Amanda Gorman rezitiert „The Hill We Climb“.
Sie sind rar, Momente solcher Strahlkraft, da eine Woge aus Schmerz und Leid der Hoffnung weicht. Gar der Freude.
Da eine tiefe Verstörung, die uns in der Seele trifft und uns den Glauben raubt – schwer zu beschreiben, schwerer noch zu ertragen –, einen so starken, klaren Ausdruck findet.
Da uns die Kadenzen einer Klugheit bewegen, die im Blut pochen, im Takt unserer Herzen schlagen.
Da ein Inbild sanfter Anmut bei uns Maß nimmt, ausspricht, wo wir waren und wohin es gehen muss, uns mit Worten den Weg weist.
Auf sie haben wir gewartet, dieses „kleine, dünne Schwarze Mädchen, Nachfahrin von Sklavinnen“, dank ihrer besinnen wir uns auf uns selbst, unsere Humanität, unsere Herzen. Alle, die dabei waren, wurden erfüllt mit neuer Zuversicht und dem Staunen, uns von der besten Seite und als zu noch Besserem fähig zu sehen – geprägt vom Eindruck und Elan einer Zweiundzwanzigjährigen, der jüngsten Inaugurationsdichterin in der Geschichte unseres Landes.
Die Worte, die uns umfingen, waren eine Wohltat, waren Balsam für unsere Seelen. „Ein Land, das angeschlagen ist, aber ganz“ stand wieder auf.
Und schließlich, ein Wunder: Durch den „nicht enden wollenden Schatten“ brach die Sonne.
Das ist die Macht der Poesie. Es ist die Macht, die wir alle gemeinsam bei der Amtseinführung unseres Präsidenten Joseph R. Biden am 20. Januar 2021 spürten.
An dem Tag, da Amanda Gorman in ihrer strahlenden Präsenz ans Mikrofon trat, in dieser Stunde der Wahrheit ein Zeichen setzte und uns „Den Hügel hinauf“ schenkte.
Oprah Winfrey, Vorwort
Insa Wilke im Gespräch mit den Übersetzerinnen Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling am 4.6.2021 im Literarischen Colloquium Berlin.
das Amanda Gorman am 20. Januar 2021 bei der Inauguration des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden, vortrug, schenkte eine junge Lyrikerin den Menschen auf der ganzen Welt eine einzigartige Botschaft der Hoffnung und Zuversicht. Am 20. Januar 2021 wurde die erst zweiundzwanzigjährige Amanda Gorman zur sechsten und jüngsten Dichterin, die bei der Vereidigung eines US-amerikanischen Präsidenten ein Gedicht vortrug. The Hill We Climb – Den Hügel hinauf ist jetzt in der autorisierten zweisprachigen Fassung als kommentierte Sonderausgabe erhältlich.
Hoffmann und Campe Verlag, Ankündigung
– Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb gehört in die Tradition der afroamerikanischen „oral poetry“. In der gedruckten Variante geht das Wesentliche fast verloren. –
Die Veröffentlichung der zweisprachigen Ausgabe von Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb, das sie für die Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris geschrieben und dort vorgetragen hatte, wäre eine gute Gelegenheit, die Dichterin gegen ihr Buch zu verteidigen. Hat sie natürlich nicht nötig. Amanda Gorman war schon wer, bevor sie vor dem Kapitol ihren historischen Auftritt hatte. Und der machte sie zu einer nationalen Ikone.
Sie ist jetzt mit den Obamas befreundet, Oprah Winfrey schrieb ihr das Vorwort zur Veröffentlichung, sie durfte rockstarmäßig in der Pause des Superbowl rezitieren, hat einen Model- und einen wohldotierten Buchvertrag, könnte alleine von ihren Auftritten gut leben. Vor allem aber hat sie nun eine Stimme, der man zuhört. Was ihr vermutlich wichtiger ist als der ganze Glanz und Glamour und die stattlichen Honorare.
Vor zweieinhalb Jahren hat sie das mal vor einer Runde New Yorker Highschool-Schüler erklärt. Lyrik, so führte sie aus, sei keine tote Kunstform alter weißer Männer, wie sie im Lehrplan stehe. Wobei diese Formel damals nicht so verächtlich anklägerisch klang wie heute im Mahlstrom der Ideologiedebatten. Es ging ihr vor allem darum, den Teenagern Dichtung näherzubringen. Lyrik sei Politik, fuhr sie fort. Und dann wurde sie doch kurz sehr verächtlich und anklägerisch, als sie davon erzählte, wie die Literaturredakteure ihr bei Aufträgen oft einbläuten, ja nichts Politisches zu schreiben in ihren Gedichten.
Sie habe da ein Mantra, das sie sich auch vor jedem Auftritt vorsage, weil sie eine Heidenangst vor öffentlichem Reden habe:
Ich bin die Tochter von schwarzen Schriftstellern, die von Freiheitskämpfern abstammen, die ihre Ketten zerbrochen und die Welt verändert haben. Sie rufen mich.
Afroamerikanische Identitätspolitik in vier Versen, um den Schülern die Kraft der politischen Lyrik ex negativo zu verdeutlichen:
Wenn ich mich entschließe, aus Angst nicht zu sprechen, dann gibt es niemanden, für den mein Schweigen steht.
Gorman hatte damals schon ihre Berufung zur ersten Jugendnationaldichterin hinter sich. Sie berief sich dann auf eine ganze Reihe Vorbilder, darunter Maya Angelou, Ntozake Shange, Lucille Clifton, Audre Lorde, allesamt Dichterinnen, die zentrale Stimmen der amerikanischen Freiheitskämpfe und Bürgerrechtsbewegung waren. Und sie führte vor, warum auch Martin Luther Kings Reden eine Form der Lyrik waren:
Wir werden aus diesem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung schlagen können.
Sie stellte sich also schon früh und bewusst in eine afroamerikanische Tradition. Die Historie der „oral poetry“ umspannt einen ähnlich großen Bogen wie die europäische Dichtung, sie reicht von den Griots der westafrikanischen Königreiche bis zum Hip-Hop der Gegenwart. Weswegen es nun nicht besonders sinnvoll ist, ihr Gedicht oder gar die deutsche Übersetzung dem literaturkritischen Brennglas auszusetzen. Mit Richard Wagner kommt man dem schon näher, mit dem Konzept des Gesamtkunstwerkes, das in diesem Fall Text, Stimme und Person umfasst.
Sicher liest sich The Hill We Climb gedruckt vor allem auf Deutsch wie Binsen und Banalitäten. Schon der Einstieg:
Ein neuer Tag, und wir fragen uns, wo wir Licht finden sollen im nicht enden wollenden Schatten.
Aber wenn man Martin Luther Kings „I Have A Dream“ auf Papier liest, ist das auch ganz schöner Kitsch. Ohne den historischen Moment. Ohne das Aufwallen seiner Sprache. John Coltrane vertonte dann eben auch nicht die Texte von King, sondern seine Sprachmelodie. Weil das Lyrik ist, die im Moment und in der gesprochenen Sprache lebt und sich aus einer Kraft speist, die ihren Ursprung in den Pech-und-Schwefel-Predigten der afroamerikanischen Kirchen und „call and response“-Ritualen des Blues hat.
Es ist eine lange Tradition, die einen überwältigen kann, wenn man mit dem deutschen Lehrplankanon, mit den freud- und kraftlosen Gottesdiensten der Lutheraner aufgewachsen ist und ihr auf einer Amerikareise begegnet. Wenn man das Glück hatte, Ntozake Shange, Gil Scott-Heron, The Last Poets, Elizabeth Alexander oder Amiri Baraka zu hören, begriff man das schon ein wenig besser. Es hatte schon einen Grund, warum Maya Angelou für ihr Gedicht zur Amtseinführung von Bill Clinton 1993 keinen Literaturpreis, sondern einen Grammy bekam, den höchstangesehenen Schallplattenpreis für gesprochenes Wort.
Was nicht heißt, dass all diese Dichterinnen und Dichter die Literatur nicht im Griff hatten und haben. Zu den rund fünfzig Auszeichnungen, die Gormans Vorbild Maya Angelou bekam, zählten eben nicht nur die Presidential Medal of Freedom und die Lincoln Medal für die politische Kraft ihrer Lyrik, sondern auch der Pulitzer und der Norman Mailer Prize und ein Tony für die Kunst ihres Schreibens.
