Amanda Haight: Anna Achmatowa

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Amanda Haight: Anna Achmatowa

Haight-Anna Achmatowa

I

1889–1914

Und ich war verwegen, böse und fröhlich
Und wußte überhaupt nicht, daß dies das Glück ist.

Und die Wolken waren befleckt
Mit dem roten Schaum von Tsushima.

 

1

Anna Achmatowa zeichnete selber den Hintergrund ihrer Geburt: „das Rußland Dostojewskijs“ – mit raschelnden Röcken, karierten Plaids, Spiegeln in Rahmen aus Nußholz, gepolsterten Sesseln und dem gelben Licht der Öllampen (I, S. 308).1
Sie wurde am 11. Juni (nach dem damaligen russischen Kalender)2 1889 an der Küste des Schwarzen Meeres in einem Ort namens Bolschoj Fontan (Große Fontäne) in der Nähe von Odessa geboren. Ihr Vater, Andrej Gorenko, war Marineingenieur. Sie war das dritte von fünf Kindern. Andrej und Ilja waren älter als sie, Irina (Rika) und Viktor jünger. Als Anna fünf Jahre alt war, starb Rika, vierjährig, an Tuberkulose. Ihr Tod wurde geheim gehalten – sie war bei einer Tante untergebracht worden –, aber die Schwester erriet auf die merkwürdig wortlose Art, die Kindern eigen ist, was geschehen war, und sagte später, ein Schatten habe deshalb auf ihrer ganzen Kindheit gelegen.3
Elf Monate nach Annas Geburt zog die Familie nach Nordrußland: erst nach Pawlowsk und dann nach Zarskoje Selo, das Dorf des Zaren, das heute nach Puschkin benannt ist, der dort seine Jugend verbrachte und die Alleen des großen Parks auf und ab spazierte, wie sie es später selber so oft tun sollte. Es war eine merkwürdige kleine „Spielzeugstadt“, wie sie sich später erinnerte, von den Palästen beherrscht und vom Park, im Krieg zerstört und jetzt wieder aufgebaut, obgleich nicht so wie früher. Die ersten Erinnerungen der Dichterin an Zarskoje sind „die grüne, feuchte Pracht der Parks, der Weideplatz, wohin mein Kindermädchen mich zu führen pflegte, die Rennbahn, wo kleine, bunte Pferde galoppierten, der alte Bahnhof…“ (I, S. 43). Jeden Sommer reiste die Familie an die Küste des Schwarzen Meeres zurück, in die Streletskij-Bucht, unweit der uralten Klöster bei Chersones, wo Anna als Kind „Freundschaft mit dem Meer schloß“.
In vielerlei Hinsicht war es ein merkwürdiger Haushalt, in dem eine zukünftige Dichterin aufwachsen sollte. Es gab, mit Ausnahme einer großen Ausgabe der Werke Nekrasows, die Anna an Feiertagen lesen durfte, keine Bücher im Haus. Ihre Mutter muß aber etwas Gefühl für Dichtung gehabt haben, denn sie trug ihren Kindern Gedichte von Nekrasow und auch von Dershawin vor. Und irgendwie war jeder, bevor sie auch nur eine Zeile geschrieben hatte, davon überzeugt, daß Anja, wie sie genannt wurde, eine Dichterin werden würde. Ihr Vater neckte sie, nannte sie eine dekadente Dichterin, und später war er es, der dafür verantwortlich war, daß sie „Anna Achmatowa“ und nicht „Anna Gorenko“ wurde. Als er von ihren Gedichten hörte, als sie siebzehn war, sagte er ihr, sie solle keine Schande über sein Haus bringen. „Ich brauche diesen Namen nicht“, antwortete sie und wählte einen tatarischen – den der letzten Tatarenprinzen der Goldenen Horde. Eine merkwürdige Wahl, wie sie später sagte, für eine russische Dichterin, aber „Achmatowa“ war der Name ihrer tatarischen Urgroßmutter, und die Tataren im Süden erschienen ihr immer geheimnisvoll und faszinierend.
Achmatowa beschrieb ihre Mutter in ihrer Elegie „Vorgeschichte“ als „eine Frau mit durchsichtigen Augen (von solcher tiefen Bläue, daß man nicht anders konnte, als sich an das Meer erinnern, wenn man hineinblickte), mit einem ganz seltenen Namen und kleinen, weißen Händen und einer Güte, die ich von ihr, wie es scheint, als Erbe erhielt – eine unnötige Beigabe zu meinem grausamen Leben“ (I, S. 308). Inna Erazowna war anscheinend keine gewöhnliche Frau und nicht besonders häuslich veranlagt. Sie litt wie andere Frauen in der Gorenko-Familie an Tuberkulose, und die Beziehung zu ihrem Mann war nicht sehr glücklich. Mit Sicherheit würde sich Achmatowa nicht an die traditionellen Aspekte ihrer Kindheit erinnern .

Und ich hatte keine rosige Kindheit,4
keine Sommersprossen, Teddybären und Spielsachen
und gute Tanten und schreckliche Onkel und sogar
keine Freunde unter den Flußkieseln
.5

Ich wuchs auf in der gemusterten Stille,
in dem kühlen Kinderzimmer des jungen Jahrhunderts,
und nicht war mir lieb die Stimme des Menschen,
aber die Stimme des Windes war mir verständlich.
(I, S. 239)

In ihrer frühen Kindheit hörte Anna dem Unterricht der älteren Kinder zu und begann, Französisch zu lernen. Zehnjährig kam sie auf die Schule in Zarskoje Selo. Wenige Monate darauf erkrankte sie. Eine Woche hindurch lag sie im Delirium, und man fürchtete, sie werde nicht überleben. Als sie doch wieder gesundete, war sie eine Weile lang taub. Anscheinend wußten die Ärzte überhaupt nicht, was ihr fehlte. Später vermutete ein Spezialist, sie habe möglicherweise Pocken gehabt – die aber keine sichtbaren Pockennarben hinterließen. Danach begann sie, ihre ersten Gedichte zu schreiben, und irgendwie wußte sie immer, daß der Anfang ihrer Dichtung eng mit dieser geheimnisvollen Krankheit verknüpft war. Eine Fotografie aus der Zeit zeigt ein ernstes Kind mit kahlgeschorenem Kopf.
Mit oder ohne Bücher liebte die junge Dichterin mit dreizehn die Dichtung und kannte schon Baudelaire und Verlaine und die poètes maudits auf Französisch. Aber man konnte sie kaum als Bücherwurm bezeichnen; sie war mehr im Wasser zu Hause als auf dem Lande, spazierte im Sommer ohne Strümpfe herum, trug nur ein Kleid über dem nackten Körper, das sie festhalten mußte, um einen Riß darin zu verstecken, der den ganzen Schenkel hochlief, auch hatte sie die Neigung, an unerwarteten Stellen ins Meer zu springen. Als ihre Tante sie deswegen ausschimpfte und sagte, wenn sie ihre Mutter wäre, würde sie die ganze Zeit weinen, antwortete Anna:

Es ist besser für uns beide, daß du nicht meine Mutter bist.

Es war dieses Mädchen, kaum älter als eben beschrieben, in das sich ein anderer junger Dichter, Nikolaj Gumiljow, leidenschaftlich verliebte. Für ihn war sie eine Wassernymphe oder Meerjungfrau mit traurigen Augen, das Mondmädchen, Eva.6 Zehn Jahre lang sollte sie seine Dichtung und sein Leben beherrschen, und später, fast am Ende ihres eigenen Lebens, kam sie zu einer neuen und tieferen Würdigung der prophetischen Einsicht dieses jungen Mannes – ein Bild ihrer selbst, tragischer und erschreckender, als sie in diesem jungen Alter zu verkraften bereit war.
Die zwei jungen Dichter trafen sich kurz vor Weihnachten des Jahres 19037 Anna war unterwegs, um Schmuck für ihren Weihnachtsbaum zu kaufen. Sie wurde von ihrer Freundin Valerija Tulpanowa (später Sreznewskaja) begleitet, deren Familie in der unteren Hälfte des Hauses lebte. Sie sollte ihr Leben lang eine Freundin bleiben. Anna, Valerija und ihr Bruder Serjosha trafen die Gebrüder Gumiljow, Mitja und Kolja, in der Nähe der großen Verkaufshalle Gostinij Dwor in St. Petersburg. Valerija kannte sie schon – sie hatten denselben Musiklehrer. Die jungen Leute liefen gemeinsam die Straße entlang, Valerija mit Mitja, dem älteren der beiden, Anja mit Kolja, dem jüngeren. Die beiden Brüder begleiteten die Mädchen nach Hause, und obwohl dieses Treffen keinen besonderen Eindruck auf Anja gemacht zu haben schien, war dies für ihren Begleiter keineswegs der Fall. Danach bemerkte Valerija, wie Kolja herumlungerte, wenn Anja aus der Schule kommen sollte, und er strengte sich an, ihren älteren Bruder Andrej kennenzulernen, um Einlaß in den recht geschlossenen Haushalt der Gorenkos zu finden.
Kolja Gumiljow war ein recht hölzerner junger Mann, drei Jahre älter als Anna, mit einer gewissen arroganten Art, die seine Schüchternheit verbarg. Er las sehr viel, hatte früh begonnen zu schreiben und war zu der Zeit von den französischen Symbolisten besonders begeistert. In seiner eigenen Dichtung sah er sich als einen Konquistador, und im Leben hatte er es nicht gern, wenn er etwas unternahm, das keinen Erfolg zeitigte. Anja war groß und anmutig geworden, mit langem, glattem, dunklem Haar und schönen, weißen Händen. Ihre grauen Augen blickten aus einem fast unnatürlich blassen Gesicht. Wenn sie in den dunklen, stillen Wassern des Teiches von Zarskoje Sela schwamm, sah sie wirklich wie eine Meerjungfrau oder Wassernymphe aus, und Gumiljow war derart bezaubert von diesem Bild, daß er sie nicht nur so in seinen Gedichten beschrieb, sondern auch einen Freund dazu überredete, auf die Wände seines Zimmers ein Meer mit einer Meerjungfrau zu malen.
In einer Studie über Achmatowas frühe Dichtung, die 1915 erschien, verfolgte der Kritiker A. Gizetti ihre Entwicklung von dem Heidenkind des Gedichtes „Am Ufer des Meeres“, ihr langes, 1913 geschriebenes Gedicht, zu der Christin, die im Juli 1914 ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und betete, daß man sie als Opfer nehme, um den Krieg zu verhindern. Er legte die Vermutung nahe, das Unvermögen der jungen Dichterin, ihr früheres „heidnisches“ joie de vivre wiederzufinden, läge daran, daß es von keinem geteilt wurde.8 Und wirklich könnten ihre ersten Gedichte, die sie nach der Krankheit in ihrem ersten Schuljahr schrieb, möglicherweise aus der Erschütterung heraus geschrieben sein, welche die Berührung mit der Welt außerhalb ihres Zuhauses in ihr hervorgerufen hatte.
1905 nahm Anjas Unschuld ein jähes Ende. Im Januar erfuhr sie von der Zerstörung der gesamten russischen Flotte durch die Japaner bei Tsushima. Es war, sagte sie, eine Erschütterung, die sie ihr ganzes Leben hindurch spürte, und als erste solche Erfahrung war sie besonders schlimm. Da sie aus einer Marinefamilie stammte, ging ihr die sinnlose Zerstörung besonders nah. Dann machte Gumiljow in der Osterzeit aus Verzweiflung über ihre Weigerung, seine Liebe ernst zu nehmen, einen Selbstmordversuch. Sie war erschüttert und entsetzt darüber und stritt sich mit ihm. Daraufhin stellten sie ihre gemeinsamen Treffen ein.
Im Sommer zerfiel ihre Familie: Ihr Vater ging in den Ruhestand, und die Eltern trennten sich; ihr Vater zog nach St. Petersburg, ihre Mutter mit den Kindern in den Süden, nach Ewpatorija am Schwarzen Meer. Jetzt wurde das Geld knapp. Aus der Ferne hörten sie von der mißglückten Revolution von 1905.
Da sie noch nicht die Schule abgeschlossen hatte, verbrachte Anna den Winter damit, sich mit einem Privatlehrer auf die Eingangsprüfung für das letzte Schuljahr vorzubereiten. Dies hatte eine gute Seite: Der junge Lehrer verliebte sich in seine Schülerin. Das Ergebnis waren doppelt so viele Stunden wie nötig. Aber der Winter wurde nicht nur mit Lernen verbracht. Das sechzehnjährige Mädchen hatte eine andere wichtige Beschäftigung: Sie schrieb Gedichte.
In diesem Jahr, 1905, war sie, sowohl auf der persönlichen Ebene durch Gumiljows Selbstmordversuch, als auch auf der größeren, historischen Ebene durch die Tragödie bei Tsushima, mit dem Tod konfrontiert worden, und der „Schatten, der über ihrer Kindheit gelegen hatte“, rückte in den Mittelpunkt ihres Bewußtseins. In ihren Erinnerungen an Modigliani, die sie im Alter von siebzig Jahren verfaßte, schrieb Achmatowa, wie die Zukunft „ihren Schatten wirft, lange bevor sie eintritt, ans Fenster klopfte, sich hinter den Laternen versteckte, die Träume durchschnitt…“ (II, S. 157). In der Tat verstand sie erst 1955, nachdem sie einen großen Teil ihres Lebens schon gelebt hatte, diesen Aspekt ihrer Kindheit und konnte darüber schreiben:

