PHANTASTISCHE HIMMELSKUNDE
Überm All liegt schützend ausgebreitet
eines Unbekannten ferner Mantel,
und so weit das Licht den Raum durchschreitet,
und so hoch des Herzens Himmelswandel,
regt sich alles mit verlorenem Lärme
noch in seiner keimerfüllten Wärme.
Ihm zunächst nach seiner ganzen Weite
kommt der Schöpfung große Atempause,
aller Stillen oberstes Gebreite
und das leichte Dach vom Weltenhause.
Dorten, wo kein Laut erwachen mag,
leben noch verschwistert Nacht und Tag.
Tiefer schwingt der Bogen alter Winde,
die von unentdeckter Stirn gerissen
früher Sonnen feurig Angebinde,
welche leuchten in den Finsternissen.
Und auf ihrem goldenen Himmelsritte
folgt Geleite jeder Sternenmitte.
Und noch tiefer wogt das Netz der Lichter,
um die Freiheit schwimmen die Kometen;
reißen Maschen, klaffen grüne Trichter,
und zu unterst schlafen Morgenröten.
Einer Quelle Rund erglänzt im letzten Rot,
und im tiefsten Kühl ein ferner Mantel loht.
Moses Rosenkranz
Es gehört gleichsam zum Pflichtpensum neuerer Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur der Bukowina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Alfred Margul-Sperber (1898–1967) als deren Spiritus rector, Integrationsfigur und unermüdlichen Förderer zu würdigen und zu rühmen. Geradezu mythisch überhöht und doch auch in lebendiger Unverwechselbarkeit tritt uns „Margul, der gute Riese“, wie ihn Moses Rosenkranz in einem Gedicht aus dem Jahr 1940 apostrophierte, aus Erinnerungen, Briefzeugnissen, Portraitskizzen, lyrischen Evokationen bukowinischer Autoren – von Rose Ausländer bis Paul Celan, von Alfred Kittner bis Kubi Wohl – entgegen. Darüber hinaus hatte der zum Vorzeigepoeten der deutschen Minderheitenliteratur im kommunistischen Rumänien avancierte Margul-Sperber auch in den 1950er und 1960er Jahren nachweislich als Verteidiger und Fürsprecher älterer gefährdeter sowie als geduldiger Ansprechpartner und Berater jüngerer Schriftsteller uneigennützig und folgenreich gewirkt. „Was ihn immer wieder dazu trieb, seine Feder zu Nutz und Frommen seiner Mitmenschen zu gebrauchen, als Tagesschriftsteller wie als Dichter“, schrieb der bukowinagebürtige Alfred Kittner (1906–1991) in einem bewegenden Nachruf, „war seine Herzensgüte, die keine Grenzen kannte“. Und der Erzähler Paul Schuster, langjähriger Redakteur der deutschsprachigen Bukarester Zeitschrift Neue Literatur, notierte 1987, aus eigener Erfahrung schöpfend:
Er, der Jude, war der Mentor […] aller sich in deutscher Sprache versuchenden Neulinge aus Siebenbürgen und dem Banat, der eigentliche Kindergärtner in der ödesten Zeit.
Über Alfred Margul-Sperbers abenteuerliche Biografie und weit verzweigte Korrespondenz, seine riesige Bibliothek und unheilbare Bibliomanie, seine phänomenale Belesenheit und sagenhafte Sammelleidenschaft, aber auch über seine Freude am Vexierspiel und den Hang, die eigene Vita mit phantasievollen Ausschmückungen zu garnieren, kursierten schon zu seinen Lebzeiten zahlreiche Anekdoten im kleinen rumäniendeutschen Literaturbetrieb, während er jenseits des ,Eisernen Vorhangs‘ ein völlig unbekannter Autor blieb. Und nach seinem Tod schnellten in Rumänien die Fragen hoch, ob seine geheimnisumwitterte literarische Hinterlassenschaft zu Forschungszwecken überhaupt zugänglich gemacht würde, was es denn alles darin zu entdecken gäbe und wie diese sachkundig zu edieren sei. Doch schon zwei Jahre nach dem Ableben Margul-Sperbers veröffentlichte der Jugendverlag Bukarest unter dem Titel Das verzauberte Wort seinen poetischen Nachlass 1914–1965 in einer von Alfred Kittner, dem jüngeren Freund, Wegbegleiter und vorzüglichen Kenner seines Œuvres, besorgten Edition, die Verschollenes und bislang Ungedrucktes ans Tageslicht förderte und zu einer Korrektur des in der kommunistischen Diktatur verfestigten Bildes eines Lyrikers führte, der sich den ästhetisch-normativen und weltanschaulich-restriktiven Vorgaben des Sozialistischen Realismus unterworfen hatte.
Zwar erschienen auch in den frühen 1970er Jahren gelegentlich ,Materialien‘ aus dem Nachlass Margul-Sperbers, die von seiner Frau Jessika (Jetty) zur Veröffentlichung freigegeben wurden, doch erst im Herbst 1975 – wenige Monate nach ihrem Tod im Februar gleichen Jahres – ging der gesamte Nachlass aufgrund einer testamentarischen Verfügung des Dichters in den Besitz des rumänischen Kulturministeriums über. Seit 1980 lagert er im Nationalmuseum der Rumänischen Literatur – Muzeul National al Literaturii Române (MLR) in Bukarest und erwies sich im Laufe der Jahre, nunmehr als geordneter, in sieben Abteilungen gegliederter Bestand, als wahre Fundgrube für Literaturwissenschaftler aus vielen Ländern, die sich auf Spurensuche in eine vom Wahnblitz der Geschichte zerstörte multiethnische Kulturlandschaft begeben hatten. Teile dieser Hinterlassenschaft, vor allem Paul Celans Frühwerk und Margul-Sperbers Vita betreffend sowie Briefe an diesen, der seine handgeschriebene Korrespondenz ohne Durchschläge verfasste, sind zwischenzeitlich gesichtet, ausgewertet, publiziert und kommentiert worden – allerdings nicht immer mit philologischer Akkuratesse.
Bereits 1975 hatte Alfred Kittner, selbst ein Homme de lettres und literaturversessener Sammler, in der siebenbürgischen Wochenschrift Karpatenrundschau über den Sperber-Nachlass berichtet – eine „unerschöpfliche Quelle nicht nur für die nahezu lückenlose Erschließung des dichterischen und publizistischen Schaffens Alfred Margul-Sperbers, sondern in gleichem Maße auch für die gründlichere Kenntnis der gesamten rumäniendeutschen Literatursituation im Zeitabschnitt zwischen etwa 1920 und 1965“, da dieser „durch Jahrzehnte jedes Briefzeugnis, jedes ihm von einiger Wichtigkeit scheinende Zettelchen“ aufbewahrt habe.
Auch auf ein in völlige Vergessenheit geratenes Vorhaben kam Alfred Kittner zu sprechen:
Anfang der Dreißigerjahre, war Alfred Margul-Sperber daran gegangen, gemeinsam mit dem Verfasser dieses Aufsatzes eine Anthologie buchenlanddeutscher Autoren herauszugeben und das Material für diese Lese zu sammeln, deren Veröffentlichung im letzten Augenblick durch die Machtergreifung Hitlers vereitelt wurde. Sperber trat in Ausführung dieses Plans mit einer größeren Anzahl hochbegabter aus jenem Landesteil stammenden Dichtern, sowohl im In- als auch im Ausland in Verbindung, und der Briefwechsel mit diesen stellt heute einen wichtigen Beitrag zur Erschließung dieser literarischen Strömung dar. […] Die in der Hinterlassenschaft Sperbers aufgefundenen zahlreichen Briefe von Autoren der Bukowina, wie Georg Drozdowski, Victor Wittner, Kamillo Lauer, Isaac Schreyer, Heinrich Schaffer, Erich Singer, Zeno Einhorn, Artur Kraft, M. Rosenkranz, Rose Ausländer, David Goldfeld, Tina Marbach, N. Feuerstein usw., geben ein lebendiges Bild vom Zustandekommen dieser Sammlung, der verschiedenen Etappen ihrer Entstehung […].
Doch sollte noch über ein Jahrzehnt vergehen, bis die Anthologie, diesmal mit ihrem Titel Die Buche, erneut Erwähnung fand und ihr Vorhandensein in zwei Fassungen im Nachlass bestätigt wurde – wenngleich auch nur in einer Anmerkung zu den im Sperber-Nachlass vorgefundenen Briefen Rose Ausländers an diesen, die 1988 von George Guƫu und Horst Schuller Anger in der Neuen Literatur veröffentlicht wurden.
Nun sind – im Zuge der spektakulären „Spätentdeckung einer Literaturlandschaft“ sowie ihrer stetig wachsenden Beachtung und Durchleuchtung – in der Zeitspanne 1991–2008 zahlreiche Textsammlungen und zwei Ausstellungskataloge erschienen, in denen Bukowiner Stimmen zum Nach- und Zusammenklingen gebracht wurden, auch liegen bereits erste Kommentare zur Entstehungsgeschichte der Buche vor, doch ist die schon mehrfach als ,legendär‘ ausgerufene Lyrikanthologie deutsch-jüdischer Autoren bislang noch nicht gedruckt worden.
Im Archiv des Nationalmuseums der Rumänischen Literatur (MLR) haben sich neun Konvolute erhalten, die dem gescheiterten Projekt Die Buche zuzuordnen sind. Es handelt sich um zwei Fassungen – von den Herausgebern als Fassung A und Fassung B bezeichnet – mit unterschiedlichen Untertiteln. Von Fassung A (Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina) wurden drei Varianten aufgefunden, von Fassung B (Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina) zwei. Diese fünf Konvolute enthalten jeweils ausgewählte Gedichte von Autoren jüdischer Herkunft in und aus der Bukowina, es fehlen Vor- bzw. Nachworte sowie Biobibliografien.
„Ich habe“, schrieb Alfred Margul-Sperber am 23. Januar 1937 an Moritz Spitzer, den Lektor des jüdischen Schocken Verlags in Berlin, dem er die Anthologie zur Veröffentlichung angeboten hatte,
[…] um die Sammlung ausschließlich durch ihre dichterische Aussage wirken zu lassen, auf jedes Vorwort und jedes bio- oder bibliografische Beiwerk verzichtet. Wenn Sie indessen glauben, dass ein Vorwort unerlässlich sei, dann wüsste ich niemand Berufeneren als einen Herrn Ihres Verlags, oder, wenn Sie es so für besser halten, einen repräsentativen jüdischen Dichter Deutschlands (ich denke an Karl Wolfskehl).
Bis auf Itzig Manger kommen in der Buche nur deutsch schreibende Autoren zu Wort – und Kubi Wohl ist der einzige unter ihnen, der einige seiner Gedichte ins Jiddische übersetzte und kurz vor seinem Tode auch Texte in jiddischer Sprache verfasste. Die Balladen Itzig Mangers sind dabei nicht als Nachdichtungen aus dem Jiddischen ausgewiesen, auch wird der Name des Übersetzers – es ist Alfred Margul-Sperber – nicht angeführt.
Zum Buche-,Umfeld gehören außerdem noch drei Bündel verschiedener Schriftstücke, die wir Werkstatt-Konvolute genannt haben, da sie offensichtlich Vorstufen bzw. Ableger von Fassung A und Fassung B darstellen und von der Sammelarbeit Alfred Margul-Sperbers – in Zusammenarbeit mit Alfred Kittner – zeugen.
Fassung A, Konvolut 1 (A1): Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina (Titelblatt, Blatt 1 in der Archivpaginierung). 368 Blätter. Signatur: MLR 25000-323.
Typoskript (Durchschläge des Originals), verschiedene Papiersorten; ungeheftete, gelochte Blätter von unterschiedlichem Format (13,5 x 19 cm, 17 x 21 cm) ursprünglich mit Bindfaden in einen Pappkartondeckel eingebunden. Der vordere Kartonumschlag weist den Eintrag A mit blauem Bleistift – vermutlich von der Hand des sowjetischen Zollbeamten – auf. Über die erste Hälfte des maschinengeschriebenen Anthologietitels (Blatt 1) wurde mit Bleistift das Wort Juden hinzugefügt. Auf dem Titelblatt, auf Blatt 2 und 368 finden sich der sowjetische Ausfuhrstempel sowie der handschriftliche Eintrag des Jahres 1945 und in blauer (Titelbl., Bl. 2) bzw. roter Bleistiftfarbe (Bl. 368) die (unleserliche) Unterschrift des sowjetischen Zollbeamten.
Einige Gedichte sind mit knappen handschriftlichen Kommentaren und/oder kleinen Änderungsvorschlägen Alfred Margul-Sperbers versehen. Auf Blatt 244 hat Margul-Sperber bio-bibliografische Angaben zu Ewald Ruprecht Korn und James Immanuel Weißglas notiert, wodurch belegt ist, dass er auch in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre dieses Konvolut in Bukarest in Augenschein genommen und Blatt 244 eingeschoben hat, ohne jenes allerdings mit Gedichten der beiden zu ergänzen:
Ewald Ruprecht Korn. Geboren am 23. März 1908 in Radautz (Bukowina) als Sohn eines Professors. Besuchte das deutschevangelische Gymnasium in Bukarest mit einem Zwischenaufenthalt in Wien. Studierte Philosophie, Naturwissenschaften und Rechte. Gegenwärtig Professor der deutschen Sprache in Bukarest.
Schriften:
„Grünes Leuchten“, ein Reigen Gedichte, Editura Bibliofila, Bukarest 1939.
,Zwiegespräch durch die Jahreszeiten‘, Gedichte, Bukarest 1948 [richtig: 1946].
Im Manuskript: „Das neue Lied“. Zeit- und Herzgedichte. (Bl. 244)
Immanuel Wahnschaffe Garnes Immanuel Weißglaß)[,] geb. 14. März 1920 in Czernowitz, Bukowina.
Durch den Krieg unterbrochene philologische Studien an der Czernowitzer Universität.
1941–1944 in einem Vernichtungslager in der Ukraine. Seit 1945 in Bucureşti.
Frühe Veröffentlichungen: Übertragungen moderner rumänischer Lyrik in Zeitschriften und Broschüren.
Werke: „Kariera am Bug“, Gedichte, Bukarest 1947; im Manuskript: „Gottes Mühlen in Berlin“, „Ikonographie“ (Gedichte); „Der ewige Jude“ (dram. Gedicht); Übersetzungen aus: Briussow, Blok, Appolinaire [richtig: Apollinaire], A.E. Housmann [richtig: Housman], Roy Cambell [richtig: Campbell], Yeats. (Bl. 244 Rückseite)
Blatt 367 verzeichnet in Margul-Sperbers Handschrift und in rumänischer Sprache Geburtsjahr und -ort sowie Sterbeort und Todesjahr von Kubi Wohl: „Kubi Wohl, născ, Câmpulung Mold. 1915, murit Cernăuƫi 1938.“ Kubi Wohl wurde allerdings nicht in Câmpulung Mold[ovenesc], sondern in Zibau/Ţibău geboren und starb nicht, wie hier irrtümlicherweise angeführt wird, 1938, sondern 1935.
Offen bleiben muss bei dem derzeitigen Wissensstand die Frage, wieso A1 den Stempel der sowjetischen Ausfuhrbehörde des Jahres 1945 trägt, da Margul-Sperber bereits im Herbst 1940 aus Burdujeni mit seiner Frau nach Bukarest gezogen war, hier den Zweiten Weltkrieg als Privatlehrer für Deutsch und Englisch überlebte und nicht mehr in die Bukowina zurückkehrte. Möglicherweise war das Konvolut, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Margul-Sperbers Besitz stammt, bei Alfred Kittner verblieben. Als dieser 1944 aus der transnistrischen Deportation heimkehrte, fand er zwar seine Wohnung in Czernowitz leergeräumt vor, doch seinen Nachbarn war es gelungen, „eine ganze Menge Bücher“ zu retten. Zählte vielleicht auch das umfangreichste Typoskript der Buche dazu? Bei seiner Übersiedlung im September 1945 nach Bukarest hat Alfred Kittner jedenfalls „auch einige Säcke voller Bücher“ mitgenommen, und es ist nicht auszuschließen, dass Die Buche mitreiste.
