Allen Ginsberg: Kaddisch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Allen Ginsberg: Kaddisch

Ginsberg-Kaddisch

KADDISCH

Für Naomi Ginsberg 1894–1956

I
aaaaaSeltsam an dich zu denken, du, ohne Augen und ohne Mieder verschollen, während ich auf dem sonnigen Gehsteig in Greenwich Village dahingeh’
aaaaadann im Herzen Manhattans, klarer Wintermittag, die ganze Nacht saß ich wach, redend redend, den Kaddisch laut lesend, Ray Charles schrie blind seine Blues auf dem Plattenspieler
aaaaader Rhythmus der Rhythmus – und deine Erinnerung, drei Jahre später, in meinem Gehirn – Und ich las die letzten triumphierenden Verse des Adonais, las sie mir vor – und weinte, da ich sah, wie wir leiden –
aaaaaUnd wie der Tod die Arznei ist, von der sie alle träumen, die Sänger, singen, sich erinnern und prophezeien, wie im hebräischen Nationallied, im buddhistischen Buch der Erwiderungen – und meine eigene Vision eines verwelkten Blattes – im Morgengrauen –
aaaaaTräumte durchs Leben zurück, durch deine Zeit – und meine, die auf den Weltenbrand, immer schneller, dahinjagt,
aaaaaden allerletzten Moment – die Blume brennt im Tag – und was danach kommt,
aaaaablickte zurück auf mein eigenes Gehirn, das eine amerikanische Stadt sah
aaaaablitznah, und den großen Traum von Ich oder China, oder du und ein gespenstisches Rußland, oder ein zerwühltes Bett das es nie gab –
aaaaawie ein Gedicht im Dunkeln – zurückgeflohen in die Vergessenheit –
aaaaaNichts mehr zu sagen und nichts mehr zu weinen, nur die Wesen im Traum, in seinem Verschwinden gefangen,
aaaaaseufzend, schreiend, im Traum, verkaufen und kaufen sie Stücke ihres gespenstischen Daseins und beten einander an,
aaaaabeten den Gott an, eingeschlossen in alledem – Sehnsucht, oder Unabwendbarkeit? – solange sie da ist, eine Vision und sonst noch etwas?
aaaaaEs springt an mir hoch, wie ich hinausgeh’ die Straße entlang, über die Schulter zurückspähe, die Seventh Avenue entlang, die Brustwehren der fenstergespickten Bürohäuser drängen sich hoch aneinander, unter der Wolke, so hoch wie der Himmel einen Augenblick lang – und der Himmel darüber – alter blauer Ort.
aaaaaoder stadtauswärts, die Avenue südwärts, zur Lower East Side, wo du – es sind fünfzig Jahre, ein kleines Mädchen – aus Rußland, da aßt du die ersten Gifttomaten Amerikas – standst ängstlich am Kai –
aaaaadann kämpftest du dich durch die Menge der Orchard Street, wohin? – nach Newark –
aaaaazum Candy Store, den ersten hausgemachten Sodas des Jahrhunderts, mit handgeschlagener Sahne, im Hinterzimmer, auf modrigen Braunbrettböden –
aaaaazur Schule zur Bildung zur Ehe zum Nervenzusammenbruch, zur Operation – Lehrerin einer Schule, und selbst lerntest du den Wahnsinn, in einem Traum – was ist dieses Leben?
aaaaaZum Schlüssel im Fenster – und der große Schlüssel legt sein lichtes Haupt auf die Dächer Manhattans und über den Boden und legt es auch auf den Gehsteig – ein einziger ungeheuerer Lichtstrahl, Große Bewegung, ich gehe weiter, aufs Jiddische Theater zu – und die Stätten der Armut
aaaaadu kanntest sie, und ich kenne sie, doch ist es mir gleich – Seltsam, durch Paterson und den Westen und Europa gekommen zu sein und wieder hierher,
aaaaamit den Schreien von Spaniern jetzt in den Türeingängen, Türen – und dunkle Jungen auf der Straße, und Feuerleitern so alt wie du – doch du bist jetzt nicht mehr alt, das ist hiergeblieben, bei mir –
aaaaaIch selbst, jedenfalls, vielleicht so alt wie das Weltall – und das stirbt wohl mit uns – genug, um alles Kommende auszulöschen – Was immer auch kam, ist immer auf ewige Zeiten vergangen –
aaaaaDas ist gut! Das schützt es vor jedem Bedauern – keine Angst vor Heizungsröhren, Lieblosigkeit, Folterung, nicht einmal vor dem Zahnweh, wenn es zu Ende geht –
aaaaaDoch während das Ende herannaht, ist es ein Löwe, der frißt unsere Seelen – und das Lamm, die Seele, in uns, ach, das bietet sich an, als Opfer, dem wilden Hunger der Veränderung – Haar und Zähne – und das Brüllen des Knochenschmerzes, des kahlen Schädels, gebrochener Rippe, verfaulender Haut, vom Hirn betrogener Unversöhnlichkeit.
aaaaaAii! Aii! uns geht es nicht besser! Wir sind in der Klemme! Und du bist entkommen, der Tod ließ dich frei, der Tod hatte die Gnade, du bist fertiggeworden mit deinem Jahrhundert, mit Gott, mit dem Pfad der hindurchging – Fertig mit dir selbst – Rein – Zurück zu dem dunklen Kind das vor deinem Vater war, vor uns allen – vor der Welt –
