äußerung eines urtümlich-starken Liebesempfindens in Beziehung gebracht:
Die Regenahnung kam dir schon vertraut;
Der Weide, die dich schlug, tatst du ein Gleiches,
Fischschuppen schimmerten in deiner Haut,
Dein Auge barg den matten Schein des Teiches.
Doch wie der Sturmstoß durch das Dunkel fuhr,
Entbrachst du wild und standst sehr hoch und ferne
Und bangtest nach dem Sprung der Blitze nur,
Und nichts mehr blieb von deinem wilden Sterne.
Das Wetterleuchten rafftest du als Kleid;
Doch wehrtest du dem Ruf nicht aus den Tiefen:
Bis an den Fingern mir, wie ein Geschmeid,
Den streichelnden, die blauen Flammen liefen.
Hier scheint die äußerste Grenze des noch Säglichen erreicht; man mag bezweifeln, ob in der gesamten deutschen Naturlyrik jener Jahre diesem Stück etwas an die Seite gestellt werden kann, das ihm in Wortgestalt und Bildkraft des sich der Gestaltung und Schau Entziehenden gleichkommt. Was Sperbers Naturgedichten ihren unwiederholbaren Zauber verleiht, ist eben jenes von ihm bewußt angestrebte Unwägbare, selbst jenseits des von ihm gewählten künstlerischen Ausdrucks; es ist das Unfaßbare, stetig Schwankende, Zwielichthafte, wie es sich schon in dem Titel seines zweiten, wohl persönlichsten Gedichtbandes, Geheimnis und Verzicht, ausspricht und wofür einer seiner „Einfälle“ überschriebenen Gedankensplitter eine beredte Sprache spricht:
Ein Gedicht darf von der Wirklichkeit nicht mehr behalten, als eine Wolke von der Pfütze behält, aus der sie verdunstet ist. Eigentlich nicht mehr, als der Schatten noch davon behielt, den diese Wolke auf eine Sommerlandschaft wirft.
Immer wieder zog es ihn zum Gleichnis, zur Parabel.
Auf das durchaus Moderne in der Behandlung der Naturthematik bei Sperber hat Ernst Maria Flinker in einer in die Form eines Briefes an den Dichter gekleidete Buchbesprechung über die Gleichnisse der Landschaft hingewiesen, die mir so treffend erscheint, daß ich nicht umhin kann, das Kernstück daraus zu zitieren:
Wir Städter von heute
heißt es dort,
stehen anders zur Landschaft als die Kinder früherer Zeiten. Näher ist uns der Mensch und seine Seele, und durch diese Medien erst müssen wir die Landschaft in ihrer Vielfalt und Schönheit zu begreifen suchen. Ein früherer Dichter mag, um die Stürme eines Herzens zu veranschaulichen, dieses mit einem vom Wind gepeitschten See verglichen haben; der heutige wird umgekehrt verfahren, er wird, wenn er uns die Erhabenheit eines vom Sturm aufgewühlten Sees schildern will, diesen mit einem von Qualen zerrissenen Herzen vergleichen, weil wie unseren Vorfahren die Landschaft der Natur, uns Jetzigen die Landschaft der menschlichen Seele vertrauter und geläufiger ist. In solcher Verschiedenheit scheint mir ein wichtiges und entscheidendes Merkmal zwischen älterer und neuerer Dichtung zu liegen, welches auch für Deine Gedichte zutrifft, ein Beweis, daß sie nicht die blassen und lebensarmen Werke eines Epigonen sind, sondern durch engste seelische Verbundenheit gekennzeichnete blutvolle künstlerische Produkte der Gegenwart. Deine Landschaft gibt Gleichnisse, aber noch mehr empfängt sie sie, wodurch erst sie für uns zu ihrer ganzen Lebendigkeit emporwächst. Von den Zweigen des Baumes heißt es, daß sie wie „müde Hände sind“, von gelben Blumen, daß sie „wild wie unsere Leidenschaft brannten“, von Mondstrahlen, daß sie „träg wie Tränen schleichen“, von der Sonne, daß sie „wie ein verlorenes Lächeln spielt“.
Es ist – und nicht nur vom Klausenburger Germanisten Michael Markel – bestritten worden, in Sperbers Landschaftslyrik habe dessen buchenländische Heimat Gestaltung gefunden, das „Landschaftliche dieser Gedichte“, so Markel, „erscheint zum abstrakten Bildkonzentrat reduziert und erhält erst aus seinem Stellenwert in der Gedichtmontage dingsymbolische Bedeutung“.
Dies trifft insoferne zu, als sich Sperber ganz gewiß nicht auf die bloße Wiedergabe des äußeren Landschaftsbildes beschränkte, sondern vielmehr zu dessen Symbolcharakter vorzudringen, gewissermaßen das innere, „zweite Gesicht“ dieser Landschaft zu erschließen bestrebt war. Und doch wird, wem die besonderen Züge dieser wohl einmaligen Landschaft mit ihren fruchtbaren Ebenen und ihren dichten roten Buchenwäldern vertraut sind, sie unschwer wieder erkennen. Mit den für subtilste Unterschiede geschärften Sinnen des Landschaftslyrikers hat dies der aus dem Brenner-Kreis hervorgegangene Tiroler Dichter Joseph Leitgeb klar erkannt und diesen Eindruck folgenderweise in Worte gekleidet:
Aus Ihren Versen spricht mich eine Melodie der Schwermut an, die mir teurer wird, je öfter ich in Ihren Strophen lese, und da wird manchmal eine Landschaft sichtbar – Ihre Landschaft, die der unseren nicht gleicht, aber sie nach der Seite einer äußeren Schwere hin wunderbar ergänzt: statt des harten Konturs der Berge der weichverschattete Rand des großen Walds, statt unserer überklaren Luft eine farbige Dämmerung, aus der Ihre Zeilen immer wieder herzlich rufen, auch wenn es nicht gerade der Herbst ist, in dem Sie sprechen.
Und damit deckt sich im Grunde auch Reinhold Schneiders Urteil:
Sie führen die starke, dunkle Empfindungs-Bilderwelt Ihrer Heimat in das Gebiet der deutschen Sprache und des deutschen Gedichtes ein.
So geht man also wohl dennoch nicht fehl, wenn man Sperber als den Dichter der buchenländischen Landschaft bezeichnet.
Die Jahre der unter den Buchenwipfeln seiner Bukowiner Heimat verlebten Kindheit und frühen Jugend prägten dem lyrischen Werk des Dichters bis in seine letzten poetischen Äußerungen ihren Stempel auf. Das Bild der geliebten Heimat begleitete ihn in die Schützengräben der Knochenmühle des Ersten Weltkriegs und auf den Wanderungen durch eine fremde kalte Welt, auf die Pariser Boulevards und in die New Yorker Steinwüste, wo er nie heimisch zu werden vermochte, weil die Heimat das Reis der Liebe zu ihren Buchenwäldern, zu den Steppen der sarmatischen Ebene, den podolischen Dörfern, ihren Bauern und Mägden tief in sein Herz gesenkt hatte. (Diese verzehrende Sehnsucht nach der Steppenweite seiner dörflichen Heimat inmitten der Steinwüste von Manhattan läßt in Sperber ein dichterisches Gegenbild zum tschechischen Komponisten Antonin Dvorak erblicken, und wie jener der musikalischen Indianerfolklore entlehnte Motive in seine 5. Symphonie Aus der Neuen Welt einfließen ließ, übersetzte Sperber in New York Lieder der Rothäute.) Die Fremde nahm den durch den Krieg aus der Bahn Geschleuderten nicht gütig mit offenen Armen auf; nicht als Vergnügungsreisender, nicht als Tourist lernte er sie kennen, sondern als einer, den – wie T.S. Eliot – die Kriegsfurie ausgespien hatte und der nun in einer ihm feindlichen Umwelt vergeblich seinen Platz – und das heißt auch Brot und Liebe – zu finden erhoffte. Der Zusammenstoß zwischen dem mit allen Fasern seines Wesens der Natur und ihren Geheimnissen verhafteten Dichter und der harten, unbarmherzigen Dollarwelt mußte letztlich tragisch enden – eine seelische Krise erfaßte ihn, ein schweres Lungenleiden warf ihn nieder.