Konvolut A1 enthält Gedichte von 32 Autoren in alphabetischer Reihenfolge, deren Namen auf gesonderten Blättern stehen:
Rose Ausländer – 30 Gedichte, davon vier Gedichte mit der Überschrift Dem Geliebten, die von den Hrsg. unter dem Titel Dem Geliebten [I.–IV] zusammengefasst wurden; Uriel Birnbaum – 7; Klara Blum – 4; Zeno Einhorn – 9; Norbert Feuerstein – 5; Ernst Maria Flinker – 1; Robert Flinker – 6, wobei eines – Ode an eine Kindheit – aus vier titellosen, jeweils durch ein x voneinander abgesetzten Gedichten besteht; Benjamin Fuchs – 14; David Goldfeld – 22; Lotte Jaslowitz – 3, eigentlich 6; Aus einem Zyklus „Du“ enthält 4 titellose, voneinander jeweils durch ein x abgesetzte Gedichte; Josef Kalmer – 8; Alfred Kittner – 15; Artur Kraft – 10, eigentlich 13: Unter der Gedichtüberschrift Der Dichter in der Zeit stehen zwei Sonette; Frauen ist ein Zyklus und enthält drei Gedichte mit jeweils eigenen Titeln; Josef I. Kruh – 5; Kamillo Lauer – 11; Siegfried Laufer – 19; Ariadne Baronin Löwendal – 2; Hugo Maier – 12; Itzig Manger – 6; Tina Marbach – 6; Salome Mischel – 22, eines davon in Handschrift; Johann Pitsch – 2; Moses Rosenkranz – 24; Heinrich Schaffer – 21, davon zwei durchgestrichen; Isaac Schreyer – 12; Jakob Schulsinger – 10; Erich Singer – 11; Isak Sonntag – 2; Alfred Margul-Sperber – 6; Klaus Udo Tepperberg – 4; Victor Wittner – 17; Kubi Wohl – 5, davon zwei in Handschrift.
Fassung A, Konvolut 2 (A2): Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina (Titelblatt, Blatt 1 in der Archivpaginierung). 334 Blätter, Signatur: MLR 25000–324.
Ungeheftete Blätter von unterschiedlichem Format (17 x 21 cm, 15,5 x 23,3 cm, 14,5 x 21 cm). Mit einem DIN-A4-Blatt als Umschlag, der vorne und hinten den Eintrag B mit blauem Bleistift – vermutlich von der Hand des sowjetischen Zollbeamten – aufweist; Typoskript (Durchschläge des Originals) in weitgehend der gleichen Schreibmaschinenschrift auf unterschiedlichen Papiersorten. Die Namen der Autoren sind auf gesonderten Blättern, zum Teil handschriftlich von Margul-Sperber, angeführt. Die meisten Gedichte sind auch in Fassung A, Konvolut 1 (A1) enthalten – mit Ausnahme von jeweils einem von Rose Ausländer und Ernst Maria Flinker, Siegfried Laufer, zwei von Uriel Birnbaum und acht von Moses Rosenkranz. Hingegen wurden von einigen Autoren weniger Gedichte als in A1 aufgenommen, was der von 368 (A1) auf 334 Blätter (A2) reduzierte Umfang belegt. In Konvolut A2, das Texte von 31 Dichtern und Dichterinnen in alphabetischer Anordnung umfasst, fehlt Ariadne Baronin Löwendal:
Rose Ausländer – 28 Gedichte; Uriel Birnbaum – 9; Klara Blum – 4; Zeno Einhorn – 9; Norbert Feuerstein – 5; Ernst Maria Flinker – 2; Robert Flinker – 2, wobei eines – Ode an eine Kindheit – aus vier titellosen Gedichten besteht; Benjamin Fuchs – 14; David Goldfeld – 13; Lotte Jaslowitz – 3, eigentlich 6: Aus einem Zyklus „Du“ enthält 4 titellose Gedichte; Josef Kalmer – 5; Alfred Kittner – 11; Artur Kraft – 11; Josef I. Kruh – 5; Kamillo Lauer – 9; Siegfried Laufer – 16; Hugo Maier – 11; Itzig Manger – 6; Tina Marbach – 6; Salome Mischel – 21; Johann Pitsch – 2; Moses Rosenkranz – 28; Heinrich Schaffer – 21; Isaac Schreyer – 11; Jakob Schulsinger – 10; Erich Singer – 9; Isak Sonntag – 2; Alfred Margul-Sperber – 6; Klaus Udo Tepperberg – 4; Victor Wittner – 16; Kubi Wohl – 3. (Bei Kubi Wohls Gedichten fehlt die Verfasserangabe, diese stehen zum Teil am Anfang des Konvoluts, zum Teil sind sie zwischen Rose Ausländers Texte eingeschoben worden.)
Fassung A, Konvolut 3 (A3): Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina (Titelblatt, Blatt 1 in der Archivpaginierung). 232 Blätter. Signatur: :MLR 25000–325.
Ungeheftete Blätter von unterschiedlichem Format (17 x 21 cm, 14,5 x 23 cm, 17,5 x 20,5 cm). Mit einem DIN-A4-Blatt als Umschlag, der auf Vorder- und Rückseite den Eintrag C mit blauem Bleistift – vermutlich von der Hand des sowjetischen Zollbeamten – aufweist. Durchschläge mit verschiedenfarbigem Kohlepapier und weitgehend der gleichen Schreibmaschinenschrift auf unterschiedlichen Papiersorten. Die Namen der Autoren sind – zum Großteil – handschriftlich auf eingeschobenen Blättern von Margul-Sperber angeführt. Die meisten Gedichte sind auch in Fassung A, Konvolut 1 (A1) enthalten – mit Ausnahme eines Textes von Siegfried Laufer, zwei von Rose Ausländer und drei von Moses Rosenkranz. Hingegen wurden von einigen Autoren weniger Gedichte als in A1 und A2 aufgenommen, was der von 368 (A1) und 334 (A2) auf 232 Blätter (A3) reduzierte Umfang beweist.
Außerdem fehlen in Fassung A, Konvolut 3, das Gedichte von 28 Dichtern und Dichterinnen in alphabetischer Reihenfolge umfasst, David Goldfeld, Johann Pitsch und Kubi Wohl:
Rose Ausländer – 21 Gedichte; Uriel Birnbaum – 2; Klara Blum – 4; Zeno Einhorn – 7; Norbert Feuerstein – 2; Ernst Maria Flinker – 1; Robert Flinker – 5; Benjamin Fuchs – 7; Lotte Jaslowitz – 3; Josef Kalmer – 3 (ohne Zwischenblatt und Verfasserangabe, Alfred Kittner zugeordnet); Alfred Kittner – 10; Artur Kraft – 7; Josef I. Kruh – 5; Kamillo Lauer – 6; Siegfried Laufer – 12; Ariadne Baronin Löwendal – 2; Hugo Maier – 9; Itzig Manger – 2 (fehlendes Zwischenblatt mit dem Verfassernamen); Tina Marbach – 5; Salome Mischel – 14; Moses Rosenkranz – 15; Heinrich Schaffer – 12; Isaac Schreyer – 9; Jakob Schulsinger – 8; Erich Singer – 4 (ohne Zwischenblatt und Verfasserangabe, Jakob Schulsinger zugeordnet); Isak Sonntag – 2; Alfred Margul-Sperber – 5; Klaus Udo Tepperberg – 4; Victor Wittner – 13.
Fassung B, Konvolut 1 (B1): Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina (Titelblatt, Blatt 1 in der Archivpaginierung). 156 Blätter. Signatur: MLR 25000–266.
Typoskript (14 x 20,3 cm, 14,7 x 20,7 cm, Durchschläge des Originals) in unterschiedlichen Schreibmaschinenschriften, ursprünglich mit einer Schnur zusammengebunden, in eine blaue Klemmmappe mit der Aufschrift „Medizin-Technik Teil VI“ geheftet. Auf die Rückseite der Mappe hat Margul-Sperber mit Bleistift Geburts- und Todesdaten Kubi Wohls notiert: „Kubi Wohl[,] geb. 31/81911 Gibău-Kirlibaba (Boroş)[,] gest. 27/12 1935 Cernăuƫi“.
Vier Gedichte Alfred Kittners sind mit handschriftlichen Korrekturen versehen, die nachweislich nach der Erstveröffentlichung dieser Texte in der Czernowitzer Presse und in Kittners Lyrikband Der Wolkenreiter (1939) vorgenommen wurden. Die Präsenz Paul Antschels, den Alfred Margul-Sperber erst 1945 in Bukarest kennen lernte und seine außergewöhnliche Begabung sofort erkannte – dessen literarisches Pseudonym Paul Celan, ein Anagramm seines Nachnamens in rumänischer Schreibweise, wurde von Margul-Sperbers Frau Jessika ,kreiert‘ –, sowie die des seit Jahrzehnten in der rumänischen Hauptstadt lebenden Ewald Ruprecht Korn in dieser Sammlung beweisen, dass Margul-Sperber nach Ende des Zweiten Weltkriegs diese mit den Texten der beiden ergänzte. Obwohl er den 1947 in Bukarest erschienenen Lyrikband von Immanuel Weißglas Kariera am Bug und auch dessen im Manuskript vorliegende Gedichte kannte oder zumindest von deren Vorhandensein Bescheid wusste, fand dieser keine Aufnahme in Fassung B1. Dass Sperber sich auch nach der uneingeschränkten Machtübernahme durch die sowjethörige Rumänische Arbeiterpartei mit dieser Auswahl weiterhin beschäftigte, belegt die zeitkonforme Fortschreibung seines Gedichts Judenfriedhof (Blatt 144), dem er einen zweiten Teil – in anderer Schreibmaschinenschrift – hinzugefügt hat, der kommunistischer Affirmationspoesie massiv Tribut zollt.
Fassung B, Konvolut 1 hat den gleichen Titel wie Fassung B, Konvolut 2 (vgl. im Folgenden), als neue Namen kamen in B1 nur Paul Antschel und Ewald Ruprecht Korn hinzu, die überwiegende Mehrzahl der Gedichte von B1 ist auch in B2 enthalten, zwar sind Rose Ausländer, David Goldfeld, Alfred Kittner, Itzig Manger, Moses Rosenkranz, Heinrich Schaffer und Alfred Margul-Sperber in Fassung B1 mit einer größeren Anzahl von Texten als in B2 vertreten, doch sind die Modifikationen in der Auswahl der Autoren u.E. zu geringfügig, um B2 als eine andere, eine dritte Fassung einstufen zu können. Ansonsten müssten auch die drei Konvolute der Fassung A als eigenständige Sammlungen betrachtet werden.
Konvolut B1, das Texte von 18 Dichterinnen und Dichter in alphabetischer Anordnung enthält, ist u.E. eine erweiterte Fassung des früher zusammengestellten Konvoluts B2:
Paul Antschel [Paul Celan] – 17; Rose Ausländer – 10, davon die folgenden sechs auch in Fassung A, Konvolut 1 (hinfort A1): Rose und Schmetterling, Herbstlicher Ausschnitt, Traumnacht, Es wird alles anders sein, Dem Geliebten [IV], Abschied; Uriel Birnbaum – 5, alle auch A1: Vielleicht ist Gott uns gnädig, Die Schwäne, Josef als Fürst, Adam nach dem Sündenfall, Der Wüstenzug; Zeno Einhorn – 6, alle auch in A1: Gefangenschaft, Regen, Traum von der Heimkehr, Aufbruch, Herbstnebel, Waldwiese; Norbert Feuerstein – 3, alle auch in A1: Sonnenuntergang, Pans Tod, Die Fahrt; David Goldfeld – 9, davon 5 auch in A1: Rote Blüten, Über die Erde, Stimme aus der Höhe, Traumdunkle Stimme, Ehe der Sommer verbrennt, Alfred Kittner – 6, davon fünf auch in A1: Lied Abels, Mond der Städte, Bach im Mondlicht, Regenrauschlied, Erwachen aus nächtlicher Arbeit, Ewald Ruprecht Korn – 8; Artur Kraft – 2, beide auch in A1: Abschied, Die Entrückten; Kamillo Lauer – 6, alle auch in A1: Klagende Stimme bei Nacht, Angelus, Kleine Stadt, Das Gleiche, Heim-Weh, das Gedicht Sternlos trägt in A1 den Titel Selbstmörder I; Siegfried Laufer – 5, alle auch in A1: Die Taube, Mailied, Das wilde Laub fällt wieder, Wanderlied, Geflüster, Hugo Maier – 1, auch in A1: Der wachsende Priester; Itzig Manger – 5, davon vier auch in A1: Die Ballade vom alten Heiducken, Und weißt du, Einsam, Mein Lebenslied; Moses Rosenkranz – 13, davon fünf auch in A1: Bildnis einer Alten, Die Kuh, Der Adler, Babylonische Vision, Dem höchsten Gott, Heinrich Schaffer – 13, davon elf auch in A1: Der Kinderreim, Sommer, Manchmal glaube ich; Gedicht der Um- und Einkehr, Magischer Ton, Wanderer im Mantel, Gedicht der Bitterkeit, Gedicht der Zeit, Gedicht für die kommenden Brüder, Gedicht vom Herzen, Gedicht vom Jenseits; Isaac Schreyer – 6, alle auch in A1: An eine Grille, Landschaft der Kindheit, Requiem für einen Knaben, Heilig sei mir dein Odem, Ich gehe durch meine Tage, Moritat auf eine tote Katze; Jakob Schulsinger – 1, auch in A1: Die Kathedrale; Alfred Margul-Sperber – 20, davon fünf auch in A1: Die Wiese und der Wald, Der erste Schnee, Der krumme Baum, Spätes Lied, Der Tag der Landschaft.
Fassung B, Konvolut 2 (B2): Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina (Titelblatt, Blatt 1 in der Archivpaginierung). 98 Blätter. Signatur: MLR 25000–267.
Schreibmaschinentexte auf mehreren Papiersorten von unterschiedlichem Format (14,7 x 22,5 cm, 16,7 x 20,7 cm, 17 x 20,4 cm), in eine grafitgraue Kartonmappe (16,5 x 25 cm) geheftet, zum Teil Originale, zum Teil Durchschläge mit verschiedenfarbigem Kohlepapier.
Fassung B, Konvolut 2 enthält Texte von 16 Autorinnen und Autoren in alphabetischer Reihenfolge:
Rose Ausländer – 6 Gedichte (alle auch in Fassung B, Konvolut 1 – hinfort B1); Uriel Birnbaum – 5 (alle auch in B1); Zeno Einhorn – 6 (alle auch in B1); Norbert Feuerstein – 3 (alle auch in B1); David Goldfeld – 5 (alle auch in B1); Alfred Kittner – 5 (davon 4 auch B1); Artur Kraft – 2 (beide auch in B1); Kamillo Lauer – 6 (alle auch in B1); Siegfried Laufer – 5 (alle auch in B1); Hugo Maier – 1 (auch in B1); Itzig Manger – 4 (alle auch in B1); Moses Rosenkranz – 8 (alle auch in B1); Heinrich Schaffer – 9 (alle auch in B1); Isaac Schreyer – 6 (alle auch in B1); Jakob Schulsinger – 2 (eines auch in B1); Alfred Margul-Sperber – 8 (davon 4 auch in B1).
Sowohl in B1 (156 Blätter) als auch in B2 (98 Blätter) fehlen – zieht man Fassung A1 zum Vergleich heran – Klara Blum, Ernst Maria Flinker, Robert Flinker, Benjamin Fuchs, Lotte Jaslowitz, Josef Kalmer, Josef I. Kruh, Ariadne Baronin Löwendal, Tina Marbach, Salome Mischel, Johann Pirsch, Erich Singer, Klaus Udo Tepperberg, Victor Wittner, Kubi Wohl.
Werkstatt-Konvolut 1 (WK1), 120 Blätter. Signatur: MLR 25000–322.