aaaaaDa, ruh dich aus. Kein Leiden mehr für dich. Ich weiß, wo du hingingst, es ist gut da.
aaaaaKeine Blumen mehr in den Sommerfeldern New Yorks, keine Wonnen mehr, keine Angst mehr vor Louis,
aaaaaund nichts mehr von seiner Süßigkeit und seinen Brillen, seinen Jahrzehnten, in einer Oberschule verbracht, in Schulden, Liebschaften, erschrockenen Telefonanrufen, Kindsbetten, Verwandten, Händen –
aaaaaNichts mehr von Schwester Elanor – sie ging vor dir – wir hielten’s geheim – du brachtest sie um – oder sie starb um mit dir auszukommen – ein verkalktes Herz – Doch der Tod hat euch beide getötet – es ist alles gleich –
aaaaaKeine Erinnerung mehr deiner Mutter, 1915 Tränen in Stummfilm-Kinos, wochen- und wochenlang – um zu vergessen, mit trauernden Augen sahst du, wie Marie Dressler die Menschheit ansprach, Chaplin in seiner Jugend tanzte,
aaaaaoder Boris Godunow, Schaljapin in der Met, die hallende Stimme eines weinenden Zaren – Stehplatz, mit Elanor & Max – und wie die Kapitalisten ganz vorne saßen, in weißen Pelzen und Diamanten,
aaaaamit den Jungsozialistenmädels auf Anhaltertour durch Pennsylvania – in schwarzen und ausgebeulten Hosenröcken – Foto: vier Mädchen einander taillenumklammernd, lachenden Auges, zu süß, jungfräulich einsam à la 1920
aaaaaall die Mädel jetzt alt, oder tot, und das lange Haar liegt im Grab – ein Glück wenn sie später einen Mann fanden –
aaaaaDu schafftest es – und ich kam – Eugene mein Bruder vor mir (immer noch trauernd, er wird weiter trauern, bis zu seiner letzten erstarrten Hand – wie er durch seinen Krebstod geht – oder töten – später vielleicht – bald, wird er denken)
aaaaaUnd es ist der letzte Augenblick den ich erinnere, wo ich sie alle sehe, durch mich selbst, jetzt – doch dich nicht
aaaaaIch sah nicht voraus, was du fühltest – was für ein schlimmerer böser Rachen sich dir auftat, zuerst – dir – und warst du bereit?
aaaaaWohin zu gehn? In das Dunkel – Das – In den Gott? ein Strahlenschein? Ein Herr in der Leere? Wie ein Auge in der schwarzen Wolke in einem Traum? Adonai endlich, bei dir?
aaaaaEs geht über meine Erinnerung! Ich kann nicht raten! Doch nicht nur der gelbe Schädel im Grab, oder eine Kiste voller Würmerstaub und einem fleckigen Bändchen – Totenkopf mit Heiligenschein? kannst du das glauben?
aaaaaIst es nur die Sonne die einmal der Seele erstrahlt, nur das Blitzen des Daseins, dergleichen es nie gegeben?
aaaaaNichts über dem was wir haben – was du hattest – und das so kläglich – doch ein Triumph,
aaaaahiergewesen zu sein, und sich verändert zu haben, wie ein Baum, gebrochen, oder eine Blume – der Erde gefüttert – doch wild, mit farbigen Blumenblättern, des Großen Weltalls gedenkend, erschüttert, mit gespaltenem Kopf, das Blatt abgerissen, in einem Eierkisten-Spital versteckt, in Tücher gehüllt, wund – gestört im Mondhirn, Nichtslos.
aaaaaKeine Blume wie jene Blume, die sich selbst im Garten erkannte, und gegen das Messer kämpfte – verlor
aaaaaNiedergemäht von der Eisigkeit eines idiotischen Schneemanns – im Frühling sogar – seltsamer Geistergedanke – Was für Ein Tod – Scharfer Eiszapfen in der Hand – mit alten Rosen gekrönt – von einem Hund seine Augen – Schwanz aus einem Ausbeuterladen – Herz aus elektrischen Bügeleisen.
aaaaaAll die Anhäufungen des Lebens, die uns zerreiben – Uhren, Leiber, Bewußtsein, Schuh, Brüste – gezeugte Söhne dein Kommunismus – „Verfolgungswahn“ – in die Anstaltshäuser.
aaaaaEinmal tratst du Elanor ans Schienbein, später starb sie am schwachen Herzen, du am Schlag. Im Schlaf? im Lauf eines Jahres, ihr beide, Schwestern im Tod. Ist Elanor glücklich?
aaaaaMax grämt sich, am Leben, in einem Büro am unteren Broadway, einsamer großer Schnurrbart über der Mitternachts-Buchführung, nicht sicher. Sein Leben vergeht – wie er sieht – und woran zweifelt er jetzt? Träumt er noch immer von Geldmachen, oder daß er hätte Geld machen können, ein Kindermädchen anstellen, Kinder haben, sogar deine Unsterblichkeit hätte finden können, Naomi?
aaaaaIch werd’ ihn bald sehen. Doch jetzt muß ich mich durchschlagen – zu dir sprechen – was ich nicht tat, als du einen Mund hattest.
aaaaaAuf allezeit. Und dorthin müssen wir, Auf Allezeit – wie Emily Dickinsons Pferde – unterwegs zum Ende.
aaaaaSie kennen den Weg – Diese Rosse – sie rennen schneller als wir es gedacht – sie durchkreuzen unser eigenes Leben – und nehmen es mit.
(…)