Ich schien mir selbst von Anfang an
wie jemandes Traum oder Fieberwahn
oder ein Spiegelbild in einem fremden Spiegel –
ohne Namen, ohne Fleisch, ohne Ursache.
Schon damals kannte ich das Verzeichnis der Verbrechen,
die ich begehen sollte.
Und so ging ich, wie eine Mondsüchtige schreitet,
ins Leben hinein, und das Leben erschreckte mich:
Es breitete sich vor mir aus wie eine Wiese,
auf der Proserpina einst wandelte.
Vor mir, der Verwandtenlosen, Ungeschickten
öffneten sich unerwartete Türen,
und die Menschen kamen heraus und riefen:
„Sie ist gekommen, sie ist selbst gekommen.“
Und ich blickte auf sie mit Erstaunen
und dachte, „Sie sind wahnsinnig geworden.“
Und je mehr sie mich lobten
und je mehr die Menschen von mir entzückt waren,
um so schrecklicher war es für mich, auf der Welt zu leben,
und um so mehr wollte ich erwachen.
Und ich wußte, daß ich hundertfach bezahlen würde
im Gefängnis, im Grab, im Irrenhaus,
überall, wo solche wie ich aufwachen müssen –
aber die Folter des Glücks dauerte
.9

„Am Ufer des Meeres“, ein Gedicht, das sie vierzig Jahre früher geschrieben hatte und das Gumiljow so sehr liebte, daß er sie bat, es ihm zu widmen, beschreibt auch sie selbst als Kind. Es handelt von der Kindheit, die durch die Berührung mit dem Tod zu Ende geht, und obwohl es nicht die erschreckende Einsicht von „Und ich hatte keine rosige Kindheit“ (oben zitiert) hat, ist es voll Unschuld. Diese Unschuld ist besonders überzeugend, weil die Dichterin noch nicht ganz durch die Zeit von dem Kind getrennt ist, das sie einmal war. Hier finden wir, vielleicht deutlicher als irgendwo anders in Achmatowas Werk, die Welt des Kindes, das „den Wind besser verstand als die Sprache der Menschen“.
Die Heldin des Gedichts ist ein etwa dreizehnjähriges Kind, zu dem der grüne Fisch schwimmt und die weiße Möwe fliegt, während es am Strand sitzt und sich die salzigen Haare trocknet. Es ist eins mit der Natur, kann Wasser teilen und wird von den Einheimischen glücklich genannt, aber es haßt, in Häuser einzutreten. Es hat eine Unschuld gleich der der Tiere und lehnt mit unwillkürlicher Grausamkeit den Antrag eines grauäugigen Jungen ab, der sie liebt und der möchte, daß sie ihn heiratet. Sie wartet ja schließlich auf ihren Prinzen, den Zarewitsch.
Die junge Heidin am Ufer des Meeres ist nicht die einzige Gestalt in dem Gedicht. Es gibt noch zwei andere, Lena, ihre Zwillingsschwester, und die Muse. Lena ist in gewissem Sinn mehr als nur ihre Schwester; sie scheint auch die andere Hälfte ihrer selbst zu sein. Lena kann nicht handeln – sie schaut von ihrem Sofa aus zu, denn sie kann nicht gehen – aber sie versteht den Tod und die Trauer und die Bedeutung der Dinge auf eine Weise, die ihrer heidnischen Schwester versagt bleibt.
Die eine Schwester ist die Verkörperung der Mächte des Lebens und der Natur in all ihrer Stärke, unschuldiger Grausamkeit und Blindheit; die andere ist der Hamlet, gelähmt von zu viel Verstehen.10 Erst am Ende des Gedichts, wenn das Kind der Natur dem Trauergottesdienst für ihren toten Prinzen zuhört, scheinen Lena und sie sich näher gekommen zu sein.
Die Muse kommt in Träumen zum Kind des Meeres, nicht zu Lena:

in engen Armbändern, in einem kurzen Kleid,
mit einer weißen Rohrpfeife in den kühlen Händen.
Sie setzt sich ruhig hin, schaut lange
und nach meinem Leid fragt sie nicht
und von ihrem Leid spricht sie nicht;
nur meine Schulter streichelt sie zärtlich.
(I, S. 352–353)

In einem weiteren Gedicht aus dem Jahre 1913 über den Besuch der Muse besteht wieder eine Verbindung zur Natur, zum Meer. Hier ist es die Muse, die ihr das Schwimmen beibringt:

Zu jener Zeit war ich Gast auf Erden.
Bei der Taufe hatte man mir den Namen Anna gegeben,
den süßesten für die Lippen und das Gehör der Menschen.
So wunderbar kannte ich die Freude der Erde,
und Feiertage zählte ich nicht zwölf,
sondern so viele, wie Tage im Jahr waren.
Ich, gehorsam dem geheimen Befehl,
hatte einen freien Kameraden gewählt
und liebte nur die Sonne und die Bäume.
Einmal im späten Sommer traf ich eine Fremde
in der hinterlistigen Stunde der Abendröte,
und zusammen badeten wir im warmen Meer.
Ihre Kleidung erschien mir seltsam,
noch seltsamer ihre Lippen, und ihre Worte
fielen wie Sterne in der Septembernacht.
Und die Schlanke lehrte mich schwimmen;
mit einer Hand hielt sie den unerfahrenen
Körper auf den straffen Wellen.
Und oft, im blauen Wasser stehend,
sprach sie mit mir ohne Hast.
Und mir schien, daß die Wipfel des Waldes
leicht rauschten oder daß der Sand knirschte,
oder daß mit silberner Stimme eine Pfeife
in der Ferne vom Abend der Trennungen sänge.
Aber an ihre Worte konnte ich mich nicht erinnern
und wachte oft nachts mit Schmerz auf.
Mir erschien ihr halbgeöffneter Mund,
ihre Augen und die glatte Haartracht.
Wie einen Himmelsboten bat ich dann
das traurige Mädchen:
„Sage, sage, warum ist meine Erinnerung erloschen,
und warum hast du, die das Ohr so schmachtend liebkoste,
die Seligkeit der Wiederholung fortgenommen?…“
Und nur einmal, als ich Weintrauben
in den geflochtenen Korb sammelte
und die Dunkelhäutige im Grase saß,
die Augen bedeckend und die Zöpfe lösend,
und sie matt und ermüdet war
von dem Duft der schweren blauen Beeren
und dem würzigen Atem der wilden Minze,
da legte sie wunderbare Worte
in die Schatzkammer meiner Erinnerung,
und ich ließ den vollen Korb fallen
und fiel auf die trockene und schwüle Erde –
wie dem Geliebten entgegen, wenn die Liebe singt
.
(I, S. 191–192)

 

2

Im Frühjahr 1906 ging Anna mit ihrer Tante nach Kiew, um das Abitur zu machen. Da sie Verwandte in Kiew hatte, war es ein vernünftiger und wirtschaftlicher Ort für ihre weitere Ausbildung. Sie bestand die Prüfungen und kam zurück, um den Sommer in Ewpatorija zu verbringen. Nikolaj Gumiljow, der nach dem Pensionat im Juni nach Paris gegangen war, besuchte sie dort, und sie versöhnten sich wieder. Als er nach Paris zurückkam, erhielt Gumiljow einen Brief von Achmatowa, den er in einem Gedicht als eine „merkwürdig blasse Rose“ beschrieb. In dem Gedicht sieht er sie als Beatrice, sich selber als den jungen Dante. Später wurde dieses Gedicht Teil eines größeren Zyklus, „Beatrice“, der eines der schönsten frühen Gedichte enthält, die er seiner jungen Geliebten schrieb.

In meinen Gärten sind Blumen, in deinen Traurigkeit.
Komme zu mir und bezaubere mit schöner Traurigkeit
wie mit einem rauchfarbenen Schleier
meiner Gärten quälende Weite.

Du, Blütenblatt weißer Rosen vom Iran,
komme hierher, in die Gärten meiner Qualen,
daß es keine heftigen Bewegungen,
sondern eine Musik harmonischer Posen gebe,

daß von Stufe zu Stufe
der nachdenkliche Name Beatrice erschalle
und daß nicht der Chor der Mänaden, sondern der Chor der Mädchen
die Schönheit deiner traurigen Lippen singe
11

Anna ging Ende des Sommers nach Kiew zurück, um ihr letztes Jahr am „Funduklejew-Gymnasium“ zu absolvieren. Sie und Gumiljow korrespondierten den ganzen Winter hindurch. In Paris begann Gumiljow, eine kleine literarische Zeitschrift namens Sirius herauszugeben, in der er eines ihrer Gedichte, „An seiner Hand sind viele glänzende Ringe“ (I, S. 333) veröffentlichte. Obwohl es ihr erstes veröffentlichtes Gedicht war, schätzte Anna ihren Eintritt in die literarische Welt durch Sirius nicht besonders hoch ein: Die Zeitschrift war nichts weiter als eines der kühnen Unternehmen ihres Freundes.
„Warum hat sich Gumiljow an den ,Sirius‘ gemacht?“ schrieb sie in einem Brief vom März 1907.

Das verwundert mich und versetzt mich in eine außergewöhnlich heitere Stimmung. Wieviele Unglücksfälle hat unser Nikola ertragen, und alle umsonst! Haben Sie bemerkt, daß die Mitarbeiter fast alle genauso bekannt und angesehen sind wie ich? Ich glaube, daß Gott Gumiljow mit Umnachtung heimgesucht hat. Das kommt vor! (II, S. 303)

Aber obwohl es ihr schwerfiel, Gumiljows Liebe zu ihr ernst zu nehmen, war es für ihn eine überwältigende Besessenheit. Er nutzte jede Gelegenheit, sie zu sehen, fuhr Ende April von Paris nach Kiew und kehrte im Sommer wieder nach Rußland zurück, nach Sewastopol, wo Anna und Inna Erazowna wohnten und er sich ein Zimmer im nächsten Haus nahm, um in ihrer Nähe zu sein. Diesmal bat er sie, mit ihm zu gehen. Aber das junge Mädchen hatte gerade die Schule absolviert, und der Gedanke an Heirat reizte sie nicht. Sie standen schweigend am Strand, auf dem tote Delphine lagen. Gumiljow schrieb über diesen Moment in seinem Gedicht „Absage“:

Eine Königin – oder vielleicht nur ein trauriges Kind –
beugte sie sich über das verschlafen-seufzende Meer,
und ihre schlanke und biegsame Gestalt schien so dünn;
sie strebte insgeheim den silbernen Dämmerungen entgegen.

Fliehendes Dunkel. Irgendein Vogel schrie,
und da leuchteten vor ihr in der Feuchtigkeit Delphine auf;
zu den türkisenen Besitztümern des verliebten Prinzen zu
schwimmen, boten sie ihre glänzenden Rücken dar.

Aber die kristallene Stimme schien besonders klangvoll,
als sie hartnäckig das schicksalhafte: „Es muß nicht sein…“ sprach.
Eine Königin – oder vielleicht nur ein launisches Kind –,
ein müdes Kind mit ohnmächtiger Qual im Blick
.12

Über diese Absage verzweifelt machte Gumiljow im Frühherbst desselben Jahres in Paris einen weiteren Selbstmordversuch. Er ging nach Trouville in der Normandie und wurde „en état de vagabondage“ verhaftet. Im Oktober kam er mit geliehenem Geld nach Kiew zurück, ohne seinen Eltern etwas davon zu sagen, aber seine Versuche, Anna zur Heirat zu bewegen, waren ebenso unfruchtbar wie die vorangegangenen. Im Dezember versuchte er, sich zu vergiften, und man fand ihn erst, nachdem er vierundzwanzig Stunden bewußtlos im Bois de Boulogne gelegen hatte.
Im Herbst 1907 hatte sich Anna an der Juristischen Fakultät des Kiewer Frauenkollegs eingeschrieben. Sie fand heraus, daß sie sich für die Geschichte der Jurisprudenz und für Latein interessierte, aber sie empfand nur wenig Begeisterung für den rein juristischen Teil des Studiums. Gumiljow versuchte noch einmal, sie im folgenden April zur Heirat zu bewegen, als er auf dem Weg nach Paris in Kiew vorbeikam. Sie trafen sich nochmals, als Anna im Sommer 1908 Zarskoje Selo besuchte, und er blieb im Frühherbst, auf seinem Weg nach Ägypten, wieder zwei Tage in Kiew. Im Ezbekiyeh-Garten machte er seinen letzten Selbstmordversuch, den er sich zehn Jahre später in einem Gedicht mit demselben Titel vergegenwärtigte, als seine leidenschaftliche Liebe zur Erinnerung verblaßt war.13  Nach diesem letzten Versuch sollte der Gedanke an Selbstmord ihn anwidern.
In einem Gedicht, das Achmatowa 1909 in Kiew schrieb und in dem sie Gumiljow ihren Bruder nennt, gibt sie ihrer Angst Ausdruck, daß einer seiner Selbstmordversuche glücken würde. Aber obwohl es Gumiljow nicht gelang, sich umzubringen, wurde sie doch von einem Selbstmord betroffen, als ihr Bruder sich einige Jahre später in Griechenland aus Verzweiflung über den Tod seines Kindes das Leben nahm.14
Anna hörte nach seiner Rückkehr aus Ägypten bis Januar 1909 nichts mehr von Gumiljow. Im Mai kam er nach Listford bei Odessa, wo sie ihre kranke Mutter pflegte, und er bat sie, ihn nach Afrika zu begleiten. Sie lehnte noch einmal ab. Aber im November wurden Gumiljows beharrliche Anträge von Erfolg gekrönt. In Kiew ging er mit einer Kusine, Marija Kusmina-Karawajewa, zu einer den Künsten gewidmeten Veranstaltung, „die Insel der Kunst“. Dort traf er Achmatowa und verbrachte den ganzen Abend mit ihr. Dieses Mal willigte sie ein, ihn zu heiraten.
In „Am Ufer des Meeres“, von dem Achmatowa sagte, es sei ein „entferntes Echo“ ihrer Beziehung zu Gumiljow, kommt der Zarewitsch nicht; er ertrinkt auf dem Weg zu ihr. In den fünf Jahren zwischen dem Alter von sechzehn und einundzwanzig, als das Kind des Meeres einsah, daß der Prinz nun doch nie kommen würde, entschloß es sich, den „grauäugigen Jungen“ zu heiraten, der es liebte, um mit ihm in den Norden zu ziehen. Und doch sagte Achmatowa, daß ihre Ehe mit Gumiljow nicht der Anfang, sondern „der Anfang des Endes“ ihrer Beziehung war.
Im folgenden Frühling besuchten sie zusammen St. Petersburg. In diese Zeit fällt ein weiteres Ereignis, das für die junge Dichterin von großer Bedeutung sein sollte. Sie und Gumiljow waren zum Russischen Museum gegangen. Gumiljow hatte die Korrekturbögen des Gedichtbands eines älteren Dichters, Direktor des Jungengymnasiums in Zarskoje Selo, dabei. Dieser Mann, Innokentij Annenskij, hatte nur wenig und auch erst spät in seinem Leben veröffentlicht. Achmatowa erinnert sich, von diesem Buch, „der Zypressenschrein“, überwältigt gewesen zu sein; alles andere vergessend las sie es auf der Stelle aus. Ihr ganzes Leben lang sprach sie von Annenskij als ihrem Lehrer, und zweifellos war diese erste Begegnung mit seinem Werk entscheidend für ihre Entwicklung von einem jungen Mädchen, das Gedichte schrieb, zu einer ernsthaften Dichterin.
Achmatowa kehrte nach Kiew zurück. Kurz darauf folgte ihr Gumiljow. Am 25. April 1910 wurde das junge Paar in der Kirche von Nikolska Slobodka bei Dnieper getraut. Achmatowas Familie meinte, die Ehe sei zum Scheitern verurteilt, und keiner von ihnen kam zur Kirche. Dies hat sie zutiefst gekränkt.
Nach der Hochzeit fuhr das junge Paar nach Paris. Eine neue Welt öffnete sich vor Achmatowa. Sie erinnert sich in ihren Erinnerungen an Modigliani daran sowie an eine zweite Reise, die sie im folgenden Frühling nach Paris machten:

Die Fiaker gediehen noch zahlreich. Die Kutscher hatten ihre Kneipen, die „Rendez-vous des cochers“ genannt wurden, und meine jungen Zeitgenossen, die an der Marne oder vor Verdun fallen sollten, waren noch am Leben. Alle linken Künstler außer Modigliani waren anerkannt. Picasso war genauso berühmt wie heute, nur sagte man damals „Picasso und Braque“. Ida Rubinstein spielte Salome, Diagilews Ballets Russes wurden eine elegante Tradition (Strawinskij, Nishinskij, die Pawlowa, die Karsawina, Bakst).
Wir wissen jetzt, daß Strawinskijs Schicksal auch nicht an die zehner Jahre gebunden blieb, daß sein Schaffen der höchste musikalische Ausdruck des Geistes des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde. Damals wußten wir das noch nicht. Am 20. Juni wurde der
Feuervogel aufgeführt. Am 13. Juni 1911 führte Fokin bei Diagilew Petruschka auf.
Die Anlage neuer Boulevards auf dem lebendigen Körper von Paris (das Zola beschrieb) war noch nicht ganz abgeschlossen (Boulevard Raspail). Werner, ein Freund von Edison, zeigte mir in der
Taverne de Panthéon zwei Tische und sagte: „Und das sind Ihre Sozialdemokraten – hier die Bolschewiken und dort die Menschewiken.“ Die Frauen versuchten mit wechselhaftem Erfolg bald Hosen (jupes-culottes) zu tragen, bald wickelten sie ihre Beine fast ein (jupes entravées), Die Gedichte befanden sich in verödetem Zustand, und man kaufte sie nur für Vignetten von mehr oder weniger bekannten Künstlern. Ich begriff schon damals, daß die Pariser Malerei die französische Dichtung verschlungen hatte.
René Ghil predigte die „wissenschaftliche Dichtung“, und seine sogenannten Jünger besuchten den Maitre äußerst ungern.
Die katholische Kirche kanonisierte Jeanne d’Arc.

Où est Jeanne la bonne Lorraine
Qu’ Anglais brulèrent en Rouen?
(Villon)

Ich erinnerte mich an diese Zeilen der unsterblichen Ballade, als ich die Statuetten der neuen Heiligen ansah. Sie waren von ganz zweifelhaftem Geschmack, und man begann sie in Läden von Kirchengeräten zu verkaufen… (II, S. 160–161)

Achmatowa beschreibt sich und Modigliani, beide von ihrer Zukunft noch unberührt, im Regen auf einer Bank in den Jardins de Luxembourg unter seinem riesigen schwarzen Regenschirm sitzend (Modigliani war zu arm, um Stühle zu mieten), einander Verlaine vortragend oder die alten Viertel von Paris im Mondschein durchwandernd. Und indem sie Modigliani beschreibt, beschreibt sie auch, was für ein Mensch sie war – mit ihrer Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu erraten, anderer Menschen Träume zu träumen, Gespräche zu führen, die nur wenig oder überhaupt keinen Zusammenhang mit den Ereignissen der Alltagswelt hatten.
Gumiljow stellt sich diese Frau, an die er schon vor so langer Zeit sein Herz verloren hatte, als Hexe und nicht als Ehefrau vor:

Aus einem Schlangennest,
aus der Stadt Kiew
nahm ich keine Frau, sondern eine Hexe.
Ich dachte, sie sei unterhaltsam,
vermutete, sie sei eigenwillig –
ein fröhlicher Singvogel.

Ruft man sie, runzelt sie die Stirn,
umarmt man sie, sträubt sie sich,
und geht der Mond auf, beginnt sie zu leiden

und sie schaut und stöhnt,
als ob sie jemanden beerdigte,
und sie will sich ertränken
.15

In einem anderen Gedicht erwähnt er die Wirkung, die der Mond auf seine junge Frau hatte:

Aber wenn die Laute des Tages verstummten
und der Mond über der Stadt aufging,
begannst du plötzlich die Hände zu ringen,
wurdest so schmerzvoll bleich
.16

Es handelt sich hier nicht um dichterische Freiheit, denn Achmatowa sagte, der Mond habe ihre ganze Kindheit und Jugend über eine sehr starke Wirkung auf sie gehabt. Es war kein Zufall, daß sie in ihrem ersten veröffentlichten Gedicht geschrieben hatte, ihr Ring sei ein Geschenk des Mondes.

 

3

Gegen Ende des Jahres 1910 kehrten die Gumiljows nach Zarskoje Selo zurück, wo sie erst in einem Haus in der Bulwarnaja und später im Erdgeschoß des Hauses von Gumiljows Mutter, Malaja 63,17 lebten. Gumiljows Vater war kurz vor ihrer Hochzeit gestorben.
Trotz seiner Beharrlichkeit, sie zur Heirat zu bewegen, fing Gumiljow fast sofort an, sich gegen die Bindung, die diese mit sich brachte, zu wehren. Am 25. September unternahm er noch einmal eine lange Reise nach Afrika, dieses Mal nach Abessinien. Er schickte ein Gedicht an seine ihm gerade vermählte Frau. Darin sitzt ein Mann am Kamin und erzählt von seinen Taten in fernen Ländern, bevor er „schwach“ wurde. Es endet so:

Und bösen Triumph in ihren Augen bergend
hörte die Frau in der Ecke ihm zu
.18

Achmatowa begann nun, da sie allein gelassen war, ernsthaft Gedichte zu schreiben. Fast die ganze erste Sammlung, Abend, wurde in dem Haus in der Bulwarnaja geschrieben.19
Gumiljow war sechs Monate lang fort und kam erst Ende März 1911 zurück. Als Achmatowa ihn am Bahnhof abholte, sah er sie streng an und fragte: „Hast du geschrieben?“ Als sie mit Ja antwortete, verlangte er, das Manuskript noch auf dem Bahnsteig zu sehen. Er überflog es, nickte und sagte „gut“. Von dem Punkt an hatte er großen Respekt für ihr Schreiben, obwohl er zweifellos meinte, es sei eine absurde Situation für einen Dichter, mit einer Dichterin verheiratet zu sein.
Das Paar ging wieder nach Paris. Sie kamen zurück, um den Sommer 1911 in Slepnjowo, auf einem kleinen Landsitz, der Gumiljows Mutter und Schwester gehörte, zu verbringen. Er lag nicht weit von Beshezk in der Gubernija von Twer. Aber nach Paris fand Achmatowa Slepnjowo außerordentlich langweilig. Sie beschrieb es später als „… nicht malerisch: Felder, die auf hügeligem Land in gleichmäßigen Quadraten gepflügt waren, Mühlen, Sümpfe, eingetrocknete Moore, Tore, Getreide und nochmals Getreide…“ (I, S. 45).
Achmatowas Gedichte erschienen nun in Zeitschriften, und in der Rezension einer Anthologie, die in dem Jahr erschien, schloß der symbolistische Dichter und Kritiker Walerij Brjussow den Namen Anna Achmatowa mit ein, als er das Fehlen vieler junger Dichter in diesem Band beklagte.
Als sie im Herbst nach Zarskoje zurückkehrten, traf Gumiljow zufällig den Dichter Sergej Gorodetskij, und sie entschlossen sich, eine Gruppe junger Dichter in einer „Dichterzunft“ zusammenzuführen. Dies geschah hauptsächlich wegen Gumiljows Zerwürfnis mit dem symbolistischen Dichter Wjatscheslaw Iwanow. Obwohl die symbolistischen Dichter zugaben, daß der Symbolismus 1910 in einer Krise stand, waren sie in dichterischen Kreisen allmächtig, und Iwanow war zu der Zeit der ungekrönte König des Petersburger Literaturlebens. Im selben Jahr war er schon wegen einer Kritik Gumiljows über sein letztes Werk sehr verstimmt gewesen und hatte sich auch stark gegen Gumiljows Gedicht „Der verlorene Sohn“ ausgesprochen, als Gumiljow es ihm vorlas. Daß Gumiljow, ein junger, völlig unbekannter Dichter, trotz aller Opposition und allen Spottes gegen die Symbolisten Stellung bezog, zeugte von beachtlichem Mut.
Die Dichterzunft bestand aus fünfzehn jungen Dichtern: Gumiljow, Gorodetskij, Achmatowa, Mandelstam, Narbut, Senkewitsch, Brunij, G. Iwanow, Adamowitsch, Hippius, Morawskaja, D. Kusmin-Karawajew und seine Frau Elizaweta, Tschernjawskij und Losinskij. Sie trafen sich zwei- oder dreimal im Monat, wobei der Ort wechselte: bei den Gorodetskijs auf der Fontanka in Petersburg (wo das erste Treffen stattfand), bei den Kusmin-Karawajews am Maneschplatz, bei den Gumiljows in Zarskoje, bei Losinskij auf der Wassilewskij-Insel und bei Brunij in der Akademie der Künste. Losinskij stellte eine Liste der Adressen der Mitglieder der Zunft zusammen, und Achmatowa, als Schriftführerin, war damit beauftragt, Einladungen zu den Treffen zu verschicken – jede mit dem Emblem der Zunft, einer Leier, verziert.20 Am ersten Treffen, bei den Gorodetskijs, nahmen auch Alexander Blok,21 Wladimir Pjast und einige französische Gastgelehrte teil. Die Dichter lasen bei diesen Treffen im Uhrzeigersinn vor, und entweder Gumiljow oder Gorodetskij war Vorsitzender. Sie trugen ihre Gedichte vor, stritten über sie und aßen dann zu Abend. Nach dem Essen rezitierten sie humoristische Gedichte.22
Bei einem der ersten Treffen, vermutlich dem dritten, das in Zarskoje stattfand, schlug Gumiljow vor, sie sollten den Symbolismus widerlegen. Er fand im griechischen Wörterbuch das Wort „akme“. Akmeismus“ schien das auszudrücken, was er für notwendig erachtete: Klarheit statt symbolistischem Dunst, weil die jungen Dichter die Welt mit den frischen Augen Adams sahen, ihre Gedichte mit der höchsten handwerklichen Kunstfertigkeit formten und nicht versuchten, sich die Stellung von Priestern anzueignen. Aber nicht alle in der Zunft waren damit einverstanden, Akmeisten oder Adamisten zu sein. Die ursprüngliche Gruppe begann sich aufzulösen. Die Mitglieder, die am Anfang eine gegenseitige Unterstützung gebraucht hatten, sahen, daß sie auch auf eigenen Füßen stehen konnten. Losinskij und Hippius weigerten sich kategorisch, den Akmeismus zu unterstützen. Sechs erklärten sich dafür: Gumiljow, Mandelstam, Gorodetskij, Narbut, Senkewitsch23 und Achmatowa.
Zwei Jahre später veröffentlichten Gumiljow und Gorodetskij mit etwas Verspätung ihre Manifeste der neuen Bewegung24 „Für die Akmeisten“, schrieb Gorodetskij, „ist eine Rose schöner um ihrer selbst willen, für ihre Blütenblätter, ihren Duft und ihre Farbe, als für ihre abstrakte Ähnlichkeit mit der mystischen Liebe oder mit irgend etwas anderem.“ Das Problem von Akmeismus und Symbolismus beschäftigte dann auch die Kritiker und rief viel Ärger und Kritik und wenig Lob hervor. Nach der Revolution widerlegte Gorodetskij ihn schnell, als es ihm dienlich war. Gumiljow gab zu, daß seine Dichtung der der Symbolisten immer ähnlicher wurde. Achmatowa vermutete, manche Theorien Gumiljows seien rückwärts zustandegekommen – das heißt durch das Lesen ihrer Gedichte –, und Pjast dachte, der Name „Akmeismus“ sei ein unbewußtes Echo auf „Achmatowa“ gewesen, deren Gedichte er als den klarsten Ausdruck der akmeistischen Grundsätze sah, bevor diese überhaupt von Gumiljow und Gorodetskij formuliert worden waren.25
Im Rückblick ist es schwierig, den Treffen der Akmeisten und ihrer gründlichen Beschäftigung mit der Dichtung und ihrer Funktion weder eine zu große noch eine zu kleine Bedeutung beizumessen. Gumiljow, Mandelstam und Achmatowa hatten, so verschieden ihre Dichtung sein mochte, doch bestimmte Werte gemeinsam, hatten eine bestimmte Weltanschauung, die, da die Dichtung im Mittelpunkt ihres Wesens stand, ihren Ausdruck im Bezug zur Dichtung fand. Um das Wesentliche im Akmeismus zu entdecken, muß man über die Form, in der ihre Gedichte geschrieben sind, über die Themen, die sie behandeln, ja, sogar über ihre Politik hinaussehen. Die Auffassung, die sie teilten, stand genau im Einklang mit dem, was die Manifeste des Akmeismus verlangten – eine Rückkehr zur Erde. Damit ging auch ein tiefes Verständnis für den Reichtum der europäischen Kultur und für die enge Verbindung zwischen Dichtern aller Zeiten einher. Im Mittelpunkt des Akmeismus stand die Weigerung, in eine andere Welt zu fliehen, und die Überzeugung, daß Gott durch das Hier und Jetzt auf der Erde gefunden werden könne, daß das Leben eine Gnade sei, die man leben mußte.
1911 konnten solche Ideen einfach als das Gerede einer Gruppe junger Menschen, die gegen eine ältere Generation reagierten, aufgefaßt werden. Aber die Theorien der Akmeisten sollten auf eine Art geprüft werden, wie die Theorien nur weniger junger Menschen geprüft werden. Daß Mandelstam Jahre später, nachdem er völlige Isolation und unglaubliches Elend ertragen hatte, immer noch darauf bestehen konnte, diese Welt sei für ihn „nicht eine Last oder ein unglückliches Mißgeschick, sondern ein gottgegebener Palast“,26 zeigt die Tiefe seiner Überzeugung. In ihrer Sicht des Lebens und der Dichtung bewegten sich die Akmeisten in eine Richtung, die der der Symbolisten genau entgegengesetzt war. Deshalb gab es für sie keine Ausflucht aus den Realitäten der Welt, als diese grausamer wurde. Es war für sie notwendig zu versuchen, Gott zu erreichen und seine Zwecke durch Verständnis, Leben und Liebe zum Leben zu begreifen. Das Dasein war mehr als etwas, das es zu ertragen galt, während man auf den Himmel wartete. Und obwohl für sie der Dichter kein Priester war, war er doch ein Formulierer. Wie Adam war er ein Namensgeber.