Heilung brachte erst das Wiedersehen mit der Heimat. In doppeltem Sinn bedeutete sie einen entscheidenden Einschnitt in sein Schaffen – den zweiten in seiner dichterischen Entwicklung. Es ist erstaunlich, in welchem Maße der Dichter schon in seinen frühesten Anfängen in seinen typischesten Erscheinungsformen erkennbar, wie er in ihnen schon ganz er selber ist. Aus einem 1916 entstandenen, „Pan“ überschriebenen Gedichtzyklus des Siebzehnjährigen hat sich ein Gedicht: „Rauschen“, erhalten, aus dem uns – wenn auch noch etwas konventionell und unpersönlich – nicht nur bereits die unverwechselbare, von Schwermut und Leidenschaft zitternde Stimme des späteren reifen Dichters entgegentönt, sondern auch schon das immer wiederkehrende Motiv des Brunnens als Symbol von Einsamkeit und Geheimnis da ist:
O rauscht die Nacht, die große Nacht
Noch immer an dein Ohr,
Das dich aus allem, was da wacht,
Schon längst in Traum verlor? –
So rauscht die Nacht nicht durch das Tal,
Die Nacht rauscht nicht so tief;
Ein Brunnen rauscht im Mondenstrahl,
Der unterm Tage schlief. –
Er rauscht wie eine Sage weit,
Die keiner mehr erahnt,
Der Brunnen ist die Einsamkeit,
Die dich in Träumen mahnt.
Dieses Gedicht des Siebzehnjährigen trägt schon alle Anzeichen des Vollendeten an sich und hätte, in die Lyrikanthologien jener Zeit, die Sammlungen eines Maximilian Bern, Hans Benzmann oder Max Bethge aufgenommen, in Ehren neben dem Besten, das sie enthielten, neben den Versen Falkes, Dehmels oder des frühen Hesse bestanden. Aber dies war eben das Verhängnis auch in des Dichters späterem Leben und hat seine Dichtung so oft um ihre verdiente Wirkung gebracht, daß sie stets fern von den Orten entstand, in denen über den Erfolg entschieden wurde. Nicht anders geschah es ja auch mit den Gedichten seiner expressionistischen Periode. Seine 1919–1921 entstandenen „Großen Psalmen“ stehen kaum den ihnen verwandten Dichtungen eines Ludwig Rubiner, Ivan Goll oder Karl Otten nach und hätten wie diese die uneingeschränkte Anerkennung seiner Zeitgenossen verdient; aber während der dichtende Freund seiner Wiener Jahre, Joseph Kalmer, seine Gedichte in Franz Pfemferts Aktion veröffentlichen konnte, und der Freund seiner Pariser Jahre, Ivan Goll, über den Expressionismus hinauswuchs und, zugleich in deutscher und französicher Sprache dichtend, an André Bretons Seite zu einem der Wegbereiter des Surrealismus wurde, spülte Sperber Geschirr in New Yorker Kneipen oder schlug sich mühsam als Taglöhner durch. Und die „Großen Psalmen“ blieben ungedruckt. Eine dieser vom Dichter als „Psalmen“ bezeichneten Dichtungen der Frühzeit ist der poetische Niederschlag des ersten entscheidenden Einschnitts in sein Schaffen: es ist das Gedicht „Die Überfahrt“. Zutiefst enttäuscht von der Entwicklung Europas nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er die Jugend auf den Schlachtfeldern verbluten sah, leiht er hier, als einer von ihnen, den verstoßenen, verbluteten Kindern Europas, die in Amerika eine neue, bessere Heimat suchen, seine Stimme:
Und langsam löst sich das Land von uns
Wie eine erkaltende Frau.
Europa – Kasernen, Huren, Kaffee,
Ade, ade!
Das Meer ist unendlich und blau.
Der Abend unendlich und blau.
Nun trinkt uns die Ferne
Und der rasende Duft der Sterne…
Das Schiff stampft und brüllt und schüttert
Wie ein junger Hengst, der die Steppen wittert,
Und die Möwen,
Die silbernen Möwen kommen geflogen
In zärtlichen Kreisen
Und küssen die Wogen…
Und die verstoßenen Kinder Europas
Stehen regungslos am Heck des Schiffes,
Wehende Tücher in schlaffen Händen,
Und trinken mit tränenden Augen
Die blauen Linien versinkender Küste…
Aber noch etwas Neues trat nach seiner Heimkehr hinzu, das sich auf den weiteren Weg seiner poetischen Entwicklung entscheidend auswirken sollte: die Hinwendung zur Landschaft war späte Rückkehr zu seinen Anfängen, die Buchen der Heimat hatten schon über dem Haupt des inmitten der Landschaft aufgewachsenen Kindes ihre Kronen gewiegt, und ganz früh schon hatte er in einem Gedicht in knappster Form ihr Wesentlichstes auszusagen versucht:
Endlose Weite der Wiesen
Entfernter Abendkirchenlaut,
– Und das uralte, ewig traurige Hirtenlied:
Einsamer Vogel zieht.
Und die Felder duften so süß wie zu Hause.
Aber was nun hinzukam, war die neugewonnene Kenntnis der rumänischen Volkspoesie, die er, noch ohne Aussicht auf eine Buchveröffentlichung, in den dreißiger Jahren voller Hingabe zu übersetzen begann und die fortan auch sein eigenes lyrisches Schaffen befruchtete. In Gesprächen hat Sperber immer wieder auf die Anregungen und Einsichten hingewiesen, die er von der rumänischen Dichtungsfolklore für sein eigenes Schaffen empfing, und hat seine Arbeit als Übersetzer derselben als einen ausgesprochenen Akt der Dankbarkeit hiefür bezeichnet. So konnte er wie keiner neben ihm zum „deutschen Dichter der rumänischen Landschaft“ werden. Seine tiefe Verwurzeltheit in der Natur, die ihn auch in der Großstadt niemals freigab, ließ ihn besonders jene Dichter lieben, die sich gleich ihm völlig an sie hingaben; so verehrte er William Butler Yeats, Robert Frost und Sergej Jessenin als die größten Lyriker unter seinen Zeitgenossen; später sollten sich noch Carossa, Weinheber und Brecht, sowie Manger und Arghezi, deren Gedichte er übersetzte, und ganz zuletzt Christine Lavant hinzugesellen. Die bewußte Abgrenzung auf die Landschaft, von der in den oben zitierten Zeilen die Rede war, wich später, in den finsteren Jahren der Hitlerzeit und vor allem nach der Befreiung, infolge seiner leidenschaftlichen Anteilnahme am Zeitgeschehen einer ungewöhnlichen Themenvielfalt, die nicht bloß in seiner politischen und agitatorischen Dichtung, sondern zum Beispiel auch in der poetischen Durchdringung antik-hellenischer Sagenstoffe zutage trat, in der man auch einen Ausdruck seines Bekenntnisses zum Geist der Humanitas sehen mag; dies ist es, was ihn immer wieder bewundernd zu Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ greifen ließ und seine Vorliebe für die humanistischen Autoren des achtzehnten Jahrhunderts, für Lessing und Moses Mendelssohn, für Johann Georg Forster und Wilhelm von Humboldt, für Claudius, Lichtenberg und Seume, aber auch für manchen vergessenen Populärphilosophen wie Johann Jakob Engel erklärt. Vor allem galt die Liebe seiner letzten Jahre aber Jean Paul; mit einer Leidenschaft ohnegleichen sammelte er alles, was er von ihm und über ihn aufzutreiben vermochte; man konnte geradezu den Eindruck gewinnen, als wolle er diesen Berg von allen Seiten besteigen, um sich nur ja nichts von seiner Größe entgehen zulassen.
