FUGE
Versteht uns nicht falsch.
Wir pochen schon noch auf Vergangenes,
aber mehr noch auf Übersehenes –
Undankbarkeit, Unwissen,
als uns gehörte, was wir besaßen.
Noch eine Lücke nahm uns die Luft:
Das einfache Geschenk des Abschieds.
Mit auf Wiedersehen sagen wir einander –
Danke für das Teilen deines Lebens mit mir.
Nun meinen wir damit in Wahrheit:
Hoffentlich sagen wir jemals wieder Hallo.
Dies ist jenseits jeglichen Zweifels:
Jedes Keuchen schien eine Katastrophe.
Jede persönliche Nähe potenzielle Gefahr.
Wir verzeichneten jeden Nieser & Schnupfen,
Doch das Virus, vor dem wir wegrannten,
rannte nun durch uns selbst.
Wir verschliefen die Tage.
Wir weinten durch das Jahr,
verschlissen & verängstigt.
Vielleicht bedeutet es
zu atmen & in diesem Leib zu sterben.
Vergebt uns,
wir haben dies alles
schon einmal durchlebt.
Geschichte flimmerte in
& aus unseren Visionen,
ein Film, durch den unsere
Augen taumelten.
Wir fügten heute tausend falsche Schritte
unserem Walk-Tracker hinzu.
Denn jeder Schritt, den wir machten,
forderte mehr, als wir geben konnten.
In solch ewiger Natur
verbrachten wir Tage als wandelnde Tote,
in Furcht vor Krankheit & Katastrophe
kauerten wir mit zitternden Knochen
wie ein Lorbeer in der Dürre schnappten unsere Kehlen
verzweifelt nach Luft,
Füße stolperten über sich selbst
wie ausgehungertes Jungwild.
Wir warteten auf die Schrecken,
schufen Meeresungeheuer, bevor sie erwachten.
Konnten unsere Köpfe nicht ziehen
aus der dröhnenden Tiefe.
Angst als ein lebender Körper
liegt wie ein Schatten neben uns,
ist die letzte aufrechte Kreatur.
Die einzige, die uns genug liebt,
um zu bleiben.
Wir waren schon tausende
von Toten in diesem Jahr.
Jedes Mal stürzten wir uns Herz voran auf die Nachrichten,
aaaaaaaaaaaaaaaKopf voran, Angst voran,
unsere Körper fest & angespannt mit was nun?
Doch wer hat den Mut zu fragen, was wenn?
Welche Hoffnung sollen wir hegen
in uns wie ein Geheimnis,
aaaaaaaaaazweites Lächeln,
aaaaaaaaaaaaaaaprivat & pur.
Sorry, falls wir viel zu unfreundlich sind –
wir hatten COVID, suchen jetzt das Ende.
Händeschütteln & Umarmen sind Geschenke.
Wir sind noch zu schockiert, sie zu geben, zu empfangen.
& so suchen wir irgendetwas,
das sich anfühlt wie dies:
Das Schnappen unserer Lungen, das uns mit Fremden
verbindet,
so wie wir uns von denen, die uns am nächsten,
aus Instinkt entfernt haben,
blitzschnell wie ein Fischschwarm.
Unsere Achtsamkeit füreinander
aaaaaaaaaanicht gewuchert,
aaaaaaaaaaaaanur verändert.
Mit Hallo meinen wir:
Lasst uns nicht erneut auf Wiedersehen sagen.
Es gibt jemanden, für den wir sterben würden.
Fühlt die grimmige, sich nicht wandelnde Wahrheit,
das mutige & bereitwillige Opfer.
Das ist Liebe:
Sie schafft Fakten hinter dem Gesicht der Furcht.
Wir haben zu viel verloren, um zu verlieren.
Wir stützen uns wieder aufeinander,
wie Wasser in sich selbst hineinfließt.
Diese gläserne Stunde, angehalten,
berstend wie ein belasteter Stern,
gehört uns für immer.
An was mehr müssen wir glauben.
FUGUE
Don’t get us wrong.
We do pound for what has passed,
But more so all that we passed by –
Unthanking, unknowing,
When what we had was ours.
There was another gap that choked us:
The simple gift of farewell.
Goodbye, by which we say to another –
Thanks for offering your life into mine.
By Goodbye, we truly mean:
Let us be able to say hello again.
This is edgeless doubt:
Every cough seemed catastrophe,
Every proximate person a potential peril.
We mapped each sneeze & sniffle,
Certain the virus we had run away from
Was now running through us.
We slept the days down.
We wept the year away,
Frayed & atraid.