 

4

Im Frühjahr 1912 erschien Achmatowas erster Gedichtband Abend, in einer Auflage von dreihundert Stück und mit einem Vorwort von Michail Kusmin. Er wurde von den Kritikern positiv bewertet, von denen manche, Brjussow eingeschlossen, ihn als Ausnahme, verglichen mit den anderen Veröffentlichungen der Dichterzunft, bezeichneten. Achmatowa erinnerte sich später an ihre Verlegenheit, als dieses erste Buch erschien. Sie sagte, Gumiljow habe gelacht und ihr aufgesagt:

Rückläuferin oder eine neue George Sand
Was macht das schon, jetzt kannst du dich dran weiden!
Du hast eine Mitgift, Gouvernante,
Spuck auf sie alle und genieße deinen Triumph!

Da viele der Gedichte aus Abend während Gumiljows Aufenthalt in Afrika 1910–1911 entstanden, ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß der größere Teil des Bandes sich mit einer Frau beschäftigt, die entweder nicht geliebt wird oder die ihren Geliebten verloren hat. Hier sehen wir Achmatowa schon diese kleinen Klassiker schreiben, die ihr mehr als alles andere ihre frühe Beliebtheit verschafften. Sie sind ohne Zweifel die makellosesten Gedichte in Abend, aber sie markieren ein Stadium, über das die Dichterin eine Weile nicht hinauswuchs. Diese kleinen Gedichte portraitieren den Höhepunkt im Drama einer Beziehung durch einen außerordentlich lakonischen, knappen, umgangssprachlichen Stil, in dem Gefühle oft durch eine Geste oder einen Gegenstand ausgedrückt werden, was wiederum manchmal an Tolstois Prosa erinnert. Oft scheint, wie der Kritiker Viktor Winogradow bemerkte, in diesen Gedichten die Dichterin die äußeren Zeichen eines inneren Zustandes wie in einem Spiegel zu betrachten.27

Sie rang die Hände unter dem dunklen Schleier.
„Warum bist du heute bleich?“
„Weil ich mit bitterem Leid
ihn ganz betrunken machte.

Wie kann ich es vergessen? Er ging hinaus, schwankend;
sein Mund verzog sich qualvoll.
Ich lief, ohne das Geländer zu berühren,
ich lief ihm bis zum Tor nach.

Keuchend schrie ich: ,Ein Scherz
ist alles, was gewesen ist. Wenn du fortgehst, werde ich sterben.‘

Er lächelte ruhig und unheimlich
und sagte zu mir: ,Steh nicht im Wind.“
(I, S. 64–65)

In diesem Band steht auch das wohl berühmteste frühe Gedicht Achmatowas, das so beginnt:

So hilflos kalt war die Brust,
aber meine Schritte waren leicht.
Ich zog auf die rechte Hand
den Handschuh von der linken.
(I, S. 67)

Es ist, als ob sie mit diesen Gedichten das Ende eines Destillationsprozesses erreichte, den Puschkin mit seinen „Kleinen Tragödien“ begonnen hatte. Jahre später schrieb sie über ihre Faszination von dem, was sie Puschkins „schwindelerregende Kürze“28 nannte, und wie er immer aufhöre zu schreiben, wenn er alles gesagt habe, was es zu sagen gäbe.
Wie ihre Zeitgenossen bald entdeckten, entpuppten sich alle Versuche, diese Gedichte nachzuahmen, als verheerend. Aber so makellos sie auch sind, kann man nur eine gewisse Anzahl davon lesen, bevor sie anfangen, sich zu wiederholen. Gerade ihre Perfektion wird zu einer Begrenzung. Die Form bestimmt den Inhalt, der wiederum die Form begrenzt. Und um gegenüber ihren Kritikern nicht ungerecht zu werden, muß man zugeben, daß der Inhalt der Gedichte in Abend sehr begrenzt ist. Sie beschreiben einen genauen Zustand in einem genauen Moment ohne Entwicklung; nur der jetzige Moment enthält die Vergangenheit. Obwohl Achmatowa die äußeren Merkmale und „Requisiten“ ihrer Heldin variiert, ist die Frau, die ihre Hände unter ihrem dunklen Schleier umklammert, genauso eine Marionette wie die Dorffrau, die klagt:

Mein Mann peitschte mich mit dem gemusterten doppelt zusammengelegten Riemen… (I, S. 69)

In Achmatowas Dichtung werden wir mit drei Bildern der Dichterin konfrontiert: dem aus den Gegebenheiten ihrer Biographie und dem aus der russisch-sowjetischen Kritik ihrer Gedichte entstehenden sowie dem, welches sie selbst in ihrem Werk von sich entwirft. Dieses dritte Bild erwächst anfangs aus vielen verschiedenen Fassungen des „Ich“. Im Laufe ihres Lebens hörten das Wort und die Person, die das Wort ausspricht, langsam auf, geteilt zu sein. So kann die Stimme der Person Achmatowa gehört werden, wie sie direkt durch ihre Dichtung zu uns spricht, ohne Vermittlung und mit der ehrfurchterweckenden Autorität einer vollständigen Integrität. Aber in den Jugendgedichten sehen wir die Dichterin nach Heldinnen suchen, die einen Teil ihrer eigenen Persönlichkeit spiegeln und diesen in einen größeren Zusammenhang zu stellen vermögen, um ihre Erfahrung aus dem rein Privaten zu befreien.
Die Figur der Dorffrau, mit ihrer vom orthodoxen Glauben strukturierten Kultur und ihrem ritualisierten Leben, erlaubte wenigstens eine Teillösung des Problems, wie sie ihre Dichtung bereichern und vertiefen und sie mit den Ereignissen, die das Land um sie herum zerschlugen und neu schufen, in Zusammenhang bringen könnte. Dabei mußte sie trotzdem der Wirkung dieser historischen Ereignisse auf ihr eigenes Leben treu bleiben. Daß sie diese Frau zu einer ihrer Heldinnen machte, war der Anfang jener „Ausweitung von persönlichen Gefühlen auf eine weitere Ebene“, die ihre Kritiker verlangten – ein Prozeß, der in dem Zyklus Requiem gipfelte, den sie während des Terrors schrieb, und in dem schließlich der Verlust des Sohnes für die Mutter der Verlust wird, den Maria am Fuße des Kreuzes erlebt.
Wenn man Achmatowas frühe Gedichte liest, läßt man sich leicht verwirren und sieht sie als die Dorffrau, die von ihrem Mann geprügelt wird, oder als das blasse, trauernde Gesicht, Annenkows Portrait in Anno Domini ähnlich, ein Gesicht, das sich im Spiegel prüft, oder sogar als das hochgewachsene Mädchen, das, einen Schal umgeschlagen, ihre Gedichte vorträgt, wie sie es später im Nachtklub der Dichter, dem Streunenden Hund, tun sollte. Aber eigentlich ist sie alle drei. Die Freunde und die Bewunderer, die Rußland in den zwanziger Jahren verließen und die sie als die Achmatowa der frühen Liebesgedichte festhalten wollten, und die Kritiker, die die religiöse Dorffrau aus Abend als einen Ausdruck der Werte und der Christlichkeit der Dichterin begriffen, haben beide die Quellen, aus denen Achmatowas Dichtung entsprang, falsch verstanden. Von ihrer Natur gezwungen, nur über ihre eigenen Erlebnisse zu schreiben, verwandte sie äußere „Requisiten“ bei ihrem Versuch, das Allgemeine durch das Individuelle zu erlangen.
Die Umstände ihres Lebens zwangen Achmatowa immer wieder, sich damit auseinanderzusetzen, warum sie Gedichte schrieb und ob es wirklich für sie wichtig war. Stück für Stück ermöglichte ihr das Verständnis ihrer selbst und dessen, was sie als ihre Stellung als Dichter unter Dichtern der Welt, den vergangenen und noch lebenden, auffaßte, über die Umstände ihres eigenen Lebens und die ihrer Zeit hinauszusteigen und die Zusammenhänge hinter den Ereignissen zu sehen, die Verknüpfungen, die von Nahem gesehen wie unverbunden anmuteten. Dann war es ihr möglich zu sagen, sie sähe auf alles herab „wie von einem Turm“ (II, S. 103). Aber obwohl dieser Prozeß des Wachstums und der Integration sich von Anfang an in ihrer Dichtung widerspiegelte, wird in Abend die Dichtung noch nicht als etwas gesehen, das eine Lösung der Probleme der Dichterin birgt. Sie wird zum Beispiel nicht ihr Herz so weit bringen, nicht mehr zu schlagen – ganz im Gegenteil: der Tod würde ihrer Dichtung ein Ende setzen. Sie beschreibt sich als eine Kuckucksuhr, die singt, wenn sie aufgezogen ist. Sie sieht darin nichts Beneidenswertes:

Du weißt, ich kann nur einem Feind solch ein Los wünschen (I, S. 71).

Durch Abend zieht sich das Thema des verlorenen Prinzen, des Zarewitsch: In Träumen erscheint er ihr mit einer Krone; er ist der grauäugige König, bei dessen Tod sie ruft: „Heil dir, auswegloser Schmerz!“ (I, S. 55), er scheint der Vater ihres Kindes zu sein, aber nicht ihr Mann. Er ist auch kein Hamlet, der „wie alle Prinzen“ spricht und für sie keine Alternative sieht als ihre Vermählung an einen Narren oder die Verbannung in ein Kloster. Im Gegensatz zum Zarewitsch ist er der, der „sein ganzes Leben lang mit seinen Schritten lange und langweilige Wege ausmaß“ (I, S. 70). Das Schicksal trennt sie von ihrem Zarewitsch, aber das Leben ohne ihn ist „eine Lüge“ (I, S. 54). Die Tage des Jungen, der den Dudelsack spielte, und des Mädchens, das einen Kranz trug, sind nun vorbei. Statt dessen bittet die Dichterin, man solle ihr erlauben, „sich am Feuer zu wärmen“ (I, S. 64). Die Seejungfrau ist tot, und ihr Leiden im Land der Sterblichen kommt daher, daß sie zu sehr zu leben wünschte.
Von der Unschuld ihrer Kindheit abgeschnitten, spricht die Dichterin immer noch mit dem Wind und ruft ihm in ihrer Trauer zu, er solle sie begraben. Die unsterbliche Seele, mit solch großen Schmerzen erkauft, daß sich der Kauf manchmal nicht zu lohnen scheint, wird von dem Mann ausgesaugt, an den sie gebunden ist, der Mann, der ihr Bruder oder ihr Geliebter sein könnte. Passanten, die sie sehen, meinen, sie sei verwitwet, aber was gestorben ist, ist nicht ihr Mann, sondern ihre Seele.
Die Liebe wird hauptsächlich als Quelle der Schmerzen gesehen, und ihr Schicksal ist es, dies zu wissen. Es steht ihr nicht zu, zu weinen oder sich zu beschweren. Sie und ihr Geliebter werden sich in der Hölle treffen („über dem Wasser“) oder werden so verstanden, daß sie ihre Leiden selber gesucht haben:

Wir wünschten uns stechende Qual, nicht ungestörtes Glück (I, S. 64).

Wenn eine Lösung im Tod erhofft wird, ist auch hier ein Haken, denn das Mädchen, das durch ihre Leiden zum Wahnsinn getrieben worden ist, das nach einem Platz für sein Grab sucht, wird von den Mönchen gewarnt:

Das Paradies ist nicht für euch, nicht für Sünder (I, S. 73).