Als Goebbels das deutsche Geistesleben in die Schrifttumskammer sperrte, war Sperbers Dichtung die Wirkung im breiten deutschen Sprachraum versagt. Kurz zuvor noch hatte er von Katharina Kippenberg, der Mitinhaberin und geistigen Mitbetreuerin des Insel-Verlages, der Freundin Rilkes, einen Brief erhalten, in dem sie ihrem Wunsch und ihrer Hoffnung Ausdruck verlieh, ihn demnächst als Autor ihres Verlags begrüßen zu dürfen; es sollte nicht mehr dazu kommen. Statt dessen entfesselte die im September 1936 erfolgte Veröffentlichung des Gedichts „Der Fackelläufer“, in dem der Dichter die Entlarvung von Hitlers Kriegsplänen in der Vision des Amoklaufs der Nazibestie mit der Reminiszenz an den Reichstagsbrand verschmolz, im braunen Blätterwald eine sich durch lange Zeit hinziehende, wütende Hetze gegen den Verfasser, während ein anderes Gedicht: „Ein Neger erringt den Olympiarekord für die USA“, das den Sportsieg des Negers Jesse Owens im Berliner Olympiastadion 1936 zum Anlaß nahm, um gegen die Rassentheorie zu Felde zu ziehen, und von freiheitlichen Zeitungen und Emigrantenblättern nachgedruckt wurde, den Ruf des Dichters weit über die Grenzen seiner Heimat hinaustrug.
Mittlerweile war die deutsche Literaturkritik auf Sperbers lyrisches Werk aufmerksam geworden, und die bedeutendsten Literaturzeitschriften veröffentlichten oft begeisterte Besprechungen über Gleichnisse der Landschaft und Geheimnis und Verzicht. In der Annahme, es handle sich um einen „Volksdeutschen“ hielten sie mit ihrem Lob nicht zurück – und mancher Mitarbeiter mußte deshalb wohl einen Rüffel der Reichsschrifttumskammer einstecken. Eine im Pariser Neuen Vorwärts vom 2. September 1939 erschienene Glosse wirft darauf ein bezeichnendes Licht. Unter der Überschrift „Mißgeschick“ heißt es dort:
In der braunen Literaturzeitschrift Das deutsche Wort lesen wir die folgende Rezension einer lyrischen Neuerscheinung: „Von weither kommt diese Stimme: aus dem rumänischen Land. Aber was sie aussagt und singt, das ist uns so nah und vertraut, als hätten wir es im Traum vor uns hingesprochen. Es handelt sich um keinen rumänischen Dichter, sondern um einen Volksdeutschen, einen Auslandsdeutschen, einen geknechteten Bruder. Und das Deutsch, in dem seine Stimme zu uns redet, ist schlicht und groß. Verzaubert und erschüttert lauscht man dem Klang dieser Verse und fühlt sich emporgehoben, erlöst und befreit… Der schmale Band enthält lyrische Stücke, die einem Menschen zum Schicksal, vielleicht sogar zum Verhängnis werden können.“ Das letztere glauben wir allerdings. Jene ,lyrischen Stücke‘ können dem Hitlerblatt Das deutsche Wort in der Tat zum Verhängnis werden. Denn der so hymnisch gelobte, urdeutsche Volksbruder aus Rumänien, dieser lyrische Erlöser und Befreier ist – Alfred Margul-Sperber aus Czernowitz, seines Zeichens Jude, ,Kulturbolschewist‘ und Verfasser eines Gedichts auf den hingerichteten van der Lubbe.
Josef Weinheber, der ja bekanntlich auf die jüdischen Dichter Österreichs wie z.B. Franz Werfel und Albert Ehrenstein sehr schlecht zu sprechen war, weil sie zu einer Zeit, in der er, der anonyme kleine Postoffizial, mit seinen formstrengen klassizistischen Gedichten neidvoll vergeblich um den Lorbeer rang, allenthalben Erfolg ernteten, fraß an Sperbers Gedichten richtig einen Narren und geizte in seinen an ihn gerichteten Briefen nicht mit begeistertem Lob, wenngleich er einen von ihnen mit dem freimütigen Bekenntnis eröffnete:
Ich bin Wiener und Antisemit.
In einem Artikel über Weinheber, den Otto Basil kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Plan veröffentlichte, erzählte er, wie es in den Nazijahren gelegentlich einer Beratung über die Zusammenstellung einer Anthologie österreichischer Lyrik zu einem heftigen Auftritt zwischen Weinheber und den anderen Teilnehmern kam, weil er, ungeachtet der in Kraft befindlichen Rassenmaßnahmen, die Aufnahme von Gedichten Sperbers durchsetzen wollte. Als er auf taube Ohren stieß, verließ er mit dem Ausruf: „Er ist zwar ein polnischer Jud, aber ein großer Dichter“ mit zorngeröteten Wangen die Verlagssitzung.
Als in den dreißiger Jahren die Deutsche Tagespost, das Organ der Bukowiner Volksdeutschen, sich rückhaltlos in den Dienst der Faschisierung des Landes stellte und zu einer Giftküche der antisemitischen Nazipropaganda wurde, ließ sich Sperber keine Gelegenheit entgehen, von Burdujeni aus die Pfeile seines ätzenden Spottes gegen die aufhetzerische braune Journaille zu schleudern, die in ihren Erwiderungen mangels triftiger Argumente nur allzu oft zu persönlichen Ausfällen ihre Zuflucht nahm. Der stets polemiklüsterne „Niggerschädel vom Schlachthaus“, wie ihn die Naziskribenten von der Tagespost apostrophierten, nahm mit Freuden den ihm zugeworfenen Fehdehandschuh auf und blieb ihnen keine Antwort schuldig. Die sich daraus entspinnende Pressefehde, in der Sperber sein polemisches Talent glänzen ließ, bildete dank seiner spottgetränkten, witzigen Pamphlete lange Zeit die Sensation der amüsierten Bukowiner Zeitungsleser.
Wenn die Literaturgeschichtsschreibung Österreichs die in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Donaumonarchie entstandene deutschsprachige Dichtung auch heute noch gerne für sich in Anspruch nimmt, so mag dies vielleicht in solchen Fällen seine Berechtigung haben, in denen wesentliche Merkmale österreichischer Ausdrucksweise und österreichischer Geisteshaltung deutlich in Erscheinung treten. Unter diesem Gesichtspunkt mag Sperber, der seine „dichterischen Weihen“ doch noch als Wiener Gymnasiast und hernach als Leutnant der k.u.k. Armee durch Vorbilder wie Karl Kraus, Felix Braun und Georg Trakl erhalten hat – und der demnach gewissermaßen als Vertreter des Übergangs von österreichischer zu rumäniendeutscher Poesie angesehen werden kann – rechtens ruhig auch dort, an der Seite eines Weinheber oder Waldinger etwa, seinen Platz bewahren. Und wenn Joseph Nadler „stilisierte Wiedergabe der Wirklichkeit bei starker Neigung zu symbolhaften Darstellungsmitteln“ und „Denken in Bildern und Reden in Gleichnissen“ und Herbert Eisenreich „Reserve gegenüber jeder Modernität und erst recht gegenüber den literarischen Moden“ und „Zweifel an der faktischen und Glaube an die sprachliche Realität“ als typische Erscheinungsformen österreichischer Dichtung bezeichnen – was neuerdings angesichts der sprachmanipulationsfreudigen Wiener Inventionistengruppe eines Jandl, Rühm, Handke usw. nur noch fragwürdig erscheinen muß –, so treffen diese Wesenszüge gewiß höchst augenfällig auch auf Sperbers lyrisches Schaffen wie übrigens auch auf das der meisten seiner Bukowiner Dichtungsgefährten zu.