Ein ungeordnetes titelloses Konvolut, das Materialien enthält, die eine frühe Phase der Arbeit an der Anthologie Die Buche dokumentieren. Es enthält ein liniertes, in einen hellblauen Umschlag gebundenes Heft (48 Blätter, 10 x 16,2 cm, beidseitig beschrieben) mit Gedichten (Blatt 1–48 in der Archivpaginierung) – die meisten vermutlich in der Handschrift Alfred Margul-Sperbers und Alfred Kittners – von Rose Ausländer, Klaus Tepperberg, Georg Drozdowski, Alfred Kittner, Siegfried Laufer, Robert Flinker, Moses Rosenkranz, Walter Rohuz [Lothar Wurzer/Lotar Rădăceanu], Hugo Maier, einen Vortrag – ohne Überschrift und Datumsangabe – über jüdische Dichtung in der Bukowina von Alfred Margul-Sperber in dessen Handschrift (Blatt 49–59 in der Seitennummerierung der Herausgeber), ein undatiertes und ungezeichnetes handschriftliches Rundschreiben von Margul-Sperber – ohne Abschluss und Grußformel – mit der Bitte um Mitwirkung an einem „Sammelband deutscher Dichtungen rumänischer Juden“ (Blatt 60 u. Verso in der Seitennummerierung der Herausgeber), handschriftliche Verzeichnisse von Alfred Kittner und Alfred Margul-Sperber mit den potenziellen Autoren und deren Anschriften bzw. den Titeln ihrer zur Aufnahme vorgesehenen Gedichte (Blatt 61 u. Verso bzw. Blatt 100–101 und Rückseiten in der Seitennummerierung der Herausgeber), des Weiteren auf verschiedenen Papiersorten unterschiedlichen Formats Gedichte von Siegfried Laufer, M[oses] Rosenkranz und Alfred Kittner in Maschinenschrift, eine gedruckte Fassung von Johann Pitschs Wiegenlied [aus dessen Gedichtband Unterwegs. Cernăuƫi 1924, S. 17] und Gedichtmanuskripte, zum Teil in der Handschrift der Dichterinnen und Dichter, beidseitig beschrieben, von Lo[tte] Jaslowitz, Hedy Gingold, Alfred Kittner, Tina Marbach, Ariadne Baronin Löwendal, Jo[hann] Pitsch, Klaus/Klaus Mohr Günther Tepperberg, Rudolf Fuchs, Else Mechner, Siegfried Laufer, Alfred Kittner (Blatt 62–95, 97–99, 102–120, Seitennummerierung der Herausgeber). Blatt 96 enthält vermutlich einen handgeschriebenen Passus eines bislang nicht aufgefundenen Geleitwortes von Margul-Sperber zu der Anthologie deutsch-jüdischer bukowinischer Lyrik:
Dass in den Gedichten der vorliegenden Auswahl das Erlebnis einer fernen östlichen Landschaft von Juden in deutscher Sprache gestaltet werden konnte, ist einem kulturgeschichtlich merkwürdigen Umstand zuzuschreiben: Im Jahre 1875 wurde in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, von der [unleserlich] österreichischen Verwaltung inmitten eines bunten Völkergemisches von Rumänen, Ruthenen, Deutschen, Polen und Juden, eine deutsche Universität errichtet, die fast ein halbes Jahrhundert lang alle Segnungen deutscher Kultur, Sprache und Wissenschaft in einem Lande verbreitete, dessen deutsche Bewohner selbst zahlenmäßig nur einen geringen Bruchteil der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachten.
Werkstatt-Konvolut 1 (WK1) versammelt – noch nicht in alphabetischer Anordnung der Autoren – zehn Gedichte von Rose Ausländer, neun von Klaus/Klaus Günther Mohr Tepperberg, sechs von Georg Drozdowski, 18 von Alfred Kittner, 20 von Siegfried Laufer, zehn von Robert Flinker, zehn von Moses Rosenkranz, zwei von Walter Rohuz, drei von Hugo Maier, 18 von Lo[tte] Jaslowitz, drei von Hedy Gingold, fünf von Tina Marbach, sieben von Johann Pitsch, eines von Rudolf Fuchs, fünf von Else Mechner.
Texte des Buchenlanddeutschen Georg Drozdowski, des Prager Lyrikers und Übersetzers Rudolf Fuchs sowie jene von Walter Rohuz, Hedy Gingold und Else Mechner wurden weder in die Fassungen A1, A2, A3 noch in B1 und B2 aufgenommen.
Werkstatt-Konvolut 2 (WK2), ohne Titel, 18 Blätter, MLR 25000–328.
Dieses Konvolut enthält sechs Listen mit Autorennamen und Gedichtüberschriften in der Handschrift Alfred Margul-Sperbers. Auf Blatt 3, das den Listen 2–6 (Blatt 4–17) vorangestellt ist, figuriert der von fremder Hand geschriebene Arbeitstitel: Die Buche. Eine Anthologie deutscher Judendichtung aus der Bukowina, der in Fassung A, Konvolut 1, 2, 3 zu Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina und in Fassung B, Konvolut 1, 2 zu Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina abgeändert wurde.
Die erste Liste (Blatt 1 und Verso, Blatt 2 und Verso), die denselben Titel wie Fassung B, Konvolut 1 (B1) und Konvolut 2 (B2) trägt – Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina –, führt 17 Autoren und 86 Gedichte auf: Rose Ausländer – 6 Gedichte; Uriel Birnbaum – 5; Zeno Einhorn – 6; Norbert Feuerstein – 3; David Goldfeld – 5; Alfred Kittner – 5; Artur Kraft – 2; Kamillo Lauer – 6; Siegfried Laufer – 5; Hugo Maier – 1; Itzig Manger – 4; Moses Rosenkranz – 8; Heinrich Schaffer – 9; Isaac Schreyer – 6; Jakob Schulsinger – 2; Erich Singer – 5 (sowohl der Name des Autors als auch alle Gedichtüberschriften durchgestrichen); Alfred Margul-Sperber – 8. Es handelt sich dabei offensichtlich um das Inhaltsverzeichnis zu Fassung B2. Diese enthält – mit Ausnahme des (auch) auf Liste 1 von WK2 ,durchgestrichenen‘ Erich Singer – die hier genannten Autoren und Gedichte. Blatt 18 führt Adressen von Autoren und Kontaktpersonen an, auf dessen Rückseite stehen die Schlusszeilen des handschriftlichen Rundschreibens Alfred Margul-Sperbers, das sich in WK 1 (Blatt 60 u. Verso), befindet. Gezeichnet ist dieses mit: „Alfred Sperber, p.A. Abator, Burdujeni-Gara, Suceava“. Daraus erhellt, dass Margul-Sperber es frühestens im Sommer 1933 verfasste – nach seinem Umzug nach Burdujeni.
Werkstatt-Konvolut 3 (WK3), 70 Blätter, MLR 25000–269.
Ein titelloses maschinengeschriebenes Konvolut von Durchschlägen auf unterschiedlichen Papiersorten und -formaten (14,7 x 22,3 cm, 17,2 x 20,7 cm, 15,4 x 20,9 cm) mit Gedichten der Buche, einige davon in zwei- bzw. dreifacher Ausführung. Angeordnet sind die Autoren weitgehend in alphabetischer Reihenfolge, wobei ihre Namen bzw. deren Kürzel meistens von Alfred Margul-Sperber handschriftlich eingetragen wurden. Einige Blätter mit Gedichten von Moses Rosenkranz und Alfred Margul-Sperber sind nicht mit den Verfassernamen versehen. Auf Blatt 1 Verso sowie Blatt 2 und Verso hat Margul-Sperber drei eigene Gedichtentwürfe notiert.
Das Werkstatt-Konvolut 3 (WK3) enthält vier Gedichte von Rose Ausländer, drei von Klara Blum, eines von Zeno Einhorn, vier von Lotte Jaslowitz, drei von Alfred Kittner, eines von Kamillo Lauer, acht von Hugo Maier, fünf von Tina Marbach, neun von Moses Rosenkranz, fünf von Heinrich Schaffer, drei von Itzak [!] Schreyer, sieben von Jakob Schulsinger, zwei von Alfred Margul-Sperber, eines von Klaus Udo Tepperberg, neun von Victor Wittner.
Die Herausgeber haben sich für die integrale Veröffentlichung des umfangreichsten Konvoluts der Fassung A Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina (A1) entschieden. Aus Fassung B1 Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina fanden in die vorliegende Edition nur jene Gedichte Aufnahme, die in A1 nicht enthalten sind. Um ein Bild ihres gesamten Inhalts zu vermitteln, wurden bei der Beschreibung von B1 die Titel der in beiden Fassungen (A1 und B1) versammelten Gedichte angeführt.
Die Wiedergabe der Gedichte erfolgt auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln, Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert, Zeichensetzung, lexikalische und grammatikalische Eigenheiten blieben unangetastet, Gedichtüberschriften sowie die erste Zeile bei titellosen Gedichten bzw. – bei längeren Versen – deren erster Teil wurden in Kapitälchen gesetzt, in eckigen Klammern stehen Anmerkungen/Ergänzungen der Herausgeber.
In diese Ausgabe nahmen die Herausgeber auch drei Texte Alfred Margul-Sperbers auf, die ihn als Historiografen der bukowinadeutschen Literatur ausweisen: seinen Aufsatz Der unsichtbare Chor. Entwurf eines Grundrisses des deutschen Schrifttums in der Bukowina (1928), den Deutschen Brief aus der Bukowina (1931) und den hier erstmals in ungekürzter Form veröffentlichten Vortrag Jüdische Dichtung in der Bukowina (nach 1933) aus dem Nachlass. Über Druck- bzw. Fundorte dieser literaturgeschichtlichen Überblicke informieren die Quellennachweise im Anhang.
Für Hilfestellung und freundliches Entgegenkommen bei unseren Recherchen im Bukarester Nationalmuseum der Rumänischen Literatur danken wir den Mitarbeiterinnen des Museums, vor allem Frau Elena Fluieraş, der Leiterin der Archivabteilung, und der Konservatorin Frau Eugenia Oprescu, sehr herzlich.
George Guƫu und Peter Motzan, Vorwort, November 2008
I.
Als Alfred Sperber aus der Megalopole New York – über eine Zwischenstation in Wien, wo er sich einer langwierigen Pneumothorax-Behandlung hatte unterziehen müssen – im Frühjahr 1925 nach Rumänien zurückkehrte und im Hause seiner Eltern in Storožynetz, einer nordbukowiner Kleinstadt mit rund 9.000 Einwohnern, Wohnsitz nahm, war er, gemessen an bürgerlichen Erfolgs- und Approbationskriterien, ein ,Gescheiterter‘. Die Erwartungen seiner Eltern, die mit einem Jurastudium ihres Sohnes gerechnet hatten, blieben unerfüllt, von seiner Frau Bertha, hatte er sich in der österreichischen Hauptstadt getrennt, seinen einzigen Besitz bildeten mitgebrachte Texte, vor allem Gedichte expressionistischer Prägung in Manuskriptform. Der 26-jährige war zwar um vielfaltige Erfahrungen reicher, aber auch um hochgesteckte Illusionen ärmer geworden.
Zu dem Zeitpunkt, als Sperber aus seiner Heimatprovinz ins Offene und Weiträumige, ins verlockend Ungewisse aufbrach, hatte Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg dank der Pariser Vorortverträge (1919/1920) sein Territorium um mehr als die Hälfte (von 137.903 auf 294.967 km2) vergrößert und war zu einem Mehrvölkerstaat geworden – mit einem Minderheitenanteil von 28,1%. Die demokratische Verfassung aus dem Jahr 1923 sicherte allen Bürgern des Landes Meinungsfreiheit sowie gleiche Rechte zu, doch definierte sich das Königreich Großrumänien als „einheitlichen und unteilbaren Nationalstaat“. Durch ein zentralistisches Regierungskonzept, durch Umgestaltung der Verwaltungsstrukturen, durch restriktive Maßnahmen, vor allem im Bildungssektor der Minderheiten, wurde danach getrachtet, Gebiete unterschiedlicher Entwicklungsstufen, historischer Traditionen und ethnischer Zusammensetzung in den Rahmen der neuen Staatskonstruktion zu integrieren. Gleichzeitig war Rumänien bestrebt, durch Beistandspakte und Bündnisse den territorialen Status quo zu bewahren, mit dem mehrere Nachbarländer sich nicht abzufinden bereit waren. Konflikte und Spannungen zwischen nationalstaatlichen Imperativen und ethnischer Vielfalt schienen – wie auch in anderen neu entstandenen bzw. vergrößerten Staaten Ostmitteleuropas – geradezu vorprogrammiert und spitzten sich wiederholt zu, doch war der Fortbestand der nationalen Minderheiten in der Zwischenkriegszeit nicht ernstlich gefährdet.
Auch die Bukowina (Größe: 10.442 km2 – Gesamtbevölkerung im Jahre 1910: 800.127 Einwohner), das östlichste Kronland der Habsburgermonarchie, in dem elf Nationalitäten, die sich zu neun religiösen Konfessionen bekannten, lebten, war durch den Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkriegs und Österreich am 10. September 1919 Rumänien zugesprochen worden. Während die Rumänen in dem Anschluss der Bukowina einen Akt historischer Gerechtigkeit erblickten, da dieses Gebiet Jahrhunderte lang Teil des unter osmanischer Herrschaft stehenden Fürstentums Moldau gewesen war, empfanden die ehemals staatstragenden Ethnien des Buchenlandes, die Deutschen und die Juden, jenen als drohende Marginalisierung und Statusverlust. Doch blieb auch das rumänische Czernowitz eine Universitätsstadt mit vielfältigen kulturellen Angeboten: Ausstellungen bildender Künstler, musikalische Darbietungen mit weltberühmten Solisten, Gastspiele deutscher, österreichischer, rumänischer, jiddischer, polnischer Ensembles, Vortragsreihen und Autorenlesungen in mehreren Sprachen. Zu einer großen Attraktion avancierte das ,junge‘ Medium Kino. In den sechs Lichtspielhäusern der Stadt waren amerikanische, deutsche, französische, gelegentlich auch sowjetische Filmproduktionen zu sehen.
1930 zählte Czernowitz rund 112.000 Einwohners, der Anteil der jüdischen Bevölkerung betrug 38,4%, der Rumänen 27%, der Deutschen 14,6%, der Ruthenen (Ukrainer) 9,9%, jener der Polen war infolge starker Abwanderungen um 40% zurückgegangen. Verglichen mit dem Jahre 1910, als 29.000 Einwohner mosaischen Glaubens 32% der Stadtbevölkerung stellten, lebten nun 43.000 Juden in der Hauptstadt der Bukowina. Bei der Volkszählung aus dem Jahr 1930 gaben 80% der Czernowitzer Juden Jiddisch als ihre Umgangssprache an, was einerseits auf den Zuzug jiddischer Sprecher aus Alt-Rumänien, Bess und Galizien zurückzuführen ist, andererseits ein Erstarken des national-jüdischen Selbstverständnisses signalisierte. In zahlreichen Vereinen wurde das Jiddische gepflegt und gefördert – u.a. in dem 1919 gegründeten Jüdischen Schulverein, der über eine Bibliothek, ein Lehrerseminar, eine Kleinkunstbühne und ein Kindertheater verfügte. Auch der jüdisch sozialdemokratische „Bund“ mit der Wochenzeitung Dus naye Leben und seinem Arbeiterbildungsverein „Morgenroit“, der zwei Abend-Gewerbe-Schulen mit jiddischer Unterrichtssprache unterhielt und eine große Bibliothek mit jüdischer Literatur besaß, verhalf dem Jiddischen zu verstärkter Geltung. Czernowitz wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem Zentrum jiddischer Literatur, was es unter österreichischer Herrschaft war. Und die jiddischen Dichter Elisier Steinbarg und Itzig Manger waren weitaus bekannter und beliebter als Rose Ausländer und Alfred Margul-Sperber. Ein hervorragender Kenner der Geschichte des Bukowiner Judentums, der Czernowitzer Gymnasiallehrer und Präsident des zionistischen Clubs Masssada, Hermann Sternberg, bestätigt im Rückblick, aber gleichsam als Zeitzeuge, das öffentlichkeitsferne Wirken der deutsch-jüdischen Lyriker in der Bukowina:
Die schöngeistige Literatur in deutscher Sprache verlor an Boden. Sie wies nicht mehr beachtenswerte schöpferische Talente [sic!] auf. Dagegen gedieh das jiddische Schrifttum. Namentlich zu nennen sind der Fabeldichter Elieser Steinbarg, der Balladendichter Itzig Manger und Dichter Jakob Steinberg.
Deutsch blieb jedoch das Ausdrucksmedium des jüdischen Bildungsbürgertums, das sich weiterhin dem Hause Habsburg verbunden fühlte, dem es ein dankbares Angedenken bewahrte. Elf deutsche Zeitungen erschienen 1935 in Czernowitz, davon vier Tageszeitungen, hier hatte die Deutsche Buch-Gemeinschaft ihre Vertretung für ganz Rumänien und auch die größte Mitgliederzahl. Zeitungen und Zeitschriften aus Österreich und Deutschland lagen in Kaffeehäusern auf, einige konnten in den Antiquariaten und Buchhandlungen, die nicht nur ein breit gefächertes Angebot rumänischer, sondern auch deutschsprachiger Literatur führten, gekauft werden, gut ausgestattete Leih- und Privatbibliotheken standen zur Verfügung.