 

Allen Ginsberg liest „Kaddish for Naomi Ginsberg 1894–1956“ in der Knitting Factory, New York.

 

 

Nachwort

Die Welt Allen Ginsbergs, wie sie in diesen Gedichten erscheint, ist eine offene Welt: niemand könnte von einer „hermetischen“, verschlüsselnden Kunstauffassung weiter entfernt sein als der Dichter des Geheuls und des Kaddisch. Die Beat Generation, das heißt die amerikanischen Dichter und Schriftsteller, die sich in den fünfziger Jahren von einer erstarrten, teils klassizistisch-akademischen, teils glatt-kommerziellen Literatur distanzierten – sie gehören faktisch mehreren Generationen an –, ist nicht immer so direkt und unmittelbar in ihrer Aussage; es ist auch allen nicht die große, warme Intensität Ginsbergs gegeben, in der sein slawisch-jüdisches Erbe mitschwingt und die an Vorgänger wie Blok, Majakowskij und natürlich, Walt Whitman erinnert.
Trotzdem wäre es ungenau und eine Verallgemeinerung, Ginsberg einen „engagierten“ Dichter zu nennen: zu diesem Thema hat er selbst einmal, in seinen „Bemerkungen zu der definitiven Schallplattenaufnahme des Geheuls“, 1959, folgendes gesagt:

Ein Wort den Politikern: meine Gedichte sind Engelschreie, die nichts zu tun haben mit langweiligen, materialistischen Abschweifungen darüber, wer wohl wen erschießen sollte. Die Geheimnisse der individuellen Vorstellungskraft, die jenseits von Begriff und Wort liegen, bedingungslose Geistigkeit sind, können von dem heutigen Gemeinbewußtsein nicht käuflich erworben werden, sind dieser Welt nichts nütze, es sei denn, sie klappt ihr Maul zu und hört sich die Musik der Sphären einmal an…