Perhaps that is what it means
To breathe & die in this flesh.
Forgive us,
For we have walked
This before.
History flickered in
& out of our vision,
A movie our eyelids
Staggered through.
We added a thousand false steps
To our walk tracker today
Because every step we’ve taken
Has required more than we had to give.
In such eternal nature,
We spent days as the walking dead,
Dreading disease & disaster,
We cowered, bone-shriveled
As a laurel in drought, our throats
Made of frantic workings,
Feet falling over themselves
Like famished fawns.
We awaited horrors,
Building up leviathans before they arose.
We could not pull our heads
From the raucous deep.
Anxiety is a living body,
Poised beside us like a shadow.
It is the last creature standing,
The only beast who loves us
Enough to stay.
We were already thousands
Of deaths into the year.
Every time we fell heart-first into the news,
aaaaaaaaaaaaaaaHead-first, dread-first,
Our bodies tight & tensed with what now?
Yet who has the courage to inquire what if?
What hope shall we shelter
Within us like a secret,
aaaaaaaaaaSecond smile,
aaaaaaaaaaaaaaaPrivate & pure.
Sorry if we’re way less friendly –
We had COVID tryna end things.
Even now handshakes & hugs are like gifts,
Something we are shocked to grant, be granted.
& so, we forage for anything
That feels like this
The click in our lung that ties us to strangers,
How when among those we care for most
We shift with instinct,
Like the flash of a school of fish.
Our regard for one another
aaaaaaaaaaNo tumored,
aaaaaaaaaaaaaJust transformed.
By Hello, we mean:
Let us not say goodbye again.
There is someone we would die for.
Feel that fierce, unshifting truth,
That braced & ready sacritice,
Thats what love does:
It makes a fact faced beyond fear.
We have lost too much to lose.
We lean against each other again,
The way water bleeds into itself
This glassed hour, paused,
Bursts like a loaded star,
Belonging always to us.
What more must we believe in.
folgt der erste Gedichtband der gefeierten Lyrikerin. Amanda Gorman hat am 20. Januar 2021 Geschichte geschrieben: mit ihrer Lyrik, ihrer Vision, ihrem Sinn für Gerechtigkeit und Hoffnung. The Hill We Climb wurde am Tag der Inauguration von Joe Biden zum berühmtesten Gedicht der Welt, und Amanda Gormans Worte inspirierten Millionen Menschen rund um den Globus. Nun legt die Autorin ihre erste Gedichtsammlung vor, in der sie sich erneut mit einer umwerfenden poetischen Kraft mit den Themen, die ihr am Herzen liegen, auseinandersetzt: Demokratie, Weltoffenheit, Antirassismus, Feminismus und Chancengleichheit. Ein Meisterwerk moderner Poesie – von der Stimme unserer Zeit!
Hoffmann und Campe Verlag, Ankündigung
– Amanda Gorman ist zum poetischen Liebling avanciert: Nun erscheint ein zweisprachiger Gedichtband. –
Als sie im kanariengelben Mantel und mit breitem roten Haarreif 2021 ihr Gedicht auf der Amtseinführungszeremonie für Präsident Joe Biden vortrug, richteten sich die Augen der Welt auf Amanda Gorman. 22 Jahre war sie da alt, und „The Hill We Climb“ katapultierte sie in den Superstar-Olymp. Heute ist Gorman Werbegesicht der Kosmetikmarke Estée Lauder, trat beim Superbowl auf und macht Lyrik zu Popkultur. Ihr erster Gedichtband, Call Us What We Carry, in den Vereinigten Staaten vor einem Jahr erschienen, ist nun ins Deutsche übersetzt worden – publiziert unter Beigabe der englischen Originaltexte. Auf den resultierenden vierhundert Seiten philosophiert Gorman lyrisch über Identität, Demokratie und Sprache, eingebettet in die großen Themen unserer Zeit: die Covid-Pandemie, Rassismus, den Klimawandel.
Schon der deutsche Titel Was wir mit uns tragen verrät, dass die Übersetzungen von Marion Kraft und Daniela Seel den englischen Originalen nicht immer gerecht werden. Was wir mit uns tragen meint das emotionale Erbe schwarzer Menschen in den USA, die von Sklaverei und Lynchmorden bis hin zu „Black Lives Matter“ ein kollektives Trauma namens Rassismus durchleben mussten und müssen. Der Imperativ „Call Us“ meint jedoch noch mehr. Es geht nicht darum, dass Rassismus existiert. Es geht darum, dass privilegierte Personen den Rassismus gegenüber marginalisierten Gruppen benennen, ihn als solchen anerkennen. Womit wir beim Problem wären, das sich durch den gesamten Gedichtband zieht: Amanda Gorman kommt aus der Spoken-Word-Tradition. Ihre Worte wirken am besten, wenn sie vorgetragen werden. Niedergeschrieben fehlt der performative Zauber des Spoken Word ein Stück weit.
