Amanda Aizpuriete: Lass mir das Meer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Amanda Aizpuriete: Lass mir das Meer

Aizpuriete-Lass mir das Meer

Ich trank Kaffee an der Theke, neben mir bitter einen
aaaaaPropheten.
Im Autobus müde plaziert einen Mönch.
− Glaubst du noch? − Ja, ans Wort, das an mir
aaaaavorübergeht,
und an Liebe, die immer fehlt.

Fernab detonierten Bomben und Staub blühte auf.
Als träumte ihm Krieg, bebte das Fensterglas.
− Glaubst du noch? − Ja, ans Wort in den Wind gesät,
und an Liebe, die immer fehlt.

 

 

Manfred Peter Hein liest seine Übersetzungen der Gedichte der lettischen Autorin Amanda Ai︣zpuriete im Literarischen Colloquium Berlin am 25.3.1994 vor, anschließend Abschlussdebatte.

 

 

 

Diese Auswahl von Gedichten

ist den Lyrikbänden Nāks dārzā māte („Die Mutter kommt in den Garten“), Riga 1980, Kāpu iela („Dünenstraße“), Riga 1986, Nākamais autobuss („Der nächste Autobus“), Riga 1990, Pēdējā vasara („Der letzte Sommer“), Riga 1995, sowie einem Typoskript noch unveröffentlichter Gedichte aus dem Jahr 1995 entnommen.
Den Übersetzungen lagen Interlinearversionen von Amanda Aizpuriete und Margita Gūtmane vor.

Rowohlt Verlag, Klappentext, 1997

 

Ich habe immer das Gefühl, dass etwas zu Ende ist

− Die lettische Dichterin Amanda Aizpuriete über Lettland, die Jahre nach 1989, über Armut und den Verlust der Gefühle. −

Carsten Hueck: In Deutschland sind bislang zwei Gedichtbände von Ihnen erschienen. Ihr neuester, Babylonischer Kiez, ist gerade herausgekommen. Mitte des Jahres präsentierten Sie in Riga Ihren neuen Roman. Sind Sie eher auf die lyrische Form festgelegt, oder ist es für Sie ebenso selbstverständlich, Prosa zu schreiben?

Amanda Aizpuriete: Ich schreibe, ich schreibe nicht – das ist der einzige Unterschied. Ich selber weiß nichts von Ideen. Ich bin keine Autorin, die exakte Formen entwirft. Ich schreibe einfach. Dann am Ende gibt es einen Moment, wo ich natürlich entscheiden muss, was ist das, und was kann ich damit anfangen. Aber meistens geschieht das ganz spontan. Ich gebe zu, das ist absolut kindisch und naiv. Aber es ist immer noch so mit mir.

Hueck: Immer noch…?

Aizpuriete: … immer noch so, dass die Texte einfach zu mir kommen. Und ich bin dann intellektuell genug, um zu verstehen, was ich damit später anfangen kann.

Hueck: Sie haben Literatur studiert und auch als Journalistin gearbeit.

Aizpuriete: Ich arbeite immer noch als Journalistin. Es gehört zu meinem Leben, immer irgendeinen Artikel zu schreiben, oder eine Rezension.

Hueck: Leben Sie von der engeren literarischen Arbeit, oder von den Artikeln und Rezensionen?

Aizpuriete: Vor allem von Übersetzungen. Ich habe etwa 20 Romane ins Lettische übersetzt. Das ist mein Brotberuf.

Hueck: Aus welchen Sprachen übersetzen Sie?

Aizpuriete: Aus der deutschen, Kafka beispielsweise, aus dem Englischen, und aus vielen slawischen Sprachen. Von da meistens Gedichte, weil niemand in Lettland zur Zeit russische Romane lesen will. Mit einigen Ausnahmen natürlich, Bulgakow liest man immer noch. Zum Beispiel habe ich Updike übersetzt, Die Hexen von Eastwick, dann Ken Kesey, Einer flog übers Kuckucksnest, alles gute Sachen.

Hueck: Sie haben auch Rilke, Trakl, Ingeborg Bachmann übersetzt. Oder auch Brodskij, Mandelstam, Zvetajeva. In welcher Weise beeinflusst die Übersetzertätigkeit wiederum Ihr eigenes Schreiben?

Aizpuriete: Damit müssen sich Kritiker beschäftigen. Die das tun, sind alle der Ansicht, dass es keine direkten Einflüsse in meinen Gedichten gibt – obwohl ich ja sehr viele Autoren übersetzt habe. Ich hoffe, dass das wahr ist. Denn für mich ist das Eine vom Anderen ganz stark getrennt. Hier ist mein Leben, und da ist Literatur. Ich habe nie etwas geschrieben, das von Literatur, von Musik oder von Kunst inspiriert ist. Ich schreibe meine Emotionen vom Leben.