In späteren Aufsätzen und Briefen, besonders in einer Stellungnahme zur kubanischen Revolution, hat Ginsberg diese seine Grundauffassung noch verdeutlicht und differenziert: er sagt, keine heutige Reformbestrebung, die nicht aufs Ganze geht, die dem einzelnen Menschen, dem Teilhaber an der „großen individuellen Vorstellungskraft, auf die jeder ein Anrecht hat“, nicht die totale Freiheit gewährt, mit sich selbst, seinem Menschenpotential, anzufangen was er für richtig und zeitbedingt hält – so zum Beispiel Experimente, Ausflüge ins Unter- und „Ober“bewußtsein mit Hilfe von halluzinogenen Drogen, ungewöhnlichen Lebensrhythmen, neuartigen äußeren und inneren Landschaften jeder Art –, könne mit seiner Zustimmung oder seiner Loyalität rechnen. Die „noch nie geschauten Welten“ eines Coleridge oder Rimbaud sind kein kapitalistisches Exklusiveigentum mehr: sie stehen jedem offen, der sie betreten will – der sie früher oder später betreten muß, sagt Ginsberg; sie sind auch nicht im Bereich des Verstaatlichten zu finden, und ein jedes Regime, das dies nicht einsieht, sie jedoch wenigstens (in vermeintlicher Selbstverteidigung) als „verbotene Gefahrenzone“ absperrt, beraubt sich selbst und seine Gesellschaft der Möglichkeit zu Bewußtseinseroberungen, die zumindest so wichtig sind wie die Vorstöße in den Weltraum.

Es geht hier um ein langsam fortschreitendes Bejahen dieser Dinge, um eine ganz allmähliche Erweiterung unserer Sinne und Fähigkeiten: so ist es uns nicht mehr möglich, nationale Dichter zu sein, wie du es intuitiv erkannt hast – die Welt hat sich schon zu stark verändert, die alten Identitäten fallen ab, jeder hat schon eine seltsame Zukunft in seltsamer Ewigkeit erblickt, die den heutigen Hirngewohnheiten noch unerträglich scheint. Doch es gibt noch Zeit, in der das Leben verwirklicht werden kann. So beschreiben die ,religiösen Rauschgedichte‘ im Kaddisch tatsächlich erlebte Orte (wenn auch unvollkommen), doch wirkliche Welten, nicht etwa bewußt literatenhafte Phantastereien.

Dies schreibt mir Allen Ginsberg aus Kalkutta, wo er zur Zeit mit seinem Freund Peter Orlovsky (dem die Originalausgabe des Kaddisch-Bandes gewidmet ist) lebt, im Oktober 1962; und so kann man wohl sagen, daß es ihm schon ums menschliche Engagement geht, wenn er auch oft in seinen Gedichten sehr „far out“, sehr weit draußen zu sein scheint… Es ist tatsächlich ein neuartiges Engagement, eine neuartige Religiosität, die weder in trivial-utopischen Aufbauvisionen noch in abstrakten Sternennebeln schwelgt. Vom romantischen Dualismus befreit (wenn auch manchmal in romantischer Verkleidung), beruht diese Haltung auf einer konkreten, modernen Basis, die William Carlos Williams, der große alte Mann der amerikanischen Dichtung, in einem schon vor zehn Jahren verfaßten Vorwort zu Ginsbergs ersten Gedichten treffend beschreibt:

Und wenn ein Dichter, in seinem Werk, in der Menschenmenge steht, und von ihr aufschreien will wie Jeremias: daß ihr Leben gefährdet und besessen ist – was kann er letzten Endes anderes tun, als sich ihrer eigenen Sprache bedienen, der Sprache ihrer täglichen Presse? Dabei muß er dennoch, da er sie liebt und ein Dichter ist, wie Dante ein Dichter war, seine Kunst verwenden und anstrengen, um, wie Dante, gefällig zu sein: er muß das Maß der Sprache kennen, er muß seine Zeilen verkleiden, so daß sein Stil prosaisch erscheint (und so keinen Anstoß erregt) – auch wenn es eine Wolkensäule ist… Und derart, wenn überhaupt möglich, wird der versteckte Wohlgeschmack des Gedichts allein überleben und eines Tages die schlafende Welt wecken.