Neuerlich stößt man des öfteren – zumal seit Paul Celans Hervortreten das Interesse für diese bis dahin im Verborgenen blühende Dichtungslandschaft der Bukowina ins Licht öffentlicher Literaturdiskussion gerückt hat – auf die nur sehr bedingt zutreffende Hypothese von der Existenz eines um Sperber gescharten, von ihm geistig gelenkten Kreises, aus dem als jüngstes Reis eben Paul Celan hervorgesprossen sei. Diese z.B. von Joseph Strelka (in „Brücken zu vielen Ufern“) oder von Ernst Schönwiese (im Vorwort zu Isaac Schreyers Gedichtband Das Gold der Väter) ausgesprochene Feststellung könnte zur irrigen Annahme führen, man hätte es bei diesen Dichtern mit einer mehr oder weniger geschlossenen oder gar straff organisierten Gruppe zu tun, wo es sich damit im Grunde nicht anders verhält als etwa bei der Schwäbischen Dichterschule oder dem sogenannten „Prager Kreis“. Es sind lediglich Dichter, deren gemeinsame Züge – wo solche feststellbar sind – von der Herkunft aus dem gleichen landschaftlichen Wurzelgrund und den ihrer geistigen Entwicklung zugrunde liegenden zeit- und ideenbedingten Bewegungskräften herrühren. Die ursächlichen Gründe für die Tatsache des späten Hervortretens und zeitlich begrenzten Bestandes dieser Dichterschar auf nichtdeutschem osteuropäischem Boden hat Ferdinand Kürnberger mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Durchbruch dieser Strömung in der intuitiven Voraussicht des genialen Erspürers und Deuters selbst entlegenster Kulturphänomene angedeutet. Sperbers Rolle innerhalb dieses Kreises könnte man am ehesten dahin deuten, daß er gewissermaßen der „ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht“ war. Er war es, der zu den meisten dieser Dichter, wo immer sie ihren Wohnsitz haben mochten, in persönlichen Beziehungen oder zumindest im Briefverkehr stand und sich nach Tunlichkeit die Veröffentlichung ihrer Hervorbringungen angelegen sein ließ. Noch als Mittelschüler in Wien stand er im Mittelpunkt eines Kreises junger dichtender Landsleute wie Zeno Einhorn, Joseph Kalmer, Kurt Goldstein, die ihn schon damals als Mentor und Autorität in Dingen der Poesie anerkannten. Nach Rumänien zurückgekehrt, fand er bald zu Albert Maurübers Nerv und dem Kreis von dessen Mitarbeitern: Arthur Kraft, Karl Sebastian (Salus) Markus, Lotar Rădăceanu, Ernst Maria Flinker, Bernhard Förster („Korporal Förster“). Als er um 1932, gemeinsam mit dem Herausgeber des vorliegenden Bandes, daranging, das Material für eine Anthologie Bukowiner Lyrik zu sammeln, deren Veröffentlichung nur durch Hitlers Machtergreifung vereitelt wurde, trat er zunächst in briefliche, hernach, gelegentlich eines Wiener Aufenthaltes, auch in persönliche Beziehung zu den meisten der Bukowiner Dichter, die schon seit langem in Österreichs Hauptstadt lebten, wie Kamillo Lauer, Isaac Schreyer, Victor Wittner, Heinrich Schaffer, Erich Singer, Hugo Maier. In der Bukowina selbst, zur Zeit seines Wirkens als Journalist und später, da er von Burdujeni aus seine publizistische Tätigkeit fortsetzte, pflegte er ständig freundschaftlichen oder kameradschaftlichen Umgang mit Moses Rosenkranz, Rose Ausländer, Georg Drozdowski, Jakob Klein-Haparash, David Goldfeld, Johann Pitsch, Robert Flinker, Bruno Harth, Siegfried Laufer, J. Sonntag, Norbert Feuerstein, Ernst Cara, Tina Marbach, Ariadne Löwendal, Salome Mischel-Grünspan, Joseph Kruh, Kuby Wohl, Jona Gruber u.v.a. In Bukarest traten in den vierziger Jahren Adrienne Prunkul-Samurcaş und Lotte Berg und als Vertreter dieser jüngeren Generation Paul Celan, Immanuel Weissglas, Elisabeth Axmann und Manfred Winkler hinzu. Keiner konnte sich der Ausstrahlungskraft seiner starken, originellen Persönlichkeit, seinem kaustischen Witz und seinem ursprünglichen, gesunden Humor, der anregenden Wirkung seines auf reichem, gründlichen Wissen gegründeten Gespräches entziehen; keiner, der nicht seine geistige oder tatkräftige Förderung an sich erfahren hat. Einzig in diesem Sinn mag es dennoch berechtigt sein, von einem Kreis Alfred Sperbers zu sprechen.
Für die meisten, zumal für die jüngere Generation unserer einheimischen Autoren, jene der heute etwa Dreißig- bis Vierzigjährigen, ist Sperber fast schon zu einer geschichtlichen Gestalt geworden, so daß das so sprühend lebendige Bild des Menschen Sperber allzu früh zu verblassen droht. Der Gründe sind vielerlei. In den letzten acht Jahren seines Lebens war der Dichter durch seine Krankheit in das enge Geviert seiner von Bücherstapeln überquellenden Wohnung gebannt und nur die nächsten und getreuesten seiner Freunde suchten ihn daheim auf; so ward er für die Jüngeren, deren Entwicklung, er stets mit lebendigster Anteilnahme verfolgte, beinahe so etwas wie eine Legende geworden, mit der sich keine faßliche Vorstellung verband – wenn das Bild seiner dichterischen Persönlichkeit ihnen durch die zumeist sehr einseitige Behandlung im Literaturunterricht nicht geradezu verleidet worden war. Was hinwieder die Wirkung seines lyrischen Œuvres in den darauffolgenden Jahren betrifft, hatte immer mehr ein Wandel in der Lyrikkonzeption eingesetzt, der der Beurteilung seines Schaffens nicht eben günstig sein konnte. Was Martin Beheim-Schwarzbach in bezug auf Christian Morgenstern schreibt, trifft in gleichem Maße auch auf Alfred Margul-Sperber zu: „Morgenstern ist ein Archetyp des Poeten“, heißt es dort, „der heute für gering, ja, nicht einmal mehr für recht zur Zunft gehörig gilt, indem es ihm an allem gebricht, was heute gefragt wird, an Zerrissenheit, Desperation und Obszönität, und der sogar das Gegenteil dieser Elemente aufweist, Stilprinzipien vorwiegend chaotischer Prägung, mit denen er nicht aufwarten kann, beherrschen jetzt das Feld. Aufschrei und Schaum vorm Mund, Skepsis und Bitterkeit sind Trumpf, das Versmaß ist abgemeldet, der Reim erst recht, Gedankenlyrik ist nur bei extrem rebellischen Tendenzen, im Dienste des Haders zulässig. Sein Laster, mit den Augen heutiger Literaturbetrachtung als solches gesehen, heißt schlechtweg: Harmonie… Zur Aufnahme in einen der olympischen Kader der Jahrhundertmitte wiegt das nicht mit.“ Wie Sperber selbst darüber dachte, geht aus nachfolgenden, 1961 gedichteten Gelegenheitsversen hervor, die er „Über eine Modefloskel der zeitgenössischen Literaturkritik“ überschrieb:
Verschont mich doch mit Etiketten, bitte,
Ich bin kein Dichter der Jahrhundertmitte,
Ich habe meine goldne Fracht fürs Morgen
Aus dem vergeßnen Gestern treu geborgen,
Indem ich ganz dem Heute angehöre
Und auf den Menschen und das Leben schwöre!