Auch die Muse bringt keine Erleichterung, denn sie besucht das von ihrem Geliebten verlassene Mädchen und nimmt ihr den goldenen Ring, „Gottes Geschenk“ (I, S. 77) wieder ab.

 

5

Am 3. April 1912 verließen die Gumiljows Zarskoje noch einmal und reisten nach Westeuropa, diesmal in die Schweiz und nach Italien. Die Eindrücke der italienischen Architektur und Malerei blieben ihr Leben lang für Achmatowa wie etwas im Traum Gesehenes. Sie besuchten Genua, Pisa, Florenz, Bologna, Padua und Venedig und kehrten über Wien und Krakau nach Kiew zurück.
Achmatowa verbrachte den Sommer 1912 mit ihrer Mutter auf dem Grundbesitz ihrer Kusine Nanitschka Zmuntschilla in der Nähe der österreichischen Grenze. Sie erwartete ein Kind. Gumiljow schrieb liebevoll aus Slepnjowo und beschrieb das Leben dort:

Liebe Anitschka, wie geht es Dir; Du schreibst nichts. Wie fühlst Du Dich; das ist keine leere Phrase. Mama hat eine Menge kleiner Hemdchen, Windeln usw. genäht. Sie bittet, Dich sehr zu küssen. Ich habe, trotz Deiner Warnung, nicht über Träume zu schreiben, ein Gedicht über diesen meinen italienischen Traum in Florenz29 geschrieben; weißt Du noch? Ich schicke es Dir; es scheint sehr linkisch zu sein. Schreibe bitte, was Du darüber denkst. Ich lebe hier still, bescheiden, fast ohne Bücher, ewig mit einer Grammatik, mal einer englischen, mal einer italienischen. Dante lese ich schon, obwohl ich natürlich nur den allgemeinen Sinn und nur einige Ausdrücke begreife. Mit Byron (auf Englisch) geht es schlechter, obwohl ich nicht verzage. Ich habe mich auch fürs Reiten begeistert, speziell für Kunstreiten oder etwas Ähnliches. Ich kann schon im Trab in den Sattel springen und aus ihm abspringen – ohne die Hilfe von Steigbügeln. Ich versuche, es auch im Galopp zu schaffen, aber bis jetzt ohne Erfolg. Olja30 und ich organisieren Tennis, und morgen bestellen wir Bälle und Schläger. So werde ich wenigstens etwas abnehmen. Unsere Moka bekommt in den nächsten Tagen ihre Jungen, und für sie steht in meinem Zimmer schon ein Korb mit Heu bereit. Sie ist so lieb, daß sie alle rührt. Sogar Alexandra Alexejewna31 sagte, sie sei das sympathischste unserer Tiere. Jeden Abend gehe ich allein zum Akinichskij-Weg, um das zu erfahren, was Du Gottes Melancholie nennst. Wie verfliegt vor ihr alle akmeistische Haarspalterei. Mir scheint dann, daß es im ganzen Weltall kein einziges Atom gibt, das nicht voll tiefem und ewigem Kummer ist.
Ich habe einen Kreis beschrieben und kehre zur Epoche der „Romantischen Blüten“
32 zurück…, aber es ist interessant, daß, wenn ich an mein letztes Schaffen denke, es sich mir mechanisch in den durchleuchteten Tönen des Fremden Himmels33 darstellt. Es scheint, unsere irdischen Rollen vertauschen sich; Du wirst die Akmeistin sein, ich der düstere Symbolist. Ich hoffe aber doch, ohne Geschwür davonzukommen.
Liebe Anitschka, ich liebe Dich sehr, sehr und immer. Grüße alle; schreibe. Ich küsse Dich

Dein Kolja34

Aber trotz des liebevollen Tones des Briefes und der Geburt ihres Sohnes Lew am 1. Oktober stellte sich ihre Ehe nicht als das rosige Paradies heraus, das Gumiljow zur Zeit ihrer Trauung vorausgesagt hatte.35  Walerija Sreznewskaja erinnerte sich später:

Natürlich hatten beide zu viel Unabhängigkeit und Größe, um ein paar Turteltauben zu sein… ihre Beziehung war eher wie ein geheimes Duellieren – von ihrer Seite, um ihre Existenz als freie Frau zu bejahen; von seiner aus dem Wunsch, sich keiner Verzauberung unterzuordnen und selber unabhängig und mächtig zu bleiben… Aber leider ohne Macht über diese schwer zu fassende, vielseitige Frau, die sich weigerte, sich irgend jemandem unterzuordnen.36

Im Alter sprach Achmatowa von der mit Gumiljow verbrachten Zeit als nicht eigentlich einer Ehe, sondern als einer Beziehung zweier Menschen, die miteinander auf eine Art, die man unmöglich verstehen konnte, verbunden waren, und die auf geheimen Höhen und mit bestimmten unklaren Verpflichtungen zusammenlebten. In einem Gedicht hatte Gumiljow 1908 das Mädchen beschrieben, das er hoffte, eines Tages zu heiraten:

Da ist Eva, die Buhlerin – sie stammelt zusammenhangslos;
da ist Eva, die heilige, mit Kummer in den Augen.
Bald ein Mondmädchen, bald ein irdisches Mädchen,
aber ewig und überall fremd, ganz fremd
.37

Auch in der Ehe würde sie „eine Fremde“ bleiben.
Obwohl Gumiljow und Achmatowa ein leidenschaftliches Interesse für die Dichtung verband, schien keiner von ihnen richtig zu verstehen, was es bedeutet, verheiratet zu sein. In Gumiljows Gedichtband Fremder Himmel, im selben Jahr veröffentlicht, enthüllen Gedichte, die sich auf seine Frau beziehen, die widersprüchliche Natur ihrer Beziehung. „Sie“, Achmatowa gewidmet (und eines der wenigen seiner Gedichte, die Achmatowa nicht mochte), stammt aus dieser Zeit:

Ich kenne eine Frau: Schweigen,
bittere Müdigkeit aus Worten
lebt in geheimem Funkeln
ihrer geweiteten Pupillen.

Ihre Seele ist gierig hingegeben
nur der kupfernen Musik des Verses,
vor dem irdischen und frohen Leben
ist sie hochmütig und taub.

Unhörbar und ohne Eile
ist ihr Schritt so seltsam fließend;
man kann sie nicht schön nennen,
aber in ihr ist all mein Glück.

Wenn ich nach Eigenmächtigkeit dürste
und kühn und stolz bin, gehe ich zu ihr,
um weisen, süßen Schmerz zu lernen
in ihrer Mattigkeit und ihrem Fieberwahn.

Sie ist hell in den Stunden des Schmachtens
und hält Blitze in der Hand,
und ihre Träume sind klar wie Schatten
auf dem Feuersand des Paradieses
.38

Aber in einem anderen Gedicht, „Dieser andere“,39 bezieht er sich, obwohl er darin klar über seine Frau spricht (er verwendet das Wort in der ersten Zeile), tatsächlich mit dem Wort „er“ auf sie. Er will, sagt er, keine fröhliche Frau für inspirierte Gespräche über die alten Tage, keine Geliebte, da ihn so etwas langweilt, sondern eine Gefährtin von Gott als Vergeltung für seine Leiden. Er beschwert sich auch über „seine“ Strenge, wobei er die Träume, die sie verbinden, für Ketten hält. An anderer Stelle blickt Gumiljow mit Nostalgie zurück zu den ersten Tagen, in denen sie gemeinsam die Alleen entlanggingen. „Ein Schuljunge und ein Schulmädchen, so seltsam zärtlich, wie Daphnis und Chloe“.40 Achmatowa erinnert sich auch an diese Zeit:

Im Riemen waren Federkasten und Bücher;
ich kehrte von der Schule nach Hause zurück.
Diese Linden haben wahrscheinlich nicht
unsere Begegnung vergessen, mein fröhlicher Knabe.
Nur, als es ein stolzer Schwan wurde,
veränderte sich das graue Schwanenjunge.
Und auf mein Leben legte sich mit unverweslichem Strahl
der Schmerz, und meine Stimme ist klanglos.
(I, S. 93)

Im Frühjahr 1913, nachdem er Anfang des Jahres sein akmeistisches Manifest veröffentlicht hatte, ging Gumiljow auf seine – wie sich herausstellen würde – letzte Reise nach Afrika, diesmal als Leiter einer Expedition nach Abessinien und Somalien, die von der Akademie der Wissenschaften beauftragt war. Er nahm seinen siebzehnjährigen Neffen Nikolaj Swertschkow mit. Aus Odessa schrieb er an seine Frau:

Liebe Anika, ich bin schon in Odessa und in einem fast ausländischen Café. Ich werde Dir schreiben; dann will ich versuchen, Verse zu schreiben. Ich bin wieder ganz gesund, sogar der Hals, aber noch etwas müde; das muß von der Reise kommen. Dafür habe ich keine Alpträume mehr wie früher; einmal träumte ich von Wjatscheslaw Iwanow, der mir irgend etwas Häßliches tun wollte; aber auch im Traum kam ich glücklich davon. In einem Buchladen sah ich Die Ernte41 durch. Deine Verse sehen sehr schön aus, und wie spaßig ist die Notiz von Boris Sadowskij dadurch, daß der Ton so sehr gemildert ist.
Ich habe hier ein Plakat gesehen, auf dem steht, daß Vera Inber am Freitag einen Vortrag über die neue Damenkleidung oder etwas derartiges hält; hier sind auch Bakst und die Duncan
42 und die ganze schwere Artillerie.
Ich erinnere mich jeden Tag an Deine Zeilen über das „kleine Mädchen am Meer“,
43  sie gefallen mir nicht nur, sie berauschen mich. So wenig, und es ist so viel gesagt. Ich bin fest davon überzeugt, daß von der ganzen nachsymbolistischen Dichtung Du und vielleicht (auf seine Weise) Narbut die Bedeutendsten sein werden.
Liebe Anja, ich weiß, Du magst das nicht und willst es nicht verstehen, aber für mich ist es nicht nur angenehm, sondern absolut notwendig, daß ich in dem Maße, wie Du Dich für mich als Frau vertiefst, in mir den Mann stärke und fördere; ich hätte niemals ahnen können, daß von Glück und Ruhm die Herzen hoffnungslos gebrechlich werden,
44 aber auch Du hättest Dich niemals mit der Erforschung des Landes von Gallus beschäftigen und beim Anblick des Mondes begreifen können, daß er der diamantene Schild von Pallas, der Göttin der Krieger, ist.
Seltsam, daß ich jetzt wieder derselbe bin wie damals, als die „Perlen“
45 geschrieben wurden; und sie sind mir näher als der Fremde Himmel.
Der Kleine (Nikolaj) war bis jetzt ein guter Begleiter; ich glaube, daß das auch weiterhin so sein wird.
Küsse Lewa von mir (seltsam, ich schreibe zum erstenmal seinen Namen) und lehre ihn, „Papa“ zu sagen. Schreibe mir bis zum 1. Juni nach Dire-Daoua, Abessinien, Afrika, bis zum 15. Juni nach Djibouti, bis zum 15. Juli nach Port Said, dann nach Odessa
.46

Aus Djibouti schrieb er wieder und bat sie, ihm neue Gedichte zu schicken: „… Ich möchte wissen, wie Du geworden bist“,47 und sie solle Ljowa sagen, er bekäme sein Negerlein. Aber Gumiljow wußte, daß er seine Frau schon „verloren“ hatte. Auf dieser letzten Reise nach Afrika schrieb er in dem Gedicht „Fünffüßige Jamben“ die an sie gerichteten Zeilen:

Ich weiß, mein Leben war mißlungen… und du,
du, für die ich in der Levante
den unverweslichen Purpur der Königsmäntel suchte,
ich verspielte dich, wie der wahnsinnige Nala
einst Damayanti verspielte.
Die Würfel flogen auf, klingend wie Stahl,
die Würfel fielen – und es war Schmerz.

Du sagtest, nachdenklich, streng:
„Ich habe zuviel geglaubt und geliebt
und ich gehe fort und glaube und liebe nicht,
und vor dem Antlitz des allsehenden Gottes
vernichte ich vielleicht mich selbst,
aber ich sage mich auf ewig von dir los.“

Ich wagte nicht, deine Haare zu küssen
oder deine kalten, dünnen Hände zu drücken.
Ich war mir selbst zuwider wie die Spinne,
mich schreckte und quälte jeder Laut,
und du gingst fort in einem einfachen und dunklen Kleid,
ähnlich einem alten Kruzifix
48