Anselm Hollo, 1962, Nachwort

(…)

Ginsbergs (…)-euphorische Sprachwelt, die ihre Herkunft von der athletischen und demokratischen Poesie Whitmans nicht leugnen kann (ohne auch nur einen Moment ihren Optimismus zu besitzen), auch nicht stilistische Eigentümlichkeiten von William Carlos Williams leugnet, ist eine Dichtung leidenschaftlicher Abwehr, die von sich sagt (im Psalm 1): „Es verwandeln mich Wetter, Geldsorgen, Broterwerb, auch meine Gesellschaft“, es ist eine Dichtung des „separaten Bewußtseins“ wie es in einem anderen Gedicht heißt, die oft depressive, ebenso oft ekstatisch belebte Dichtung von einer Welt, in der „Gott der einsame Maskenreiter im Comic-Heft, der Rhythmus der Schreibmaschine“ ist. Es ist die tiefe Sehnsucht der vor nichts, keiner noch so brutalen Äußerung zurückschreckenden Gedichte des Amerikaners, sich angesichts einer Melancholie zu behaupten, die weiß:

daß der Tod vor dem Leben kommt
daß kein Mensch vollkommen
geliebt hat niemand in
seiner Zeit selig ist
ungeboren die neue
Menschheit

Diese uneingestanden utopischen Züge (Ginsberg würde das utopische Poem strikt leugnen) bringen eine grenzenlose Offenheit gegenüber allen Erfahrungen und Widerfahrungen einer sich verloren sehenden modernen Seele, der Seele eines einzelnen, mit sich. Die wilden, zum Teil orgiastischen, enthemmten Strophen sind Produkte einer Scheu, einer verstörten Liebe zum Menschen, zum Leben, zur Gegenwart, die sich in die Aggression rettet Der Dichter erscheint hier als leidender Täter, als ein empfindlicher Attentäter auf eine Gesellschaft, von der er weiß, daß sie ihn wie andere Individualitäten längst verschluckt, wenn schon nicht „verdaut“ hat.

Limes Verlag, Klappentext, 1962

 

Gedichte

Allen Ginsberg, Gregory Corso und Lawrence Ferlinghetti waren in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in den USA die sichtbarsten Vertreter jener jungen Dichter, die man die Beatniks nannte. Das Wort kann zunächst „geschlagen“ bedeuten, doch sie fühlten sich keineswegs als Geschlagene, vielmehr als die notwendig auf ihr Eigenstes zurückgewiesenen, als Empörer, waren Gegner des amerikanischen Alltags, seines Wohlfahrtsstrebens, eine geistige Opposition, lehnten die dominierende akademisch-romantische Dichtung ab in einer Ausdrucksweise, die Ironie, Satire, Verpöntes und Obszönes zu Wort kommen liess. Walt Whitman blieb der grosse Ahne, doch ist auch der Einfluss Rimbauds und der Surrealisten in ihrem Schaffen nicht zu verkennen. Die Beatniks sind die Avantgardisten der Nachkriegszeit.
Die oben angedeutete Charakterisierung gilt für Ginsberg wie für seine Dichter-Genossen. In seinem vieldiskutierten Werk Howl (Das Geheul. Zweisprachige Ausgabe. Limes Verlag) hatte er sich als Individualist von besonderer Art bekannt, indem er der „laufenden Gesinnungsmaschinerie“ den Einzelnen gegenüberstellte. Für diesen verlangte er die volle Freiheit, mit sich anzufangen, was er für richtig hielt, eine Erweiterung der Sinne und des Bewusstseins durch jedes Mittel, das Teilhaben „an der grossen individuellen Vorstellungskraft, auf die jeder ein Anrecht haben muss“. Dem halbslawischen beweglichen Geist Ginsbergs gelang es, der Sprache der Menge und der Presse, die er zum Teil anwendet, neues Leben abzugewinnen und das Amerikanische durch eigenwillige Wendungen zu bereichern.
Das „Kaddisch“ betitelte Hauptstück des Bandes gilt einer Frau. Ihre Gestalt wird freilich nicht sichtbar, dafür sind die Wirklichkeiten ihrer einstigen Umwelt, Unbedeutendes, Nichtigkeiten in Menge in die weiträumigen Langzeilen aufgenommen worden, Reminiszenzen, die aber durch die ihnen im Leib des Gedichts zugewiesene Stelle, gleich wie das einzelne Wort, oft unerwartete Akzente erhielten.

