Ich kann dich nicht erreichen.
Flaggen werden gehißt und runtergeholt,
Regierungen wechseln und Jahreszeiten,
Nordlichter und Raketen wetterleuchten.
Ich kann dich nicht erreichen.
Vielleicht ist deine Nummer schon außer Gebrauch,
ein anderes Leben und Geheimnis?
Vielleicht, unbemerkt, ist einer von uns gestorben?
Ich kann dich nicht erreichen.
Undenkbar, daß du mich nicht erkennst,
gleich wo, in welchem Reich oder Staat,
du mußt im Telefon meine Stimme hören:
– Dich erreichen konnte ich nicht
so lange…
Und den Hörer reißt dir der Wind fort,
die leere Hand schmerzt wie ein Verbrechen.
Du warst mein einziges Geheimnis.
Woraus erwächst große Poesie? Lettische Dichtung ist weitgehend unbekannt. Allenfalls weiß man, es wurden und werden Dainas gesungen an der Rigaer Bucht. Aber Herders Versuch, solche Lieder des Volkes als im Kanon der Literatur gleichwertig ureigene Stimme der Poesie ins Bewußtsein zu bringen, ist nicht so recht über die Ostsee, das Mare balticum gedrungen. Das hat Gründe, die aufzudecken mehr als Wissenschaft verlangt. Man hat die Dainas ins Deutsche übersetzt und zur Kenntnis genommen, daß lettische Dichtung bis weit ins 19. Jahrhundert nichts anderes als Volksdichtung war. Die Volkspoesie scheint bis heute Grundsediment der seit den zwanziger Jahren sich urbanisierenden, aber weder in ihrer ersten noch in der zweiten Avantgarde der fünfziger, sechziger Jahre von ihrem Ursprung sich lösenden lettischen Dichtung geblieben zu sein. Sie steht im Selbstverständnis für die eigene Freiheit schlechthin, legt so auch den Grund für die auffallend gesellschaftliche Verankerung der Literatur, in deren Thematik sich Weltoffenheit und existentielle Bedrohung paaren. Wieweit das heute noch uneingeschränkt gelten kann, ist die Frage. Seit dem voraufgegangenen Jahrzehnt meldet im Zeitklima sich ein Wandel an, ablesbar nicht zuletzt an den Niederschriften der Amanda Aizpuriete, an ihren nach 1990 geschriebenen, in dieser deutsch erscheinenden Auswahl Die Untiefen des Verrats erstmalig veröffentlichten Gedichten vor allem –, wie unverkennbar diese auch dem bedrängenden Hintergrund gesellschaftspolitisch geschärfter Poesie im Tief der Sowjetzeit sich verdanken. Die Zeit im wieder freien Lettland ist indes bedrängend geblieben, in materieller, aber auch anderer Beziehung zweifellos sogar bedrängender geworden, und nicht nur der Empfindung nach. Die vormals nur heimlich zu rühmende Solidarität der Ostblockjahrzehnte ist auch hier zuschrott gegangen.
Die Gedichte der Amanda Aizpuriete leben aus dem Tag für Tag von heute. Was sie von der in den Vordergrund tretenden zeitgenössischen Lyrik im Westen unterscheidet, ist vor allem, daß die Moderne in ihnen nicht vorkommt, Beliebigkeit nicht zugelassen wird. Dabei haben sie ihre ganz eigene, neue Stimme, sind schlicht große Poesie.
Die Szene dieser Poesie, die Bühne? – Die Frage und warum so gestellt, erklärt der Blick, Blick vom Rand eines Ich/Du, opak/transparent vor der Festlichkeit des Alters einfacher Dinge wie Tag, Nacht, Wind, Sand, Meer, oder Nebel, Feuer. Was an zwei Grenzlinien reichend, ufer- und horizonthin sich öffnet, ist, in Trauer durchmessen, die geliebte Meerbucht, Landschaft der Kindheit. Tagein tagaus, im Jahr der Untiefen des Verrats nunmehr siebenunddreißig Jahre. Amanda Aizpurietes Geburtsort, und nach wie vor Wohnort, liegt an der Rigaer Bucht. Er ist jederzeit, wenn auch nicht stets ausdrücklich, überall gegenwärtig in ihren Gedichten.
Poesie des Alltags? – Ja, doch in des Wortes doppelter Bedeutung.
Die Fensterscheibe der Zeit ist von beiden Seiten verstaubt.
Oder:
Ein Stückchen Jenseits wird dir zuteil,
köstlich wie ein vergifteter Apfel.