The Hill We Climb – Den Hügel hinauf ist nicht mehr als ein Dokument eines solchen historischen Moments, in dem Sprache gesprochen wurde, und zwar auf eine Weise, die große Teile der amerikanischen Nation und auch so einige im Rest der Welt berührte. Mehr kann das Buch nicht sein. Auf Papier lebt ihre Lyrik auch im Original nicht so recht, weswegen die Übersetzung zwangsläufig scheitern muss. Es ist die Exegese am Schluss des Bändchen, die es doch noch interessant macht. Minutiös interpretieren die drei Übersetzerinnen fast jedes Zeile, jeden Begriff.
Alleine der Hügel im Titel des Gedichts gibt Bezüge auf die Architektur der Macht am Fuße des Kapitols, auf die religiöse Rechtfertigung des puritanischen Expansionsdrangs in John Winthrops Predigt von 1630 und auf Maya Angelous Gedicht „Caged Bird“ her. Da bekommt das Bändchen seine Bedeutung, die es nur haben kann, wenn man gesehen hat, wie Amanda Gorman am Fuße des Kapitols stand und nach vier Jahren Chaos, Hass und Rassismus Worte für den Neuanfang fand. Ob sie einen Platz im Literaturkanon bekommt, wird sich noch zeigen. Ihren Platz in der Geschichte hat sie schon. Und eine Stimme, mit dem sie ihn zementieren wird. Nach ihren Regeln.
Andrian Kreye, Süddeutsche Zeitung, 31.3.2021
– Walt Whitman, Oprah Winfrey und Prada stehen fest an Amanda Gormans Seite: Heute erscheint ihr erstes Buch auf Deutsch. –
Kann ein Gedicht die Welt verändern? Vermutlich nicht. Aber es kann ein Leben verändern. Vierzig Millionen Amerikaner haben Amanda Gormans Auftritt bei der Feier zur Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar gesehen. Sie selbst blickte in ungezählte Kameras und ein Meer von 191.500 amerikanischen Flaggen, die auf dem Capitol Hill das amerikanische Volk repräsentieren sollten. Als sie drei Wochen später in der Pause des Super Bowl ein weiteres Gedicht vortrug, saßen 800 Millionen Menschen vor den Fernsehern.
All dies geschah nur sechs Jahre nachdem ihr erster und bislang einziger Gedichtband angekündigt wurde: The One For Whom Food Is Not Enough wurde häufig erwähnt, aber allem Anschein nach nie rezensiert. Über den Inhalt ist im Grunde nichts bekannt. Dennoch gilt Amanda Gormans lyrisches Werk als Grundlage ihres märchenhaften Aufstiegs zum Medienstar. In ihren beiden soeben erschienenen Biographien wird auf „ihre Werke“ verwiesen, sie selbst spricht auf ihrer Homepage von „meinen Worten“. 2017 trat Amanda Gorman in der Library of Congress auf. Keine Bibliothek der Welt verfügt über mehr Bücher als diese Institution. Amanda Gormans Debütband ist nicht darunter.
Heute erscheint das erste Buch Amanda Gormans in deutscher Sprache. Als es unmittelbar nach Bidens Amtseinführung angekündigt wurde, durfte man spekulieren, was es enthalten würde. Bei einem Umfang von etwa sechzig Seiten durfte man auf etwa zwei Dutzend Gedichte hoffen. Tatsächlich enthält Amanda Gormans erstes Buch auf Deutsch nur ein einziges, seit der Amtseinführung weltbekanntes Gedicht. „The Hill We Climb“ wird zweisprachig abgedruckt, ergänzt um einige Fußnoten eines dreiköpfigen Übersetzerinnenteams sowie eine Einführung von Oprah Winfrey, die exakt zwölf salbungsvolle Sätze umfasst. Macht 64 Seiten zum Preis von zehn Euro. Die Startauflage von Den Hügel hinauf beträgt 50.000 Exemplare, die dritte Auflage wird gerade gedruckt. Kaffeetassen und T-Shirts mit Gormans Konterfei waren schon vorher erhältlich. Die Marketingmaschine war angeworfen, und es sieht zurzeit nicht so aus, als sollte sie jemals wieder zum Stillstand kommen.
Amerika, schrieb der Politologe Sacvan Bercovitch, sei wohl die einzige Nation, deren Identität vor allem auf ihrer Rhetorik beruht. Das Land und seine Bewohner haben eine große Tradition darin, den Geschichten, die sie sich über sich selbst erzählen, Glauben zu schenken. Krisen der amerikanischen Gesellschaft gehen häufig mit einer Krise der amerikanischen Rhetorik einher. Bercovitch hat zu einem Phänomen geforscht, das der Soziologe Robert N. Bellah als Amerikas „Civil Religion“ bezeichnet hat. Es geht dabei um jene Elemente der säkularen amerikanischen Gesellschaft, die aus einem religiösen Bereich stammen oder eine religiöse Funktion erfüllen. Anders gesagt: Es geht um jene Erzählungen, Traditionen, Ideale und im kollektiven Bewusstsein verankerten rhetorischen Figuren, die Identität stiften, Akzeptanz schaffen, eine Gemeinschaft konstituieren und stabilisieren. Amerika hat kein religiöses Oberhaupt. Aber es hat einen Präsidenten. Die Rhetorik der Zivilreligion zählt zu den Disziplinen, in denen er sich beweisen muss.
Amanda Gorman dürfte mit den Arbeiten von Bellah und Bercovitch vertraut sein – sie hat in Harvard Soziologie studiert. Als sie fünf Jahre alt war, begann sie sich „in schriftlicher Form auszudrücken“, zunächst wollte sie Songwriter werden, dann wandte sie sich dem Tanz zu. Wie Biden hat sie als Kind gestottert, und wie er hat sie eisern trainiert, um ihre Beeinträchtigung zu überwinden. Im Juni 2014 wurde sie in der Public Library der Stadt zur ersten „Los Angeles Youth Poet Laureate“ ernannt. Die Auszeichnung galt nicht nur ihren Gedichten, sondern wurde ausdrücklich auch für soziales Engagement und Aktivismus vergeben. Dass Lyrik sehr wohl etwas mit Politik zu tun haben kann, hat Amanda Gorman früh erfahren. Mit der Auszeichnung verbunden war ein Buchvertrag mit dem Verlag Penmanship Books, in dem ihr erster Lyrikband erscheinen sollte. Heute informiert der Verlag auf seiner Website darüber, dass keines seiner Bücher lieferbar sei. Als der Wettbewerb zum Youth Poet Laureate erstmals landesweit ausgetragen wurde, war Amanda Gorman unter den Finalisten, die ins Weiße Haus eingeladen wurden. Einige Monate später stand sie als erster National Youth Poet Laureate fest. Bei der Amtseinführung von Tracy K. Smith als Poet Laureate 2017 trug Amanda Gorman ein eigenes Gedicht vor: „In This Place (An American Lyric)“.
Auch dieses Gedicht beschwört in der Tradition eines Walt Whitman amerikanische Landschaften, nennt Städtenamen von Küste zu Küste und beschwört die Einheit des Landes:
our country
our America,
our American lyric to write
a poem by the people, the poor
Dann folgt eine Aufzählung, die von Protestanten, Muslimen und Juden über Schwarze, Braune, Blinde und Mutige bis zu Männern, Frauen, Nichtbinären und Trans-Personen reicht. Der Gestus ist einigend, umarmend und heroisch:
Tyrants fear the poet.