All die Anhäufungen des Lebens, die uns zerreiben – Uhren,
Leiber, Bewusstsein, Schuh, Brüste – gezeugte Söhne –
dein Kommunismus – ,Verfolgungswahn‘ – in die
Anstaltshäuser

Apokalyptische Andeutung daneben:

… meine Zeit, die auf den Weltenbrand, immer schneller dahinjagt…

und pathetische Ausblicke:

Wir müssen alle dorthin, auf Allezeit – unterwegs, zum Ende

Manchmal überstürzen sich die Motive, oder der krasse Realismus erscheint europäischem Empfinden als Beeinträchtigung der rhapsodischen Wirkung des Ganzen („Meskalin“, „Lysurgische Säure“). Ginsberg bezeichnet einiges in Kaddisch als „religiöse Rauschgedichte“. Es gehört zu der von ihm geforderten Freiheit, sich vom Religiösen seine persönliche Auffassung zu machen. – Amerika, Amerikanisches tritt entweder nur als Momentbild in Erscheinung, um dann in einer Suada von Entlegenstem zu verschwinden, oder es ist der Hinter- oder Untergrund des Gedichts, wie in dem Nachtflug „Ueber Kansas“, in dem die Gegenden von Oakland, Hollywood, Chikago nur fernher, aus dem Höhenabstand gestreift, werden. Gut europäisch, auch in der Form, mutet das Kurzgedicht „Die Häfen des Cézanne“ an, wohingegen der Dichter für das grosse „Europa! Europa!“ seinen Antrieb mehr aus der allgemeinen Problematik der westlichen Zivilisation überhaupt erhalten haben dürfte.
„Kaddisch“ ist in seinem Ursprung der Name eines Gebetes, das aus der Zeit des zweiten Tempels stammt und das die jüdischen Waisenkinder sprechen. Abgefasst ist es in Literar-Aramäisch. Es wurde am Ende einer Unterrichtsstunde in den Schulen gebetet und bildet Innerhalb des Kultes das Grundthema der Anbetung. Später wurde es Bittgebet des Sohnes für den sterbenden Vater, ist heute noch sehr im Gebrauch. Es lebt weiter im Vaterunser.

L, Die Tat, 16.10.1964

Mein Jahrhundertbuch

Allen Ginsbergs lyrische Epen Howl und Kaddish sind Varianten derselben Inspiration, obwohl das eine 1955/56, das andere zwischen 1957 und 1959 entstand. Beide sind Geheul der Revolte und des Schmerzes. In beiden setzte der Dichter eine unendlich lange Zündschnur von Versen in Brand, um etwas in die Luft zu sprengen – was? Das Gebäude der tugendhaften Konventionen, die der amerikanischen Gesellschaft als Stütze dienen? Die Schutzwälle der poetischen Etikette? Die Schatzkammer der mit ruhigem Gewissen verwendbaren Wörter? Das Kartenhaus aus Kriegsanleihen, Lottoscheinen, Haftbefehlen, Irrenhausbefunden, Liebes-, Familien- und gesellschaftlichen Verträgen?
Diese im Rauschzustand verfassten Enzyklopädien der Revolte verschonen nicht Hygienevorschriften, nicht die Gebote des als normal bezeichneten und durch Tabus geschützten Instinktlebens, nicht das konventionelle idyllische Mutterbild, welches ebenden für die Mutterschaft unumgänglichsten Körperteil verleugnet. Sie meutern gegen die Gebote von Glaube – Liebe – Hoffnung – Heimat und die Befehlsherrschaft des Geldes. Sie stampfen gemeinsam mit den Opfern des Elends, der Krankheit, der Verfolgung, des Irrsinns zu einem ungewöhnlich arhythmischen Rhythmus, der den Sinn der Wörter übertrommelt. In dem verzweifelten emotionalen Protest entfaltet sich nur langsam der Sinn, der – in Prosa übersetzt – auf ein einziges Wort verdichtbar ist:

nein.

Ginsbergs Riesentat war es, dass er sein Ich zum Sprachrohr einer schwer definierbaren, aber unverkennbare Charakterzüge aufweisenden Gemeinschaft weihte.

I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked (Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt)

schon aus dem ersten Vers von Howl sprechen die Ausgegrenzten der jungen Generation.