Hueck: Wie kann man die derzeitige Situation für Autoren in Lettland beschreiben? Werden Sie innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen? Und können Sie vom Schreiben leben?

Aizpuriete: Man kann vom Schreiben nicht leben. Aber Literatur spielt immer noch eine sehr große, sehr bedeutende, sehr wichtige Rolle in Lettland. Dort leben fast drei Millionen Menschen. Etwa die Hälfte davon sind Letten. Für einen Lyrikband liegt zur Zeit die normale Auflage bei etwa 3.000. Das bedeutet, dass mindestens soviel immer noch lesen. Für drei Millionen Menschen sind auch 3.000 eigentlich eine Menge, besonders weil es sich um Gedichte handelt. Leben kann ein Autor davon nicht. Doch ich finde, dass es für die Leute wichtig ist, dass ich schreibe. Auch wenn ich davon nicht leben kann.

Hueck: Woher wissen Sie, dass es wichtig ist, dass Sie schreiben? Ich meine nicht die Anzahl verkaufter Bücher. Wie werden Sie wahrgenommen, wird diskutiert, gibt es Auseinandersetzungen? Besteht ein Kontakt zu Lesern?

Aizpuriete: Ich habe viele Lesungen in Lettland. Unbezahlte, weil es dafür einfach kein Geld gibt. Selbst in Museen und Bibliotheken nicht. Die können höchstens meine Fahrtkosten zu dieser Lesung übernehmen. Aber keinesfalls mehr. Ich sehe die Leuten, die zu diesen Lesungen kommen. Die erzählen mir, leider hätten sie kein Geld, um mein Buch zu kaufen, aber es sei doch so schön, dass ich immer noch existiere und immer noch Gedichte schriebe.

Hueck: Hat sich die Situation denn verändert, nachdem Lettland vor zehn Jahren unabhängig geworden ist?

Aizpuriete: Die Menschen haben jetzt weniger Geld. Die Autoren auch. Früher war die normale Auflage für einen Lyrikband 10.000 Exemplare. Und die Bücher waren sehr billig damals. Jetzt sind sie viel teurer, und der Arbeitslohn ist nicht hoch. Ein Durchschnittsbürger bekommt 100 oder 150 Lat im Monat. Ein Buch kostet zwei oder drei Lat. Ein Beispiel: Mein Vater ist jetzt 80 Jahre alt. Seine Rente ist phantastisch klein, etwa 40 Lat im Monat. 1 Lat ist 3 DM. Kann man von 120 DM im Monat leben? Mit 16 hatte er das Rauchen begonnen. Er rauchte sein ganzes Leben lang, und dann plötzlich hatte er nicht mehr genug Geld. Und so musste er sich entscheiden. Nun raucht er nicht mehr. Er kauft immer noch billige Spirituosen und Zeitungen, aber keine Zigaretten mehr.

Hueck: Wie gelingt es Ihnen, mit der drastischen Veränderung der ökonomischen Situation zurechtzukommen?

Aizpuriete: Man kann die Miete nicht mehr bezahlen. Unsere Wohnungsmiete war früher nicht so bedeutend. Jetzt kann ich nicht genug mit meinen Übersetzungen verdienen, um meine Miete zu bezahlen. Ich habe vier Kinder und den Vater und bin eigentlich die Einzige, die etwas Geld heranschafft. Und es reicht nicht, auch wenn ich fünf Romane im Jahr übersetze, was eigentlich viel zu viel ist. Ich bekomme ungefähr einen Lat pro Seite. Was soll ich machen?
Eigentlich lebe ich schon nicht mehr in meiner Wohnung. Offiziell bin ich bereits rausgeworfen . Ich kann gar nicht verstehen, warum ich im Moment noch bleiben darf. Ich habe das Gefühl, dass ich eines Tages mit meiner Familie irgendwo in einem Zelt wohnen muss. Unangenehm natürlich. Ich kann mit der Literatur nicht genug Geld verdienen. Aber ich habe keine andere Profession. Ich bin nur professionelle Schriftstellerin, leider.

Hueck: Ist denn das Interesse an einheimischer Literatur in Lettland weiterhin dasselbe wie vor der Unabhängigkeit? Oder orientieren sich die Leser woanders hin und kaufen lieber irgendeinen amerikanischen Roman?