(Wer wird bei diesen bekenntnishaften Versen nicht an Karl Kraus gemahnt, dessen Einfluß sich Sperber so tief verpflichtet fühlte!) Dem in diesen Versen rückhaltlos ausgesprochenen humanen Bekenntnis zur Gegenwart entspricht es jedoch durchaus, daß sich Sperber – dennoch – stets für alles Neue aufgeschlossen zeigte, und wer vielleicht glaubt, der alternde Dichter habe sich in seiner Hinneigung zur traditionellen Formstrenge grollend in seinen Schmollwinkel zurückgezogen und von der jüngsten Lyrikentwicklung nichts wissen wollen, geht mit dieser Annahme gründlich fehl. Allerdings wußte er mit seinem erstaunlich hellhörigen Ohr und der Erfahrung des durch Jahrzehnte unablässig am Gedicht Wirkenden den Ernst der Aussage, auch wo sie sich der kühnsten sprachlichen Mittel bediente, von dem Abstrusen, lediglich um billiger Schockwirkung willen, von einer auf Stelzen einherschreitenden Nonsenspoesie wohlweislich zu unterscheiden. Wenn er auf ein derartiges Wortprodukt stieß, das mit dem Anspruch, ein Gedicht zu sein, auftrat, mochte es Wohl vorkommen, daß er seinem Unmut darüber mit dem Stoßseufzer:
Gott sei Dank, daß man schon so alt ist!
Luft machte, was ihn jedoch nicht daran hinderte, in Hans Magnus Enzensberger einen bedeutenden Dichter zu sehen und unermüdlich bei seinen Freunden für dessen Verständnis zu werben. Wie er einstmals, während seiner Pariser und New Yorker Wanderjahre, als einer der ersten die epochale Bedeutung Valérys und Eliots erspürt hatte, so erkannte er 1944 als erster in vollem Ausmaß die Bedeutung seines damals noch völlig unbekannten jungen Landsmannes und Freundes Paul Celan und ebnete ihm den Weg zum künftigen Ruhm, indem er Max Rychner, Ivan Goll, Otto Basil und andere auf dessen Talent hinwies – nicht anders, als er ihn kurz zuvor an Ion Camion gewiesen hatte, damit dieser erstmals Gedichte Celans in der mehrsprachigen Bukarester Literaturzeitschrift Agora veröffentliche. Es sind Dinge, die heute bereits in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Es ist kaum je Zutreffenderes und Zukunftsweisenderes über Paul Celan geäußert worden als jenes Empfehlungsschreiben, das Sperber an Otto Basil – damals Herausgeber des Plan, der ersten Wiener surrealistischen Avantgardezeitschrift nach dem Zweiten Weltkrieg – gerichtet hat, um ihn auf das Typoskript von Celans erstem Gedichtband aufmerksam zu machen.
Ohne Ihrem gewiß zuständigeren Urteil vorzugreifen
beginnt er dort,
möchte ich Ihnen gerne sagen, daß Paul Celan der Dichter unserer westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet habe… Celan hat ausschließlich hier in Rumänien, also in einer nichtdeutschen Sprachumgebung gelebt. Aber seine Gedichte scheinen zu beweisen, daß es einen erlauchten Geist der Sprache gibt, der nicht auf den lebendigen Umgang von Mund zu Mund angewiesen ist. Sein Werk scheint mir unter allen Äußerungen der jüngsten deutschen Dichtergeneration die eigenartigste und unverwechselbarste… Nicht nur, daß die Begebenheiten seiner Dichtung in einem mythischen Raum spielen – das Licht, das darin waltet, entstammt geradezu einem anderen Spektrum –: auch die poetische Wirklichkeit ist transfiguriert, es ist sozusagen der Astralleib dieser Wirklichkeit, was uns begegnet. Das Emotionelle, Sonore, Visionäre, alles hat versetzte Vorzeichen, die Assoziation des Traums, die (auch sprachliches) Neuland abtastet. Ich für mein bescheidenes Teil glaube, daß der Sand aus den Urnen das wichtigste Gedichtbuch dieser letzten Dezennien ist, das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes.
Zwei für Sperbers Wesen bezeichnende Eigenschaften enthüllt dieser ungewöhnliche Brief: einerseits die intuitive Fähigkeit, sich in die gedankliche und sprachliche Welt eines anderen Dichters einzuleben, mag sie auch noch so anders geartet sein als seine eigene, und seine Erkenntnisse in überzeugende und klärende Worte zu fassen; andererseits wieder seine grenzenlose selbstlose Hilfsbereitschaft, das dringliche Verlangen, unter völliger Hinwegsetzung über seine eigene Person, seine eigenen Interessen, dem Freunde da, wo er von dessen Wert zutiefst überzeugt ist, zu dessen gerechter Beurteilung, zur Durchsetzung seines künstlerischen Strebens zu verhelfen. Mit der gleichen Hingabe, dem gleichen glühenden Eifer hatte Sperber sich Jahrzehnte zuvor in seiner Bukowiner Heimat für das Schaffen eines Moses Rosenkranz, einer Rose Ausländer, eines lzik Manger, eines Kuby Wohl, des Dichter-Bildhauers Opanas Schewtschukiewitsch eingesetzt, in der Presse manche Lanze für sie gebrochen, sie bei der Zusammenstellung ihrer Erstlingsbände beraten, ihrem Schaffen durch Übersetzungen zu breiterer Wirkung verholfen. Wenn er Verse seiner Dichterkollegen in einer öffentlichen Vorlesung zu Gehör brachte, nahm er diese Gelegenheit nie wahr, auch seine eigenen vorzulesen, und als er 1936 eine Auswahl von Gedichten Bukowiner Lyriker im Literaturalmanach der Prager Selbstwehr mit einführenden empfehlenden Worten veröffentlichen ließ, sah er davon ab, auch eigene mit aufzunehmen – so hielt er, der unermüdlich Fördernde, Werbende, Beratende, Ermutigende, seine eigene Leistung, stets im Hintergrund und begnügte sich meist damit, seine Gedichte in engstem Freundeskreis vorzulesen. Seine nie versagende Hilfe wurde kaum je als solche empfunden, man nahm sie gedankenlos als eine Selbstverständlichkeit hin, denn Sperber, der große, pathetische Worte nicht mochte und dem jedes feierliche Getue zuwider war, half scheinbar unbekümmert, alles auf die leichte nehmend; half mit einem beiläufig hingeworfenen Witzwort, einen flüchtigen Gespräch zwischen Tür und Angel, und der, dem seine Hilfe zugute kam, wurde sich kaum bewußt, welche Mühe, welchen Zeitaufwand, welche Selbstüberwindung und zuweilen Demütigung es den stets Hilfsbereiten gekostet hatte, dem Wunsch des Hilfesuchenden zu genügen. Wie viele von denen, die heute noch in unserem engeren Kulturbetrieb tätig sind, die es seither berechtigterweise zu Namen und Ansehen brachten, denken überhaupt noch daran, daß sie ihre geistige Existenz, ihren Aufstieg, dem selbstlosen, uneigennützigen Eintreten Sperbers, seiner freudig auf sich genommenen Förderung zu danken haben. Und nicht immer erwiesen sich jene, für die er mit seiner ganzen Persönlichkeit eintrat, als dessen würdig. Wie oft wurde ihm für sein Eintreten mit krassem Undank, mit Mißgunst und Verrat gelohnt. Er, der gutherzige Riese, trug es mit Würde, mit scheinbarem Gleichmut, stolz und gelassen, und selten kam ihm ein Wort der Klage darüber über die Lippen; wenn er indes erfuhr, daß einem seiner Freunde Unrecht geschah, dann schwoll die Zornader an seiner Stirn, da wurde der gute zum polternden Riesen, der sich nicht eher Rast gönnte, als bis dem Freund Gerechtigkeit widerfuhr, denn Sperber hatte – hierin seinem langjährigen Freunde, dem bedeutenden Erzähler Oscar Walter Cisek gleichend – den höchsten Begriff von der Freundschaft und verband damit die Verpflichtung, seinen Freunden in jeder Lebenslage mit Rat und Tat beizustehen.