Amanda Gorman weiß, in welche Tradition sie sich stellt, wenn sie auf dem Hügel des Kapitols von einem Hügel spricht, den es zu erklimmen gelte. „Den Hügel hinauf“ ist Appell und Ankündigung. „Die Stadt auf dem Hügel“ ist seit der berühmten Predigt, die der Pilgervater John Winthrop 1630 hielt, wohl das wichtigste Element der amerikanischen Zivilreligion. Die Stadt auf dem Hügel ist das Symbol des idealen Gemeinwesens, weithin sichtbar, von Gott auserwählt und gesegnet, der Welt ein Vorbild. Eine dieser Beschreibungen der Stadt auf dem Hügel lautet wie folgt:
Eine hoch aufragende stolze Stadt, die auf Felsen stärker als Ozeane gebaut, von Winden umtost, von Gott gesegnet war und von Menschen aller Art bewohnt, die in Eintracht und Frieden lebten… und falls diese Stadt Mauern benötigte, hatten diese Mauern Tore, und diese Tore standen jedermann offen, der den Willen und die Kraft hatte, dorthin zu gelangen.
Die Beschwörung dieser Idealstadt wird eng verknüpft mit der geglückten „Wiederherstellung unserer Moral: Amerika wird in der Welt wieder respektiert und bekommt eine Führungsrolle zugewiesen.“ So weit Ronald Reagan in seiner Abschiedsrede als Präsident 1989. Nach ihm haben sich so unterschiedliche Politiker wie Barack Obama, Ted Cruz oder Mike Pompeo auf Winthrop bezogen. Als Mitt Romney 2016 Trump die Eignung zum Präsidenten absprach, sagte er voraus, mit Trump würde Amerika „aufhören, die Stadt auf dem Hügel zu sein“.
Zu den wichtigsten Aufgaben amerikanischer Präsidenten gehört es, den Glauben des Landes an sich selbst zu erhalten. Deshalb versprechen Präsidenten nie etwas Neues, sondern immer nur Erneuerung und die Rückkehr zu früherer Stärke und Moral. Amanda Gorman, die 2036 Präsidentin werden will, hat damit schon jetzt angefangen. Sie beruft sich auf Walt Whitman und Martin Luther King, Elizabeth Bishop und Maya Angelou, unterstützt wird sie von Michelle Obama und Jill Biden, Oprah Winfrey und Prada. Sie mischt Slam-Poetry und Predigt, Whitmans Pathos und die oft stark rhythmisierte Mündlichkeit schwarzer Kultur. Ihre Verse drängen mehr auf die Bühne als zwischen zwei Buchdeckel. Wenn ein amerikanischer Präsident Dichter wäre, würde er Verse schreiben wie Amanda Gorman. Und wenn eine amerikanische Dichterin Präsidentin wäre, täte sie dasselbe.
– Amanda Gormans Inaugurationsgedicht erscheint nun auf Deutsch. Den Hügel hinauf überzeugt in den meisten Punkten. –
Schon in der deutschen Fassung des Titels lässt sich die Arbeitsweise der drei Übersetzerinnen erkennen. Aus The Hill We Climb wird schlicht und schön: Den Hügel hinauf. Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay haben sich, um eine Relativkonstruktion zu vermeiden, für eine reduzierte Variante entschieden, in der sowohl das Verb als auch das lyrische Wir ausgespart ist, ohne dabei den Inhalt zu verfälschen.
Wenn man bedenkt, wie emotional die Debatte um die Frage geführt wurde, wer das Inaugurationsgedicht von Amanda Gorman übersetzen soll, gibt dieses Trio eine angemessen kühle Antwort, die weitgehend der Strategie folgt, nah an der ebenfalls abgedruckten amerikanischen Vorlage zu bleiben, ohne die sprachlichen Eigenheiten des Deutschen zu verkennen.
Eingeleitet wird das Buch mit einer Vorrede von Oprah Winfrey, die Gedicht und Dichterin auf ein seltsam erhöhtes Podest stellt, indem sie von „Kadenzen einer Klugheit“, einem „Inbild sanfter Anmut“, „Balsam für unsere Seelen“, einem „Wunder“ und der „Macht der Poesie“ spricht. Von Lyrik scheint die US-Talkmasterin nur wenig zu verstehen. Dass Amanda Gorman laut ihrer Bewunderin „in ihrer strahlenden Präsenz ans Mikrofon trat“, ist allerdings nicht zu bestreiten.
Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, in dem Band einen Videolink zur Veranstaltung aufzunehmen, denn nur über den Gedichttext lässt sich schon bald nicht mehr nachvollziehen, warum der Auftritt der 22-jährigen Lyrikerin die Amtseinführung von Joe Biden überstrahlte. Mit etwas Abstand und bei genauer Lektüre fällt die simple Machart der Funktionspoesie eben auf, die allzu offensichtliche „Recherche“ der Autorin. Das wird nicht zuletzt durch den umfangreichen Anhang deutlich, in dem Bilder und Bezüge aufgeschlüsselt werden.
Diese erste Übersetzung in Buchform ist gewiss für ein breites Publikum gedacht, und so erfahren wir in einem Anmerkungsapparat, dass mit dem Hill nicht nur das „Capitol als Sitz der Legislative und somit Zentrum der amerikanischen Demokratie“ gemeint ist, das wenige Tage zuvor von fanatischen Trump-Fans gestürmt wurde, sondern dass sich der Hügel auch auf die Bergmetaphorik in der Bibel bezieht, aber genauso auf Zeilen der afroamerikanischen Schriftstellerin Maya Angelou, die mit „On the Pulse of Morning“ den Gedichtpart zur ersten Amtseinführung Bill Clintons übernahm.
Der Anhang erklärt und entzaubert das Gedicht gleichermaßen: The Hill We Climb offenbart sich demnach auch in deutscher Sprache als eine naheliegende Mischung aus Anspielungen auf vergangene Anlasspoesie etwa von Robert Frost und Richard Blanco, aus Zitaten von Barack Obama und Martin Luther King, Sprechweisen aus dem gesellschaftlichen Diskurs der USA und Verweisen auf Musicals sowie die Verfassung der USA.
Ein eigenständiger oder eigenwilliger Stil ist in Gormans Gospelpredigt kaum zu erkennen. Auffällig ist ihre Vorliebe für Alliterationen, die von Strätling, Haruna-Oelker und Gümüşay auf mal kreative, mal altmodisch klingende Weise bestätigt werden. Aus „norms and notions“ werden „Anschauung und Auslegung“ – schön, auch weil das Metrum hier eigene Wege geht. Bei Gorman heißt es:
We seek harm to none, and harmony for all.
Die Übersetzung wirkt hier holprig:
Wir wollen ohne Hader in Harmonie leben.
An einer zentralen Stelle findet Gorman das starke Bild des „skinny Black girls“, „Nachfahrin von Sklavinnen, Kind einer / alleinerziehenden Mutter“, das „davon träumen kann, Präsidentin zu werden, und / nun hier, heute, für einen Präsidenten vorträgt“. Das an dieser Stelle im Deutschen ein generisches Femininum steht, ist sprachlich wie politisch eine kluge Wahl, weil diese Variante den Geist des Ausgangstexts trifft.
Eine andere, ebenso wichtige Passage ist leider weniger überzeugend ins Deutsche übertragen worden. Gorman erinnert an das Versprechen der Verfassung:
To compose a country committed
To all cultures, colors, characters
And conditions of man
Strätling, Haruna-Oelker und Gümüşay haben sich entschieden, die Hautfarbe nicht zu erwähnen, sondern den Text mit Schlagworten zu verkürzen, die einen eher diffusen Bedeutungshorizont aufweisen:
Ein Land für Menschen aller Art,
jeder Kultur und Lage, jeden Schlags
Die Übersetzerinnen erklären zwar ausführlich, warum sie das Wort „color“ im Gedicht nicht erwähnen wollen, doch das Tilgen des Problembegriffs wirkt trotzdem nicht souverän. Es scheint, als komme eine „rassismuskritische Sicht“ hier an ihre lyrischen Grenzen.
– Amanda Gormans Den Hügel hinauf liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor. –
Am 20. Januar 2021 wurde die literarische Welt mit einem Genre konfrontiert, das in Deutschland ausgestorben zu sein scheint: Nationale Lyrik. Amanda Gorman trug ein Gedicht vor, über und an die Nation. Ein Trost, eine Aufforderung und eine Hoffnung. Ort der Handlung war Washington, die Inauguration des neuen Präsidenten Joe Biden. Bei einem solchen Anlass, den Mund nicht zu voll zu nehmen, hieße das Thema verfehlen. Das ist Amanda Gorman nicht passiert.