Aizpuriete: In Sowjetzeiten gab es beispielsweise keine normalen Krimis und keine Frauenromane. Jetzt haben wir in Übersetzungen natürlich auch diese Sachen. Vor zwei Jahren gab es einen Boom dieser Literatur. Das war etwas Neues, endlich hatten wir das. Aber trotzdem ist es so, wenn ein lettischer Autor etwas schreibt, ist das doch wichtiger.

Hueck: Hat sich die lettische Literatur denn gewandelt? Gibt es neue Strömungen? Was hat die Öffnung des Landes für die Literatur Lettlands bedeutet?

Aizpuriete: Ich glaube, gar nicht soviel. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass ich in der Sowjetunion wohne. Ich lebte immer in Lettland und nicht in Sowjetland. Unsere Literatur war immer lettische Literatur und nicht Sowjetliteratur. Das ist ein großer Unterschied. Eigentlich waren die baltischen Länder immer schon etwas Eigenartiges, nicht typisch für Sowjetunion. Vielleicht hatten wir auch mehr Freiheit in der Kultur. Beispielsweise hatten wir keine Autoren, die auf Russisch schrieben. Wie das in Kasachstan noch heute passiert. Tschingis Aitmatow schreibt seine Bücher auch auf Russisch. Natürlich ist das ein Markt und man hat mehr Möglichkeiten, berühmt zu werden. Lettische Autoren waren nie so korrumpiert. Diese Idee war uns absolut fremd. Wir waren immer lettische Autoren. Keiner der bedeutenden lettischen Schriftsteller hatte etwas mit der kommunistischen Ideologie zu tun.

Hueck: Gab es für Sie denn etwas Neues an literarischen Einflüssen aufzunehmen und zu entdecken?

Aizpuriete: Gar nicht so viel. Ich war immer orientiert über das, was in der Welt passiert. Es war nicht so einfach, bedeutende ausländische Autoren im Original zu bekommen, aber man konnte sie in Lettland zum Beispiel in polnischen Übersetzungen lesen. Es gab im Zentrum von Riga einen Buchladen, Globus hieß der, da konnte man alles, was in Osteuropa publiziert wurde, bekommen. Und in Polen waren eigentlich alle modernen und avantgardischen Autoren übersetzt.
Ich konnte Allen Ginsberg zum Beispiel in polnischer Übersetzung lesen. Dann gab es sehr viele Leute – das war noch vor dem Computerzeitalter – die Schreibmaschinen hatten und Texte vervielfältigten. Zum Beispiel gab es in zehn Exemplaren Kafka. Es war schwer, Werke von Kafka zu bekommen, aber ich hatte sie als Schreibmaschinenenexemplare. Auch vor zehn und vor zwanzig Jahren. Ich musste jetzt nicht Weltliteratur für mich entdecken, ich hatte sie immer. Insofern gab es keine großen Veränderungen.
Man macht sich im Ausland eine falsche Vorstellung von den Verhältnissen, dass wir in einen Kerker eingesperrt waren. In meiner Jugend waren die Beatles meine Lieblingsmusik. Für Schallplatten musste man teuer bezahlen. Auch für Jeans. Es gab sie schwarz, und es war auch ein bisschen gefährlich für die Leuten, die sie verkauften. Aber man konnte sie bekommen.

Hueck: Sie haben in Moskau studiert?

Aizpuriete: Ja, am Literaturinstitut, das ähnlich war wie in Leipzig das Johannes-R.-Becher- Institut.

Hueck: Ich weiß von Leipzig, dass es dort den Giftschrank gab, wo Bücher standen, die man nicht kaufen konnte, zu denen man aber für „Studienzwecke“ Zugang hatte. Wie war das in Moskau?

Aizpuriete: Ich habe Ulysses von Joyce in Moskau gelesen. Auch Ionesco.

Hueck: Lasen Sie damals, um zu erfahren, was in der Literatur passiert, oder hatte es eine besondere Bedeutung für ihr Leben?

Aizpuriete: Es war zeitgenössische Literatur, nicht nur die moderne Klassik. Für uns war das Gefühl wichtig, dass wir in dieser Zeit und in dieser Welt leben. Wir wollten wissen, wie diese Welt und die Kultur und die Literatur aus sehen. Wir waren keine Fremdlinge.

Hueck: Literatur ist immer ja auch Möglichkeit, etwas über Welt zu erfahren, die nicht Alltag ist.