Das Bild Alfred Margul-Sperbers wäre daher gewiß nicht vollständig, wenn man nicht auch des enthusiastischen und in seinem Enthusiasmus mitunter allzu konzilianten Anregers und Anfeuerers gedächte.
Wenn ich mein Gedächtnis um vierzig Jahre zurückgleiten lasse, sehe ich ihn, den freundlichen Riesen, stets von einer Schar ihm kaum bis an die Achselhöhlen reichender Strubbelköpfe umringt, durch die Straßen von Czernowitz stapfen. Er hatte es durchgesetzt, daß die Tageszeitung, in deren Sold er damals stand, ihm einmal wöchentlich den Raum für eine Poesiesparte zur Verfügung stellte, die er „Jugendstimmen“ nannte und in der er jungen Talenten zur Veröffentlichung ihrer ersten poetischen Gehversuche verhalf. Ihnen stand er mit Rat und Tat zur Seite, sie belehrte und förderte er uneigennützig und vergaß darüber stets sein eigenes Schaffen, das er immer dem der anderen hintanstellte. Vielen, deren Entwicklung er gefördert hat, ist er so durch Jahre zum Leitstern geworden.
Was ihn als Tagesschriftsteller, als Publizist wie als der sozialistischen Idee und seinem Lande treu ergebenen politischen Dichter immer wieder dazu trieb, seine Feder zu Nutz und Frommen seiner Mitmenschen zu gebrauchen, war ja auch seine Hilfsbereitschaft und Herzensgüte, eine Güte, die keine Grenzen kannte. So groß war sein gütiges Herz, daß die normalen menschlichen Körpermaße ihm nicht Raum zu bieten vermocht hätten, daher hatte die unergründliche, weise Natur ihn mit einem Körper ausgestattet, der den seiner meisten Mitmenschen um zweier Häupter Länge überragte; den Riesen Margul nannten ihn drum auch seine Freunde. An einen Baum mußte man bei seinem Anblick denken, und er selber mochte sich wohl für einen Herzbruder und Vertrauten der Bäume gehalten haben, denn immer wieder kehrt Schau und Gestalt des Baumes in seinen Versen wieder – man denke bloß an Gedichte wie „Der krumme Baum“, „Der Wolkenfresser“, „Die Linde“, „Der letzte Baum“, „Baum im Winter“ –, um der Bäume tiefstes Wesen schien er zu wissen, und erschüttert lesen wir heute jenes späte, vom Hauch der Todesgewißheit berührte Gedicht:
Ich weiß es vom Traum,
Der flüstert es tief:
Ich bin ein Baum,
Der dem Walde entlief. –
Der Sommer verblich,
Und die Heimat ist weit.
Nun friert es mich
In der fremden Zeit
– Was rauscht der Wald?
Ich erwarte ihn schon.
Jetzt kommt er wohl bald,
Der verlorene Sohn.
Der Dichter, dessen letzte zehn Lebensjahre von der Gewißheit des unabänderlichen Endes gezeichnet waren, gab sich keiner Täuschung hin – er, der das Leben, Natur, Kinder und Tiere so unendlich geliebt hatte, sah dem Tode gefaßt und dennoch bange entgegen. Daß die Gedichte seiner letzten Jahre nahezu ausschließlich um den Gedanken des Todes kreisten, verbindet ihn mit dem geliebten Dichter seiner Jugendjahre, mit Franz Werfel, der, gleich ihm ein hymnischer Lobpreiser des Lebens und der Menschenbrüderschaft, in seinen letzten, von Krankheit des Herzens gezeichneten Jahren, zum Dichter der Todesangst und der Todeserwartung geworden war. Immer wieder hatte während dieser Zeit Sperbers Denken und Dichten um seine Todesstunde gekreist, nahezu sein gesamtes lyrisches Schaffen stand in dieser Daseinsspanne unter dem drohenden Zeichen des Abschieds vom Leben, und so geschah es denn in jener nächtlichen Stunde, da sich das Leben des Dichters vom Körper losrang, nicht anders, als wie er es in einem seiner späten Gedichte ahnend vorausgestaltet hatte:
Weißt du, wer auf dich wartet, dort
Im andern Zimmer, die ganze Zeit?
Bald heißt er dich folgen und geht mit dir fort,
Und wenn du dich umsiehst, bist du schon weit.
Noch einmal hatte der Dichter in einem seiner letzten, wenige Monate vor seinem Tode entstandenen Gedicht: „Die Wandlung“, auf sein ganzes Leben zurückgeblickt und gewissermaßen die für sein Dichtertum entscheidenden Themen in den Rahmen von Versen gespannt, aus denen einem der Wind des Aufbruchs in eine unbekannte Ferne entgegenzuwehen scheint:
Das Lied von der Kindheit hat Duft in den Haaren;
So fremd war die Liebe, so kalt war der Schnee,
Und alles Vergeßne , erlitten, erfahren,
Liebkost mich und flüstert und tut nicht mehr weh.
In Wolken die Nacktheit der Frauen zu ahnen,
Im Schreiten des Mädchens geheimsten Gesang:
Das Träumen des Knaben fand schwindelnde Bahnen,
Wenn ihm nicht der Gang auf der Erde gelang… –
Und wenn es beginnt, dies Geheimnis der Reise,
Ist nichts mehr vergessen und nichts mehr vorbei:
Wie weit wird die Welt und wie werde ich weise,
Wie jung bin ich wieder, wie leicht und wie frei!
Sperber glaubte an die trostspendende Kraft der Poesie, die für ihn das höchste Gut des Lebens bedeutete, und in leidvollen Augenblicken zitierte er immer wieder des Satz aus Börnes Denkrede auf Jean Paul:
Das Leben wäre ein ewiges Verbluten, wenn nicht die Dichtkunst wäre.
Er glaubte an ihre heilsame Kraft über den Tod hinaus und gab diesem Gedanken in einer Strophe aus den letzten Lebensjahren ergreifenden Ausdruck:
Wenn ich dereinst den Freunden fehle
In dieser schönen Welt voll Licht,
Besinnt sich lächelnd meine Seele
Auf ein vergessenes Gedicht.
Um Sperbers Bedeutung voll gerecht zu werden, genügt es nicht, sie ausschließlich von der engen Warte der Dichtung unseres Landes aus zu betrachten, er ist aus dem Gesamtgefüge der deutschen Lyrik nicht wegzudenken, und wenn sich diese Erkenntnis heute noch nicht voll durchgesetzt hat und gewisse Modetendenzen ihrer Wirkung im Augenblick auch nicht gerade günstig sein mögen, so zweifeln wir keineswegs daran, daß sich letzten Endes Josef Weinhebers Urteil – eines von vielen dieser Art – behaupten wird:
Nun ich Sie kenne, finde ich Ihre Gedichte noch unbegreiflicher. Sie sind so schön, daß sie einer ganzen Welt zum Trotz fortleben werden.