Obwohl Verflechtungen, die sich der wirtschaftlichen Modernisierung verdankten, eine interessenbedingte Annäherung förderten, Kontaktbeziehungen im Alltag zur Selbstverständlichkeit gehörten, verlief das gesellige, das gesellschaftliche Leben weitgehend nach Ethnien getrennt, deren Begegnungsstätten eigene „Nationalhäuser“ waren. Auch in Sportvereinen und studentischen Verbindungen erfolgte der Zusammenschluss vorwiegend nach der Volkszugehörigkeit. Pluralität war ein Wesensmerkmal des Czernowitzer Lebens, doch zu den Mythen über die Vielvölkerstadt am Pruth gehört auch jener über eine geglückte interkulturelle Symbiose, wobei von der Berührung unterschiedlicher geistiger Sphären durchaus auch produktive wechselseitige Anregungen ausgingen. Durch ihre Übersetzungen aus vielen Sprachen haben die polyglotten Dichter der Bukowina als erfolgreiche, als „geschäftige Kuppler“ – wie Johann Wolfgang von Goethe die Übersetzer nannte – gewirkt. Und das Melos des rumänischen Volkslieds klingt in vielen Gedichten deutscher Poeten der Provinz mit.
Trotz des Bedeutungsverlusts und der politischen Entmachtung des Czernowitzer Judentums gelang es diesem, bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre seine dominanten Positionen in Industrie, Handel, Gewerbe, im Bank- und (deutschsprachigen) Pressewesen, in den freien sowie in einigen handwerklichen Berufen weitgehend zu bewahren, allerdings kam es zu einer sozialen und ideologischen Polarisierung der jüdischen Bevölkerung, die sich vor allem während der Weltwirtschaftskrise (1929–1932) verschärfte. Während es den „begüterten Klassen unter der rumänischen Herrschaft ziemlich gut ging“, verarmten die intellektuellen Schichten und das Proletariat.
Auf der Suche nach Überlebensstrategien und Modalitäten der Selbstbehauptung schlugen die Bukowiner Juden unterschiedliche Wege ein. Heftige innerethnische Auseinandersetzungen, die in der israelitischen Kultusgemeinde, auf weltanschaulich-religiöser (Maskilim vs. Chassidim) und politischer Ebene (überregionale Aktionseinheit des rumänischen Judentums, Mitwirkung in rumänischen Parteien vs. regionale Sonderinteressen) stattfanden, sich nicht zuletzt auch als Sprach-Kämpfe manifestierten (Deutsch vs. Jiddisch vs. Hebräisch), waren in Czernowitz an der Tagesordnung. Die Zionisten grenzten sich von den Sozialdemokraten ab und bekämpften die Kommunisten als „rote Assimilanten“. Gegen die vermeintlich realitätsblinden Anhänger eines Erez Israel zog die Czernowitzer sozialdemokratische Zeitung Vorwärts zu Felde, die für tiefgreifende wirtschaftspolitische Reformen plädierte – als Voraussetzung einer notwendigen Integration der sozial schwachen Juden in die Gesellschaft Rumäniens. Aus der Feder Jerichem Blitzkopfs (d.i. Alfred Margul-Sperber) stammt die bittere Glosse:
Auch der Antisemitismus hat sein Gutes. Er hat ja den Juden erst darüber die Augen geöffnet, dass es auch außerhalb des Judentums Feinde des jüdischen Volkes gibt.
In den 1920er Jahren waren in der Bukowina die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen dank der ,Koine‘ des Deutschen als Verkehrssprache und eines Solidaritätsbewusstseins als nationale Minderheiten weitgehend von Toleranz und dem Willen zur Verständigung bestimmt. Im kulturellen Bereich gab es gemeinsame Auftritte sowie Mitgliedschaften in Vereinen und Ensembles – etwa im Deutschen Theaterverein, dessen Vorsitzender Alfred Kohlruß zugleich Vorsitzender des Deutschen Volksrats der Bukowina war, oder in den Czernowitzer Kammerspielen, einem Laienspieltheater mit beachtlichen Publikumserfolgen. 1931 plante der Gymnasiallehrer, Literaturhistoriker, Erzähler und Übersetzer rumänischer Literatur Alfred Klug die Gründung eines Verbandes aller deutschsprachiger „buchenländischer Schriftsteller“, ein Projekt, das allerdings nicht verwirklicht wurde.
II.
Anno 1925 schien Alfred Sperber vorrangig an der Wiederaufnahme von Kontakten zu Schriftstellerkollegen interessiert, die während seines Amerikaaufenthaltes abgebrochen waren. Aus Storožynetz schrieb er am 1. Juli 1925 an Oscar Walter Cisek, den er 1920 in Bukarest kennen gelernt hatte, einen ausführlichen Brief, in dem er galgenhumorig über seine New Yorker Jahre, die in einem Wiener Sanatorium verbrachten Monate und seine Befindlichkeiten in der ihn umschnürenden Kleinstadtrealität berichtete, aber auch „um eine kurze, aber prägnante Darstellung des literarischen Lebens Deutsch-Großrumäniens, in das er erneut einzusteigen beabsichtigte, bat. Knapp zwei Jahre später wurde er „ständiger redaktioneller Mitarbeiter“ der liberal-konservativen Zeitung Czernowitzer Morgenblatt. Der Publizist Margul-Sperber schrieb zahlreiche literaturkritische und kulturhistorische Aufsätze, rezensierte Buchpublikationen bukowinischer Autoren, veröffentlichte im Morgenblatt des Öfteren Übersetzungen rumänischer Schriftsteller und registrierte in den folgenden Jahren, wie sich fast ganz Europa zu einem Kontinent der Diktaturen wandelte. Er kommentierte mit spitzer Feder die instabilen ökonomischen und wechselhaften politischen Verhältnisse in Rumänien, die Zustände in seiner Heimatregion, den wachsenden Einfluss nationalsozialistischer Ideologie auf die Buchenlanddeutschen, den zunehmenden Rechtsruck der Gesellschaft, deren radikalsten Flügel die vehement antisemitisch und antikommunistisch agierende „Eiserne Garde“ repräsentierte, die auch vor gewalttätigen Aktionen gegen ,Volksfeinde‘ und ,Landesverräter‘ nicht zurückschreckte und trotz mehrfacher Verbote zu einer Massenbewegung avancierte, sich als politische Partei („Alles für das Vaterland“) an den Wahlen im Dezember 1937 beteiligte und 15,58% der Stimmen erzielte. Der rumänische König Carol II., ein erbitterter Gegner der „Eisernen Garde“, beauftragte jedoch die desgleichen rechtsextreme National-Christliche Partei mit der Regierungsbildung, obwohl nur 9,15% der Wähler für sie gestimmt hatten. Durch das Maßnahmenprogramm des Kabinetts Goga, das 44 Tage über Entscheidungskompetenzen verfügte, wurde der Antisemitismus nun politikgestaltend, u.a. fielen ihm Czernowitzer Printmedien wie die Ostjüdische Zeitung, das Czernowitzer Tagblatt und der sozialdemokratische Vorwärts zum Opfer. Auch unter dem autoritären Regime Carol II. (1938–1940), der die Verfassung von 1923 aufgehoben, aber nicht alle antisemitischen Beschlüsse der National-Christlichen Partei rückgängig gemacht hatte, grenzte eine verschärfte Zensur die Ausdrucksfreiheiten ein, öffentliche Auftritte jüdischer Autoren konnten in Czernowitz nunmehr nur noch unter strengen Auflagen stattfinden, doch erschienen gerade in diesen drei Jahren mehrere Lyrikbände deutsch-jüdischer Dichter im Selbstverlag und wurden in der zusammengeschrumpften Czernowitzer Presse auch rezensiert. Schon bald nach seiner Heimkehr hatte sich Alfred Margul-Sperber in das Studium der Geschichte der bukowinischen deutschen Literatur vertieft, deren Konsistenz und Substanz durch die Abwanderung zahlreicher Autoren in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts geschwächt worden war: Im Jahre 1925 lebten Klara Blum, Zeno Einhorn, Josef Kalmer, Kamillo Lauer, Heinrich Schaffer, Isaac Schreyer, Erich Singer und Victor Wittner in Wien, Rose Ausländer in New York, Artur Kraft in Würzburg. Die Entdeckung und Förderung deutschsprachiger, in der Bukowina lebender Dichter stellte eines seiner Hauptanliegen dar. 1928 veröffentlichte er im Czernowitzer Morgenblatt unter dem bezeichnenden Titel „Der unsichtbare Chor“ in acht Folgen einen „Entwurf eines Grundrisses des deutschen Schrifttums in der Bukowina“, in dem er nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass dessen „weitaus wertvollster Anteil in fast ausschließlichem Maße, vor allem in den letzten Jahrzehnten, den J u d e n gebührt“ und dass hier das Wagnis unternommen wird
von einer bisher zum größten Teile ungedruckten, also „unsichtbaren“ deutschen Dichtung zu sprechen, die trotz ihrer Spärlichkeit und Zusammenhanglosigkeit, als Ganzes und in manchen ihrer Einzelerscheinungen ebenbürtig neben der Dichtung anderer deutscher Länder genannt werden darf!
Angesichts des „Mangels an jeder verlegerischen Tätigkeit, der […] durch provinzielle Abgelegenheit zu erklärenden vollständigen Interesselosigkeit für solche Dinge […]“, nimmt es nicht wunder, dass Margul-Sperber seine Ausführungen, die einem erweiterten Literaturbegriff verpflichtet sind, mit einem beschwörenden Appell ausklingen lässt:
Es muss in irgendeiner Form eine Gemeinschaft ins Leben gerufen werden, die sich um die vollkommen vernachlässigten, ja totgeschwiegenen s c h ö p f e r i s c h e n Tendenzen unsers Landes bekümmert. [Ich denke] an irgendeine freie Gruppe gleichgesinnter Liebhaber geistiger Werte, welche das in diesem Aufsatze ausgesprochene und bewiesene Schlagwort vom „Bukowinaer Schrifttume“ zu einem lebendigen Inhalte formt. […] Eine Anthologie wird diesen Zweck […] auch bei weitem nicht erfüllen, dürfte aber fürs Erste unerlässlich sein. Dann aber muss unseren Dichtern, die wirklich etwas zu sagen haben, in einer geschlossenen Reihe von Veröffentlichungen, einer „Bücherreihe“, die Möglichkeit gegeben werden, einzeln und gesondert zu Worte zu kommen. Vor allem aber tut eine literarische Zeitschrift not, die das große Sammelbecken abgeben soll, in dem sich alle schöpferischen Tendenzen unseres Landes zum lebendigen Chore vereinigen, […] Ich rufe nach dem, nein nach den Mäzenaten, die sich schmeicheln wollen, eine solche Aufgabe gefördert zu haben! […]
Die Forderung aber, die hier vorgetragen wird, ist eine Forderung letzter Stunde: das Deutsche Schrifttum der Bukowina ist eine abgeschlossene und erledigte Angelegenheit. Die jetzt heranwachsende Generation wird in absehbarer Zeit schwerlich noch deutsch sprechen, geschweige denn deutsch lesen und schreiben.
Dieses Zitat belegt eindeutig, dass Margul-Sperber schon 1928 die Herausgabe einer Anthologie vorschwebte. Doch sein Hilferuf verhallte ohne das ersehnte Echo. Den Czernowitzer Kulturzeitschriften – von Der Nerv (1919, zwölf Hefte) über Die Gemeinschaft (1928–1930, 38 Hefte) bis zu Die Wandlung (1931, zwei Hefte) – war nur kurze Lebensdauer beschieden.
Immerhin gelang es Margul-Sperber, am 6. Oktober 1929 im Czernowitzer Morgenblatt die literarische Beilage Jugendstimmen ins Leben zu rufen, die insgesamt – bis Herbst 1930 – vierzig Mal erschien. 1929/1930 veröffentlichte das Morgenblatt u.a. Gedichte der Nachwuchsautoren Lotte Jasslowitz, Josef I. Kruh, Klaus Udo Tepperberg und Kubi Wohl, die auch in Fassung A1 Anthologie deutschsprachiger Judendichtung Die Buche Aufnahme fanden – allerdings vorwiegend mit anderen Texten. Und während der Zeitspanne, in der Alfred Margul-Sperber als Mitarbeiter des Morgenblattes (1927–1933) und Alfred Kittner als Redakteur der Zeitung Der Tag (1932–1935) und des Czernowitzer Tagblattes (1935–1938) tätig waren, wurde der Bukowiner Lyrik in der Tagespresse viel größere Aufmerksamkeit als bisher geschenkt. Außerdem knüpfte Margul-Sperber, der schon 1919/1920 in der expressionistischen Kronstädter Zeitschrift Das Ziel/Das neue Ziel Gedichte veröffentlicht hatte, nun erneut Beziehungen zu siebenbürgischen Schriftstellern und publizierte im Klingsor (Kronstadt, 1924–1939), der bedeutendsten deutschen Kulturzeitschrift der Zwischenkriegszeit in Rumänien, ab 1927 nicht nur eigene Texte und Übersetzungen, seiner Vermittlung ist es auch zu verdanken, dass im Klingsor Gedichte von Rose Ausländer und Moses Rosenkranz erschienen. In dem Hermannstädter Herman Roth fanden Moses Rosenkranz und Margul-Sperber einen aufgeschlossenen und literaturkundigen Gesprächspartner, was die im Nachlass Margul-Sperbers erhaltenen Briefe Roths und Rosenkranz’ dokumentieren.
Die Befürchtungen Sperbers im Zusammenhang mit einer Zukunftschance der Bukowiner deutschen Literatur waren – obwohl sie sich nicht bewahrheiteten – nicht völlig unbegründet. Topik, Lexik und Syntax des eigentümlichen, von vielerlei Sprachinterferenzen geprägten ,Buko-Wiener‘ Umgangs- und Schriftdeutsch wurden nun infolge der gewandelten politischen und institutionellen Rahmenbedingungen zunehmend von Einwirkungen des Rumänischen durchsetzt. In der verdichteten Form des Gedichts konnte die Unsicherheit im Umgang mit dem verfügbaren Sprachmaterial am ehesten überwunden werden: Lyrik war die eindeutig dominierende Gattung der in der Bukowina entstandenen deutschsprachigen Literatur. Gelebte Mehrsprachigkeit in einem Nationalstaat birgt immer auch die Gefahr des Kompetenzverlusts in einer anderen als der dominanten Staatssprache – dessen war sich Sperber durchaus bewusst. Enthusiastisch rezensierte er daher – in Form eines von rhetorischen Fragen durchzogenen Offenen Briefes – den ersten Gedichtband Leben in Versen (1930) des 26-jährigen Moses Rosenkranz, in dem er den neuen Hoffnungsträger der deutschsprachigen Bukowiner Literatur erkannte:
[…] Welches ist Ihre Muttersprache? Doch nicht deutsch? denn die hierzulande gesprochene Sprache kann schwerlich so, geheißen werden, Bildungsstätten, in welchen die Sprache gelehrt wird, die Sie für Ihre Dichtungen gewählt haben, gibt es hier längst nicht mehr […]. Muss man da nicht an das Wunder glauben, dass in der Bukowina, selbständig und losgelöst von jedem Zusammenhange mit dem Ursprungsgebiete, erst jetzt, im Herzen eines mit aller Macht assimilierenden Großrumäniens, ein Zweig der deutschen Sprache schöpferisch rege zu werden beginnt, in dem so vollendete Dinge geschaffen werden können, wie es viele Ihrer Gedichte sind? […]
Und so schließe ich mit meinem überströmenden Danke für Ihre so schöne und wertvolle Gabe, und mit den Worten, die Emerson an Whitman als Antwort auf die Widmung seiner ersten Gedichte richtete: Ich begrüße Sie am Beginne einer großen Laufbahn.
III.
Eine Anthologie bukowinischer Gegenwartsliteratur, die zweite des 20. Jahrhunderts, nach dem Bukowiner Musenalmanach, der 1913 in Leipzig erschienen war, gaben Anfang 1932 die Buchenlanddeutschen Alfred Klug und Franz Lang in Czernowitz heraus: In dem „Jahrbuch für deutsche Literaturbestrebungen in der Bukowina“ Buchenblätter finden noch deutsche und jüdische Autoren der Region zusammen – u.a. Rose Ausländer, Georg Drozdowski, Heinrich Kipper, Alfred Klug, Franz Lang, Ariadne Löwendahl [sic!], Tina Marbach, Alfred Margul-Sperber, Ducza Czara Rosenkranz.