Obendrein gilt es, einen Spagat zwischen der lyrischen Form und der inhaltlichen Übersetzung zu finden. Bewusst gewählte Stilmittel wie Alliterationen oder Assonanzen gehen manchmal in der Übersetzung verloren. Um ebenjene zu erhalten, werden an anderer Stelle Begriffe nur im weitesten Sinne übersetzt; nicht immer gelingt das. Ästhetik und Inhalt treten in Konkurrenz; entscheidet man sich für das eine, leidet das andere.
Der Ästhetik Rechnung tragend, bringt Amanda Gorman ihr Werk nicht nur rein stiltechnisch in äußere Form, sondern auch auf visueller Ebene. Die Gedichte werden zu Nachrichtenchats, zu Fragebögen und Dramenfragmenten. Die Sätze sind auf Zeichnungen der amerikanischen Flagge oder einer Gesichtsmaske abgebildet, in Form eines Auges oder Wals angeordnet. Bei der sogenannten „Erasure Poetry“ werden Wörter ausradiert, um die Bedeutungsmöglichkeiten des Gedichts zu erweitern, wie Gorman selbst sagt:
Wir streichen, um zu finden.
Allen voran das Meer ist ein wiederkehrendes Motiv. Metaphern von endlosen Tiefen, einsamen Leuchttürmen und Schiffbrüchen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Gedichtband. Wortspiele wechseln mit Anaphern und Epiphern. Ihre Liebe zu Sprache bringt Gorman gar auf die Metaebene. Sie analysiert die Funktion von Pronomen, die Bedeutungsänderung eines Satzes durch das Weglassen von Kommata, leitet die Herkunft von Begriffen anhand von deren Vorsilben ab. Das Gedicht selbst wird zur Gedichtanalyse.
Gegliedert in sieben Kapitel, sind die Gedichte Bestandsaufnahme und Klageschrift zugleich. Gorman wandelt auf historischen Pfaden und interpretiert Dokumente aus dem zwanzigsten Jahrhundert neu, die in ihrer Aktualität nicht zu überbieten sind. Da wären Kondolenzbriefe aus der Zeit der Grippe-Epidemie von 1918. Da wären die rassistisch motivierten blutigen Aufstände in Chicago, deren Brutalität ihnen den Beinamen „Roter Sommer“ einbrachte. Und da wären die Tagebucheinträge des schwarzen Soldaten Roy Underwood Plummer, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich kämpfte und niederschrieb, wie die Grippe Teile des Feldlagers dahinraffte. Amanda Gorman geht so weit, Krieg und Pandemie zu vergleichen:
Hass ist ein Virus. Ein Virus braucht einen Körper… Hass überlebt nur, wenn Menschen ihm Raum geben.
Auch mit dem Staatsapparat rechnet sie ab. Mit lockeren Waffengesetzen und nicht enden wollenden Fällen von Polizeigewalt kommt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gut weg. Was wir mit uns tragen reflektiert das „Post-Memory“ schwarzer Menschen, das emotionale Erbe, das auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Komplementär dazu führt Gorman den Begriff des „Pre-Memory“ ein: Das, was gerade in der Welt geschehe, müsse man ansprechen, diskutieren und anprangern. Wenn man vergesse und aktuelle Missstände nicht aufarbeite, würden auch die zukünftigen Generationen diesen Ballast mit sich tragen müssen.
Amanda Gormans Gedichtband ist eine nüchterne Bilanz des frühen 21. Jahrhunderts, aber auch Appell. Der Appell, weiterzumachen, kritische Fragen zu stellen, für sein Recht einzustehen. Man spürt es brodeln in diesem Werk, doch man spürt auch Hoffnung und Veränderung.
– Die Lyrikerin löst mit ihrem Gedichtband Was wir mit uns tragen ihre Rolle als Generationensprecherin souverän ein. –
„Lamentieren ist leicht, / härter, zu hoffen“: Lapidarer, zugleich unverbindlicher lässt sich ein Stück Gedankenlyrik kaum beginnen. Verse wie diese erregen berechtigten Argwohn, sie tragen die Last der Aussage ohne ästhetisches Risiko. Und doch muss man die Gedichte der US-Amerikanerin Amanda Gorman (24) im Original lesen:
It is easy to harp,
Harder to hope.