Aizpuriete: Ja. Ich konnte nicht über die Grenze gehen, weil ich nicht in der kommunistischen Partei war. Ich hatte einmal eine Möglichkeit, „wenn Du in die Partei eintrittst, dann könntest Du nach Indien fahren“. Ich habe gesagt: „Nein Danke, ich bleibe besser hier.“ Das war selbstverständlich. Wir wussten ganz genau, wie die Welt aussieht, obwohl wir keine Möglichkeit hatten, in der Realität über Grenzen zu gehen.

Hueck: Geben Sie mit Ihrem Schreiben auch Auskunft über ein Stück Welt?In Rezensionen ihrer Gedichte werden sie als Hausfrau mit vier Kindern beschrieben. Wiederholt war zu lesen, Ihre Gedichte seien wie Tagebuchaufzeichnungen.

Aizpuriete: Das hat Joachim Sartorius einmal geschrieben, und das ist immer wieder aufgegriffen worden. Zuerst in der taz, da war meine erste deutsche Publikation. Sartorius hatte damals nicht viele meiner Texte gelesen. Natürlich sind das absolut keine Tagebuchaufzeichnungen. Es geht um unsere gemeinsame Welt und nicht allein um meine. Es sind nicht meine Erfahrungen, von denen ich schreibe, es sind fremde Erfahrungen. Ich glaube, dass die meisten Literaten Medien sind. Das heißt, ich kann nicht so genau sagen, woher etwas kommt und was es bedeutet. Ich weiß es nicht, will es auch nicht wissen. Ganz bestimmt ist das, was ich schreibe, nicht meine Biographie. Das von Hausfrau mit vier Kindern hatte ich in einem privaten Brief an meinen Übersetzer geschrieben. Ich habe keine Ahnung, dass er das dann für das Nachwort meines Lyrikbandes benutzt hat. Das war nur ganz privat mitgeteilt. Aber das ist nun schon ein Klischee in Deutschland: immer Hausfrau mit vier Kindern, und immer Tagebuch, das bleibt. Ich hasse es.

Hueck: Besteht denn ein Zusammenhang zwischen Alltag und Ihrem Schreiben?

Aizpuriete: Literatur ist nicht Alltag. Gerade vom Alltag schreibe ich, vom normalen Leben, was es bedeutet. Mein Leben ist aber nicht normal. Ich glaube, jedes Leben ist voll von unerwarteten und komplizierten Situationen und von Emotionen. Zum Beispiel ein Erlebnis: das war in Minsk mit dem Literaturexpress. Da kommt eine Bekannte an den Zug. Wir kannten uns seit elf Jahren. Ich hatte sie aus den Augen verloren. Damals war sie noch Studentin am Literaturinstitut. Wir machten zusammen eine Busreise in die Westukraine. Diese Reise dauerte etwa zehn Tage, und es war ein Mann aus Armenien mit im Bus. Wir freundeten uns an. Ich verstand bald, kaukasische Männer sind gefährlich – und das bei meinem ohnehin skandalösen Schicksal. Er hatte Familie zu Hause, ich hatte Familie zu Hause. Und so habe ich gesagt, ich will aussteigen. An diesem schönen Ort, wo wir gerade waren. Ich fahre nicht weiter. Drei Tage vor Ende der Reise! Ich stieg aus. Später habe ich ein paar Briefe von ihm bekommen. Dann plötzlich Stille. Jetzt weiß ich, warum. Diese alte Bekannte war nun gekommen, um mir zu sagen, dass dieser kaukasische Mann vor zehn Jahren gestorben ist, ich müsse das wissen. Eins von zwei Gedichten, die ich im Literaturexpress geschrieben habe, ist ein Brief an diesen Mann, jetzt wo ich das weiß, dass er schon lange nicht mehr existiert. Das ist nur ein Beispiel. Ich sage immer, ich habe ein sehr gewöhnliches, ruhiges Leben. Das stimmt natürlich nicht. Mit meinem Schicksal ist das nicht so einfach. Aber diese Kataklysmen sind irgendwo versteckt, nicht sichtbar. Leben ist voll von solchen Sachen. Ist das Alltag? Ist es etwas anderes? Ich weiß es nicht.

Hueck: Ich glaube, dass es immer auch darauf ankommt, an welchem Punkt man im eigenen Leben ist, um so etwas wahrnehmen zu können. Es gibt Dinge, die immer schon da sind und die man irgendwann plötzlich als solche benennen kann, selbst wenn man vorher schon um sie gewusst hat. Dann ist der Moment, wo man über sie schreibt. In Ihrem neuen Band fällt mir besonders die Thematisierung des Vergänglichen auf.