„Wir haben uns bemüht“, heißt es in dem schlichten Vorwort,
vor allem diejenigen heranzuziehen, die mit Gedichten und Erzählungen schon an die Öffentlichkeit getreten sind. Dass es noch so manchen gibt, der hätte aufgenommen werden können, ist zweifellos. Wenn unser Versuch Erfolg hat, und wir im nächsten Jahr wieder ein Jahrbuch herausgeben können, wird es gewiss vollständiger sein.
Doch konnte dieser Band weder Margul-Sperber noch die 1931 heimgekehrte Rose Ausländer zufrieden stellen, deren beider Gedichte wie Wunderblüten aus der Flut dilettantischer Verlautbarungen herausragten. Am 16. Juni 1932 schrieb Rose Ausländer aus Czernowitz an Alfred Margul-Sperber in Storožynetz einen Brief, der zweifelsfrei Sperbers Wissen von einem neuen Anthologieprojekt voraussetzt:
[…] Herr Prof. Klug hat, ehe er nach Gurahumora in die Sommerfrische reiste, hier ein engeres „Komitee“ für die geplante Bukowiner Anthologie zusammengestellt, dem auch ich angehöre. Die Technik der Auswahl wird in der Weise geübt, dass jedes Komiteemitglied – es sind zusammen vier, mit Prof. Klug fünf – die eingelaufenen Gedichte überprüft und in einem verschlossenen Kuvert seine „Stimmen“ abgibt, die dann am Schlusse für die Aufnahme der Sachen maßgebend sein werden. Nun liegen, neben anderen, auch Ihre Gedichte vor mir – eine recht „magere“ Auswahl. Für den Rahmen und das Niveau der Buchenblätter würden Sie ja ausreichen und noch immer das Beste sein. Aber mit dieser Anthologie wird mehr geplant, sie soll eine andere literarische Physiognomie haben – alles Durchschnittliche und Kitschige soll möglichst ausgeschaltet werden, nur Sachen von echtem dichterischen Wert sollen Eingang finden. Die Initiative dieser Idee ging von zwei jungen talentierten Männern aus: Siegfried Laufer und… Kittner [der 1930 aus Breslau heimgekehrt war – Anm. der Hrsg.], die ein gutes Fundament für das Buch abgeben.
Es täte mir persönlich leid, wenn gerade in diesem Band von Ihnen schwächere Gedichte erscheinen als in den Buchenblättern. Und so bitte ich Sie, noch eine Anzahl Ihrer besten Arbeiten an meine Adresse zu schicken; ich werde sie dem gesamten Material einverleiben, ehe ich es an Professor Klug zurückgebe […].
Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Margul-Sperber neben Alfred Klug, Rose Ausländer, Siegfried Laufer und Alfred Kittner als das fünfte Komiteemitglied fungierte – an der Auswahl der Autoren und Texte war er jedenfalls nachweislich beteiligt. In zwei von den drei überlieferten Briefen des Jahres 1932 von Alfred Kittner an Alfred Margul-Sperber – die Briefe Sperbers an Kittner haben sich nicht erhalten – ist von der gemeinsamen Arbeit an der Anthologie in statu nascendi die Rede. Am 5. August 1932 schrieb Kittner seinem älteren Freund u.a.:
[…] Ich habe auf Ihr Anraten mich an die Herren [Kamille] Lauer, Dr. [Walter] Kipper, Saul Walzer und die Damen [Marie] Hollinger, [Lette] Jaslowitz und [Marianne] Vincent gewandt, und bisher Gedichte von Walzer, Jaslowitz und Hollinger erhalten, glaube aber nicht, dass diese den gestellten Anforderungen entsprechen. Da die Zeit so vorgerückt ist, und die Versuche, geeignete Beiträger ausfindig zu machen, bisher nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt haben, glaube ich, dass es an der Zeit wäre, die Vorarbeiten als mehr oder weniger abgeschlossen anzusehen und den Termin für die Herausgabe festzusetzen. Nachdem Frau Ausländer die Durchsicht des Materials beendet haben wird, werden wir uns auf alle Fälle bemühen, auch Ihnen die Einsendungen zukommen zu lassen.
[…] Sollten Sie der Ansicht sein, dass die Gedichte von Artur Kraft […], von Dr. Walter Kipper […], von Klaus Tepperberg […], von Frau Dr. Salome Mischel-Grünspan […], von David Goldfeld […] den besonderen Anforderungen entsprechen, so ersuche ich Sie, die Genannten brieflich für die Sache zu interessieren, da sie auf meine Drucksorten, die mit Prof. Klug unterzeichnet sind, nicht reagierten. Vielleicht wollen Sie ihn als Autorität nicht anerkennen. […]
Am 24. September 1932 teilte Kittner Sperber „bezüglich der Anthologie“ mit,
[…] dass Dr. Isak Sonntag nur einige Gedichte eingesandt und drei sehr schwache Gedichte seines Freundes Ifraim Blei beigelegt hat. Ferner lege ich Ihnen zwei Schreiben bei, das eine Absage von Dr. [Jakob] Schulsinger enthaltend, das andere von Frl. [Klara] Blum in Angelegenheit Kamillo Lauer. Es wäre gut, wenn Sie mit Herrn Lauer […] recht bald in Verbindung treten. Er wäre, glaube ich, für die Sammlung ein großer Gewinn, und vielleicht könnte man durch ihn auch an [Erich] Singer und [Victor] Wittner herantreten.
Dass Sperber sich darauf an den in Wien lebenden Kamillo Lauer gewandt hatte, belegt dessen ausführliche Antwort vom 15. Oktober 1932. Der Wiener Rechtsanwalt, dessen „lyrisches Drama“ Jo’s Tod (1909) mit dem Hofmannsthal-Preis ausgezeichnet worden war und der nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr mit eigenen Werken an die Öffentlichkeit trat, empfand es als bewegend,
dass in meiner Heimat der Glaube an das vollkommene Gedicht, an diese seltene, der Gnade des Augenblicks, der Persönlichkeit, der Landschaft zu dankende Leistung noch lebendig ist – ein Glaube, der im Grunde trotz aller begrifflichen Verwirrung unserer Zeit, auch mein Credo geblieben ist […].
Allerdings erhob er gegen Margul-Sperbers „Plan“ auch zahlreiche „Einwände“: In Österreich und in Deutschland, wo die „wirkliche Lyrik“ selten „Leser und kaum Käufer findet“ und wo „heute jeder literarisch Schaffende um sein Stückchen Brot kämpft“, würde man „für Lyrik aus der Bukowina kein Interesse haben“; Lyrik sei „bestenfalls die Angelegenheit einer verschwindend kleinen, über das große deutsche Sprachgebiet zerstreuten Anzahl von Interessierten, irgendwie selbst Leser und Dichtende zugleich“. Dies alles kompliziere sich im Falle der geplanten Anthologie „durch die Tatsache nämlich, dass die in ihr vertretenen Bukowiner Dichter deutscher Sprache fast ausschließlich Juden sind“.
„Eine lyrische Sammlung“ gibt Lauer zu bedenken,
wird gewöhnlich von einer Gruppe, irgend einem Kreis, der glaubt, dass er Eigenes auf eigene Art zu sagen hat, fast immer aber von Jugend herausgebracht. Das, meine ich, wäre auch das richtige Ziel für Ihre Anthologie. Fassen Sie zusammen, was in der Bukowina der Nachkriegszeit sprachschöpferisch tätig ist, also junge Leute, die gehört werden wollen. Denen es Lohn genug ist, wenn sie ein feines Ohr hört. Diese Sammlung zu begutachten, Sie und Ihre Mitarbeiter dabei in der gewünschten Art zu beraten, das wäre eine Arbeit, der ich mich gerne unterziehen wollte […].
Man müsste sich aber noch über Einzelnes unterhalten, so z.B. über die Vorrede von Zweig oder Hesse u.a.m. Schicken Sie mir bitte, am besten vielleicht durch die Vermittlung von Frl. Blum, die von Ihnen bereits gesichtete Sammlung und lassen Sie mich Ihre Entscheidung wissen.
Aus dem Brief der Rose Ausländer und den beiden Schreiben Kittners erhellt, dass es sich diesmal um eine Lyrikanthologie handelte, in der sowohl deutsche als auch jüdische Dichter der Bukowina zu Wort kommen sollten, dass aber andererseits strengere Auswahlkriterien galten und auch im Ausland lebende Autoren ins Auge gefasst worden sind. Dem Brief von Kamillo Lauer ist zu entnehmen, dass Margul-Sperber in Erwägung gezogen hatte, Stefan Zweig oder Hermann Hesse für eine „Vorrede“ gewinnen zu wollen. Wo der Band gedruckt werden sollte und warum er nicht erschienen ist, kann aufgrund des derzeitigen Wissensstandes nicht festgestellt werden, möglicherweise wurden Margul-Sperbers Hoffnungen von Lauers ernüchternden Argumenten gedrosselt, doch ist das Scheitern dieses Vorhabens sicherlich vorrangig im Zusammenhang mit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 in Deutschland zu erklären, die eine deutliche Zäsur im deutsch-jüdischen Verhältnis in der Bukowina markierte und darüber hinaus einschneidende Folgen für die überregionalen Wirkungsintentionen der deutsch-jüdischen Lyriker in der Bukowina hatte. Noch am 4. September 1932 – nach den Reichstagswahlen im Juli 1932 bildete die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP) mit 280 Mandaten die stärkste Fraktion – schrieb Mayer Ebner, der Vorsitzende der Zionistischen Landesorganisation der Bukowina, in der Czernowitzer Ostjüdischen Zeitung.
Die Welt soll es wissen, dass die Bukowina der gesegnete Fleck Erde ist, wo Deutsche und Juden anderthalb Jahrhunderte lang in fast nie getrübter Einheit friedlich und freundlich nebeneinander gelebt haben und – so Gott will – auch weiterhin leben werden.
Doch hatten die räumliche Nähe zur stalinistischen Sowjetunion, die schwelende Angst vor dem Bolschewismus, die Sympathie breiter jüdischer Schichten für Sozialdemokratie und Kommunismus, die minderheitenfeindliche Schulpolitik unter dem liberalen Unterrichtsminister Constantin Angelescu (1922–1928), die Unzufriedenheit mit der Politik des regionalen Deutschen Volkrats und schließlich die Weltwirtschaftskrise (1929–1932) einen fruchtbaren Boden für das Einsickern nationalsozialistischen Gedankenguts bereitet. Aus der 1922 von Fritz Fabritius im siebenbürgischen Hermannstadt gegründeten Baufinanzierungsgesellschaft „Selbsthilfe“ war im Mai 1932 eine politische Partei, die „Nationalsozialistische Selbsthilfebewegung der Deutschen in Rumänien“ (NSDR), hervorgegangen, die das Führerprinzip und die Idee der ,durchorganisierten‘ Volksgemeinschaft propagierte, über den siebenbürgischen Rahmen hinaus wirkte und auch in der Bukowina eine eigene Formation aufbaute.
„Unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Umschwungs in Deutschland“, schrieb Martin Broszat in seiner Studie „Der Nationalsozialismus und Ostmitteleuropa“,
bahnte sich namentlich bei den deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa ein Wandel der Verfassung und soziologischen Struktur der Minderheitenorganisationen an. So genannte nationalsozialistische Erneuerungsbewegungen, die unter den Deutschen im Baltikum ebenso wie in Polen und den deutschen Minderheiten in den Donaustaaten aufkamen und bald das Feld beherrschten, bedeuteten sowohl Hinwendung zu einem exklusiven völkischen Nationalismus wie Ablösung des bisherigen Honoratioren- und Vereinscharakters der Führung und Organisation der deutschen Minderheiten durch ein autoritäres, bündisches Organisations- und Führungsprinzip. Im Zeichen korporativer Volksgruppenorganisationen entstand auf diese Weise schon seit Mitte der 30er Jahre in den meisten deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa eine Einheitsorganisation und innervölkische Zwangssituation, die später die Diktatur der von der SS gleichgeschalteten Volksgruppenführungen erleichterte.
Die konträren Reaktionen auf die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sowie auf die weiteren Ereignisse in Deutschland, die von dem Sprachrohr der Buchenlanddeutschen, der Czernowitzer Deutschen Tagespost, begrüßt und von den jüdischen Printmedien besorgt und ablehnend erörtert wurden, da der radikale Antisemitismus eine Dominante nationalsozialistischer Programmatik und politischer Praxis bildete, führten zum Ausbruch von heftigen Pressepolemiken, die bis zum Jahr 1940 andauerten. Schon 1933 stellte der Deutsche Theaterverein seine Tätigkeit ein. Und zwei Jahre später teilte Alfred Klug Margul-Sperber in einem Schreiben vom 23. Februar 1935, in dem er gleichzeitig der Freude über die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung Ausdruck verlieh, Folgendes mit:
Leider muss ich doch ablehnen, das Referat an die Tpost [Czernowitzer Deutsche Tagespost – Anm. der Hrsg.] zu senden. Sie kennen mich und wissen, dass ich kein Antisemit bin. Unter allem anderen beweist es meine Freundschaft mit Rosl Ausländer, die jetzt – leider! – sehr viel zu tragen hat. Doch haben sich die Zeitungen in Cz[ernowitz] so sehr ineinander gebissen, dass ich nichts tun kann. Namentlich Morgenblatt und Tag lassen mit der Hetze nicht nach, und die Tagespost erwidert.
Ausführlich geht Alfred Kittner in seinen Erinnerungen auf das Jahr 1933 ein, in dem es
zu einem Bruch zwischen den deutsch sprechenden und deutsch denkenden Juden und den deutschen Ariern kam. Früher war man, durch die deutsche Sprache verbunden, eine Einheit gewesen. […] Es war erstaunlich, wie die jungen Menschen, mit denen wir zusammen gewesen waren, mit denen wir den vertrautesten Umgang gepflegt hatten, mit denen wir dieselbe Schulbank gedrückt hatten, mit denen wir gemeinsam in der Redaktion arbeiteten, die wir bei Konzerten trafen, sich von uns abwandten und sich mit wehenden Fahnen den Nazis anschlossen.
1933 sind deutsch-jüdische Autoren der Bukowina zum letzten Mal in der „siebenbürgischen Zeitschrift“ Klingsor vertreten, deren Herausgeber Heinrich Zillich nun einen völkischen Kurs ansteuerte und seine Position in Briefen an Margul-Sperber in unmissverständlicher Deutlichkeit auch darlegte. Und nach der bürokratischen Institutionalisierung der NS-Kulturpolitik in Deutschland wurde ihr Zugang zu Verlagen im Reichsgebiet erschwert, weil sie nunmehr nur noch über die Möglichkeit verfügten, in den weiter existierenden jüdischen Verlagen zu veröffentlichen. Mit dem Anschluss Österreichs an das expansionsbesessene Deutsche Reich (13. März 1938) und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ (16. März 1939) wurden die bislang gelegentlich genutzten Chancen auf Veröffentlichungen in österreichischen und Prager Periodika abgewürgt.
IV.