What sphinx of cement and aluminium bashed open their skulls and ate up their brains and imagination? (Welche Sphinx aus Zement und Aluminium schlug ihnen die Schädel auf und fraß ihnen das Hirn und die Phantasie heraus?)

fragte er, ihr Schicksal erforschend, und fand die Antwort:

Moloch!

Der Moloch ist der Götze Geld, der kanaanitische Feuergott, dem die Eltern sogar ihre Kinder opfern. Der emotionale Prozess, der dieses Ursymbol über Dutzende von Metaphern hindurch ausbreitet, kompromittiert die gesamte Menschheitsgeschichte mit der Revolte und Verzweiflung des Hippie-Lebensgefühls. In Kaddish wiederum, einem lyrischen Requiem für die verrückte Mutter und zugleich Familienroman in Versen, gibt der da und dort anklingende prähistorische Rhythmus des jüdischen Gebets den am Faden des Leidens aufgereihten Geschichten eine 5.000-jährige Perspektive, rückwirkend.
Die personale Einheit von Gegenwart und Urgeschichte, von moderner Persönlichkeit und Gemeinschaft schuf ein uralt-neues Genre: die spezifische Ginsbergsche Synthese von Lyrik und Epik, welche das kollektive Los von Generationen im persönlichen Pathos auflöst.
In die Realität dieses Pathos mischt sich prophetische Voraussicht. Die Emotionen des im Namen der besten Köpfe seiner Generation auftretenden Dichters boten mehr als zehn Jahre später, 1968, dem Massenaufstand einer neuen Generation die Form. Die tabustürzenden Emotionen vermittelten sich nicht über ideologische Hitzigkeit, sondern über Bilder, sodass die Jugendlichen verschiedener geopolitischer Zonen darin ihre eigenen spezifischen Freiheitsbedürfnisse erkennen konnten.

István Eörsi, Die Zeit, 24.6.1999
Aus dem Ungarischen von Gregor Mayer

Kaddish (poem) bei Wikipedia

 

Robert Weimann: Allen Ginsberg und das geschlagene Glück Amerikas, Sinn und Form, Heft 5, 1965

 

SPATZENHIRN 15. APRIL 1986
nach Allen Ginsberg

Spatzenhirn
aaaaaaaaaaaerrang dieser Tage
– sagen wirs gleich: – Spatzenhirn
errang HEUTE einen Sieg und hatte
den göttlichen Lacher auf seiner
lausigen Seite: der
aaaaaaaaaaaaaaaaaließ fröhlich
die rostigen Klemmen der Kiefer,
die Hauer rasseln, die Stimme
überschlug sich ihm aus dem Halse,
während Luzifer die Handschuh
ablegte und begann, mit Sand, mit
nordafrikanischem Sand
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Perlen
der Fingernägel zu schleifen: Spatzen-
hirn im US-Bomber, Spatzenhirn
startete von England aus,
Meister Eckart und Superman
im Privatfach, seelen-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaruhig also,
angeleitet per TV-Meditation
(Hausfrau Spatzenhirn), und schmiß
auf das libysche Glas, Frühstücks-
Milch der Journaille, Bomben,
machte wie stets kaum Verluste,
setzte Alles auf Gewinn an Lust;
Spatzenhirn
aaaaaaaaaaawird heute noch
einmal geliftet, der alte Affen-
vati (Regie Frederick de Cordova)
bringt King Kong zu Bett (Bedtime
for Bonzo liegt fünfunddreißig
Jahre zurück) und haut noch einmal
auf die Kacke (Ubu Roi): diesem
Herren der Welt ein Mal, ein
einziges Mal gegenüberzustehen
mit ungebundenen Händen
(denkt Spatzenhirn).

Uwe Kolbe

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

 

 

Allen Ginsberg Planet News Memorial in der Cathedral Church of St. John the Divine in New York City am 14. Mai 1998

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Hilde Marx: Nacktheit als Urzustand des Seins
Die Tat, 28.5.1976

Zum 25. Todestag des Autors:

 

 

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Nachruf auf Allen Ginsberg: taz

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 1/6.

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 2/6.

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 3/6.

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 4/6.

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 5/6.

 

Allen Ginsberg liest aus seinem Buch Cosmopolitan Greetings zusammen mit einigen älteren Gedichten und Liedern. Teil 6/6.

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