Der Herausgeber dieses Bandes ist sich dessen bewußt, mit ihm noch nicht die von berufener Seite wiederholt angeregte wissenschaftlich kommentierte Ausgabe des Sperberschen Werkes vorgelegt zu haben. Sein Bestreben ging lediglich dahin, ein aufnahmebereites Leserpublikum mit Sperbers Dichtungswelt vertraut zu machen und die vergriffenen Auswahlen durch eine umfassendere zu ersetzen.
Er möchte nicht schließen, ohne der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß gewissenhafter arbeitende und befähigtere Fachkräfte in Kürze daran gehen mögen, der oben ausgesprochenen berechtigten Forderung zu entsprechen.
Alfred Kittner, Nachwort, 28.6.1975
– Über Alfred Margul-Sperber. –
Als der 27jährige Paul Celan im Dezember 1947 von Bukarest nach Wien reiste – Celan war damals ein gänzlich unbekannter Autor, der lediglich in der rumänischen Zeitschrift Agora ein paar Gedichte veröffentlicht hatte –, trug er außer dem Manuskript seines Lyrikbandes Der Sand aus den Urnen ein Empfehlungsschreiben bei sich, einen Brief an Otto Basil, den Herausgeber der wichtigsten Wiener Avantgarde-Zeitschrift Plan. In jenem Schreiben hieß es u.a.:
Ohne Ihrem gewiß zuständigen Urteil vorzugreifen, möchte ich Ihnen doch gerne sagen, daß Paul Celan der Dichter unserer westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet habe und der diese Gläubigkeit reichlich lohnt… Sein Werk scheint mir unter allen Äußerungen der jüngsten deutschen Dichtergeneration die eigenartigste und unverwechselbarste… Ich für mein bescheidenes Teil glaube, daß Der Sand aus den Urnen das wichtigste deutsche Gedichtbuch dieser letzten Dezennien ist, das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes.
Diese ebenso kühnen wie hellsichtigen Sätze stammen von Alfred Margul-Sperber, dem bedeutenden deutschsprachigen Lyriker Rumäniens. Unsere gängig literarischen Nachschlagewerke freilich erwähnen diesen Autor nicht einmal, dem breiteren Publikum bei uns ist es vermutlich kaum bekannt, daß es in Rumänien eine große deutschsprachige Volksgruppe mit einer nicht unbeachtlichen Literatur gibt. Wer wollte, könnte sich in der monatlich in deutscher Sprache in Bukarest erscheinenden Zeitschrift Neue Literatur über die Entwicklung dieser Literatur informieren, doch leider reicht das literarische Interesse oft nur bis an die Landesgrenzen. So ist denn auch Alfred Margul-Sperber bisher bei uns die Wirkung versagt geblieben, die er verdiente: Es war – so sagt es Alfred Kittner – das Verhängnis in Margul-Sperbers Leben und hat seine Dichtung so oft um ihre verdiente Resonanz gebracht, „daß sie stets fern von den Orten entstand, in denen über den Erfolg entschieden wurde“.
1975 nun hat Alfred Kittner, wie Margul-Sperber selbst ein namhafter Lyriker und Förderer der deutschsprachigen Literatur Rumäniens, einen neuen Versuch unternommen, Sperbers Lyrik bekannt zu machen. Im Kriterion Verlag (Bukarest) legte er den über 600 Seiten starken Band Geheimnis und Verzicht / Das lyrische Werk in Auswahl vor und schrieb dazu ein umfangreiches essayistisch-interpretatorisches Nachwort.
Alfred Sperber wurde am 23. September 1898 in Storozynetz, einem kleinen Städtchen in der Bukowina, als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren. Im Andenken an seine Mutter, die mit Vornamen Margula (= Margarete) hieß, nannte er sich später als Schriftsteller Margul-Sperber. Der Junge besuchte die Grundschule seiner Heimatstadt, später dann das Gymnasium in Czernowitz, der Hauptstadt des damaligen Kronlandes Bukowina. In Wien, wohin die Familie 1914 übersiedelt war, machte Alfred Sperber 1916 das Notabitur und nahm dann bis zum November 1918 als Einjährig-Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Schon als k.u.k. Leutnant in Ostgalizien und in der Ukraine schrieb er Gedichte gegen den Krieg und verfaßte pazifistische Artikel.
Nach Kriegsende begann Margul-Sperber in Czernowitz, das jetzt zum neuen Königreich Rumänien gehörte, mit dem Jura-Studium und entfaltete daneben eine rege schriftstellerische Tätigkeit; seine Lyrik und Prosa erschien in avantgardistischen Zeitschriften u.a. in Czernowitz, Kronstadt und Zagreb. Schon bald aber gab Margul-Sperber das ungeliebte Studium auf und reiste 1920 nach Paris und ein Jahr später nach New York. Jahre danach schrieb er:
War Leiter einer Emigrationsstation in Paris, Metallarbeiter, Straßenhändler, Geschirrwäscher, Beamter und zuletzt Prokurist einer Großbank in New York.
In Paris schloß der Dichter enge Freundschaft mit Ivan Goll, und in New York war er ständiger Mitarbeiter der von der Kommunistischen Partei der USA herausgegebenen New Yorker Volkszeitung, für die er Rezensionen, Kulturberichte, Gedichte und Prosaskizzen schrieb.
1924 kehrte Sperber, lungenkrank, nach Rumänien zurück. Er gründete den Bukowiner Provinzboten, den er nahezu allein mit Beiträgen versorgte, und von 1926 bis 1932 veröffentlichte er als Redakteur des Czernowitzer Morgenblattes eine Fülle von Gedichten, Feuilletons, Skizzen, Satiren und Kritiken; außerdem stellte er hier neue Dichter vor, unter ihnen Rose Ausländer, die heute in Düsseldorf lebt und erst jetzt die ihr gebührende Anerkennung findet. Margul-Sperber, von 1933 bis 1940 Fremdsprachenkorrespondent einer Fabrik in Burdujeni, publizierte 1934 seinen ersten Gedichtband Gleichnisse der Landschaft, 1939 den zweiten: Geheimnis und Verzicht. Während des Zweiten Weltkrieges schlug er sich mühsam als Sprachlehrer in Bukarest durch und entging nur knapp der Deportation in ein Vernichtungslager. Nach der Befreiung Rumäniens im Sommer 1944 arbeitete er als Schriftsteller für Presse und Funk, seit 1952 freiberuflich. Es erschienen noch eine Reihe von Gedichtbänden und Bücher mit Übersetzungen. Für seine Übertragungen rumänischer Volksdichtung, die vier Bände umfassen, wurde er 1954 mit dem Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. Am 3. Januar 1967 ist Alfred Margul-Sperber in Bukarest gestorben.
Bevor er zum Dichter des Buchenlandes, der Bukowina, wurde, stand Sperber in seinen Anfängen dem Nachexpressionismus eines Ivan Goll und Ludwig Rubiner nahe. In Paris hatte er die Werke von Cocteau, Jacob und Apollinaire kennengelernt, in Amerika übersetzte er Frost, Sandburg und Cummings – das alles blieb nicht ohne Einfluß auf sein eigenes Schaffen. Übrigens hatte er als erster, noch vor Ernst Robert Curtius, The Waste Land von T.S. Eliot ins Deutsche üertragen; Eliot nannte diese Übersetzung „admirable“. Wichtig für Sperbers geistige Entwicklung war die Lektüre von Henry David Thoreaus Walden: tief beeindruckten ihn Thoreaus Nonkonformismus, seine Unabhängigkeit, sein Widerstand gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und das pantheistische Naturschwärmertum.