Im Jahr 1913, an das sich Achmatowa viel später so lebhaft in ihrem Gedicht Poem ohne Held erinnern würde, beging der junge Dichter Wsewolod Knjazew, in den Achmatowa möglicherweise verliebt war, in Riga Selbstmord. Der Grund war die unerwiderte Liebe, die er für ihre enge Freundin, die schöne Schauspielerin und Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina, empfand. Daß sein Name Knjazew – hergeleitet von „knjaz“, dem Wort für Prinz – war, legt nahe, daß dieser „Prinz“, der starb, und jener Zarewitsch, der in „Am Ufer des Meeres“ ertrank, verknüpft sein könnten, besonders, da das Gedicht im gleichen Jahr geschrieben wurde. Aber in der ersten Widmung zu Poem ohne Held hat Achmatowa klar und bewußt Knjazew und Mandelstam vermischt. So ist es unwahrscheinlich, daß der Zarewitsch, der zum Teil von Knjazew angeregt sein mag, Knjazew allein ist.
Man kann „Am Ufer des Meeres“ einfach als ein Gedicht über den Tod der Kindheitsträume lesen und dies dann als die Bedeutung vom Tod des Zarewitsch sehen. Aber Achmatowa sagte, als sie ihre Ehe mit Gumiljow beschrieb, sie seien auf einer geheimen, geistigen Höhe verbunden gewesen, und es muß der Verlust dessen gewesen sein, den Achmatowa als „das Ende“ bezeichnete, ein Ende, das für andere Ehen ein Anfang ist: etwas, das die Kraft besaß, Gumiljows Dichtung zehn Jahre lang zu beherrschen. Aber es war nicht der Stoff, aus dem Ehen gemacht sind. Und so kann man den Zarewitsch und den grauäugigen Jungen, der will, daß das Kind des Meeres mit ihm in den Norden zieht und mit ihm lebt, weil er sie liebt, auch als zwei Seiten eines Mannes auffassen, der Achmatowas Jugend beherrschte und sie schließlich heiratete: der Zarewitsch, der vom Meer kam – der Dichter und der grauäugige Junge – der Ehemann. Man könnte sagen, die zwei stehen für zwei verschiedene Arten der Liebe, die eine die geistige, die andere die gewöhnliche, tagtägliche Beziehung. Der Zarewitsch ertrank vermutlich zum ersten Mal an dem Tag, an dem Gumiljow 1905 den ersten Selbstmordversuch machte; er starb wieder in dem Moment, in dem Knjazew starb, und kann auch viele Male dazwischen gestorben sein, denn es ist wahrscheinlich, daß es auch noch andere Lieben in Achmatowas Jugend gab. Am wichtigsten ist aber, daß der Zarewitsch durch die Ehe umkommt, und wenn er tot ist, dann ist das Leben seiner Seeprinzessin gefährdet. Denn sie wendet sich an Lena, an die abgetrennte, andere Hälfte ihrer selbst, um die Bedeutung des Todes zu verstehen. Und Lena kann nicht gehen, noch ist sie es, die von der Muse besucht und gestärkt wird.
In einem Gedicht aus Achmatowas erstem Band, Abend, hören wir die Töne einer trotzigen Seejungfrau, die, wie die von Hans Christian Andersen, sich weigert, auf einer Erde, wo jeder Schritt weh tut, auf die Suche nach einer menschlichen Seele zu gehen. Achmatowa druckte dieses Gedicht in ihrer zweiten Sammlung mit anderen aus demselben Buch nicht wieder ab. Sie konnte nicht zu der verlorenen Unschuld der Kindheit zurückkehren. Der Rückweg in den Garten Eden war ihr verschlossen, und sie würde nur die Erlaubnis bekommen, dort zu erwachen, wenn sie die Liste der „Verbrechen“, von denen sie wußte, daß sie diese werde begehen müssen, durchschritten hatte.
Ihre Ehe mit Gumiljow war kein Mittel gegen die Einsamkeit. Erst als Achmatowa viel älter war, war sie zu den kleinen Gesten der Liebe fähig, die es ermöglichen, mit einem anderen Menschen zusammenzuleben. Sie und Gumiljow, der ihr auf vielerlei Weise ähnlich war, wußten nicht, warum sie im selben Haus lebten oder was sie mit ihrem Kind tun sollten. Da sie diese Unzulänglichkeit erkannte, ließ Achmatowa ihr Kind von der Mutter ihres Mannes erziehen, die wenig Zuneigung zu ihrer Schwiegertochter hatte; so „verlor“ sie ihren Sohn.49

 

6

Das Jahr 1913 war die Blütezeit des Nachtklubs der Dichter, des Streunenden Hundes, dem Treffpunkt der Petersburger Bohemiens: ein Keller mit verhängten Fenstern und mit von dem Künstler Sergej Sudejkin in leuchtenden Farben bemalten Wänden. Achmatowa erinnert sich an den Treffpunkt nicht nur im Poem ohne Held, sondern auch in ihren Gedichten „Wir sind hier alle Zecher“ und „Ja, ich liebte sie, diese nächtlichen Versammlungen“. Benedikt Lifschiz beschreibt, wie Achmatowa und Gumiljow in den Hund eintraten:

… in schwarze Seide gehüllt, mit einer großen ovalen Kamee an der Taille, glitt Achmatowa hinein und blieb am Eingang stehen, wo sie auf Pronins50 Bitte, der schon herangeeilt war, um sie zu begrüßen, ihr neuestes Gedicht in das „Schweinslederbuch“ eintrug, über das dann die einfachen Angestellten zu rätseln begannen. Sie sahen Gedichte bloß als etwas, das ihre Neugierde kitzelte.
In einem langen Gehrock… ohne es zu versäumen, auch nur eine schöne Frau anzuschauen, ging Gumiljow rückwärts zwischen den Tischen; entweder befolgte er dadurch Hofmanieren oder er fürchtete einen dolchartigen Blick auf den Rücken.
51

Obwohl der durchschnittliche Leser von Achmatowas Gedichten jedes einzelne davon als intime Beichte auffaßte, und obwohl sie zu einer bekannten Figur im Streunenden Hund und an anderen Orten wurde, gelang es ihr dennoch, ihr Privatleben für sich zu behalten. Sie brauchte sicherlich für ihre Karriere als Dichterin keine Stütze mehr. Sie blieb aber, laut Pjast,52 so bescheiden wie zuvor und übte mit großer Sorgfalt für ihre Lesungen. Der Künstler Juri Annenkow beschreibt sie auch zu dieser Zeit als „… auf eine ungewöhnliche Art schön mit ihrem ungelockten Pony über der Stirn und mit einer seltenen Grazie in ihren Bewegungen und Gesten. Ich kann mich an keinen unter den anderen Dichtern erinnern, der seine Gedichte so musikalisch vorlesen konnte. Ihre Vortragsweise, die Art, wie sie ihre Gedichte las, war selbst Dichtung.“53
Unter Achmatowas engsten Freunden befand sich auch der Dichter und Kritiker Nikolaj Nedobrowo, der zu dieser Zeit über sie und seinen Freund, den Künstler und Mosaikmacher Boris Anrep, schrieb:

Man kann sie nicht eigentlich schön nennen, aber sie ist so interessant anzuschauen, daß es sich lohnen würde, eine Leonardo-Zeichnung von ihr zu machen; ein Gainsborough-Portrait in Ölfarben; eine Ikone in Temperafarben; oder am besten, man stellte sie an die wichtigste Stelle in einem Mosaik über die Welt der Dichtung54

Nedobrowo war nicht der einzige, der meinte, man müsse Achmatowa malen, und mehr als ein Dichter hatte schon zu der Sammlung von Gedichten, die Gumiljow begonnen hatte und die sie beschrieben und ihr gewidmet waren, beigetragen. Für Mandelstam war sie ein „schwarzer Engel“ mit dem sonderbaren Zeichen Gottes auf sich;55 während sie für Alexander Blok eine Schönheit besaß, die merkwürdig beängstigend war.56 1922 veröffentlichte Marina Zwetajewa einen ganzen Zyklus von Gedichten, der ihr gewidmet war.57 Um Achmatowa herum begann die Ikonographie der Gedichte, Gemälde und Skulpturen zu wachsen, deren Umfang zum Ende ihres Lebens wahrscheinlich die jedes anderen Dichters übertraf.58
Die Veröffentlichung ihrer zweiten Sammlung, Rosenkranz, im März 1914 machte Achmatowa zu einer der beliebtesten Dichter Rußlands. Trotz des Krieges wurde diese Sammlung bis zum Jahr 1916 viermal nachgedruckt. Zwischen 1918 und 1923 wurde sie fünfmal von verschiedenen Verlagen in Petrograd, Odessa und Berlin nachgedruckt. Ein Spiel erfreute sich großer Beliebtheit: „,Rosenkranz‘ erzählen“, in dem einer ein Gedicht begann und ein anderer es zu Ende aufsagte.
Wenn Abend hauptsächlich von verlassenen Frauen handelt, die ohne Hoffnung auf ein Paradies nur auf den Tod warten können, so beginnt die Dichterin in Rosenkranz zu verstehen, wie man überlebt. In dieser Sammlung und in den wenigen Gedichten des dritten Buches, Der weiße Schwarm, die vor dem Krieg geschrieben wurden, vermischt sich ein starker Ton der Hoffnung mit dem der Verzweiflung. Sie ist erstmals dazu bereit zurückzuschlagen. „Lies meinen Brief zu Ende“, verlangt sie von ihrem Geliebten (I, S. 92), und in einem anderen Gedicht ruft sie: „Hingeworfen!… Bin ich eine Blume oder ein Brief?“ (I, S. 102). „Wirst du mich wieder kränken, so wie letztes Mal?“ fragt sie (I, S. 109).
Als eine Antwort auf den Verlust der Liebe und des Geliebten ist zu verstehen, daß Trennung eine Illusion ist, daß die Liebe Zeit und Raum überwinden kann. Über Leningrad sagt Achmatowa im „Epilog“ zu Poem ohne Held, das sie während des Zweiten Weltkriegs in Tuschkent schrieb:

Unsere Trennung ist nur scheinbar;
Ich bin von dir nicht zu trennen;
mein Schatten ist auf deinen Wänden,
mein Spiegelbild ist in den Kanälen,
der Klang meiner Schritte in den Sälen der Eremitage,
wo mit mir mein Geliebter umherstreifte
.
(II, S. 131)

Und um 1913 gezielt auf diese Einsicht hinzuweisen, wählte Achmatowa als eines der Epigraphen für den dritten Teil von „1913“, dem ersten Teil des Poem ohne Held, eine Zeile aus einem Gedicht, das sie im selben Jahr geschrieben hatte: „Und unter den Bögen der Galernaja“ – auf das jeder, der in dem „Rosenkranzspiel“ bewandert war, mit der folgenden Zeile geantwortet hätte:

sind unsere Schatten für immer.

Die Geliebten können nicht getrennt werden, denn ihre Liebe hat die normalen Grenzen überschritten und das Ewige berührt:

Weil wir zusammen standen
im gesegneten Augenblick der Wunder,
in dem Augenblick, als über dem Sommergarten
der rosenfarbene Mond aufging,

brauche ich kein Warten
am verhaßten Fenster
und keine quälenden Begegnungen.
Alle Liebe ist gestillt.

Du bist frei, ich bin frei
morgen besser als gestern –
unter der Newa mit den dunklen Wassern,
unter dem kalten Lächeln
des Kaisers Peter
.
(I, S. 112)

Die andere Antwort auf den Verlust des Geliebten ist die Entdeckung der Dichterin, daß sie die Stärke hat, das Verlassenwerden zu überleben, oder sogar diejenige zu sein, welche die Kraft besitzt, wegzugehen:

Meine Stimme ist schwach, aber mein Wille wird nicht schwach; mir ist sogar leichter geworden ohne Liebe. (I, S. 119)

Die Vergangenheit verliert ihre Macht über sie, und bald wird sie frei sein. Wenn ihr Geliebter sie verliert, oder wenn sie ihn verliert, wird das Leben leer sein, aber es wird auch leuchten. Jetzt spielt die Dichtung eine positive Rolle in dieser Freiheit von der Hörigkeit, denn was sie zu dieser Zeit schreibt ist „fröhlich“, und wenn ihr Geliebter an der Tür klopft, kann es sein, daß sie ihn nicht einmal hört. Nachdem sie das Haus ihres Mannes oder ihres Geliebten verlassen hat, sorgt sie für seine „Liebe und Zärtlichkeit“ in ihrer Dichtung, denn als Dichterin kann sie tun, was sie als Frau nicht tun konnte – ihn berühmt machen. Aber trotzdem gibt es die dem Don Juan ähnliche Figur, die ihre Freiheit, ihre Dichtung und ihre Individualität bedroht, die wie der Schäferjunge in Abend mit ihr in der Hölle sein will:

Und die Augen, die trübe blicken,
ließ er nicht von meinem Ring.
Kein Muskel bewegte sich
in dem erleuchtet-bösen Gesicht.

O, ich weiß: Es ist seine Freude,
angespannt und leidenschaftlich zu wissen,
daß er nichts braucht,
daß ich ihm nichts verweigern kann.
(I, S. 113–114)

Sie kann ihn noch nicht verlassen. Er ist es, der gehen muß, denn sie ist machtlos:

O, wie schön bist du, Verfluchter!
Aber ich kann nicht auffliegen
und hatte doch von Kindheit an Flügel.
(I, S. 98)

Sie weiß, daß das, was er Liebe nennt, nur Begierde ist:

Er sagte zu mir: „Ich bin dein treuer Freund“,
und berührte mein Kleid.
Wie verschieden von Umarmungen
sind die Berührungen dieser Hände.

So streichelt man Katzen oder Vögel;
so schaut man auf schlanke Reiterinnen.
Da ist nur ein Lachen in seinen ruhigen Augen
unter dem leichten Gold der Wimpern.
(
I, S. 99)

Aber sie ist von ihrer eigenen Schwäche gefangen („Segne die Himmel – du bist zum ersten Mal allein mit dem Geliebten.“ (I, S. 99)), und weil sie weiß, daß das unbekannte Murmeln der Bäume, das ihr sagt, ihr Geliebter habe ihr nur Schmerzen bereitet, die Wahrheit spricht, ruft sie, um sich zu verteidigen:

Du bist listig und schwarz,
du hast gar keine Scham.
Er ist still, er ist zärtlich,
er ist mir ergeben
und er liebt mich für immer
(
I, S. 88)

Im Streunenden Hund, wo die zugemauerten Fenster die Außenwelt völlig ausschließen, scheinen alle, nicht nur das tanzende Mädchen, in der Hölle zu sein oder jedenfalls von allem abgeschnitten, was gut und rein und wahr ist. Aus dieser Welt blickt die Dichterin nostalgisch zurück in die Zeit ihrer Jugend:

Statt Weisheit Erfahrung, ein fades
Getränk, das den Durst nicht stillt.
Und Jugend war wie ein Sonntagsgebet…
Sollte ich sie vergessen?
(
I, S. 120)

Und wieder:

Wieder ein Mädchen am Meeresstrand zu werden,
den Schuh über den bloßen Fuß zu ziehen,
und die Zöpfe wie eine Krone zu winden
und mit erregter Stimme zu singen.