Gegen die Rede von den gespaltenen USA setzte sie:
eine Nation, die nicht zerbrochen ist, nur unvollendet.
Ihr Wir-schaffen-das lautete:
Wir werden erneuern, einen, genesen, an allen Ecken und Enden unserer Nation.
Und die Zukunft, in die sie blickt, ist eine biblische Verheißung:
Ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen ohne Scheu.
Wir kennen diese Stelle beim Propheten Micha. Sie beginnt mit der Vision von den Schwertern, die zu Pflugscharen gemacht werden.
Die Friedensbewegung hat diesen Passus gerne zitiert und den Satz weggelassen, dass jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum angstfrei in Frieden werde sitzen können. Bei dieser Rede wurde der umgekehrte Schnitt vollzogen. Das Privateigentum wurde gepriesen und der neue Präsident nicht mit der Abschaffung oder auch nur der Idee einer Reduktion des größten Atomwaffenlagers der Welt behelligt.
Das Weinstock-und-Feigenbaum-Zitat, erklären die Übersetzerinnen und Herausgeberinnen der deutschen Ausgabe, habe George Washington gerne zitiert. Für Amanda Gorman wahrscheinlich ein Grund, es ihm nachzutun. Allerdings wäre doch genau das ein Grund, sehr kritisch mit derartigen Äußerungen umzugehen. Sie stehen nicht für das, was ist, nicht einmal für das, was man anstrebt. Sie sind die schön bemalten Paravents, die man aufstellt, um dahinter seine Verbrechen – zum Beispiel die Sklaverei – weiter betreiben zu können.
Dichtung hat gerne den Herrschenden ihr Lied gesungen. Nur ganz selten mal den Marsch geblasen. Amanda Gormans Rede gehört erklärtermaßen zur ersten Kategorie.
Es ist schön, dass sie jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Die Übersetzerinnen heißen Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüsay. Jede Einzelne von ihnen wäre mit der Aufgabe der Übersetzung dieses Textes deutlich unterfordert gewesen. Die drei Köchinnen aber haben sich zu viele Gedanken gemacht.
Zum Beispiel die bewegende Stelle, da Amanda Gorman von sich selbst spricht, dem dünnen Mädchen, der Nachfahrin von Sklavinnen, dem Kind einer alleinerziehenden Mutter, das davon träumen kann, Präsidentin zu werden „und nun hier, heute für einen Präsidenten vorträgt“. Gorman dagegen sagte:
… can dream of becoming president, only to find herself reciting for one.
Ich liebe die Ambivalenz dieses „only“.
Ein andermal wiederum machten sich die Übersetzerinnen zu wenig Gedanken. Wenn sie „This is the era of just redemption“ mit „Es ist die Zeit des gerechten Ausgleichs“ übersetzen, dann ist die religiöse, endzeitliche Dimension, um die es bei „redemption“ (Erlösung) geht, getilgt und eine gute – sagen wir mal – sozialdemokratische, ganz und gar diesseitige Lösung anvisiert. Das hat aber mit der Rede von Amanda Gorman nichts zu tun.
Ich kenne von Amanda Gorman nur diese Rede, dieses Gedicht, das eine Ansammlung amerikanischer Klischees ist. Schon der Titel bezieht sich natürlich auf die Angriffe aufs Kapitol, das aber bezieht sich selbst auf Jerusalem. Die Stadt auf dem Hügel ist das himmlische Jerusalem, das die Pilgerväter und die so lange verschwiegenen Mütter und ihre Nachfolger und Nachfolgerinnen fest entschlossen waren zu errichten. Gegen das alte Europa. Die Bürgerrechtsbewegung der USA, die schwarze vor allem, war geprägt von Predigern und ihren Träumen von der Erlösung.
In dieser Falle stecken die USA oder doch große Teile ihrer Bewohner. Sie wollen alle, dass das Land „God’s own country“ sei. Aber keiner will, dass es einem anderen als dem eigenen Gott gehören soll. Gott und die Nation, die US-Bürger als die Nachfolger des auserwählten Volkes – damit sollte gebrochen werden. In dieser Utopie steckt nichts Gutes. Sie heiligt die Nation, und sie nationalisiert Gott. Wie das funktioniert, lässt sich wunderbar nachlesen in der Rede von Amanda Gorman.
Aber die Rede wurde ja nicht von vierzig Millionen Amerikanern gelesen. Sie verfolgten an den Bildschirmen oder wo auch immer die Inauguration des neuen Präsidenten und wohnten so der Performance von Amanda Gorman bei. Die 1998 in Los Angeles geborene Aktivistin und Lyrikerin begleitete ihren Vortrag mit den Gesten, die an eine balinesische Tempeltänzerin erinnerten. Die langen Finger unterstrichen nicht nur, was sie sagte, sie schickten auch jenen Gedanken hinaus in die Welt und wehrten einen anderen ab. Die Sprache der Pilgerväter vorgetragen von einer, deren Vorfahren Sklavinnen und Sklaven waren, mit einer Gestik aus anderen weit entfernten Kulturen. 22 war sie. Wenn sie von Zukunft sprach, war es ihre. Das gab ihren Worten einen Beigeschmack von Wahrheit. Auf dem Papier ist davon nichts zu spüren.
– Amanda Gormans Worte geben Amerika wieder Hoffnung. Sie ist erst 22 Jahre alt. Doch mit ihrem Gedicht überstahlt Gorman die Amtseinführung von Joe Biden. Warum bewegen ihre Worte so viele Menschen? Eine Analyse. –
Über den historischen Moment hinaus wirkt es wie ein Wunder. Amanda Gorman tritt ans Mikrofon und spricht Verse, die die Welt bewegen. Der Echoraum, das spürt man sogleich, ist größer als das Riesenland, das sie in ihren Worten umarmt, aufrüttelt, beschwört – nach einer Ewigkeit von vier Jahren mit dem Lügner und Spalter im Weißen Haus. Überall auf der Welt reißt es die Fernsehzuschauer von den Sitzen. Die Augen bleiben nicht trocken. Diese sechs Minuten werden lange nachhallen.
Nur wenige Menschen konnten die Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris unmittelbar erleben. Terrorgefahr und die Pandemie verhinderten das Zusammenkommen von Hunderttausenden in der Hauptstadt, wie es sonst bei diesem Anlass stets Normalität war, ein Meer von US-Fähnchen stand stattdessen im kalten Wind. Doch mit Amanda Gorman und ihrem Poem The Hill We Climb entsteht plötzlich eine emotionale Verbindung nach draußen, über Zäune und Barrikaden hinweg, der Anblick der abgesperrten National Mall erscheint gar nicht mehr so gespenstisch. A star is born.
Noch bevor Amanda Gorman, 22-jährige Dichterin und Harvard-Soziologin aus Los Angeles, mit einem Mal im Mittelpunkt steht, greift sich Lady Gaga die Nationalhymne. So hat man „The Star Spangled Banner“ auch noch nicht gehört; so cool und doch mit Emphase. Jennifer Lopez singt „This Land Is Your Land“ und „America The Beautiful“ und auf Spanisch – auch das kommt überraschend – erinnert sie an die USA als „eine Nation unter Gott, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle“.
Das alles ist nicht wenig, es hat Stil und Eleganz und eine unverkrampfte Dramaturgie. Mit Amanda Gorman aber bekommt die Geschichte des 20. Januar 2021 noch einmal eine neue, unerwartete Wendung. Die Afroamerikanerin ist die Jüngste in der langen Reihe der poet laureates bei der Inauguration eines neuen Präsidenten. Sie überstrahlt den Tag. Sie ist schlicht brillant in ihrem gelben Prada-Mantel, mit dem leuchtend roten Haarreif, den runden goldenen Ohrringen und dem Ring mit dem Vogel im Käfig.
Den feinen Schmuck hat ihr Oprah Winfrey geschenkt; eine Reminiszenz an Maya Angelou. Die 2014 verstorbene afroamerikanische Dichterin hatte 1993 bei der Amtseinführung von Bill Clinton ihr Gedicht „On the Pulse Of Morning“ am Kapitol rezitiert und eine lange unterbrochene Tradition wieder aufgenommen. Davor war 1961 Robert Frost die Ehre zuteil geworden, bei John F. Kennedys Schwur als Dichter auf der Bühne zu stehen. Barack Obama entschied sich 2009 für Elizabeth Alexander; ihr Gedicht hieß „Praise Song for the Day“.