Da Czernowitz für die nach enttäuschenden Lehr- und Wanderjahren in Europa und den USA heimgekehrten Poeten keine ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten bot, waren diese in den 1930er Jahren in andere Ortschaften Rumäniens gezogen. In Czernowitz verblieb nur Alfred Kittner, der ab März 1932 bis zum 1. Januar 1938 als Zeitungsredakteur wirkte und danach als Arbeitsloser, wie er Gerhardt Csejka in einem Interview aus dem Jahr 1976 gestand, „sozial nirgends eingeordnet […] , in äußerster Armut, von der Hand in den Mund?“ bis 1940 lebte. Moses Rosenkranz übersiedelte 1931 nach Bukarest, wo er als Privatsekretär des Dichters und liberalen Politikers Ion Pillat und als Übersetzer und Referent der Presseabteilung des Rumänischen Außenministeriums tätig war. „Moses Rosenkranz, will, wie ich höre, einen neuen Gedichtband herausbringen“, schrieb Alfred Margul-Sperber am 10. Januar 1935 an den Presse- und Kulturrat der rumänischen Gesandtschaft Oscar Walter Cisek, „den er in sehr pompösen Worten ankündigt. Stehen Sie noch mit ihm in irgendeiner Verbindung? Für mich war er 4 Jahre lang völlig verschollen.“ David Goldfeld, der ebenfalls in Bukarest Fuß zu fassen versuchte, fand nur eine schlecht bezahlte Halbtagsstelle und lebte hier (1935–1937) unter dürftigsten Verhältnissen. In der rumänischen Hauptstadt nahm auch Rose Ausländer für einige Jahre (1933–1939) Wohnsitz und begann am 1. Dezember 1934 ihre Tätigkeit als Fremdsprachenkorrespondentin der Vacuum Oil Company. Alfred Margul-Sperber, der 1928 in zweiter Ehe Jessika Drimmer geheiratet hatte, konnte seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter des Czernowitzer Morgenblattes ohne finanzielle Unterstützung seiner Schwiegereltern nicht bestreiten und ließ sich mit seiner Frau im Sommer 1933 in der nordmoldauischen Kleinstadt Burdujeni bei Suceava nieder, wo er bis 1940 als Fremdsprachenkorrespondent einer rumänisch-englischen Fleischfabrik arbeitete und, gleichsam in einem inneren Exil lebend, als unermüdlicher Briefeschreiber seine Isolation zu durchbrechen trachtete, Czernowitzer Zeitungen auch weiterhin mit Aufsätzen, Buchbesprechungen, polemischen Artikeln, Gedichten sowie Übersetzungen belieferte und gelegentlich „Kuckuckseier“ in den Kulturbetrieb des „Dritten Reiches“ einschmuggelte.
Die „ideologische Zerrissenheit der jüdischen Nachkriegsgeneration im Osten“, die Ausgrenzung aus dem deutschen Resonanzraum, die als korrumpiert empfundene Sphäre des ,Politischen‘ sowie das Desinteresse, auch innerhalb der eigenen Ethnie, an ihren Verlautbarungen haben mit dazu beigetragen, dass die deutsch-jüdischen Lyriker der Bukowina auf einen Fundus bewährter Gestaltungsweisen – von Joseph von Eichendorff bis Rainer Maria Rilke – zurückgriffen, eine Option, die „doppelt motiviert war“,
nämlich als innerästhetische Entscheidung zugunsten einer mythisch sublimierten Poesie in tradierter Gestalt und als außerästhetische Zweckbindung an Vorstellungs- und Empfindungsräume, in deren Bannkreis gesellschaftliche Irritationen kompensierbar scheinen.
Hineingeboren in die letzten Dezennien der k.u.k, Monarchie, empfanden sie sich als deutsche Autoren, strebten eine imaginäre Reterritorialisierung eines von der Furie des Verschwindens bedrohten Terrains an und richteten sich ein in Traumreichen und den Heimstätten Natur, Kindheit, Eros, Mythos. Ihre Gedichtlandschaften sind gleichermaßen Sehnsuchts- und Verlustlandschaften. Erst als sie in den Sog der Vernichtung gerieten, stigmatisiert, vertrieben, ghettoisiert und deportiert wurden, dringt jüdisches Leid in historisch-konkreter Ausprägung in ihre Gedichte ein.
Dass der fernab von Zentren des kulturellen Dialogs in Burdujeni lebende Margul-Sperber die bisherige Sammelarbeit nicht als vergeblich betrachtete und in ihren Ergebnissen eine Ausgangsbasis sah, um auch unter veränderten Verhältnissen das Anthologievorhaben nach dreijährigem Stillstand neu zu beleben, belegt ein handschriftlicher, mit zahlreichen Korrekturen versehener Entwurf eines undatierten Rundschreibens:
Hochgeehrter Herr!
Im Auftrage einer Gruppe von Literaturfreunden, die für den Spätherbst d.J. die Herausgabe eines Sammelbandes deutscher Dichtungen rumänischer Juden vorbereitet, wendet sich der Gefertigte an Sie mit der Bitte, dieses Unternehmen durch Ihren berufenen Rat und Ihre freundliche Mitwirkung unterstützen zu wollen.
Die projektierte Anthologie wird voraussichtlich in einem führenden jüdischen Verlag Deutschlands erscheinen; für alle Fälle wird dafür gesorgt sein, dass das Niveau der aufgenommenen Beiträge und eine würdige Ausstattung dieser Veröffentlichung in den weitesten Kreisen der Freunde deutscher Dichtung Beachtung und Anerkennung sichern.
Wir bitten Sie daher, uns etwa 20 repräsentative Proben Ihres lyrischen Schaffens zur Verfügung stellen zu wollen, von welchen wir 10–15 Stücke zu verwenden gedenken. In Betracht kommen vornehmlich Gedichte, die dem Gebiete der reinen Lyrik angehören; damit Sie Ihrer Auswahl den ausschließlichen Maßstabe dichterischen Wertes zugrundelegen können, sind wir auch damit einverstanden, bereits in Zeitschriften oder in Buchform veröffentlichte Gedichte zu verwenden.
Nach Fertigstellung der Auswahl wird Ihnen eine Abschrift des druckfertigen Manuskripts vorgelegt werden, nach dessen Prüfung erst Sie Ihre definitive Zustimmung zur Verwendung Ihrer Beiträge zu erteilen den Vorbehalt haben. Wir erwarten aber auch in diesem Zeitpunkte Ihre gewiss sehr wertvollen Vorschläge und Anregungen, den Wert der einzelnen Beiträge sowie Anlage und Eindruck des Ganzen betreffend.
Auch die Schlusszeilen dieses Briefes haben sich in Margul-Sperbers Nachlass erhalten und wurden von den Herausgebern in einem anderen Konvolut aufgefunden:
Indem ich Sie bitte, die Zusendung Ihrer Beiträge an die untenstehende Adresse mit Rücksicht auf die befristete Zeit der Vorbereitung unserer Sammlung als sehr dringlich ansehen zu wollen, bin ich, mit verbindlichstem Dank im Voraus für Ihre freundliche Mitwirkung, in vorzüglichster Hochachtung
Ihr sehr ergebener
Adresse:
Alfred Sperber
p.A. Abator
Burdujeni-Gara
Suceava
Wer zu der „Gruppe von Literaturfreunden“ gehörte, konnte bislang nicht geklärt werden. Vermutlich handelt es sich – ebenso wie die Ankündigung, dass der Band „voraussichtlich“ im Spätherbst des Jahres in einem „führenden jüdischen Verlag Deutschlands“ erscheinen werde – um eine Captatio benevolentiae. Anregend auf Margul-Sperbers Vorhaben dürfte die 1935 in Hermannstadt erschienene Lyrikanthologie Herz der Heimat gewirkt haben, obwohl oder gerade weil in dieser die bukowinischen deutsch-jüdischen Dichter, aber auch der Buchenlanddeutsche Georg Drozdowski und der ,arische‘ Bukarester Oscar Walter Cisek keine Aufnahme fanden; berücksichtigt wurde, wie es in dem Vorwort von Harald Krasser heißt, das „Schrifttum“ der deutschen Siedlungsgebiete Rumäniens, „soweit es deutschblütig und nicht nur deutschsprachig ist“, was Margul-Sperber jedoch nicht daran hinderte, das Buch positiv zu rezensieren, denn Herman Roth und Harald Krasser hätten
es zuwege gebracht, durch die Kunst ihrer Auswahl aus den Blättern ihrer Anthologie das klare geistige Bild einer besonderen Landschaft erstehen zu lassen, an der ein seit Jahrhunderten selbständig fortgebildeter Sonderchor deutscher Dichtung deutlich hörbar wird, und der Gesamteindruck des Buches erlaubt die Feststellung, dass die hier zu Tage tretenden schöpferischen Leistungen durchaus nicht verschämt hinter jenen, die heute auf dem Boden des reichsdeutschen Mutterlandes geschaffen werden, zurückzustehen brauchen, sondern sich würdig in das Gesamtbild deutscher Dichtung der Gegenwart einreihen lassen.
Mit der Konzeption seiner Anthologie wollte Sperber ein Signal künstlerischer Produktivität setzen, das gegen die Verfemung durch die Nationalsozialisten sowie gegen die Verdrängung des Jüdischen als prägende Identitätskomponente opponierte und den Beweis erbringen, dass auch die jüdischen Autoren in und aus der Bukowina einen „Sonderchor deutscher Dichtung“ bildeten. Die im Rundschreiben vorgetragene Bitte um „vornehmlich Gedichte, die dem Gebiete der reinen Lyrik angehören“, rekurriert auf Sperbers eigene Poetik und dichterische Praxis. Damit befand er sich im Einklang mit dem Traditionalismus in der Spätphase der Weimarer Republik, der sich als Reaktion auf „Neue Sachlichkeit, Technomanie, Amerika-Kult der Zeit“ entfaltete, formsprengende und -innovative Experimente sowie gesellschaftskritisches und parteipolitisches Engagement von sich wies und auch in kulturellen Freiräumen und Nischen des „Dritten Reiches“, in Schreibweisen der Inneren Emigration, nunmehr in betonter Abgrenzung von der dröhnenden volkhaften Militanz, weiterwirkte. Doch ist nicht auszuschließen, dass in Sperbers „Vorgabe“ mitbedacht wurde, dass der „Sammelband rumänischer Juden“ im „Dritten Reich“ erscheinen sollte und damit einer völkisch-nationalen Zensur ausgesetzt war.
Andererseits hatte Margul-Sperber keine Bedenken, eigene Gedichte sowie die seiner Bukowiner Weggefährten in einem der größten Literaturverlage Hitlerdeutschlands zu veröffentlichen; er befürwortete und unterstützte Herman Roths illusorisches Vorhaben, bei Langen-Müller, wo bereits Bücher der siebenbürgischen Autoren Adolf Meschendörfer, Erwin Wittstock und Heinrich Zillich erschienen waren, eine Lyrikanthologie – eine erweiterte Auflage des Bandes Herz der Heimat – aller deutsch(sprachig)en Dichter Großrumäniens herauszugeben, wozu der gleichgeschaltete Verlag unmöglich zu gewinnen war. Schließlich erschien 1937 unter dem gleichen Titel eine Anthologie, die ausschließlich Texte siebenbürgisch-deutscher Lyriker enthielt. Auch die Bemühungen Herman Roths den Leiter des Münchner Langen-Müller Verlags, Gustav Pezold, der Anfang Juni 1935 nach Hermannstadt kam, davon zu überzeugen, einen Gedichtband von Moses Rosenkranz zu veröffentlichen, blieben vergeblich. Rosenkranz seinerseits reagierte abweisend in einem Brief vom 15. Juli 1935 auf Sperbers „freundliches Anerbieten, meine Gedichte an Professor Wittkop und Karl Wolfskehl zu senden mit der Hoffnung, sie durch den Schocken Verlag an die Öffentlichkeit zu bringen […]“:
[…] Ich fühle mich als deutscher Dichter und habe kraft meiner geistigen Lage und menschlichen Haltung das Recht, zum ganzen Deutschen Volk zu sprechen oder – wenn mir das vorenthalten wird – mich in mein Zimmer zurückzuziehen und still weiter zu arbeiten und zu warten, bis meine Zeit komme.
Ich darf meine poetische Fracht nicht auf ein Wässerchen setzen, das verborgen fließen muss und Gefahr läuft, im Sande zu versiegen. Die jüdische Deutschlanddichtung ist keine natürliche Landschaft, kein Quellengebiet und keine Mündung. Wenn ich nicht irre, steht der Schocken Verlag im Mittelpunkt dieses Katastrophengebietes, das, von einer Eruption empor geworfen, schon von einem nächsten Ausbruch verschüttet werden kann. Es wäre nicht im Sinne meiner Aufgabe, ließe ich mich von zeitbedingten Vorurteilen dazu bestimmen, für Deutschland nicht einen Wert aufzubewahren, den ich nur an Deutschland gesendet weiß und der von den Besten der Nation zweifellos auch heute schon willkommen geheißen würde. Ich bin überzeugt, dass Deutschland, ich möchte sagen: das Deutsche Wachsein, die Deutsche Seele, ebenso auf mich wartet, wie ich auf sie. […].
Bis heute hat in der Geschichte des Deutschen Geistes immer noch Hermann [sic!] Roth Julius Streicher besiegt; ich bin überzeugt, dass heute der siebenbürgische Anwalt des unverfälschten Deutschen Geistes sich ebenso behaupten wird wie sein große Vorfahre, der Gotthold Ephraim Lessing. […]
Nun war selbst Alfred Kittner überrascht, als er im Jahr 1935 von einem gemeinsamen Bekannten erfuhr, „dass Sie [Alfred Margul-Sperber] allen Ernstes daran denken, eine Anthologie Bukowinaer Lyrik zu veröffentlichen. Sie sollen sogar schon einen Mäzen ausfindig gemacht haben! Ist etwas dran? Oder ist es nur eine Fame?“
Im Unterschied zu Sperber bekundete Kittner, den jener nach dessen neugieriger Anfrage offensichtlich über seine Absichten informiert hatte und der fortan an der Sammelarbeit regen Anteil nahm, allerdings seine Enttäuschung über die „siebenbürgische Anthologie“:
[Darin] steht doch mehr Erzwungenes, kühl und oft mühsam Komponiertes, […] als was auf den letzten und tiefsten Ausdruck starker innerer Erlebnisse hindeutet. […] Ich bin sehr überzeugt, dass eine Sammlung Bukowiner Lyrik viel mehr und Besseres bieten könnte. […] So hat denn die Lektüre […] in mir die unbändige Lust erweckt, mich wieder – aber in fruchtbringender und zielsicherer Weise – mit den Plänen für die Bukowiner Sammlung zu befassen […].
„Ich bitte Dich sehr“, schrieb Kittner am 1. September 1935 an Sperber, wobei er bedauerte, dass buchenlanddeutsche Dichter diesmal ausgeklammert werden,
mich in Angelegenheit der Anthologie auf dem Laufenden zu halten, da sie mir sehr am Herzen liegt, wenn ich es auch lieber gesehen hätte, dass [Georg] Drozdowski, [Heinrich] Kipper etc. miteinbezogen würden. So ist die Sammlung von Anfang an dazu verurteilt, fragmentarisch zu bleiben. Schreibe mir, bitte, ob Du die „Dunklen Strophen“ von Heinr[ich] Schaffer schon angefordert hast oder ob ich mich bei David um sie interessieren soll? Hast Du schon die Adressen von [Marie] Hollinger und [Irma] Klauber?
Mehrere an Sperber gerichtete Briefe und Postkarten beweisen, dass dieser sein Rundschreiben im Sommer 1935 versandt hatte. Dabei war der Widerhall recht unterschiedlich und führte zu kontroversen Debatten und Auseinandersetzungen über Auswahlkriterien, Mitwirkung, Gewichtung und Präsenz einzelner Autoren. Von Josef Kalmer hatte Sperber bereits 1934 die Anschrift Kamillo Lauers erfahren wollen, ohne den Grund für diese Bitte anzugeben, worauf ihm dieser am 19. Dezember 1934 u.a. antwortete:
[…] Kamillo Lauer sehe ich zwar manchmal, aber Du müsstest mir erst sagen, wozu Du diese Adresse brauchst. Sollte es sich wieder um eine Anthologie von Bukowinendern [sic!] handeln, so hat es gar keinen Zweck, Lauer zu schreiben, denn er will davon nichts wissen. Ich habe ja schon einmal in [Albert] Maurübers oder Deinem Auftrag mit ihm darüber gesprochen […].
Der Rechtsanwalt Erich Singer nahm in einem Schreiben an Margul-Sperber vom 15. Juli 1935 Anstoß an der Bezeichnung „Rumänischer Jude“, da er „sich immer – schon aus Rücksicht auf die Abstammung meiner Mutter – als Österreicher gefühlt“ und „Czernowitz seit Juni 1914 nicht wiedergesehen“ habe:
[…] Ich schicke Ihnen trotzdem eine Auswahl meiner Manuskripte und hoffe, dass es Ihnen vielleicht gelingen wird, eine entsprechende Änderung des Titels oder einen entsprechenden Vermerk, insbesondere aber durch meine Namensnennung /Erich Singer (Wien)/, meinen Bedenken Rechnung zu tragen, dass ich wohl der Bukowina als dem Lande meiner Geburt und Kindheit Dank schulde, dass ich jedoch Wert darauf lege, Altösterreicher zu sein und nicht Rumäne. […]
Erklärte sich Singer noch „prinzipiell“ zur Mitarbeit bereit – „natürlich mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Vorbehalte, mich erst nach Durchsicht der Anthologie endgültig […] zu entscheiden“ –, formulierte Victor Wittner, erfolgreicher Vertreter einer individualistisch-subjektiv verorteten Ausrichtung innerhalb der „Neuen Sachlichkeit“, seine Absage am 13. September 1935 – „aus prinzipiellen Gründen“ – unmissverständlich,
da ich, dichtend mich als deutscher Dichter empfinde und nicht als Rumänen, Juden oder rumänischen Juden. Ich bin nicht geneigt, den Ideologien neuester Zeit zu folgen, da ich ganz im Gegenteil davon überzeugt bin, dass die Sprache die Zugehörigkeit oder die Ordnung bestimmt, und namentlich muss das der Fall sein bei einem schreibenden Menschen.