All-Tag…
Ich hab sie geliebt, diese verheerte Meerbucht
hab sie zu all meinen einsamen Festen
geladen oder ich war ihr Gast.
Jetzt werd ich in dieser Stadt keine Feste mehr haben.
Über das müllbesäte Leichentuch des Sandes
darf man gehn, um Abschied zu nehmen. Die Sonne scheint
und die Trauergäste sind heiter. Die machtlose Liebe
kann man, wertlose Münze auf Wiederkehr
in die verbotenen Wellen werfen.
Ich hab sie geliebt diese Meerbucht – und zugelassen,
daß man sie umbringe.
Eine Poesie, die bezeugt, was Erinnerung vermag.
Und dieser durch die Finger rinnende Herbst
wird morgen übersetztes Inbild sein.
In ihrem Fühlen und Denken, der Übersetzung ins Bild, Spurensicherung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist Amanda Aizpuriete, mit eigener Stimme, den Akmeisten Anna Achmatova und Ossip Mandelstam wahlverwandt.
Dieser Abend scheint verdorben.
Unter der Rinde des prächtigen Sonnenuntergangs – nur Bitternis,
die Geheimnisse aber fort ins andre
Zeitalter geflogen… Nun, was blickst du zur Wand?
Denkst du, es wäre Zeit, die Tapeten zu wechseln?
– Nein, aus welcher Richtung der Vogel kommt, überleg ich,
aus der des Glücks oder Unglücks?
– Einübung in die Vogelschau? – Nein, ins Fühlen.
Falls ers nicht schafft, herzufliegen.
Stimme aus dem Abseits, der Zeit auf der Spur.
Was spielt sich ab? – Ein hoffnungsloses Wunder.
Befragt über das Schreiben von Gedichten, beruft sich Amanda Aizpuriete immer wieder auf die Voraussetzungen der „Durchsichtigkeit“ – der des Ich/Du ihrer Gedichte vor Kulissen, Wänden, Mauern.
Sieh die Schmierenbühne, auf der ich
mit letzten Kräften mich halte.
Sieh der Welt riesigsten Jasmin,
der einst auf meinem Hof wuchs,
und höher – den Spalt im Nachthimmel,
durch den der Engel einst absprang,
die Flügel ließ er zuhause,
wissend – gleich und gleich nur
bespricht sich in Ruhe.
Die Knöchel jasminbleich, zerschlagen,
schimmerten morgenhin auf der Rampe.
Vom Glanz geblieben nur
stummes Würmchenglühn,
fern der Engel mit seinen Schwingen.
Wie Hieroglyphen, weiße Tusche, fahl
schimmert in Staubkulissen unser Gespräch,
Jasmin ein Duft verloren darüber.
Es ist die eigene Zeit/Raum-Dimension des Gedichts, die zurück- und vorausführe, die Bühne des Schmierentheaters unter kosmischem, die Bühne von Krieg und Zerstörung unter geschichtlichem Aspekt rissig, durchlässig macht.
In diesem Sommer ist unsre Wohnung,
doch Friede erst, wenn in fernem Glück verschwundenem
Gast wir entgegengehn.
Politisch, gesellschaftskritisch hingegen lesen sich die Gedichte der Amanda Aizpuriete einzig durch ihre poetische Dialektik.
In diesem Land das jedes Geheimnis klärt
[…]
die Untiefen des Verrats ermessend
tränen meine Augen nicht mehr.
Denken und Sprechen auf der Folie der Zeit, von der zu melden ist: „Es ist spät“, oder:
Nichts Schöneres mehr wird kommen.
Ein Sprechen über Dinge, das nur in Zweifel gezogen werden kann.
In diesen Worten halte ich mich nicht.
Werde nicht auf der Treppe sitzen, als wär der Schlüssel weg.
Oder:
Der Wahnwitz gepriesen so oft, daß selbst Narren banal
sich vorkamen. Wörter mit ihren Bedeutungen, den eigenen,
nicht mehr stritten.
Der Zweifel richtet sich nicht zuletzt auf das Gedichteschreiben selber, wenn auch nicht auf das Gedicht als solches. „Wenig wird dir bleiben von mir, / grünäugiger Spätling. / Einige Blätter Papier, / die schwierig zu lesen“, heißt es in einem späten, an ihr jüngstes Kind gerichteten Gedicht.