Amanda Gormans „The Hill We Climb“ bleibt nicht im Symbolischen, Wolkigen, es greift ohne Scheu ins Gesellschaftliche, Politische, jetzt. Die Zeiten haben sich geändert, wenn „Patriotismus“ in republikanischen Kreisen und von der rechtsextremen Szene usurpiert wird. Die Zeiten ändern sich, wenn eine so junge und unbekannte Afroamerikanerin das Wort ergreift, mit einer auratischen Wirkmacht, dass Hillary Clinton gesagt haben soll, sie möge doch 2036 fürs Präsidentinnenamt kandidieren.
So spricht sie von einer Nation, die nicht zerstört, sondern vielmehr unvollendet ist (Somehow we’ve weathered and witnessed a nation that isn’t broken, but simply unfinished). Sie sieht sich als Nachkomme von Sklaven, als Kind einer allein erziehenden Mutter. (We, the successors of a country and a time where a skinny black girl descended from slaves and raised by a single mother can dream of becoming president only to find herself reciting for one). Und ja, sie könne davon träumen, eines Tages selbst den Präsidenteneid abzulegen.
Die Demokratie sieht sie in Gefahr, aber auch als stark genug, die Angriffe abzuwehren (But while democracy can be periodically delayed, it can never be permanently defeated. In this truth, in this faith we trust for while we have our eyes on the future, history has its eyes on us.) Während wir in die Zukunft schauen, schaut die Geschichte auf uns.
Für deutsche Ohren mag das allzu pathetisch klingen. Aber hier will ein ganz anders dimensioniertes und konditioniertes Land zu sich kommen, hier artikuliert sich mit unwiderstehlicher Jugend und Noblesse eine Multi-Kultur. Und Gormans immer wieder auch gereimte Worte haben eine zupackende, pragmatische Art.
Allein ihre Haltung gibt Zuversicht. Diese Frau kann und wird einiges erreichen mit ihre Empathie und ihrem Intellekt. Jill Biden, die neue First Lady, hat Amanda Gorman entdeckt und eingeladen. Es war Gormans erster großer öffentlicher Auftritt, und man muss gesehen haben, wie sie mit ihren Händen spricht, entschlossen den Takt gibt, die Verse gestisch unterstreicht, sich durch die hochschlagenden Wogen navigiert.
Sie habe ihren Vortrag endlos geprobt, sagt sie der New York Times, und fügt hinzu, was für ein „Terror“ es für jemand wie sie mit einer Sprachbehinderung sei, vor Millionen und Millionen Menschen zu reden. Das macht es noch bewundernswerter. Abraham Lincoln und Martin Luther King studierte sie zur Inspiration. „I have a Dream“: Pastor King hielt seine berühmte Rede im August 1963 vor dem Lincoln Memorial – wo Joe Biden und Kamala Harris der 400.000 Covid-Toten in den USA gedachten.
Es kommt vieles zusammen in dieser alten Zeremonie. Amanda Gormans Langverse schlagen einen Bogen von dem Hymniker Walt Whitman zum Rap-Rhythmus, so wie die Antrittsrede des Katholiken Joe Biden, um Einheit und Einigung fast flehend, an den Tonfall von Papst Franziskus erinnert. Biden ist 78, Franziskus 84 Jahre alt, und die Aufgabe, eine Nation mit sich selbst zu versöhnen, ist ebenso gigantisch wie die Reformierung der katholischen Kirche. Vielleicht können die Alten, als Übergangskandidaten in die höchsten Ämter gewählt, gerade deshalb mehr erreichen als erhofft.
Aus dem Mund der jungen Frau, die mit unglaublicher Noblesse aufzutreten weiß, spricht ein waches Bewusstsein für die Vergangenheit – die nicht vergeht, wenn Rassisten wieder offen demonstrieren und attackieren, angefeuert von einem moralischen Bankrottier, der persönlichen Profit und Machterhalt über alles stellt. Die Folgen dieser rücksichtslosen und kriminellen Politik sind ja nicht verschwunden mit dem gelungenen Einstand des neuen Präsidenten.
Für Amanda Gorman ist es die Dichtung, die Menschen hilft, ihre Lage zu reflektieren. Die junge Dichterin wirkt reif und auch noch ungestüm. Ihr Inaugurationsgedicht soll in einer Buchedition erscheinen, und für den Herbst sind eine Lyriksammlung von ihr angekündigt und ein Kinderbuch.
The Hill We Climb. Darin liegt eine schöne Doppelbedeutung. Die Steigung zu nehmen ist anstrengend, aber es geht dabei aufwärts.
– Amanda Gormans Worte sind Balsam für die amerikanische Seele. Das Inaugurationsgedicht The Hill We Climb erscheint auf deutsch – mit Hilfe von drei Übersetzerinnen. Sie haben Mühe mit dem hohen Ton der jungen Poetin. –
Der große Jubel über das „Inbild sanfter Anmut“ (Oprah Winfrey) ist mittlerweile verhallt, die Bühne ist leer. Für einen kurzen historischen Augenblick lang hatte die junge schwarze Dichterin Amanda Gorman die Weltöffentlichkeit mit einem Poem elektrisiert, das sie am 20. Januar zur Amtseinführung Joe Bidens vor dem Kapitol in Washington zelebrierte.
Was Gorman da vortrug, war ein imponierendes Beispiel einer liturgisch inszenierten Spoken Word-Poetry – ein Gedicht mit der Vision von gesellschaftlicher Gleichheit, Gerechtigkeit und Diversität in einem demokratisch geläuterten Amerika. The Hill We Climb leistete sehr viel: Großes Poesie-Kino, eine zivilreligiöse Utopie und die faszinierende Performance einer schwarzen Poetin im gelben Prada-Mantel.
Aber nur zwei Monate später, da ihr Gedicht in deutscher Übersetzung bei Hoffmann und Campe vorliegt, wird sich die kollektive Ergriffenheit wohl nicht wieder herstellen lassen. Den 20. Januar 2021 werden künftige Literaturhistoriker wahrscheinlich nicht als das Gründungsdatum einer neuen politischen Lyrik markieren. Denn die Wiederbegegnung mit dem Gedicht Amanda Gormans ist eine zwiespältige Erfahrung.
Es wirkt sehr bescheiden auf den mit viel Weißraum ausgestatteten Buchseiten, ein Vergleich mit den groß angelegten Amerika-Poemen der amerikanischen Modernisten Williams Carlos Williams (Paterson), Langston Hughes (I, too, sing America) oder auch der afroamerikanischen Dichterin Margaret Walker (Prophets for a New Day) wäre unstatthaft.
Denn Amanda Gorman hat ein Inaugurationsgedicht geschrieben, ein politisches Gelegenheitsgedicht also, das seinen Zweck für den rituellen Anlass der Amtseinführung geradezu mustergültig erfüllte. „Die Worte, die uns umfingen“, schreibt nun die Talkshow-Diva Oprah Winfrey im Vorwort zur deutschen Ausgabe, „waren Balsam für unsere Seelen.“
Der Hinweis auf die therapeutische Wirkung des Poems ist aufschlussreich. Denn The Hill We Climb ist eher als religiöse Litanei zu lesen, die für ihre politische Verheißung die ganz bedeutungsschweren Wörter in der Art von Beschwörungsformeln aufbietet.
Wenn man das rhetorische Ereignis jedoch als Gedicht würdigen will, das neben anderen modernen Gedichten bestehen soll, beginnt das Unbehagen. Als öffentliches Gedicht mag es in seiner performativen Darbietung überwältigen.
In seiner textuellen Gestalt, wie es nun in der „autorisierten Übersetzung“ von Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay in einer „Sonderausgabe“ vorliegt, wirkt es eher überfrachtet mit flammenden Appellen, die man einem weniger berühmten politischen Gedicht nicht durchgehen ließe.