Man tut den beiden Übersetzerinnen des Bandes Call Us What We Carry (Was wir mit uns tragen), Marion Kraft und Daniela Seel, nicht Unrecht, wenn man die klangliche Dichte der Vorlage ihrer bemüht schlichten Übertragung vorzieht.
A Star was born: Als Amanda Gorman zur Inaugurationsfeier für US-Präsident Joe Biden ihr Langgedicht „The Hill We Climb“ vortrug, schien sich eine Wunde zu schließen. Gorman trug ihre Hoffnung auf ein wiedervereintes Amerika mit einem gerüttelten Maß an Pathos vor. Eine Person of Colour, erlesen gekleidet, unerschütterlich eloquent, meditierte im Angesicht der neu vereidigten Macht über die Lasten des „Nation-Building“.
Die Zeit von Trumps rigoroser Zersetzung der Wirklichkeit durch Lügenphrasen schien vorderhand erledigt. Poesie glich einem wiedergewonnenen Verständigungsmedium: geeignet, die Leiden der Afroamerikaner angemessen zu artikulieren. Gormans freie Verse klangen erfrischend, dabei unüberhörbar geschult am Sound der Gründungsväter.
Denn Licht ist immer,
wenn wir es nur in uns zu finden wagen.
Wenn wir uns zutrauen, es weiterzutragen.
Viele Kommentatoren widmeten dem gelben Mantel, den Gorman am 20. Jänner 2021 trug, die meiste Aufmerksamkeit. Die Autorin aus L.A. wurde von Michelle Obama interviewt und unterschrieb einen Vertrag bei einer Model-Agentur. Da war die Tinte einer Vielzahl von Gedichten noch gar nicht trocken. Die Kalamitäten rund um die Frage, wer überhaupt berechtigt ist, die Lyrik einer afroamerikanischen Autorin zu übertragen, haben sich mittlerweile verflüchtigt.
Der zweisprachige Gedichtband gleicht einem Meteoriten. Er erfüllt die Bedingungen, die man an ein Kompendium richtet: Das Buch steckt voller visueller Poesie. In Säulen und graphischen Gedichten drückt Gorman, Lyrikerin, Aktivistin, Tochter einer alleinerziehenden Englischlehrerin, Fragen aus: solche nach der Herkunft, aber auch diejenige nach einer Ankunft in einer von den Schäbigkeiten der Segregation gereinigten Welt.
Der Zauber ihrer Poesie, in der die Begriffe die Bilder an Kraft bei weitem überwiegen, ist assonanter Natur. Es sind Klangähnlichkeiten, die die Weitergabe von überwiegend schmerzlichen Erfahrungen gewährleisten, denn:
Auch das peitschengleiche Echo Jim Crows hallt durch Schwarze Körper, lange vor der Geburt.
Mitunter ersticken diese Text in der Gelehrsamkeit ihrer geschichtlichen Voraussetzungen. Gormans Manier, freie Verse in beliebige „Gefäße“ umzufüllen, sie in „Urnen“ zu gießen oder sie in die Umrisslinien von „Schiffen“ zu pferchen, geht häufig genug auf Kosten ihres poetischen Gehalts.
Und trotzdem taucht man merkwürdig gelöst aus der Lektüre dieser Litaneien empor. Man konstatiert die dialektischen Tücken des „Wir“, das Amanda Gorman unausgesetzt benützt: Indem sie die „Minderheit“ derjenigen im Personalpronomen mitnimmt, die, als Opfer von Ausschluss und Gewalt, ihrer Wiederaufnahme in die offizielle Erzählung harren. Für das „Land of the Free“ könnte die öffentliche Rolle, die Amanda Gorman eben erst eingenommen hat, noch von entscheidender Wichtigkeit sein. Vorliegendes Buch hilft mit beim Verständnis.
– Mit ihrem Gedicht zur Inauguration von Joe Biden erregte die junge amerikanische Lyrikerin grosses Aufsehen. Nun ist ein Gedichtband ins Deutsche übersetzt worden. –
Als Amanda Gorman zur Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vortrug, war sie zweiundzwanzig Jahre alt. Die Öffentlichkeit erlebte eine junge Frau, die bei diesem Anlass so klang, als würden die Zeiten durch sie sprechen. Leidvolle Vergangenheiten, die nun endlich überwunden werden können durch eine neue amerikanische Gegenwart. Der erklommene Hügel, das war Capitol Hill, auf dem die Schwarze Amanda Gorman stand. Neben ihr der neue Präsident Biden.