Aizpuriete: Ich wollte sagen, dass ich vielleicht in meinem Leben sehr viel solche tragischen Situationen kennengelernt habe, Tode, Leidenschaften. Ich musste wählen. Vielleicht mehr, als es für ein Leben notwendig ist, viel mehr.

Hueck: Dass Leben sich auflöst, Beziehungen zerbrechen, ist das für Sie als Erfahrung in den letzten Jahren hinzugekommen, oder war Ihnen das immer schon so präsent?

Aizpuriete: Ich habe das Gefühl, dass ich soviel eingesteckt habe in mein Leben, dass ich vielleicht sagen kann, ich habe überhaupt schon vier oder fünf Leben nacheinander gelebt. Und meistens hatte ich das Gefühl dabei, dass nicht ein Zeitabschnitt zuende geht, sondern ein ganzes Leben. Ich habe immer das Gefühl, dass etwas zu Ende ist.

Hueck: Können Sie sich vorstellen, ein Leben zu führen, ohne zu schreiben?

Aizpuriete: Ich kann mir das ganz gut vorstellen. Ich bin nie sicher, dass ich im Leben noch irgendwo etwas schreiben werde. Jedes Gedicht kann das letzte sein. Vielleicht wär’ ich viel glücklicher. Vielleicht wäre es viel besser, überhaupt nichts zu schreiben.

Hueck: Das verstehe ich nicht.

Aizpuriete: Wenn ich schreibe, existiere ich in einer anderen Dimension. In dieser Dimension überlebe ich auch die Leidenschaften. Ich bin von ihnen erfüllt. Meine Gedichte sind sehr emotional. In meinem alltäglichen Leben habe ich sehr oft keine Emotionen mehr. Alle meine Gefühle sind irgendwo in diesen Blättern geblieben, Und dann bin ich zusammen mit Menschen, die eigentlich sehr lieb zu mir sind, aber ich kann ihnen nichts geben. Sogar mit meinen Kinder ergeht es mir so. Ich liebe sie, und sie wissen das. Aber sehr oft bin ich – nicht gerade kalt, aber lauwarm zu ihnen. Ich habe nichts mehr zu geben. Ich bin im Alltag ein bisschen wie ein Mechanismus. Ich muss waschen, kochen, ich mache das alles, aber ich bin nicht eigentlich ein lebendiger Mensch dabei. Alle meine Gefühle sind irgendwo in Gedichten geblieben. Das tut mir sehr leid. Ich glaube, es ist nicht gut, so zu leben. Das ist ein falsches Leben.

Hueck: Ist es nicht möglich, die Emotionen, mit denen Sie beim Schreiben in Berührung kommen, im Nichtschreiben zu aktualisieren?

Aizpuriete: Nein. Ich wäre viel glücklicher, wenn ich nicht schriebe. Aber ich habe keine Wahl.

Hueck: In der Szenerie Ihrer Gedichte tauchen Burgen auf, oder Scharfrichter und Ritter. Das sind keine Metaphern, und auch keine Figuren aus dem Alltag unserer Zeit. Joachim Sartorius sprach davon, dass Sie sich, Else Lasker Schüler ähnlich, eine Parallelwelt erschufen.

Aizpuriete: Nein. Diese Situationen benutzen mich eigentlich, ich bin darin. Eigentlich lebe ich in diesen Situationen. Es ist nicht so, dass ich mir das ausdenke. Vielleicht existiere ich überhaupt nicht. Es kann sein, dass das einzig Reale für mich diese Gedichte sind.

Hueck: Woher kommt der Titel ihres neuesten Gedichtbandes Babylonischer Kiez?

Aizpuriete: Auf Englisch heißt er Suburbs of Babylon.

Hueck: Die Offenbarung in der Bibel fällt mir ein.

Aizpuriete: Ja, aber auch der Turm von Babel. Es ist auf jeden Fall die Großstadt, wo Leute einander nicht mehr verstehen können. Nach dem Fall des Turms. In den letzten paar Jahren war ich sehr oft in verschiedenen europäischen Städten. Aber ich war noch nicht dort. Das heißt, ich war nicht heimisch in ihnen. Ich habe das Gefühl, ich bin immer noch im Suburb von etwas. Bin irgendwo dabei, aber nicht gerade dort, wo alles passiert. Ein bisschen am Rande, wie vielleicht auch in meinem Leben. Früher lebte ich ganz bestimmt in Lettland. Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich lebe. Irgendwie im Suburb von Babel.

Das Gespräch, erschienen in der Freitag am 13.10.2000

 

 

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