Am 25. Juli 1935 antwortete Isaac Schreyer, der im Sommer 1935 zu Besuch in New York weilte, auf Sperbers Schreiben vom 9. Juli mit einem ausführlichen Brief:
[…] Ihr Plan ist beachtenswert, und ich beneide Sie um den Optimismus, mit dem Sie sich um eine, wie mir scheint, verlorene Sache bemühen. Aber ich kann im Augenblick leider nur auf Ihre Anfrage eingehen, ohne meine Zweifel näher zu erörtern […].
Und nun was mich betrifft: mein Manuskript ist in Wien, aber ich kehre erst voraussichtlich Ende November oder anfangs Dezember dorthin zurück und könnte erst dann darüber verfügen. Aber bis dahin wird Ihre Anthologie, wie Sie mir schreiben, schon erschienen sein. Es bleibt mir also nur der Wunsch zu vollem Gelingen.
Wird Kamillo Lauer in Ihrer Anthologie vertreten sein? Versuchen Sie, ihn zu bewegen, Ihnen eine Auswahl seiner Verse zu schicken. Er wird sich wohl dagegen sträuben, aber lassen Sie nicht locker. Er hat viel Wertvolles geschrieben. […].
Darf ich Sie um die Namen der Dichter bitten, deren Verse in Ihrer Anthologie erscheinen werden? Wer ist der Verleger? „Rumänische“ Juden – das würde auf mich und Lauer nicht zutreffen. Wir sind österreichische Staatsbürger und in Österreich geboren, womit aber nichts gegen Rumänien gesagt sein soll. […]
Daraufhin entfaltete sich in den Jahren 1935/1936 zwischen den beiden eine Korrespondenz, die auf ein wachsendes Vertrauensverhältnis schließen lässt. Nachdem Schreyer am 27. Dezember 1935 Sperber 23 seiner Gedichte zugesandt hatte, ging er in seinem Schreiben vom 24. Januar 1936 auf dessen Änderungsvorschläge ein und bat um weitere Auskünfte über den Sammelband:
Wie weit ist die Arbeit an der Anthologie gediehen? Welche Dichter haben Sie endgültig aufgenommen und welche fehlen noch? Die Anzahl, die Sie mir seinerzeit nach New York mitgeteilt haben, ist sehr groß und wenn jeder wie ich mit 10 Gedichten vertreten sein soll, so wird die Anthologie ein Wälzer werden. Könnten Sie mir einige Gedichte (die besten!) von Rose Ausländer schicken? Und von anderen, die Sie für bedeutend halten?
Der Lokalpatriot Margul-Sperber hatte die Herausgabe einer umfangreichen Sammlung erwogen und Texte vieler in der Bukowina verbliebener poetae minores einen Platz eingeräumt, was Schreyer in einem Brief vom 21. März 1936, nachdem ihm Sperber das gesamte Manuskript zugesandt und er dieses „aufmerksam durchgenommen“ hatte, zu kritischen Kommentaren veranlasste – „Es kommen […] bestenfalls 10 ,Beiträger‘ in Betracht – und auch von „der Aufnahme Uriel Birnbaums, der kein Bukowiner ist“, sowie „Itzig Mangers, der in jiddischer Sprache dichtet“, abriet.
Uriel Birnbaum hingegen hatte sich am 22. Dezember 1935 über Sperbers Vorhaben begeistert geäußert und ihm „eine kleine Auswahl […] von Gedichten […]“ aus seinem „unveröffentlichten Gesamtwerk (an Gedichten)“ übersandt, das “etwa 3.500 Stücke umfasst“:
[…] Es freut wohl jedermann, sich verstanden zu sehn. Und auch freut es doppelt, in Ihrer Bukowinaer Anthologie vertreten zu sein, weil ich, wenn auch nur drei Jahre dort lebend, das Land in unverwischlicher Erinnerung behalten habe. Waren es doch die wichtigsten Entwicklungsjahre, die ich dort verbrachte, und fand ich doch dort den einzigen Freund meiner Jugend; er fiel im Krieg. […]
Ich selber bin gegen die Verständnislosigkeit, zumindest die praktische Verständnislosigkeit gegenüber meiner Dichtung wie Grafik schon recht gleichgiltig geworden. Ich weiß, dass ich selbst, nicht andere meinen Wert bestimmen. Aber trotzdem ist dies jahrzehntelange Schaffen im leeren Raum zermürbend. […]
Nun hoffe ich bald wieder Nachricht bezüglich der Anthologie zu haben. […]
Wie bedrückend und entmutigend erst das „Schaffen“ im kleinen Raum der Bukowina war – darauf hat Margul-Sperber geradezu leitmotivisch immer wieder hingewiesen. Auch wusste er sehr wohl Bescheid, was für Verständnis- und Rezeptionsbarrieren die Anthologie zu überwinden hatte. In dem undatierten, doch sicherlich nach Hitlers Machtergreifung geschriebenen Vortrag „Jüdische Dichtung in der Bukowina“, den er zumindest einmal, am 25. Januar 1936, in Suceava hielt, hat Sperber deren Marginalität als „vierfache Tragik“ gekennzeichnet:
Erstens sind ihre Träger D i c h t e r in einer Zeit, in der, wie ein Witz lautet, ein Ehemann seiner Frau auf die vor dem Schaufenster einer Modistin geäußerten Bitte, er möge ihr einen bestimmten Hut kaufen, denn er sei wie ein Gedicht, mit geringschätzendem Achselzucken erwidert: „Aber Liebling, wer kauft heutzutage noch Gedichte!“ Zweitens sind diese Dichter Juden, und das heißt, dass die nicht jüdische Welt von diesen Dichtern nichts wissen will – dass sie auch ihre eigenen Dichter verhungern lässt, gehört auf ein anderes Blatt – und dass die jüdische Welt, wenn man ihr mit jüdischen Gedichten kommt, erklärt, sie habe heutzutage andere Sorgen. Drittens schreiben die jüdischen Dichter der Bukowina in der überwältigenden Mehrzahl deutsch, und das ist ein Fall besonderer Tragik in einer Zeit, in der man ja auch den in Deutschland lebenden jüdischen Dichtern […] dies Recht auf ihre Zuständigkeit in der Dichtung deutscher Zunge abspricht – und nun stelle man sich vor, mit welchen Gefühlen das Erscheinen einer geschlossenen Phalanx ostjüdischer, deutsch schreibender Dichter begrüßt würde. Die vierte, vielleicht wesentlichste Tragik der jüdischen Dichter der B u k o w i n a besteht darin, dass sie eben in der Bukowina leben, wo es für sie weder ein Echo noch ein Publikum gibt, weder Verleger noch Verbreitungsmöglichkeit durch periodischen Druck, keine Zeitschriften, nur Tageszeitungen, in denen der Gerichtssaalbericht und die landesübliche aktuelle Tagesschmonze eine so gewichtige Rolle spielen, dass die das entscheidende Wort sprechenden Redakteure sich in der Regel lieber hängen lassen würden, als dass sie ein Gedicht eines heimischen jüdischen Autors bringen würden. […]
Als diese Zeilen geschrieben wurden, ahnte ihr Verfasser wohl nicht, wie die „vierfache Tragik“ in den folgenden Jahren ins Widersinnige, Grausame, ins Unvorstellbare umschlagen sollte.
V.
Mit der Anthologie im Gepäck fuhr Margul-Sperber im Juni 1936 während seines Urlaubs nach Prag – es war die erste Auslandsreise nach seiner Heimkehr im Jahr 1925. Seinen Aufenthalt in der Hauptstadt der Tschechoslowakei, mit dem er nicht zuletzt Hoffnungen auf die Bekanntmachung der deutsch-jüdischen Lyrik der Bukowina, aber auch auf eine Arbeitserlaubnis und damit einen temporären Landwechsel verband, hat er in Briefen an seine Frau geschildert. Sperber kam nach Prag in Begleitung der Mutter von Silvius Hermann (1912–1934), eines früh verstorbenen, linksorientierten Bukowiner Autors, die in Prag zielstrebig danach trachtete, so rasch wie nur möglich einen Verlag für dessen Schriften ausfindig zu machen, und der Sperber dabei behilflich zu sein hatte. Der 1933 aus Berlin nach Prag emigrierte Malik Verlag, der aus rechtlichen Gründen seinen Sitz bereits 1934 nach London verlegt hatte, von Wieland Herzfelde aber bis 1938 aus Prag geleitet wurde, erklärte sich, bei Übernahme der Druckkosten und Überprüfung durch den Lektor Dr. Kurt Kersten, bereit, das Manuskript zu veröffentlichen, das im gleichen Jahr auch erschien: Silvius Hermann: Nachlass. Aufsätze. Briefe, Gedichte. London 1936, wofür – nach eigener Aussage – Sperber eine „neue Vorrede“ im Eiltempo in Prag schreiben musste. Texte von Hermann klammerte der Adept einer ,reinen Lyrik‘ allerdings aus der Buche aus, während er jedoch andererseits aufrührerische, sozial engagierte Verse des in Czernowitz lebenden und hier früh verstorbenen Kubi Wohl darin aufnahm.
Er hatte, schrieb Margul-Sperber, sichtlich erleichtert, nach der Heimreise von Frau Hermann, „der alten Schachtel“, am 26. Juni 1936,
mit der „Bukowinaer Anthologie“, und vor allem mit Rosenkranz’, Schaffers und Mangers Gedichten, einen Riesenerfolg. Ich bin aufgefordert worden, für das Prager Tagblatt, gegen Honorar, einen Aufsatz über diese Dichter (mit Proben) zu schreiben, bin aber wegen meines ausgepumpten Zustands und der unsagbaren Hitze ganz außerstande dazu.
Am 30. Juni schließlich ließ er seine Frau wissen, dass er noch „2–3 Tage in Prag bleibe“ und danach nach Wien weiterfahre, da ein Antrag auf Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung erst nach Monaten genehmigt werde: „Die Emigranten und Fremden werden als unangenehme Konkurrenz betrachtet.“ Einen Grund zur Freude gebe es allerdings:
Literarisch habe ich […] kolossal reüssiert. Im Prager Tagblatt erscheint eine kleine Bukowiner Anthologie, im Herbstalmanach der Selbstwehr ein Aufsatz von mir mit Gedichtproben, das Prager Tagblatt steht mir für Beiträge offen, vielleicht auch die Prager Presse – aber was habe ich von all dem… Wärest Du hier, es wäre alles anders geworden.
In Prag hatte Sperber Otto Pick, Max Brod, Felix Weltsch und Rudolf Fuchs persönlich kennen gelernt, mit Fuchs Freundschaft geschlossen und bis zu dessen Emigration nach London im Jahr 1940 mit diesem auch einen regen Briefwechsel geführt. Schon am 12. Juli 1936 erschien eine Aufstellung Bukowiner Lyrik im Prager Tagblatt. Der Jüdische Almanach der Prager zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr veröffentlichte im Herbst 1936 Gedichte von Rose Ausländer, David Goldfeld, Alfred Kittner, Itzig Manger, Moses Rosenkranz und Heinrich Schaffer nebst einer Einführung von Alfred Margul-Sperber, worin dieser einerseits hervorhob, dass den hier vorgestellten Lyrikern „der deutsch lesende Westen unzugänglich bleibt“, andererseits bestrebt war, ihre regionalen und nationalen Besonderheiten zu umreißen:
[…] Diese Dichtung ist ihrem Wesen nach typisch jüdisch, obwohl sie weder in der jüdischen Tradition noch im jüdischen Volkstum wurzelt. Sie ist es in einem ganz neuen Sinne: der Bukowiner jüdische Dichter, der in den meisten Fällen nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande aufgewachsen ist, bleibt dem Boden und dem Landschaftlichen viel stärker verhaftet, als dies bei jüdischen Dichtern anderswo der Fall ist. Schöne Gegenständlichkeit und Sinnenfreudigkeit sind bezeichnende Züge seiner Dichtung. […] Im Formalen ist er traditionell im besten Sinne, aber nie konventionell: dem Experimentierenden der modernen europäischen Dichtung steht er so fern als nur möglich. […]
Anfang Juli 1936 kam Sperber in Wien mit mehreren hier ansässigen Bukowiner Autoren zusammen, gewährte ihnen Einblick in die Anthologie und war bemüht, einen Konsens über deren Inhalt zu finden. Sein Jugendfreund, der Arzt Zeno Einhorn, schloss sich in einem Brief vom 13. August 1936 an den heimgekehrten Margul-Sperber den von Isaac Schreyer geäußerten Einwänden an. Seines Dafürhaltens sei der Sammelband viel zu umfangreich, daher bitte er auf Gedichte von Benjamin Fuchs, David Goldfeld, Siegfried Laufer, Salome Mischel und Isak Sonntag zu verzichten und die Auswahl nochmals „zu sieben“. Über den Dissens in Wien, den weiteren Ablauf der Verhandlungen, über Entscheidungen sowie Ansprüche einzelner Buche-Autoren informierte Einhorn Sperber am 15. Januar 1937 und erhob abschließend Einspruch gegen den Untertitel Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina:
[…] Judendichtung hat einen pejorativen Beigeschmack, denke an Judenmadel, Judenschul, Judenbub. Ich schlage folgenden Untertitel vor: Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina […].
Als erste nahm ich mir Dr. Lauer und Isaac Schreyer vor, sie waren mit der Anthologie einverstanden, bis auf einige Kleinigkeiten, die Dir Dr. Lauer in einer Zuschrift mitteilt. Dann kam Dr. Schaffer an die Reihe, der zu allem Ja sagte. […] Kalmer […] lehnte […] seine Mitarbeit mit der Begründung ab, dass er als ein von seiner Arbeit lebender Schriftsteller sich nicht als Jude deklarieren könne, weil sonst keines seiner Bücher in Deutschland verkauft werden könnte. Ebenso lehnte Viktor [sic!] Wittner eine Mitarbeit ab, er sei ein deutscher Dichter und könne sich Hitlers Rassentheorien nicht fügen. […] Uriel Birnbaum hält es für unter seiner Würde, mir auf ein zweimaliges Schreiben auch nur mit einem Wort zu erwidern. […] Dr. Singer war sehr verletzt, sich nur mit drei, dazu „uncharakteristischen“ Gedichten vertreten zu sehn, während z.B. David Goldfeld mit fünf Gedichten erscheint. […]. Seine Mitarbeit machte er von Birnbaums Zusage abhängig: wenn auch dieser ablehnt, dann macht Singer nicht mit.
Margul-Sperber hatte sich inzwischen bei Felix Weltsch nach einem geeigneten Verlag für die bukowinische Anthologie erkundigt und ihm vermutlich auch die Anzahl der aufzunehmenden Gedichte mitgeteilt. „Meiner Ansicht nach könnte der Schocken Verlag ein solches Bändchen sicher herausgeben“, antwortete ihm der Herausgeber des Prager Jüdischen Almanachs am 27. November 1936. Der von Weltsch empfohlene Schocken Verlag war der größte und bekannteste jüdische Verlag im nationalsozialistischen Deutschland. Diesen Vorschlag griff Sperber auf und wandte sich, eingangs auf seinen im Jüdischen Almanach abgedruckten „Aufsatz und die von ihm eingeleiteten Gedichtproben“ verweisend, die „in literarischen Kreisen des Westens […] sehr viel Aufmerksamkeit ja, Aufsehen erregt“ hätten, wenige Tage später an die „Sehr geehrten Herren“ des Berliner Schocken Verlags:
[…] Mein Aufsatz bezog sein Material aus einem von mir unter dem Titel „Die Buche. Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina“ kompilierten Sammlung, die, wie sie jetzt druckfertig vorliegt, nicht nur ein wertvolles literarisches, sondern auch ein jüdisches Kulturdokument ersten Ranges darstellt. […]
Meine Sammlung würde, gedruckt, ein Büchlein von etwa 80 Seiten füllen und sich daher sehr gut in Ihre so dankenswerte und wertvolle Sammlung der „Schockenbücher“ einreihen lassen. Indem ich Ihnen dieses schreibe, bin ich mir vollkommen klar dessen bewusst, wie vielen inneren Widerständen und Vorurteilen gegen uns dichtende Ostjuden ich begegnen muss, wenn ich an Sie die innige Bitte richte, dass Sie mir gestatten, Ihnen, ohne wie jede immer geartete Verpflichtung Ihrerseits, das Manuskript meiner Sammlung zur Prüfung zu unterbreiten […].