Es beginnt schon bei der Übersetzung des Titels: Den Hügel hinauf ist dem pathetischen Grundton des Textes näher als die ungelenk wirkende wörtliche Übertragung „Der Hügel, den wir erklimmen“. Letztlich lässt The Hill We Climb den Übersetzerinnen wenig Spielraum für eine Verstärkung der sprachmusikalischen Potentiale des Textes. Denn die Imperative des „amerikanischen Traums“ und die Vision einer neuen „Verbundenheit“ der Nation, werden von Gorman in Verse gefasst, die in jeder Zeile nach Überhöhung drängen und diesen Vorsatz der „Erhöhung“ selbst annoncieren.
Lasst uns ein Land hinterlassen, das besser ist
als das uns überlassene.
Mit bronzen gestählter Brust,
mit ganzer Seele
wollen wir diese verwundete Welt
zur wundersamen erhöhen.
Wer das Gedicht als Sprachkunstwerk ernst nehmen will, ist einerseits gerührt von der starken Emotionalität der großen Freiheitsvision, in der ein skinny black girl den Traum vom Präsidentenamt träumt, andererseits enttäuscht von der ästhetischen Taubheit mancher Verse, die so matt wirken wie eine beliebige Wahlkampfrede.
Wir haben Kräfte erlebt, die unsere Nation
lieber spalten als teilen wollen.
Unser Land zertrümmern, um den Lauf der
Demokratie zu bremsen.
Fast wären sie damit durchgekommen.
Aber die Demokratie mag sich zeitweise hemmen lassen,
doch nie für alle Zeit verhindern.
Selbst die sorgfältigste Übersetzung vermag die metaphorische Armut solcher Verse nicht zu kompensieren. Dass für ein Gedicht von 140 Zeilen gleich ein Übersetzerinnen-Trio engagiert wurde, ist jedenfalls nicht der ästhetischen Komplexität der Verse geschuldet, sondern verdankt sich eher der Entschlossenheit des Verlags, sich in der Debatte um die Legitimität von Übersetzungen keine Blöße zu geben.
Selbstverständlich sollte sein, dass Sprachkunstwerke auch kompetente Übersetzer:innen brauchen, deren Kompetenz aber nur an ihrer Erfahrung in der Anverwandlung von Texten bemessen werden sollte, nicht nach Kriterien der Herkunft oder persönlicher Erfahrungen. The Hill We Climb ist ein politisches Gebet, das auf die Direktheit des Appells und der kraftvollen Vision vertraut.
Die erfahrene Lyrikübersetzerin Uda Strätling, die schwarze Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker und die feministische Publizistin Kübra Gümüşay haben sich The Hill We Climb Zeile für Zeile in einem gemeinsamen close reading vorgenommen und ihrer Übersetzung einige hilfreiche Anmerkungen beigefügt. So will das Trio an „genderneutralen Bezeichnungen“ im Gedicht festhalten, im Vorspann kommt dennoch das Gendersternchen zum Einsatz.
Der Import des Gendersternchens ins Gedicht gehört im Übrigen auch bei jungen deutschen Lyrikerinnen längst zu den Üblichkeiten. Auch mit übersetzerischer Gewissenhaftigkeit fällt es schwer, das liturgisch instrumentierte Gelegenheitsgedicht Amanda Gormans in ein auch ästhetisch großes Sprachereignis zu verwandeln. Im September soll nun ein erstes größeres Gedichtbuch von Amanda Gorman auf deutsch erscheinen. Dann wird sich genauer erkennen lassen, ob der neue Shooting-Star der Lyrik die poetische Verheißung vom 21. Januar 2021 einlösen kann.
– The Hill We Climb, das Gedicht, das Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden vortrug, ist in deutscher Übersetzung erschienen. –
In einer sozialistischen Zeitung muss man The Hill We Climb – Den Hügel hinauf ernst nehmen und sich nicht über die Verfasserin Amanda Gorman als Harvard-Absolventin, „kleines, dünnes Schwarzes Mädchen“, wie sie schreibt, Tochter einer alleinerziehenden Mutter und Vogue-Cover-Model freuen oder beklagen. Das Gedicht hat Gorman am 20. Januar zur Inauguration Joe Bidens ins Präsidentenamt in Washington vorgetragen.
Wer die heißeste Übersetzungsdebatte des Jahrtausends rekonstruieren will, suche im Internet nach „Amanda“, „Gorman“, „Translation“ und begebe sich bei ganz großem Interesse hinter internationale Paywalls. Der identitätspolitische Diskurs hüllte sich wie ein Schutzmantel um ein Gedicht, dessen Inhalt gar nicht mehr zur Debatte stand.
Wer sich darüber aufregt, dass der Verlag Hoffmann und Campe für 10 Euro 60 Seiten mit viel Weiß und kurzen Zeilen feilbietet, kann The Hill We Climb im Internet suchen und ein beliebiges Übersetzungsprogramm als Vokabelhilfe für einen ziemlich einfachen Text nutzen. Dass die (streng) autorisierte deutsche Fassung Den Hügel hinauf drei Übersetzerinnen beschäftigte, von denen nur eine nachweislich vorher mit Lyrik zu tun hatte, ist ein Aufregerchen für den deutschen Literaturbetrieb, also nebensächlich.
Amanda Gormans Gedicht machte in Washington die jüngere Vergangenheit der neuen Staatsspitze vergessen, die vor allem von einer Liebe zum Strafen geprägt war: Bidens „Crime Control Act“ etwa, den er 1994 als Vorsitzender des Justizausschusses des Senats maßgeblich mitformulierte und der die Todesstrafe ausweitete, die höhere Bildung für Inhaftierte abschaffte und „Boot Camps“ für jugendliche Delinquenten einführte. Kamala Harris brachte als kalifornische Justizsenatorin Grasdealer en masse in den Knast, was deren Familien durchaus in den Ruin treiben konnte.
Folgt man dem, was da steht, adressiert Gormans Gedicht an erster Stelle ebenjenen „Mr. President“, Joe Biden plus Gattin Dr. Biden, dann besagte „Madam Vice President“, Kamala Harris inklusive Ehemann, und erst an dritter Stelle die „Bürger*innen Amerikas und der Welt“. Diese zeremoniell zertifizierte Reihenfolge folgt einem politischen Programm, denn The Hill We Climb offenbart sich schnell als von oben verordnete Träumerei über den Zustand der USA. Mit rhetorischen Mittelchen aus dem Lehrwerk ergriff Gorman ihr Laien- wie Profi-Publikum anscheinend so tief drinnen, dass man sich ganz wunderbar über die Wirklichkeit erhoben fühlte und den katastrophalen Zustand im Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten und arg eingeschränkten Lebenswirklichkeiten mal eben nicht mehr wahrnahm.
Im Gedicht finden sich für kulturell Beflissene genug Anspielungen auf staatlich anerkannte Vorbilder, Gormans Vorgängerschar in der amerikanischen Inauguraldichtung und die Bibel, sodass das, was das Gedicht tut – verklären –, meist unbemerkt blieb. Und da Politik für die Mittelschicht vom Himmel fällt, kann Talkshow-Milliardärin Oprah Winfrey in ihrem Vorwort auch schreiben, The Hill We Climb sei „Balsam für die Seele“ – so mag, wer heute mit leerem Blick und Grinsen herrscht, die Kunst.
Wir haben tief in den Abgrund geblickt.
Wir haben gesehen, dass Ruhe nicht immer gleich Friede ist,
unsere Anschauung und Auslegung dessen,
was scheinbar recht ist, nicht immer gerecht.
Abgesehen davon, dass man sich bei diesen Binsenweisheiten weniger berauscht denn für dumm verkauft fühlen darf, ist im Original am Anfang der Zeilengruppe von „We’ve braved the belly of the beast“ die Rede. Das kommt vom biblischen Jona, der bekanntlich in den Bauch eines Wals musste, weil er entgegen Gottes Willen nicht nach Ninive ging, um den schlechten Menschen dort mit Strafen zu drohen. In den Anmerkungen der Übersetzerinnen wird erklärt, dass dieser „belly of the beast“ alltagssprachlich die fürchterlichen Zustände in den US-Gefängnissen bezeichnet, was angesichts der genannten Strafrechtsvorstellungen von Biden und Harris schlicht zynisch ist.