Entscheidend für die Dichtung Margul-Sperbers wurden die Begegnungen mit den Werken von Franz Werfel, Stefan George und Karl Kraus. Eine zeitlang stand er, der fremden Einflüssen ohnehin leicht ausgesetzt war, ganz im Banne der „Weltfreund“-Poesie Werfels, deren „O Mensch!“-Pathos sich unmittelbar in seinen Versen spiegelt, etwa im „Sang von unserer Sendung“, in dem es heißt:
Manchesmal, im Straßenstaub und hupengepeitschten Menschengewühl,
Stürzt Himmel in uns ein: Bruder!!!
O Mensch!
…
Bleicher Sünder hinterm Felcherrntische,
Aktenmensch im Regen deiner Wische,
Henker, der den Mörder grinsend köpfte,
Wucherer, der alte Krüppel schröpfte,
Bankgenies, Tragöden, Snobs, Soubretten,
Geile Dirnen über tausend Betten,
Ewiger Prolet mit Filzrands Heiligenschein –
Alle sollt ihr unsre Brüder sein!
Von Werfel führte ihn der Weg zu George, von dem er strenge Wortzucht und handwerkliche Präzision, und zu Kraus, von dem er Mut zur Tradition und kämpferisches Ethos lernte. In dieser Zeit sagte sich Alfred Margul-Sperber los von den expressionistischen Ekstasen seiner Anfänge, auch von weltumspannender Thematik, bediente sich fortan bewußt einer traditionellen Formensprache und wandte sich der heimatlichen Landschaft, der Natur und dem Mythos zu.
„Mit seinem Werke“, so sagte Sperber 1934 im Vorwort zu seinem ersten Gedichtband,
bekennt sich daher der Verfasser ausschließlich zur Bukowina, deren Landschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den unablässig variierten Gegenstand seiner Dichtkunst bildet und für die im eigentlichen Sinne diese Gedichte geschrieben und bestimmt sind. Der Verfasser bekennt sich weiters freimütig zu allem Veralteten und Herkömmlichen in Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände und erklärt vorweg, daß er gerne darauf Verzicht leistet, den modernen Dichtern zugezählt zu werden. Er hat in bewußter Absicht seinen Stoffkreis abgegrenzt und zuweilen die Wahl des Themas bis zur ermüdenden Einförmigkeit getrieben.
Und noch 1961 bekannte sich Margul-Sperber mit einer gewissen trotzigen Koketterie zu seiner Un-Modernität, als er die Gelegenheitsverse schrieb:
Verschont mich doch mit Etiketten, bitte,
Ich bin kein Dichter der Jahrhundertmitte,
Ich habe meine goldne Fracht fürs Morgen
Aus dem vergeßnen Gestern treu geborgen,
Indem ich ganz dem Heute angehöre
Und auf den Menschen und das Leben schwöre!
Mit seinen Natur- und Landschaftsgedichten wollte Sperber nicht die Realität abmalen, sondern sie dichterisch durchdringen und in diese Durchdringung auch alle Unwägbarkeiten einbeziehen. „Ein Gedicht“, so hat er gesagt, „darf von der Wirklichkeit nicht mehr behalten, als eine Wolke von der Pfütze behält, aus der sie verdunstet ist. Eigentlich nicht mehr, als der Schatten noch davon behielt, den diese Wolke auf eine Sommerlandschaft wirft.“
Eines dieser Gedichte von Sperber hat den Titel „Der Tag der Landschaft“:
Der Morgen stand im Brand der Wolkenröten.
Sein Haupt hob schimmernd sich aus Duft und Tau.
Er trug im Haar den Sang der Hirtenflöten
Und Vogelstimmen durch den Glanz der Au.
Der Mittag war ein flammendes Verstummen.
Durch die gelähmte Stille schläfrig klang
Das Dengeln einer Sense und das Summen
Der Bienenschwärme auf dem Wiesenhang.
Der Abend kam wie eine goldne Träne.
Die letzten Winde wiegten sich zur Ruh.
Und durch die Bläue glitten Wolkenschwäne
Verklärt und selig ihrer Heimat zu.
Dann sank die Nacht herab auf sanfter Schwinge,
Das Antlitz überströmt von Sternenlicht.
Sie streichelte das Heimweh aller Dinge,
Und jedes ward Geheimnis und Verzicht.
Gewiß ist Alfred Margul-Sperbers Bekenntnis zur literarischen Tradition nicht ohne Problematik: zum einen, weil es den Dichter bisweilen allzu dicht an die literarische Konvention geführt hat, an das risikolose Benutzen einmal gefundener und vielleicht doch schon brüchig gewordener Formen; zum andern, weil die Hinwendung zur Tradition eine Abkehr von der Wirklichkeit kaschieren kann. Beiden Gefahren ist Margul-Sperber nicht entgangen, und manche seiner Gedichte halten kritischer Prüfung kaum stand. Wichtiger aber als die – zweifellos notwendige – Kritik an Sperbers Werk ist für uns heute, dieses Werk und diesen Dichter erst einmal kennenzulernen: ein Werk, das Josef Weinheber bewundert hat, („Ihre Gedichte… sind so schön, daß sie einer ganzen Welt zum Trotz fortleben werden“), und einen Dichter, dem Reinhold Schneider einst schrieb:
Sie führen die starke, dunkle Empfindungs-Bilderwelt Ihrer Heimat in das Gebiet der deutschen Sprache und des deutschen Gedichtes ein.
1945 hat Alfred Margul-Sperber eine kurze „Ars poetica“ veröffentlicht, in der er seine Ansicht von der Dichtung formulierte. Diese Grundsatzerklärung des deutschen Poeten aus der Bukowina sei hier abschließend vollständig zitiert:
Das Gedicht ist die Kunst, das Unsägliche zu sagen. Es ist ein Schweigen, in dem das Stumme gerade noch hörbar zu werden scheint: Denn das dünkt mir das wahre Wesen großer Dichtung zu sein, daß der Empfänger der dichterischen Mitteilung in ihr zu hören glaubt, was der Dichter eigentlich verschweigt, verschweigen muß. Der Dichter scheint in fremden Bildern, Schicksalen und Begebenheiten von seinem Leben auszusagen, aber das allein wäre ebensogut Prosa. Das Gedicht ist ein langsamer, lautloser Tanz des Heimwehs in der Einsamkeit, ein mondsüchtiges, gelöstes Schreiten des Heimwehs mit geschlossenen Augen und tiefem, sehnsüchtigem Atemholen durch die gläserne Helle der Einsamkeit, die dem Dichter Welt, Leben und Schicksal ist. Der zuckende Glanz des Jenseits liegt wie ein Reif auf dem Pfad des Dichters; und er durchschreitet ihn, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Das Gedicht ist die Erinnerung an ein Niedagewesenes, die Hoffnung auf eine Verwirklichung des Unerfüllbaren, das Lächeln eines Kindes über die Verworrenheit des Lebens, den Schauer der Vergänglichkeit und das Rätsel des Todes. Es ist die Gestaltung des Geheimnisses durch das Wort, das aus dem Brunnen der Stille tönt, der Duft einer unsichtbaren Blume, die Stimme des Traums, die erlösende Hingabe einer Wolke an die Sehnsucht des Ungestillten, die kühle Zärtlichkeit einer Schneeflocke, die im Kusse vergeht. Die Sprache des ersten Menschen tönt im Gedicht, der zum erstenmal die Dinge benannte, und das große kindliche Erstaunen der Augen leuchtet in ihm auf, die diese Dinge zum erstenmal sahen. Darum erkennen die Liebenden sich immer im Gedicht, denn die Liebenden fühlen mit dem Herzen des ersten Menschen. Und die Kinder, die noch nicht die Sprache der Menschen gelernt haben, sprechen die Sprache der Dichter.
Jürgen P. Wallmann, die horen, Heft 104, 4. Quartal 1976
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