Um ihre Biographie befragt, antwortet Amanda Aizpuriete in einem persönlichen Brief:
Ich habe fast keine, mein Leben ist sehr einfach. Ich bin 1956 in Jurmala geboren. Nach dem Studium der Philologie und Philosophie an der Universität Riga war ich zwei Jahre am Institut für Literatur in Moskau, danach Rundfunkreporterin und unterwegs auf archäologischen Expeditionen. Jetzt bin ich Hausfrau mit vier Kindern. Drei Gedichtbände sind von mir erschienen: Die Mutter kommt in den Garten 1980, Dünenweg 1986, Der nächste Autobus 1990. Und Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Deutschen, Englischen, Russischen, Litauischen, Ukrainischen; z.B. Kafka, Rilke, Trakl und Ingeborg Bachmann, Ray Bradbury und Josef Brodskij, Anna Achmatova, Ossip Mandelstam, Marina Zvetajeva…
Aber die Situation der Literatur hat sich einschneidend verändert im Lettland der neuerlangten Unabhängigkeit. Ihre materielle Basis ist von galoppierender Schwindsucht befallen. Es gibt kein Geld für Gedichte, weil selbst für Brot und Kartoffeln nicht ausreichend, was die kurzbiographische Mitteilung „Jetzt bin ich Hausfrau mit vier Kindern“ in ein Licht rückt, das die Poesie des Alltags neu begreifen läßt.
Dies in Fetzen gehende Leben –
selbst es umzuschneidern sinnlos.
Die Vogelscheuche soll Staat damit machen.
Aus Löchern Dunkelschimmer
wie schwarzes Perlornat.
Wird auf die Fetzen der Geier fliegen
oder zumindest der Wind?
Oder muß ich mich selber packen selber vergraben
im Garten, daß nicht Ratten danach scharen?
Die existentielle Bedrohung schärft den Blick, sie wird über den privaten Bereich hinaus als global ausgreifend erfahren. Von Anfang an, dort, wo das Gedicht der Amanda Aizpuriete zu sich selber kommt, dominiert die Todesthematik, bis zu geisterhafter, wenn auch immer an diesseitigem Ufer verankerter, sich nie ins irritierend Vage ablösender Perspektive. Es blickt voraus im Erinnern, erinnert in der Vorausschau. Aber hält sich ans Private. Wüßte man es nicht, man könnte es unschwer erraten, daß Amanda Aizpurietes Herkunft im Jüdischen und Zigeunerischen wurzelt. Das letztere wird schließlich auch direkt und indirekt thematisiert.
Diese Dichter und Zigeunerinnen – die,
wie immer voraussehn. Es ist spät.
Oder:
Der stolze Markttisch beladen
mit finsteren Gästen und Geldgeklimper.
Wer zuzahlt, dem glüht noch das Biwakfeuer des Herbstes.
Die Verwurzelung im Wurzellosen/Heimatlosen – „Ich bin die Nichthergehörige, ja, gehör nicht her […] Will nicht geführt sein / in der Vermißtenliste.“ – macht Amanda Aizpuriete zur Schwester der Zvetajeva, für die feststand: die wahren Dichter sind allemal Juden, auch ohne den Nachweis anhand ihres Stammbaumes.
So ist ihr die Größe gegeben, an eine Zeit, die ins nicht mehr entzifferbar Unenträtselte abgestürzt ist, das hoffnungslose Wunder der Poesie zu überliefern.
Wenn der Saft siedet unter der ruhigen Schale der Früchte,
der Schmetterling verendet, im entflochtenen Geflecht des Tages hoffnungslos verfangen,
auf den Flügeln des Schmetterlings unenträtselt – wie dein Gesicht – schwindet die Schrift,
schmelzende Waben und vom Gedicht bleibt nichts als der schwarze Docht der Leidenschaft.
Die deutsche Version der in diesem Band versammelten siebzig Gedichte ist das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit, an der Amanda Aizpuriete selber, die in Hamburg lebende lettische Exilautorin Margita Gūtmane, der in Finnland lebende deutsche Übersetzer Horst Bernhardt und der Ostberliner Autor Richard Pietraß vorbereitend beteiligt waren. Eine von den Anrainerländern des Mare balticum veranstaltete Literaturkreuzfahrt zu Beginn des Jahres 1992 war der Ausgangspunkt.
Amanda Aizpuriete sei gedankt für das Vertrauen, das sie dem des Lettischen nach wie vor nicht mächtigen Herausgeber und Übersetzer entgegengebracht hat. Ihre und Margita Gūtmanes Vorarbeit und Hilfe waren unerläßlich bei der Entstehung dieses Auswahlbandes.
Manfred Peter Hein, Mai 1993, Nachwort
Franz Hofner: Die Untiefen der Zivilisation
fixpoetry.com, 22.8.2017
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