Dass den deutschen Übersetzerinnen Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling für den billigen Gleichklang am Ende von „And the norms and notions of what ,just is‘ / isn’t always justice“ keine schmissigere Übersetzung eingefallen ist, bleibt ihnen unbenommen. Die Zeilen „But while democracy can be periodically delayed / It never can be permanently defeated“ mit „Aber die Demokratie mag sich zeitweise hemmen lassen / doch nie für alle Zeit verhindern“ ins Deutsche zu übersetzen, klingt aber nicht nur holprig, sondern gibt Anlass nachzudenken über politische Begriffe, die schwerlich dichterisch zu verstehen sind: Ist es nicht sehr suggestiv, zu behaupten, die Wahl Trumps zum Präsidenten sei ein „delay“, also Verzögerung, von Demokratie, außer man versteht unter democracy einzig und allein die Democratic Party?
Dass die gesamte Bevölkerung eine jede Wahl ausbaden muss, ist per se demokratisch. Wie lässt sich Demokratie „hemmen“? Das klingt kompliziert, denn gehemmt wird etwas, bevor es bzw. damit es nicht zum Ausbruch kommt – eine üble Vorstellung, wenn’s um die, wenn auch gewählte, Herrschaft geht. Dass „defeated“ mit „verhindert“ übersetzt wird, nimmt dem Gedicht die Wahrheit, dass ein Gesellschaftssystem schlicht zugrunde gehen kann, und schwächt die wohl eher unbeabsichtigte Radikalität ab.
Aber Gormans Gedicht ist in die Zukunft gerichtet, ein kräftiger, eloquenter Wunsch nach vorne und Vorbote der großen Post-Trump-Verheißung. Zumindest für fast alle, die darüber schreiben. Nur kann man dieses poetische Projektil bei genauerer Lektüre auch auf nicht auf die leichte Schulter nehmen:
Wir schließen die Gräben,
weil wir begreifen:
Soll an erster Stelle die Zukunft stehen,
müssen wir erst
von unseren Differenzen absehen
Wer die Worte „Spaltung“ und „Hass“ für ganz grässlich hält, findet diese Zeilen vielleicht ganz lieb. Bleibt die Frage, von welchen Differenzen man absieht? Okay, Race und Gender: siehe Kabinett Biden. Und wie steht’s, naiv gefragt, mit der Klasse? Dem ständigen Einschnitt in Selbstbestimmung, dem sich keine Identität entziehen kann?
In einer solchen Zukunft wäre von der Unterdrückung, Ungleichheit, Ausbeutung, auf der die kapitalistische Produktionsweise fußt, nicht mehr die Rede, will man nicht zum miesepetrigen Verräter werden. Wer diesen Weg aber mitgeht auf den titelgebenden Hügel und in das „versprochene Licht“ gelangt, dichtet Gorman später im Gedicht, müsse sich nur „trauen“ auf eine neue Weise „amerikanisch“ zu sein: „denn amerikanisch sein ist mehr als / der uns überkommene Stolz – / es ist die Vergangenheit, die wir beerben / und wie wir gutmachen werden“. Im Original ist weniger moralisch von „gutmachen“, sondern technokratisch-mechanisch von „repair“ die Rede. Das Problem liegt darin, dass die Vergangenheit nur fürs eigene reinliche Bewusstsein gutgemacht werden kann. Stattdessen tritt auf den Plan „change, our children’s brithright“, also „Wandel unserer Kinder Anrecht“: Mit dem Argument „Change“, schöngeredet als Chance auf neue Herausforderungen, begründet man in der Start-Up-Kultur gerne Massenentlassungen.
Für alle, die im Laufe von Bidens und Harris’ bisherigem Leben, also ihren Karrieren, ergo Weg nach ganz oben, mittellos hinter Gitter kamen, ist ein Plätzchen im „versprochenen Licht“ ebenfalls passé. Auf gute Lebensführung lebenslänglich kommt es an. Das Gedicht schließt mit den Zeilen:
Denn Licht ist immer,
wenn wir es nur in uns zu finden wagen.
Wenn wir uns zutrauen, es weiterzutragen.
Alternativ könnte dort „Augen zu und durch“ oder „Maul halten, weiterarbeiten“ stehen.
– Die Übersetzung des Gedichts zu Joe Bidens Amtsantritt war Stoff für Debatten. Was lernen wir daraus? –
Wenn der Übersetzer-Feiertag nicht schon auf den 30. September festgelegt wäre, man hätte jetzt gut den 30. März dafür auswählen können. An diesem Dienstag erscheint im Verlag Hoffmann und Campe das Buch mit dem Gedicht, das Amanda Gorman zur Amtseinführung des US-Präsidenten vorgetragen hat: The Hill We Climb – Den Hügel hinauf. Es wird zweisprachig sein, englisch-deutsch. Selten, sehr wahrscheinlich sogar nie zuvor ist die Übertragung eines literarischen Textes noch vor Erscheinen so stark diskutiert worden. Durch die Debatte weht der raue Wind der Identitätspolitik. Doch für den Berufsstand der Übersetzer kann das nur Grund zur Freude sein.
Kurz zum Hintergrund: Es begann Ende Februar mit einer Geschichte aus unserem nordwestlichen Nachbarland. Der Amsterdamer Verlag Meulenhoff hatte mit der Übersetzung des Gorman-Gedichts ins Niederländische Marieke Lucas Rijneveld beauftragt, immerhin 2020 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Dies nannte die schwarze Journalistin und Aktivistin Janice Deul in einem Zeitungsartikel „onbegrijpelijk“ – unbegreiflich. Richtig gewesen wäre eine Künstlerin mit Nähe zur Spoken Word Poetry, jung, weiblich und schwarz. Rijneveld, jung, nicht-binär und weiß, gab den Auftrag zurück. Kurz danach kündigte der spanische Verlag seinem Übersetzer, sein Profil passe nicht, erklärte man ihm laut AFP.
Nach Deutschland geschwappt, wurde das Thema mal gründlich diskutiert, mal grob zugespitzt. Das Börsenblatt, Branchenmagazin der Verlage und Buchhändler, startete sogar eine Online-Umfrage:
Sollte ein Übersetzer oder eine Übersetzerin die gleiche Identität wie der Autor oder die Autorin haben?
Dreht man dies weiter, landet man bei den Lesern. Können sie es verstehen, wenn nur eine schwarze junge Frau die richtigen Worte findet für „a skinny Black girl“, wie das lyrische Ich sich nennt, „ein dünnes schwarzes Mädchen“? Während also Mr. Biden versprach, er wolle sein zerrissenes Land einen, fing man außerhalb der USA an, sich auszudifferenzieren. Dabei hat Dichtung doch einen universellen Anspruch.
Der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe stand derweilen wie ein Musterschüler da, denn er hatte ein Frauen-Trio beauftragt: Kübra Gümüsay, die übrigens einige Jahre in Oxford gelebt hat, beweist mit ihrem Buch Sprache und Sein ihre Sensibilität für das Thema. Die Arbeitsschwerpunkte der Journalistin Hadija Haruna-Oelker passen zu den Gedanken in Amanda Gormans Gedicht: Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung. Und sie ist schwarz. Uta Strätling schließlich ist Übersetzerin von Beruf, hat zum Beispiel Teju Cole und Emily Dickinson übertragen, Chinua Achebe und Gertrude Stein.
Im Team zu übersetzen, ist gar nicht so ungewöhnlich. Demnächst kommt auch das Buch Sister Outsider von Audre Lorde (1934–1992) heraus, einer schwarzen amerikanischen Dichterin und Feminismus-Aktivistin. Übersetzt haben es Eva Bonné und Marion Kraft. Sie sind, im Zusammenhang der Debatte ist das wichtig: eine weiße und eine schwarze Frau. Am Telefon sagt Eva Bonné, Übersetzerin zum Beispiel von Rachel Cusk und Michael Cunningham, dass der Vorschlag zur Teamarbeit vom Verlag kam.
Wir hätten das Buch sicher beide allein gut übersetzen können, und dann wären zwei verschiedene Sister Outsider herausgekommen. Doch keine wäre so gut wie das Buch, das jetzt bei Hanser erscheint.
Sie hätten sehr viel miteinander gesprochen.