Man kann nicht sagen, dass sich die Lage Amerikas seit jenem März 2021 entspannt hat. Der Nebel um die Frage, wer die junge Dichterin Amanda Gorman ist, hat sich jedenfalls gelichtet. Das Inaugurationspoem ist mit einigem Getöse um die Frage der Cultural Appropriation ins Deutsche übertragen worden. Wer darf Literatur der People of Colour übersetzen? Und wie? Dass die Lyrik von Gorman nicht einfach von einem in den anderen Kulturraum exportiert werden kann, zeigt sich jetzt in einem 432 Seiten dicken, zweisprachigen Sammelband. Pathos ist eine amerikanische Droge, an der man sich hierzulande kaum berauscht.
Wieder steht bei Gorman das „wir“ im Titel: Was wir mit uns tragen. Und dieses „wir“ ist auch schon das grösste Problem. Es ist ein lyrischer Plural, der, wenn nicht gleich die ganze Menschheit, dann Amerika meint. Wenn es nicht ganz Amerika ist, dann sind es benachteiligte gesellschaftliche Gruppen. Ethnien, Aussenseiter, Kranke. Das Wort „wir“ kommt im Buch fast 800 Mal vor. Als Teil einer Beschwörungsformel, die im Schweisse lyrischer Arbeit die Menschen zusammenschweissen will.
Das Gute soll siegen, aber damit man das Gute erkennt, muss auch das Böse benannt werden. Schmerz, Gram, Qual, Klage und Finsternis sind seine Namen. Während sich Gleichaltrige kess auf Tiktok herumtreiben, gibt Amanda Gorman die Kassandra. „Für uns Leidende & Heilende, die sich entscheiden weiterzumachen“, schreibt sie aufs Vorsatzblatt ihres Werks und liefert auch noch einen selbstbewussten Lesehinweis:
Dieses Buch ist wachsam
Dieses Buch weckt auf.
Im Amerikanischen klingt das ein kleines bisschen raffinierter:
This book is awake
This book is a wake.
Vieles ist in Zeiten von Covid geschrieben:
Wir verzeichneten jeden Nieser & Schnupfen,
Doch das Virus, vor dem wir wegrannten,
rannte nun durch uns selbst.
Wie „Zoombies“ hätten sich die Menschen gefühlt, schreibt Amanda Gorman in ihren Gedichten, die wenig Gegenwart kennen, dafür aber ziemlich viel daherraunen:
Hoffnung ist der zarte Vogel,
den wir über die See schicken,
um zu sehen, ob diese noch zu Hause ist.
Gormans Gedichte sind an den Metaphern des Meeres festgezurrt. Es gibt den Leuchtturm und den Schiffbruch. Der Gedichttitel „The Fellowship“ bringt die tapferen und erfahrenen Übersetzerinnen Marion Kraft und Daniela Seel an den Rand ihrer Möglichkeiten. Sie retten sich in das Wort „Gefolgsschiff“, müssen an anderen Wortspielen aber scheitern. „Unprecedented & unpresidented“ klingt im Deutschen ganz unlyrisch:
Ohne Präzedenz & ohne Präsident.
Wo es viele schale Spiele mit der Sprache gibt, setzt Amanda Gorman auch noch auf grafische Einfälle. Es gibt Gedichte in Schiffform oder in Form von Augen oder Corona-Masken. Die pompösesten Poeme des Bandes sind auf eine amerikanische Flagge geschrieben. Eines heisst „The Truth in One Nation“ – „Die Wahrheit in einer Nation“:
Unser Volk,
wir nehmen dich an zu haben & zu zanken,
zu lieben & zu wandeln,
in Krankheit und Gesundheit,
bis dass der Atem uns scheidet.
Zanken, lieben und sich wandeln soll Amanda Gormans Volk. Beim lyrischen Atem allerdings scheiden sich schon jetzt die Geister.
Xaver von Cranach: Mehr Priesterin als Literatin
Der Spiegel, 3.6.2022
Michael Roesler-Graichen im Gespräch mit Marion Kraft und Daniela Seel
Börsenblatt, 10.6.2022
Britta Spichiger: Ihre Gedichte nehmen die US-Gesellschaft ins Gebet
SRF, 15.6.2023
Volker Weidermann: Hymnen der Zuversicht
Die Zeit, 24.12.2021
Daniela Seel liest 2016 im KULTUMGraz bei „Im Kampfgebiet der Poesie“.
Amanda Gorman führt am 13.9. 2017 „An American Lyric“ in der Library of Congress auf.
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