Sperber hatte zu jenem Zeitpunkt eingesehen, dass die erste Fassung der Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina, mit weit über 300 Gedichten von 32 Autoren, viel zu großzügig angelegt worden war. Er hat sie allem Anschein nach auch niemals einem Verlag angeboten. Am 20. Januar 1937 antwortete der Indologe und Sekretär Martin Bubers, Dr. Moritz Spitzer, der das Programm des Verlags nach Salman Schockens Emigration gestaltete, auf die beiden Schreiben Sperbers vom 1. Dezember 1936 und 17. Januar 1937, wobei er freundliches Interesse signalisierte, aber auch nicht verhehlte, dass er
im Prinzip der Zusammenstellung eine erhebliche Schwierigkeit erblicke. Es lässt sich schwer rechtfertigen, hier eine Anthologie deutscher Dichtungen von Juden zu drucken, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie einem entfernten, nicht-deutschen Land angehören.
Trotz der unüberhörbaren Vorbehalte bestätigte Margul-Sperber am 23. Januar 1937 „mit herzlichstem Dank“ den Empfang des „so gütigen Schreibens“ und berichtete, sofort veranlasst zu haben, „dass Ihnen das Manuskript der Anthologie aus Wien von meinem Freunde Dr. Zeno Einhorn, bei dem es sich gegenwärtig befindet, zugesendet werde“.
Allerdings schickte Zeno Einhorn die Sammlung an „einen Dr. R. Zucker“ in Frankfurt a. Main, da Sperber diesen als Adressaten angegeben hatte:
Ich habe soeben an Dr. Spitzer rekommandiert geschrieben und ihn gebeten, das Manuskript von Dr. Zucker […] zu verlangen. Schlimmstenfalls wird Edith [Zeno Einhorns Frau – Anm. der Hrsg.] in bewährter und nie versagender Güte die 80 Gedichte nochmals abtippen.
Zehn Tage später konnte Einhorn mit großer Erleichterung Bescheid geben, dass im Schocken Verlag nun gleich zwei Exemplare der Lyriksammlung vorlägen: die neu erstellte maschinenschriftliche Abschrift seiner Frau und das von Dr. Zucker nach Berlin weitergeleitete Typoskripte Bei diesen dürfte es sich um eine deutlich verschlankte Variante der ursprünglichen Sammlung handeln, um Fassung B, Konvolut 2 (B2) der Buche, mit dem Untertitel Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina, die 81 Gedichte enthält. Darin fehlen u.a. auch Josef Kalmer, Erich Singer und Victor Wittner, die sich offensichtlich nicht hatten überreden lassen, an der Anthologie mitzuwirken.
Erst drei Monate später und nach einer Anfrage des ungeduldigen Margul-Sperber vom 29. Juni 193787 antwortete ihm Moritz Spitzer:
[…] Die Gedichtsammlung Die Buche habe ich in der Zwischenzeit öfter in der Hand gehabt und darin gelesen. Es ist nicht zu verkennen, dass eine ganze Menge Talent (in einzelnen Fällen allzu klingendes Talent) darin steckt. Ich sehe aber noch nicht, was ich damit anfangen könnte.
Wenn ich Ihnen also bisher noch nichts darüber geschrieben habe, so darum, weil ich mich noch nicht entschließen konnte, einfach nein zu sagen, obschon ich zugeben muss, dass ich für das Ja keine Perspektive sehe.
[…] Wenn Sie es unter diesen Umständen vorziehen, das Manuskript lieber wieder an sich zu nehmen, will ich es Ihnen gern zuschicken. […]
Von Prag aus versuchte Rudolf Fuchs dem verzweifelnden Margul-Sperber, der auch für seinen zweiten Lyrikband einen Verlag außerhalb der Bukowina suchte, Mut zu machen und auf Wege aus der Echolosigkeit zu weisen. So schrieb er diesem am 12. Januar 1938 u.a.:
[…] Was die Bukowinaer Anthologie anbelangt, so erinnere ich mich, dass Sie seinerzeit Wert darauf gelegt haben, auch Cisek [?!] darin zu haben. Ich würde ihn jetzt hinaus tun und ohne Verzug bei Querido anfragen, ob er eine Anthologie deutscher Juden aus Rumänien /Bukowina/ bringen will. Dazu würde ich ihm einige Proben und überhaupt ein Exposé beilegen. Selbstverständlich müssten Sie auch da Auskunft über sich selbst geben, denn der Verlag soll sich ja für Sie interessieren. Ein solches Buch, wenn es mit der richtigen Vorrede versehen wird, könnte seine Sendung haben. […]
Am 7. März 1938, eine Woche, bevor Adolf Hitler vom Balkon der Wiener Hofburg den „Eintritt“ Österreichs in das „Deutsche Reich“ verkündete, sandte Gottfried Bermann-Fischer, der 1936 den S. Fischer ,Restverlag‘ nach Wien verlagert und hier für die in Deutschland missliebigen Autoren die Bermann-Fischer Verlagsgesellschaft gegründet hatte, Margul-Sperber sein Gedichtmanuskript zurück, da es nun mal kein Leserpublikum für Lyrik gebe.
Eine weitere Absage erhielt Sperber am 9. Dezember 1938 aus Berlin. Nachdem Joseph Goebbels die Schließung der jüdischen Verlage – samt Einstellung des bereits 1937 ghettoisierten jüdischen Buchhandels – im Dezember 1938 angeordnet hatte, sah sich der Schocken Verlag genötigt, ihm mitzuteilen, dass „[…] eine Veröffentlichung unter den veränderten Verhältnissen doch nicht mehr in Frage kommt“, und retournierte ihm die bei „Aufräumungsarbeiten“ und „Ordnen der Manuskripte“ gefundene „Gedichtsammlung ,Die Buche‘“.
VI.
Ihren beharrlichen Glauben an die Möglichkeit einer Publikation der Anthologie ließen sich Alfred Margul-Sperber und Alfred Kittner trotz der Misserfolge jedoch nicht zertrümmern. Dazu haben wohl auch Rezensionen in Schweizer Zeitungen der in den späten 1930 Jahren in Czernowitz erschienenen Lyrikbände beigetragen, die gleichsam wie ein letzter Hoffnungsschimmer in der sich ausbreitenden Finsternis aufleuchteten. „Als verheißungsvolles Vorzeichen Ihres Ruhms“ deutete Margul-Sperber eine Besprechung von Rose Ausländers Der Regenbogen (1939) in der Berner Zeitung Der Bund, die er der Dichterin nebst einem Begleitbrief am 29. März 1940 zukommen ließ und sich nach weiteren „Echos“ – „Rezensionen und Briefe“ – erkundigte.
In dem Lyrikband Die Tafeln von Moses Rosenkranz, der im Februar 1940 ausgeliefert wurde, sind auf den letzten Seiten Andere deutsche Gedichtbücher zeitgenössischer bukowiner Autoren angeführt – u.a. auch das 1939 bei Eugen Wahl in Stuttgart erschienene Bukowiner Deutsche Dichterbuch, das ausschließlich Texte ,deutschstämmiger‘ Autoren versammelt und von einem völkisch getönten Vorwort von Alfred Klug eingeleitet wird. Laut einer Ankündigung – die nun das Attribut „jüdische“ ausklammerte – des Literaria Verlags am gleichen Ort war eine Anthologie der bukowiner deutschsprachigen Dichtung „in Vorbereitung“ – offensichtlich ist die Buche damit gemeint. Weder diese noch Moses Rosenkranz’ Übersetzungen rumänischer Volksdichtungen, die 1937 vom rumänischen Ministerium für Kultus und Kunst in Auftrag gegeben und auch honoriert worden waren, konnten 1940 in Rumänien erscheinen – Rosenkranz weigerte sich kategorisch der nunmehr erforderlichen „strengen Verheimlichung meiner Urheberschaft und Autorschaft“ zuzustimmen.
So verblieb vieles von dem, was die Dichter in der Bukowina schrieben, in der Schublade, ging verloren, wurde an entlegenem Ort in winzigen Auflagen publiziert oder erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht.
Am 24. April 1940, rund acht Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und neun Wochen vor der sowjetischen Besetzung und Annexion der Nordbukowina, schrieb Kittner – die meisten in Wien lebenden Koautoren der Buche waren zwischenzeitlich emigriert – an Alfred Margul-Sperber:
Lieber Freddy I, hast du schon davon Kenntnis, dass in der letzten Sonntagsnummer der Baseler Nationalzeitung (vom 21. d.) die Bücher der Ausländer und Goldfelds eingehend besprochen sind? Ich hatte mich außerordentlich gefreut – und erhielt dadurch einen weiteren Ansporn für die Arbeit an der Anthologie, die ich nun geradezu als eine Notwendigkeit ansehe. Ich rechne mit deiner tätigen Hilfe und bin bereit, alles auf mich zu nehmen.
Was die Briefe Alfred Kittners und Moses Rosenkranz’ an Margul-Sperber auf berührende Weise belegen, ist die Literatur-,Besessenheit‘ ihrer Verfasser. „Fredi K. […] friert und schlingt Gedichte“, meldete beispielsweise Moses Rosenkranz seinem Entdecker und Förderer. Zwar werden in der Korrespondenz eigene Befindlichkeiten und Begebnisse zur Sprache gebracht, auf politische Ereignisse wird jedoch kaum Bezug genommen, ,abgetaucht‘ hingegen in den unzerstörbaren Flucht-Raum der Poesie. Das eigentliche unentfremdete Leben war ein Leben in Versen, wie es bereits der Titel des Debütbandes von Moses Rosenkranz aus dem Jahr 1930 verkündete. Schreiben war Leben. Überleben – diese einprägsam-schnörkellosen, häufig zitierten Sätze aus Rose Ausländers Essay „Alles kann Motiv sein“ fassen zusammen, was, bei allen Verunsicherungen und Notsituationen, auch in den 1930er Jahren Daseinsinhalt der Bukowiner Autoren war: „[…] die Phantasmagorie der Literatur als Lebensform“. Auf diese Grunderfahrung bezogen, trifft Paul Celans berühmt gewordene Umschreibung – in der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises (1958) – der namentlich nicht genannten Bukowina als einer „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“ sicherlich zu.
VII.
Ein Blick in Lebensläufe der Buche-Autoren enthüllt – unter dem Aspekt faschistischer Vernichtungsaktionen, aber auch jenem stalinistischer Repressionen – erschütternde „Schicksalsextreme“: unwiederbringliche Verluste und todumschattete Notlagen, mehrfach erzwungener Orts- und Berufswechsel, Fluchtbewegungen in die Einsamkeit, ins Verstummen, ins Exil, in kollektivistische Heilslehren, in den Freitod, Demütigungen, Internierungen und Ermordungen. Die „innere Korrespondenz und der Ensemblecharakter bukowinischer Dichtung“ vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, ihre intertextuellen Bezüge sowie ihre dominanten Bildsyntagmen und Motivkonstanten sind – seit den frühen 1990er Jahren – in mehreren Untersuchungen konturscharf herausgearbeitet worden. Tatsächlich formen ein ,postkakanisches‘ Zugehörigkeitsbewusstsein, das Ineinanderwirken von Seins- und Wertvorstellungen mehrerer Kulturkreise und schließlich die Erfahrungen von zersplitterter Geborgenheit, von Ausgesetztsein und Preisgegebenheit, von Abschieds- und Trennungsschmerz, von Heimatferne und Fremde eine gruppenspezifische Ausdrucksweise. Doch nur wenige – allen voran Rose Ausländer und Paul Celan – brachen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bukowinafern und bukowinaverbunden, aus stimmig-gerundeten Fügungen ins Elliptische, sprachlich Unerprobte und Reimferne auf. In einem Präzisionswerk der Vieldeutigkeit, in Celans Gedichten, deren Sprache „durch furchtbares Verstummen, […] durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“ hindurchging, finden biografische Erfahrungen, kollektives Leidgedenken sowie eine einzigartige poetische Innovations- und schöpferische Anverwandlungskraft von Vorgesprochenem und Vorgedachtem zu einer unauflöslichen Einheit zusammen.
George Guƫu und Peter Motzan, Nachwort
Zu den unbestrittenen Verdiensten des Lyrikers, Publizisten und Übersetzers Alfred Margul-Sperber (1898–1967) zählt nicht zuletzt seine neidlose und entdeckungsfreudige Förderung deutsch-jüdischer Dichter der Bukowina. Als deren Spiritus rector stellte er in den 1930er Jahren – unter Mitwirkung seines Freundes Alfred Kittner (1906–1991) – eine Gedichtanthologie zusammen, die dazu dienen sollte, die Verlautbarungen seiner Weggefährten aus der regionalen Isolation hinauszuführen. Sperber wollte den Beweis erbringen, dass auch die jüdischen Autoren in und aus der Bukowina einen „Sonderchor deutscher Dichtung“ bildeten. Die unermüdlichen Bemühungen Sperbers zerschellten jedoch an den politischen Entwicklungen in Europa: der Machtergreifung Hitlers in Deutschland (1933), dem „Anschluss“ Österreichs (1938) an das expansionsbesessene ,Dritte Reich‘, der Errichtung des nationalsozialistischer Herrschaft unterstellten „Protektorats Böhmen und Mähren“ (1939) und dem Rechtsruck der rumänischen Gesellschaft.
In dem Nachlass Alfred Margul-Sperbers, der seit 1980 geordnet im Bukarester Museum der Rumänischen Literatur (MLR) lagert, haben sich insgesamt neun Konvolute erhalten, die dem gescholtenen Projekt Die Buche zuzuordnen sind: zwei Fassungen (A und B) mit unterschiedlichen Untertiteln in drei bzw. zwei Varianten sowie drei Mappen mit Schriftstücken, die offensichtlich Vorstufen und Ableger der beiden Fassungen darstellen. Die Herausgeber haben sich für die integrale Veröffentlichung des umfangreichsten Konvoluts der Fassung A Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina (A 1) entschieden, die Gedichte von 32 Autoren – von Rose Ausländer bis Kubi Wohl – enthält. Aus Fassung B1 Die Buche. Eine Anthologie jüdischer Dichtung aus der Bukowina, an der Sperber auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete, fanden nur jene Texte Aufnahme, die in A1 nicht enthalten sind – u.a. 17 Gedichte von Paul Antschel/Paul Celan. Abgedruckt sind in dieser Edition außerdem drei Überblicksaufsätze Sperbers, die ihn als kenntnisreichen Chronisten der bukowinadeutschen Literatur ausweisen.
Ein Editorischer Bericht liefert Auskünfte über Beschaffenheit und Inhalt aller Buche-Konvolute, im Nachwort werden die sozialhistorischen Rahmenbedingungen deutschsprachiger Literatur im multikulturellen Umfeld der Bukowina skizziert sowie Entstehungsgeschichte und Konzeption der mehrfach als ,legendär‘ ausgerufenen Anthologie – aufgrund der jahrelangen Korrespondenz Sperbers mit zahlreichen Autoren und dem Berliner Schocken Verlag – rekonstruiert. Der in drei Abschnitte gegliederte Biobliografische Anhang listet die Anthologien deutschsprachiger bukowinischer Literatur des 20. Jahrhunderts sowie relevante sekundärliterarische Untersuchungen auf und bietet Informationen zu Leben und Werk der Buche-Autoren, deren Biografien – unter dem Aspekt faschistischer Vernichtungsaktionen, aber auch stalinistischer Repressionen – erschütternde „Schicksalsextreme“ (Klaus Werner) in finsteren Zeiten enthüllen.
Martin A. Hainz: Polylog in statu nascendi
fixpoetry.com, 27.12.2009
Schreibe einen Kommentar