Immer schauen auf die dunklen Dächer
der Kirche von Cherson von der Treppe her
und nicht wissen, daß von Glück und Ruhm
die Herzen hoffnungslos gebrechlich werden
.
(I, S. 107)

Auch wenn es ein hoffnungsvolles Zeichen ist, daß die Dichterin die Kraft finden kann, die Qualen und Prüfungen der Liebe zu überleben, indem sie den Geliebten verläßt oder von ihm verlassen wird und auch sein Haus, ihr Zuhause, verläßt, bedeutet dies nicht, daß ihr Schicksal ein glückliches ist. Leiden, die in früheren Gedichten einfach dargestellt wurden, werden in Rosenkranz hinterfragt; sie rebelliert gegen sie, und manchmal werden diese gegen einen neuen Umstand ihres Lebens abgewogen: gegen den Ruhm. „Schicksal singt schmeichlerisch ein langes Lied vom Ruhm“ (I, S. 96), schreibt Achmatowa in dem Gedicht „Du gabst mir eine schwere Jugend“. In einen anderen finden wir:

Zu süß ist der Trank der Erde,
zu dicht sind die Netze der Liebe.
Mögen irgendwann meinen Namen
im Schulbuch die Kinder lesen.

Und mögen sie, wenn sie die traurige Erzählung erfahren haben,
verschmitzt lächeln…
Da du mir Liebe und Frieden nicht gabst,
beschenke mich mit bitterem Ruhm.
(I, S. 103)

Das Leiden wird durch die Hoffnung, daß es einen Zweck erfüllt, erträglich gemacht, einen Zweck, der noch unverständlich ist, verständlich nur für den einfachen Glauben der Dorffrau:

Bete für die Bettlerin, für die Verlorene,
um meine lebendige Seele,
du, der du deiner Wege immer sicher bist,
der du das Licht in der Hütte gesehen hast.
(I, S. 92)

Achmatowa beendet dieses Gedicht, das sie im zweiten Jahr ihrer Ehe in Florenz geschrieben hat, mit der Frage:

Warum hat mich Gott gestraft jeden Tag und jede Stunde? Oder ist es ein Engel, der mir gewiesen hat ein Licht, das für uns unsichtbar ist? (I, S. 92).

Die Heimat der Heimatlosen ist das Haus Gottes. Es ist anderen vergönnt, Kinder zu erziehen:

Du wirst leben, ohne etwas Böses zu kennen,
wirst regieren und richten,
mit deiner stillen Freundin
Söhne aufziehen.

Und in allem hast du Erfolg
und bei allen Achtung.
Erfahre du nicht, daß ich vor lauter Weinen
das Zählen der Tage verliere.

Viele sind wir, die so ohne Haus sind.
Unsere Kraft liegt darin,
daß für uns Blinde und Dunkle
das Haus Gottes hell ist.

Und für uns, die wir uns niedergebeugt haben,
brennen die Altäre;
unsere Stimmen fliegen
auf zu Gottes Thron.
(I, S. 106)

Manchmal wird der Tod als einzige Lösung in einer unerträglichen Situation aufgefaßt: „Du weißt… daß ich Gott um meinen Tod anflehe“ (I, S. 107), schreibt sie in einem Gedicht. In einem weiteren liegt sie tatsächlich im Sterben. Sie bittet, gequält von der Frage des Lebens nach dem Tod, daß die Erinnerung ihr erhalten bleiben möge, da sie dann die Hölle überleben könne. Der Tod wird durch einen Besuch des Geliebten erträglich gemacht. Der wirkliche Tod, mit dem Vergehen des Körpers, wird ihrer vorherigen Vorstellung gegenübergestellt. Sie bittet den Geliebten, sie nicht zum Selbstmord zu zwingen:

Treibe mich nicht dorthin, wo unter den stickigen Brückenbogen das schmutzige Wasser kalt wird (I, S. 109).

Manchmal sind Tod und Dichtung ineinander verschlungen: Sie fragt, wer ihre Gedichte schreiben wird, wenn sie stirbt, und wieder ist es nicht nur ihr eigener Tod, mit dem sie sich befaßt.
In drei Gedichten in Rosenkranz wird der Tod eines jungen Mannes erwähnt. Es ist 1913, und wenigstens in einem Fall gibt es keinen Zweifel, daß sich das Gedicht auf den Selbstmord Knjazews bezieht. In „Stimme der Erinnerung“, das sie Olga Glebowa-Sudejkina widmete, fragt sie ihre Freundin, welche die Wand anstarrt, ob sie dort den Mann sieht, der sich umbrachte, um dem Gefängnis seiner Liebe zu ihr zu entfliehen. Aber die Antwort ist „Nein, ich sehe nur die Wand und auf ihr den Widerschein erlöschender Himmelsfeuer“ (I, S. 104). Anderen Ortes scheint es eher, daß sie, die vielleicht liebte und nicht geliebt wurde, die Schuld auf sich nimmt, welche Sudejkina, ihre „Doppelgängerin“, sich weigert zu tragen. Sie beschreibt einen jungen Mann, der unter dem Schmerz der ersten Liebe leidet:

Der Knabe sagte zu mir: „Wie schmerzt das!“
Und der Knabe tat mir so leid.
Noch vor so kurzer Zeit war er zufrieden
und kannte Kummer nur vom Hörensagen.
Aber jetzt kennt er alles nicht schlechter
als ihr Weisen und Alten
.
(I, S. 108)

Anderen Ortes sagt sie:

Vergib mir, fröhlicher Knabe, daß ich dir den Tod brachte… Ich wußte nicht, wie zerbrechlich die Kehle ist unter dem blauen Kragen. (I, S. 111)

Viele Gedichte Achmatowas erwuchsen aus Umständen, die sie in diesen Gedichten genau aufzeichnet. Dies bedeutet natürlich nicht, daß die Gedichte immer wörtlich aufgefaßt werden sollten; aber wenn Achmatowa ein konkretes Detail erwähnt, bezieht sie sich höchstwahrscheinlich auf etwas, das jeder, der damals anwesend war, sofort erkannt hätte. Es ist vielleicht gefährlich anzunehmen, daß keine Details ihrer Gedichte ihrer Phantasie entsprungen sind, aber es ist auf jeden Fall besser, als anzunehmen, solche Details seien bloß zufällig für ihre ästhetische Wirkung gewählt worden. Man muß aber daran denken, daß Menschen, die Achmatowa kannte, oft in ihren Gedichten zu einem verschmelzen – sie werden auf eine gewisse Weise Doppelgänger voneinander, so wie Olga Glebowa-Sudejkina in dem Poem ohne Held zu ihrem wird. Ihr Gebrauch von Doppelgängern bedeutet nicht eine innere Verwechslung zweier Menschen (wofür sie einmal die Dichterin Olga Berggolz tadelte), sondern hat, auf einer tieferen Ebene, vielleicht mit dem Erkennen komplementärer Typen zu tun und auch mit den historischen Rollen, die sie und ihre Zeitgenossen gezwungen waren zu spielen.
In dem merkwürdigen Gedicht „Ich kam, dich abzulösen, Schwester“ ist es wieder die Andeutung eines Doppelgängers – zwei Menschen, die doch einer sein könnten –, was an die zwei Mädchen in „Am Ufer des Meeres“ oder an die Beschreibung von dem Erscheinen der Muse vor dem jungen Kind des Meeres erinnert. Aber hier wird diejenige, die durch ihr Leiden stumm und taub geworden ist, durch das große Feuer ersetzt. Das Herannahen der anderen, die sich ihre Schwester nennt und eine Flöte trägt, bedeutet für sie das Herannahen des Todes:

Du bist gekommen, mich zu begraben.
Wo ist dein Spaten, wo deine Schaufel?
Du hast nur eine Flöte in der Hand.
Ich werde dich nicht beschuldigen.
Ist es etwa schade, daß vor langem irgendwann
meine Stimme für immer verstummte.
(I, S. 94)

Sie erkennt, daß die Fremde eine schwere Reise gemacht haben muß, um an diesen Ort zu gelangen. Nachdem sie ihren Platz und ihre Kleider aufgegeben hat, geht sie weg, tastend, sich vorstellend, sie werde immer noch mit dem Tamburin in der Hand vom Licht des Feuers erleuchtet. Trauer, so scheint es, war der Grund für ihren spirituellen Tod (denn sie lebt ja weiter), das Aufgeben ihrer besonderen Stellung als Dichterin, weil Trauer ihre Stimme zum Schweigen gebracht hat und sie nun ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen ist:

Deine Haare sind grau geworden. Deine Augen
hat die Träne getrübt, mit Nebel bedeckt.

Du verstehst nicht mehr den Gesang der Vögel,
du bemerkst nicht die Sterne, nicht das Wetterleuchten.

Und längst schon hörst du nicht mehr die Schläge des Tamburins.
Aber ich weiß, daß du die Stille fürchtest.

Ich kam dich abzulösen, Schwester,
bei dem hohen Scheiterhaufen im Wald.
(I, S. 94)59

Ein weiteres 1913 geschriebenes Gedicht, das in Der weiße Schwarm veröffentlicht wurde, handelt vom Zustand oder der Situation des Stummseins, aber hier ist es nicht die heidnische Muse oder Schwester, die Erleichterung bringt, sondern Gottes feurige Berührung der geschlossenen Lider. Und es ist ein „wunderbares Stummsein“, für das die Berührung Gottes wie ein Segen kommt, der den „stumpfen Durst nach Liedern“ stillt und das Band zwischen Gott und den Sterblichen, jenen durch die Gesetze der Erde gebundenen Wesen, wiederherstellt. Puschkin hatte in seinem Gedicht „Der Prophet“ geschrieben:

Vom Durst des Geistes gequält
schleppte ich mich durch die dunkle Wüste,
und ein Seraphim mit sechs Flügeln
erschien mir am Kreuzweg.
Mit Fingern leicht wie ein Traum
berührte er meine Augen…

Achmatowa schreibt:

So, Herr, liege ich ausgestreckt mit dem Gesicht zur Erde:
Wird das himmlische Feuer
meine geschlossenen Wimpern berühren
und mein wunderbares Stummsein?
(I, S. 122)

Wenn dies ein Gebet ist – daß, da sie nicht vom Durst nach Liedern befreit werden kann, während sie auf Erden weilt, sich dieser Zwang so verwandele, daß sie wie Puschkins Prophet „die Herzen der Menschen mit einem Wort verbrennen“ könne –, so sagt sie es nicht ausdrücklich. Die dichterische Inspiration war für Achmatowa immer ein Geschenk, ob es ein Ring des Mondes war oder das Erscheinen der Muse. Hier wird sie gesehen als die Berührung der Hand Gottes, welche die Verbindung zwischen Gott und den Sterblichen herstellt, die ohne seine Hilfe nicht zu seinem Thron aufsteigen können. So ist die Dichterin das passive Werkzeug, das auf die Gnade Gottes angewiesen ist, auf das Wort, die lebendige Verbindung von Himmel und Erde. Ihr „Stummsein“ ist „wunderbar“, weil es die Einsicht ist, daß das Wort von Gott stammt und nicht von ihr, was es ihr ermöglicht, es mit geschlossenen Augen und mit Glauben zu empfangen.
Achmatowa deutet hier nur an, daß die Berührung Gottes es ihr erlauben wird, zu ihm aufzusteigen. Sie geht nicht, wie Puschkin, weiter und spricht von der Wirkung, die das Wort auf andere Menschen hat. Vielleicht verläßt sie sich darauf, daß ihr Gedicht viele Leser an das Puschkins erinnern wird. In anderen Gedichten ist es die Tatsache, daß die Stimmen der heimatlosen Wanderer „auf zu Gottes Thron“ (I, S. 106) steigen, was ihnen Stärke verleiht und ihrem Dasein einen Sinn gibt. Aber in „Ich kam, dich abzulösen, Schwester“ schwingt auch eine vorsichtige Andeutung mit, daß die Rolle der Dichterin mehr ist als nur die passive Aufnahme des Wortes Gottes; denn diejenige, die nicht mehr singen kann, muß vom Feuer ersetzt werden. Dieser Ersatz ist natürlich auch eine Erlösung, besonders, wenn die zwei Schwestern als eine Person verstanden werden. Statt eines Spatens, um die Toten zu begraben, trägt die Fremde eine Flöte. Aber obwohl sie diese Stelle „nach einer schweren Reise“ erreicht hat, besteht noch dieselbe Spaltung wie in „Am Ufer des Meeres“. Die zwei Schwestern oder Hälften bleiben getrennt, die heidnische Muse übernimmt nur die Rolle derjenigen, die durch Trauer erschöpft ist.
Aber indem sie, wenn auch noch so vorsichtig, die heidnische Muse und die christliche Pilgerfrau, die Dichtung und das Gebet, verbindet, löst Achmatowa einen weiteren Konflikt aus. Wenn nämlich die Stärke der heimatlosen Wanderin in ihrer Stimme liegt, die zum Thron Gottes aufsteigt, dann ist das Opfer ihrer dichterischen Gabe gleichbedeutend damit, sich von ihm abzuschneiden. Die einzige Antwort, welche die Dichterin auf die Leiden der Liebe gefunden hat, außer der, die sie in den oben zitierten Petersburger Gedichten gibt, ist, ihr Zuhause zu verlassen und Gedichte zu schreiben. Aber sie hat sich keineswegs endgültig von der Macht lösen können, die der Mann, den sie liebt, über sie hat, noch hat sie sich von dem Wunsch gelöst, eine gewöhnliche Frau zu sein. Die überwältigende Stimmung von Rosenkranz ist die des Leidens und der Trauer, die Stimmung einer mißhandelten und verlassenen Frau, die durch Notwendigkeit und nicht durch Verlangen gezwungen wird, die Quelle ihrer eigenen Kraft zu finden: Dichtung/Gebet mit der bitter-süßen Beigabe von Ruhm. Und diese Lösung ist nicht allen Heldinnen, welche die Dichterin ausmachen, leicht erreichbar – zum Beispiel nicht der kultivierten Achmatowa mit ihrem eleganten Pony und dem engen Rock, die am Nachtleben der Bohemiens der Hauptstadt teilnimmt und nostalgisch auf das reine Leben ihrer Kindheit zurückblickt.
Rosenkranz verläßt sich nicht wie Abend auf eine Vielseitigkeit in der Darstellung seiner Themen, die auch eine viel größere Breite erlangt haben. Das Verwenden mehrerer Heldinnen ist jetzt weniger eine äußere Notwendigkeit als eine Widerspiegelung der mannigfaltigen und unzusammenhängenden Teile ihrer Persönlichkeit. Es finden sich in Rosenkranz Anzeichen dafür, daß eine Integration der beiden Extreme von „Am Ufer des Meeres“ beginnt. Achmatowa kann nicht mehr wie 1911 von „grauäugigen Jungen wie du, die fröhlich leben und leicht sterben“60„Snowa so mnoj ty. O maltschik-igruschka“, Junost, VI, 1969, S. 66 schreiben. Sie ist nicht mehr das Kind, das über die Liebe eines anderen lachen kann, weil sie auf ihren Prinzen wartet. In Olga Sudejkina, die die Wand anstarrt und nicht das Bild des Mannes sieht, der sich aus Liebe zu ihr umbrachte, hat Achmatowa eine Widerspiegelung der blinden, unbewußten Selbstsucht jenes Kindes gesehen, das in seiner heidnischen Unschuld nie erkennen konnte, was Gumiljows Selbstmordversuche aus Liebe zu ihr wirklich bedeuteten. Jetzt weiß sie, daß das Kind am Ufer des Meeres den grauäugigen Jungen „schlecht tröstete“ (I, S. 351). Es ist diese Einsicht, die es ihr möglich macht, „Am Ufer des Meeres“ zu schreiben. Vorher gab es immer jemanden, an den sie sich wenden konnte; die Möglichkeit, nach Norden zu ziehen, um mit dem grauäugigen Jungen zu leben, war immer offen geblieben. Während nun um sie herum ihre Ehe zerbröckelte, wußte Achmatowa, daß sie einen Versuch gemacht hatte und daß er gescheitert war.

