Alfred Margul-Sperber: Sternstunden der Liebe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Margul-Sperber: Sternstunden der Liebe

Margul-Sperber-Sternstunden der Liebe

ALTE GEDICHTE

In alten Heften, die vergessen lagen,
Fand ich Gedichte, aus vergangenen Tagen:

Verschollene, vergessene Gedichte,
Entrückter Zeit Geschichte und Gesichte.

Ihr Zeugen einer Zeit, die ich vergessen,
Wie kann ich heute euren Wert ermessen?

Besteht ihr auch die Prüfung, ihr Gedichte,
Sitzt über euch das Leben zu Gerichte?

Wie stärker als in so entscheidungsschweren,
In unsern Tagen könnt ihr euch bewähren?

Gedichte die ein langes Schweigen brechen –
Ich höre eine fremde Stimme sprechen.

Sie sind die Botschaft, die der Jüngling sandte
An einen alten Mann, den er nicht kannte.

Nun will ich lauschen und ans Ohr sie heben,
Ob sie auch rauschen von gelebtem Leben.

 

 

 

Statt einer Vorrede

Auch dies Buch, wie alle Bücher, hat seine Geschichte. Seine Geschichte aber ist eine kleine Erinnerung.
Vor vielen Jahren – und es liegt ein ungeheures Stück Weltgeschichte dazwischen – war ich nach langer Abwesenheit im Ausland wieder in meine Vaterstadt in der Bukowina zurückgekehrt. Ich befand mich damals in Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit, und die mir auferlegte Unterbrechung jeder beruflichen Tätigkeit verwertete ich auf meine Art dafür, in den Kreisen junger Arbeiter meines Städtchens durch literarische Vorträge und Vorlesungen in einer ganz bestimmten Richtung zu wirken. Neben Gedichten von Majakowski, Blok, Becher, Weinert und anderen älteren und neueren sowjetrussischen und deutschen fortschrittlichen Autoren las ich auch meine Übertragungen aus revolutionärer amerikanischer Arbeiterlyrik sowie eigene revolutionäre Lyrik, die ich einem Autor namens Al. Uliu unterschob. Diese naive Vorsichtsmaßnahme hätte – und da braucht man sich gar keinen Illusionen hinzugeben –, angesichts der auch in jenem Städtchen ziemlich ausgiebig vertretenen hochlöblichen Siguranza, nicht viel gefruchtet, aber die ganze Sache nahm sehr bald ein natürliches Ende, als ich, des leidigen Broterwerbs halber, meine Vaterstadt viel früher, als vorauszusehen gewesen, wieder verlassen mußte.
Nun, während der gesamten Dauer dieses meines literarisch-volksbildnerischen Intermezzos stand mir als ewig hilfsbereiter und unermüdlicher Anreger ein Arbeiter zur Seite. Was mir diesen bescheidenen Mann besonders lieb und wertvoll machte, waren seine feine Herzensbildung, sein tiefes Verständnis für alles Menschliche, seine treue Verbundenheit mit der Klasse, der er angehörte, und seine unbestechliche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, die, sich auch kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es galt, einen von mir vertretenen und seiner Meinung nach irrigen Standpunkt zu berichtigen. Von einem solchen Gespräch, das meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt ist, will ich hier berichten.
Ich hatte in unserem gewohnten Zuhörerkreis mit viel Erfolg deutsche und von mir übertragene amerikanische revolutionäre Arbeiterdichtungen vorgetragen und mich dann; von meinem Freund begleitet, auf den Heimweg gemacht. Er schwieg eine Weile. Dann begann er:

„Wissen Sie, was unseren Leuten von Ihrem heutigen Programm am besten gefallen hat?“
„Was?“
„Das Gedicht von den jungen amerikanischen Textilarbeiterinnen, die bei einer Streikdemonstration ein Plakat trugen mit der Aufschrift: Wir wollen Brot, aber auch Rosen!“
„Ja, das Gedicht ist wirklich sehr schön.“
„Und ob es schön ist! Wissen Sie, lieber Genosse, was mir dabei eingefallen ist, als ich Sie dies Gedicht vortragen hörte? Sie haben, dachte ich mir, dies Gedicht sehr schön gelesen, aber selber beherzigen wollen Sie es nicht“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Was ich damit sagen will? Sehen Sie: Sie haben in der letzten Zeit im Morgenblatt sehr schöne Liebesgedichte veröffentlicht. Warum lesen Sie diese Gedichte nicht auch unseren Genossen vor? Glauben Sie vielleicht; daß wir für solche Gedichte kein Verständnis haben?“
„Aber wie können Sie nur so etwas vermuten? Begreifen Sie denn nicht: Wir sind Soldaten in einem harten, unerbittlichen Krieg und da dürfen wir unsere Zeit nicht mit solchen Schmachtfetzen vergeuden!“
„Und haben Sie auch daran gedacht, daß wir uns geradezu aufs Glatteis begeben, wenn Sie, der Sie solche Gedichte in Zeitungen veröffentlichen, gerade bei unseren Veranstaltungen ausschließlich „hetzerische Lumpereien“ vortragen, wie unser Siguranzaspitzel, der Wonzju, so schön sagt? Und das mit dem unerbittlichen Krieg ist in diesem Zusammenhang auch nur eine schöne Redensart. Sie waren ja selber im Krieg: Haben Sie da nur lauter Kriegsromane und Kriegsgedichte gelesen? Sehen Sie, lieber Genosse: Sie haben heute auch das wunderbare Gedicht „Die Weber“ von Heine vorgetragen. Ich habe gar nicht gewußt, daß Heine auch so großartige politische Dichtungen geschrieben hat. Sie wissen ja: Ich habe leider in meiner Jugend nicht viel lesen können. Aber die schönen Liebesgedichte von Heine habe ich doch gelesen und ich habe es heute, offen gestanden, sehr bedauert, daß Sie nicht auch das eine oder das andere dieser Gedichte vorgetragen haben. Gewiß, darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein: die politische, die revolutionäre Dichtung ist unser tägliches Brot im unerbittlichen Kampf, von dem Sie vorhin gesprochen haben – aber ist das ein so unbescheidener, unstatthafter Wunsch, wenn wir, wie jene amerikanischen Streikerinnen, nicht nur Brot, sondern auch Rosen wollen? Gehört denn die Liebe mit all ihrem närrischen Drum und Dran von himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, Kopfhängerei und Träumerei, Trotz und Hingabe, gehören solche Erlebnisse wie spielende Kinder, eine schöne Landschaft, eine Mondnacht nicht auch zu den Dingen, die unser Leben lebenswert machen und um die wir kämpfen?“
Angesichts so triftiger Gründe mußte ich freilich, wie noch manches Mal in der Folge, meinem Freund Recht geben. Ob mir das wirklich sehr schwer gefallen ist, will ich dahingestellt bleiben lassen.

Ein halbes Menschenalter ist seitdem vergangen. Ich habe immer wieder an jenes Gespräch denken müssen, als ich diesen Gedichtband zusammenstellte. Und ich bin zuversichtlich, daß meine Leser ihn im gleichen Geiste aufnehmen werden.

Alfred Margul-Sperber, Vorwort

 

 

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