Marion hat mir unheimlich viel voraus: Als Aktivistin, als Literaturdozentin, als Audre-Lorde-Übersetzerin brachte sie so einiges an Wissen und Kenntnissen mit, was man sich nicht einfach mal schnell aneignen kann. Sie war eine von diesen afrodeutschen Frauen, die Audre Lorde damals ermutigt hatte, sich zusammenzuschließen und zu engagieren.
Ihre Co-Übersetzerin Marion Kraft arbeitet nicht hauptberuflich als Übersetzerin, sondern als Autorin, Herausgeberin und Literaturwissenschaftlerin. Sie sieht es als ein strukturelles Problem des deutschen Literaturbetriebs an, bei Übersetzungen zu wenig divers zu sein, was sich im Detail bei Kulturtransfer und Sprachgebrauch auswirke. „Wenn diese Debatte dazu führt, dass BPoC-Stimmen nun vermehrt gehört werden, sei es als Übersetzerinnen und Übersetzer oder andere Expertinnen, hat sie wenigstens einen positiven Zweck erfüllt“, teilt sie per E-Mail mit.
Was „BPoC“ heißt, schlagen wir bei den Neuen deutschen Medienmachern nach: PoC ist „eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als weiß, deutsch und westlich wahrgenommen werden und sich auch selbst nicht so definieren“. Und weiter:
Inzwischen wird häufiger von BPoC (Black and People of Color) gesprochen, um Schwarze Menschen ausdrücklich einzuschließen.
Die Ausdifferenzierung der Begriffe ist umständlich, deutsche Worte könnten die Kommunikation erleichtern. Aber offenbar ist es derzeit nur so möglich, rassistische und beleidigende Wendungen zu vermeiden.
Der interessanteste Beitrag dieser Tage stammt von Frank Heibert. Er ist einer der vielseitigsten und erfahrensten Übersetzer ins Deutsche, zum Beispiel aus dem Englischen (Don DeLillo, Richard Ford) und dem Französischen (Raymond Queneau, Marie Darrieussecq). Im Online-Literaturmagazin tell-review.de veröffentlichte er einen Artikel unter dem Titel „Wer darf, wer soll, wer kann?“. Beginnend bei Diskriminierung und Privilegien klopft er alle wichtigen Fragen ab, führt über die Deutungsmacht bis hin zu verunglückt witzigen Reaktionen auf den Wunsch, eine schwarze Übersetzerin solle sich des Textes annehmen:
Nun müssen die Chinesen sich aber anstrengen, eine schwarze Chinesin mit Legasthenie und einer alleinerziehenden Mutter zu finden, um als Übersetzerin von Amanda Gormans Gedicht qualifiziert zu sein!
Er hat auch beobachtet, dass der Umgang mit Rijneveld als Rassismus bezeichnet wurde:
Ausschluss nur wegen der Hautfarbe!
Am Telefon sagt er gleich, dass Janice Deul, jene niederländische Aktivistin, selbst klargestellt habe, es sei ihr nicht darum gegangen, dass nur Schwarze Schwarze übersetzen dürfen, sondern um den Zugang einer übersehenen Gruppe zur literarischen Öffentlichkeit, um Chancengleichheit. Er freut sich über die Aufmerksamkeit für seinen Berufsstand:
Das Übersetzen befand sich doch für die meisten Menschen vorher im toten Winkel der Wahrnehmung.
Und so lenkt er zur eigenen Kunst und der seiner Kollegen: Ein gutes deutsches Sprachgefühl und für die andere Sprache allein reichten nicht aus, entscheidend sei der Transferprozess. Heibert beschreibt es, als würde der Übersetzer seine beiden Sprachen innerlich wie mit einem Stromkabel verbinden, und wenn dies klappe, „dann brizzelt es“. Er habe selbst einmal einen Roman bekommen, den er begeistert las und dennoch merkte:
Ich spüre nicht, wer genau da spricht. Ich hätte dafür keine überzeugende deutsche Stimme. Das Übersetzen ist eine psychologisch-empathische Angelegenheit, wir müssen diese Wörter und Sätze alle in uns finden. Das innere Sprachsystem ist ja nicht nur ein Computer im Kopf, der die Bedeutungen scannt. Man erspürt, was trifft genau die Schwingung, die im Original angezupft wurde, wie kann ich das im Deutschen auch machen? Ich habe dem Verlag zu dem Buch gratuliert und es dennoch abgelehnt. Es hat dann jemand anders richtig gut übersetzt.
Dazu passen Zeilen aus dem Gedicht, das Marieke Lucas Rijneveld drei Wochen nach ihrem Rückzug veröffentlichte:
du willst sagen, dass du vielleicht
nicht alles verstehst
dass du
sicher nie ganz den richtigen Nerv
triffst, aber dass du es sehr wohl
fühlst, ja, du fühlst es, mag der
Unterschied auch zollbreit sein.
Eine Entschuldigung, übersetzt von Ruth Löbner.
Nur wenige Stunden nach der Fernsehübertragung des Vortrags von Amanda Gorman im Januar kursierten im Internet bereits deutsche Fassungen des Gedichts. Nun erscheint die, die Bestand haben und die Leser bewegen soll. Wir können uns sicher sein: Jedes einzelne Wort wurde mit Bedacht gewählt.
Felix Philipp Ingold: Comeback für das „Fräuleinwunder“? – Von Amanda Gorman zurück zu Sibylla Schwarz!
Volltext, Heft 2, 2021
Juliane Bergmann: Amanda Gormans The Hill We Climb auf Deutsch
NDR, 30.3.2021
Catrin Lorch: Ausgrenzung allein garantiert noch keine schönen, starken Reime
Süddeutsche Zeitung, 3.3.2021
Paul Jandl: Auch so kann man Amanda Gorman zum Verstummen bringen: indem man sie ins Deutsche übersetzt
Neue Zürcher Zeitung, 31.3.2021
Sarah Hucal: Gedicht von Amanda Gorman erscheint auf Deutsch
Deutsche Welle, 30.3.3021
Daniel Graf: Der weite Weg den Hügel hinauf
republik, 30.3.2021
Florian Baranyi: Gormans „Den Hügel hinauf“ übersetzt
ORF, 29.3.2021
Jürgen Kanold: Nur politisch korrekt
Südwest Presse, 30.3.2021
Mathias Brodkorb: Am Original vorbeigeschrammt
cicero, 4.4.2021
Jörg Phil Friedrich: Wir haben uns bemüht
der Freitag, 7.4.2021
Wolfgang Tischer: Vom amerikanischen Wir zum deutschen Nominalstil
literaturcafe.de, 30.3.2021
Gregor Dotzauer: Eklat um Identitätspolitik
Der Tagesspiegel, 5.3.2021
Thomas Andre: Lyrik-Superstar Gorman erscheint bei Hoffmann und Campe
Hamburger Abendblatt, 1.4.2021
Ingrid Isermann: „Amazing: Amanda Gorman – The Hill We Climb“
Literatur+Kunst, Nr. 98, 05/2021
Stefan Kister: Im Zwielicht der Sprache
Stuttgarter Nachrichten, 29.3.2021
Felix Stephan: Die Kraft der Lyrik
Süddeutsche Zeitung, 24.1.2021
Klaus Brinkbäumer: Die Rückkehr der Sprachkunst
Der Tagesspiegel, 25.1.2021
Wer den Auftritt der Lyrikerin Amanda Gorman bei Joe Bidens Amtseinführung feiert, hat nicht genau hingehört
Neue Zürcher Zeitung, 4.2.2021
Gerrit Bartels: Amanda Gorman und der Boom der Lyrik
Der Tagesspiegel, 1.2.2021
Manasi Gopalakrishnan| Louisa Schaefer: Amanda Gorman: Heimlicher Star vorm Kapitol
Deutsche Welle, 21.1.2021
Marie-Luise Goldmann: Darum berühren die Worte einer jungen Dichterin die Welt
Die Welt, 21.1.2021
Denis Scheck kommentiert Den Hügel hinauf
The Hill We Climb von Amanda Gorman auf Deutsch steht zur Debatte
Amanda Gorman führt am 13.9. 2017 „An American Lyric“ in der Library of Congress auf.
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