 

Einleitung

Ich traf Anna Achmatowa zum ersten Mal Anfang 1964. Ich hatte unbestimmte Pläne für eine Dissertation und hatte gerade den Versuch begonnen, eine vollständige und genaue Sammlung ihrer Werke zusammenzustellen. Damals lebte ich in Moskau und nahm an, sie sei in Leningrad. So nahm ich auch an, ich würde eines Tages dorthin reisen, zu ihren Füßen sitzen und versuchen, einige nicht zu unintelligente Fragen zu stellen. Statt dessen erfuhr ich, daß sie sich in Moskau befand, und im Laufe der Zeit wurden wir Freunde.
Es besteht kein Zweifel, daß ich im richtigen Moment erschien. Nach langjährigem Veröffentlichungsverbot wurde Achmatowa zu jener Zeit fortwährend um Gedichte zur Publikation gebeten. Ihre Stellung als Übersetzerin von Gedichten und die große Veränderung im literarischen und politischen Klima der Sowjetunion hatten dazu beigetragen, dies zu ermöglichen. Aber es herrschte immer noch Verwirrung über ihre genaue Stellung in der literarischen Welt. Zur gleichen Zeit stieg im Ausland das Interesse an ihren Werken und an denen ihrer Zeitgenossen. Eine Reihe von Veröffentlichungen erreichte sie, wobei sie sehr verärgert war über die Anzahl von Fehlern, die diese enthielten. Als ich sie zum ersten Mal traf, war sie bezüglich S. Makowskijs Memoiren über Gumiljow, ihren ersten Mann, die sie gerade in einer französischen Übersetzung gelesen hatte, sehr aufgebracht. „Gehen Sie hin und sprechen Sie mit ein paar Leuten, die mich damals wirklich kannten“, sagte sie, – und ich ging gerne zu jedem, zu dem sie mich schickte: Freunde und Zeitgenossen, die sie zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens gekannt hatten und für deren Freundlichkeit und Geduld angesichts meiner Unwissenheit ich größte Dankbarkeit verspüre.
Achmatowa kam 1965 nach England, um den Ehrendoktor der Universität Oxford entgegenzunehmen. Sie reiste über Paris nach Rußland zurück und empfing sowohl in England als auch in Frankreich Menschen, die aus aller Welt angereist waren, um sie zu sehen: alte Freunde, Gelehrte und Verehrer ihrer Werke, sogar einen Neffen, den sie noch nie getroffen hatte. Ich hatte das Glück, während dieser ganzen Zeit bei ihr zu sein, und im folgenden Sommer besuchte ich sie wieder in ihrer Datscha bei Komarowo, in der Nähe von Leningrad. Sie starb zu Beginn des folgenden Frühjahrs. Ich kam rechtzeitig in Leningrad an, um mit ihren engen Freunden und ihrer Familie vierzig Tage nach dem Begräbnis Blumen auf ihr Grab zu legen.
Während ich die Dissertation schrieb, auf die dieses Buch sich stützt, hatte ich das Glück einer Arbeit, die mich regelmäßig in die Sowjetunion brachte. So konnte ich die Entwicklung meiner Ideen und die Folgerichtigkeit meiner Interpretationen dort mit Achmatowas Freunden und mit Gelehrten, die ihr Werk kannten, überprüfen. Mit deren Hilfe war es mir auch möglich, die oft ungenauen Fassungen ihrer Werke, die im Ausland erschienen, zu korrigieren. Gleichzeitig hielt ich den Kontakt zu mehreren ihrer engen Freunde aufrecht, die ich 1965 in England und Frankreich getroffen hatte.
Fehler jeglicher Art waren für Achmatowa ein Greuel. Das dichterische Wort war zu kostbar, um mißbraucht zu werden. Ich hätte gerne gewußt, was sie von meiner Arbeit gehalten hätte, aber als ich damit fertig war, konnte ich ihr keine Fragen mehr stellen. Ich konnte meine Fragen nur noch an ihre Dichtung richten.

Amanda Haight, Vorwort

Dank

Ich möchte Dr. Georgette Donchin meinen größten Dank aussprechen für ihre unerschöpfliche Hilfe und Unterstützung, während ich meine Doktorarbeit, Anna Akhmatova: Life and Work. An Interpretation in the Light of Biographical Material (University of London, 1971), schrieb. (…) Viele Freunde Anna Achmatowas, von denen manche heute tot sind, haben mir in meiner Erforschung des Lebens der Dichterin geholfen und geduldig meine vielen Fragen zu den Texten und dem biographischen Material beantwortet. Ich bin Boris Anrep, Boris Ardow, Michail Ardow, Viktor Ardow, Sir Isaiah Berlin, Ljubow Bolschintsowa, Jossif Brodskij, Nikolaj Chardshiew, Emma Gerstein, Salomea Halpern, Anna Kaminskaja, Nadeshda Mandelstam, Dimitrij Maximow, Michail Meilach, Anatoli Nayman, Nina Olschewskaja, Irina Tomaschewskaja, Lidija Tschukowskaja, Michail Senkewitsch und Wladimir Zykow zu besonderem Dank verpflichtet. Ich möchte auch der Worshipful Company of Goldsmiths und dem University of London Central Research Fund meinen Dank dafür aussprechen, daß sie mir Unterstützung gewährten, damit ich die Sowjetunion für meine Forschungsarbeit besuchen konnte.

Amanda Haight, London, Juni 1975

 

 

 

„Anstelle eines Vorworts“

Auf Ihnen ist das Zeichen Gottes…
Ossip Mandelstam, 1910

Anna Achmatowa, eine russische Dichterin, die schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berühmt wurde, scheint vom Schicksal auserwählt gewesen zu sein, alle intuitiven und ererbten Werte ihrer Zeitgenossen zu prüfen – erst gegen die begeisterten Glaubensbekenntnisse, die eine von einem zukünftigen Paradies träumende Revolution verbreitete, und dann deren repressive und paranoide Folgen: den totalitären Staat Stalins.
Achmatowa fand sich, zusammen mit bestimmten anderen Dichtern ihrer Generation, in eine Situation hineingezwungen, in der selbst ihr Leben von der Tatsache gefährdet war, daß sie Gedichte schrieb. Fragen, die unter anderen Umständen einfach Themen intellektueller Spekulation gewesen wären, konnten über Leben und Tod entscheiden. Schreiben oder nicht schreiben – beides konnte zu gewissen Zeiten eine Gefängnisstrafe oder den Tod für sie, oder noch schlimmer, für ihren Sohn bedeuten. Das eine oder das andere zu tun, war nicht mehr von nur persönlicher Bedeutung, sondern wurde zu einer politischen Entscheidung. Daß die Dichterin wider alle logische Erwartung entdeckte, daß sie keine andere Wahl hatte, als in solchen Zeiten auch gegen ihren Willen weiter zu schreiben, und daß diese extreme Prüfung noch einmal die lebensnotwendige Bedeutung und Macht des dichterischen Wortes beweisen sollte, ist eine Antwort an alle, die die Funktion der Literatur in Frage stellen.
Achmatowas Privatleben hatte sie schon auf diese Aufgabe vorbereitet. Sie mußte früh lernen, daß das Opfer ihrer dichterischen Begabung sie nicht zu dem machen konnte, was sie nicht war: eine gewöhnliche Frau. Erst spät in ihrem Leben, als sie völlig eine Rolle akzeptiert hatte, die von Kindheit an eine vorbestimmte und tragische Rolle zu sein schien, konnte sie die einfachen, alltäglichen Kontakte liebevoller Beziehungen genießen, in denen die meisten Frauen zu sich selbst finden. Was für andere das schwierigste war, nämlich der tiefe, geistige Kontakt, fiel ihr leicht: Das Außergewöhnliche war ihr zugänglich, aber das Gewöhnliche nicht. Ihre Ehen waren unglücklich und der Umgang mit ihrem Sohn und ihrer Stieftochter schwierig. Als sie endlich diese gewöhnlichere Art der Beziehung mit ihrer Stiefenkelin Anja Kaminskaja, mit ihrer engen Freundin Nina Olschewskaja und mit ihren Kindern herstellen konnte, bedeutete es ihr sehr viel. Es war wichtig für sie, endlich nicht nur eine Frau der Tiefe und des Verständnisses sein zu können, sondern auch einfach eine Großmutter, eine Freundin.
Aber Achmatowa erwarb sich das Recht, auch das zu sein, was sie nicht von Natur aus war, indem sie völlig akzeptierte, was sie war – eine Dichterin. Ihre Bejahung dessen, nach tiefen Konflikten in ihrem persönlichen Leben, bedeutete auch, daß sie später, als man sie angriff, schon die Motive für ihr Schreiben zutiefst in Frage gestellt und entdeckt hatte, daß es ihre einzig wahre Quelle der Kraft war. Sie war sehr verwundbar, denn sie wußte, daß Dichtung für sie das Leben bedeutete, aber sie besaß auch eine innere Stärke, denn sie hatte ihre wahre Identität entdeckt.
Von Anfang an war Achmatowa damit beschäftigt, der Frau eine Stimme zu verleihen in einer Gesellschaft, in der die Stimmen der Frauen zwar langsam gehört wurden, aber nur wenige dieser Stimmen tatsächlich zu hören waren, und in der Frauen immer noch an der Illusion litten, sie müßten so wie Männer werden, um ihnen gleichwertig zu sein. Als zutiefst religiöse und zugleich leidenschaftliche Frau mit einer engen Verbindung zur Natur wurde Achmatowa gezwungen, die falsche Doktrin, die so oft körperliches Verlangen gegen den Willen Gottes setzt, zu untersuchen und schließlich abzulehnen. Sie untersuchte von neuem die Einstellung gegenüber dem weiblichen Geschlecht, die im letzten Jahrhundert so viel Leid verursacht hatte, und verwarf diese Einstellung, die Frauen einteilte in jene, die „rein“, und in jene, die „gefallen“ waren. Als sie in ihrer Dichtung versuchte, diesen Bruch zu heilen, spottete man jahrelang, sie sei „halb Nonne, halb Dirne“.
Leben und Werk Achmatowas spiegeln die Entwicklung ihrer eigenen Einsicht und Selbsterkenntnis. Hätte sie auch nur für einen Moment ihre Fähigkeit verloren, das rohe Material ihres Lebens in einer dichterischen Biographie zu strukturieren, wäre sie von dessen Verwirrungen und Tragödien überwältigt worden. Die Triumphzüge, die sie am Ende ihres Lebens nach Westeuropa – nach Taormina und Oxford – machte, waren nicht so sehr persönlicher Erfolg als vielmehr Bestätigung dafür, daß sie und andere Menschen die innere Wahrheit des Dichters verteidigt hatten. Sie fuhr nach Sizilien und England, um nicht nur für sich Ehren in Empfang zu nehmen, sondern auch für die Dichter, die nicht überlebt hatten, für Ossip Mandelstam und Nikolaj Gumiljow. Sie ging als Dichterin, in dem Wissen, was es wirklich bedeutet, eine russische Dichterin zu sein in dem, was sie das „wahre zwanzigste Jahrhundert“ nannte.

Amanda Haight, Vorwort

 

Die klagende Muse

Als der Vater erfuhr, daß seine Tochter eine Auswahl ihrer Gedichte in einer St. Petersburger Zeitschrift veröffentlichen wollte, rief er sie zu sich und teilte ihr mit, er habe zwar nichts dagegen, daß sie schreibe, aber er bitte sie doch dringend, „einen ehrbaren guten Namen nicht zu besudeln“ und ein Pseudonym zu verwenden. Die Tochter willigte ein, und so hielt „Anna Achmatowa“ anstelle von Anna Gorenko Einzug in die russische Literatur. – Daß sie einwilligte, geschah weder aus Unsicherheit über ihre Begabung oder die erwählte Tätigkeit noch in Vorahnung dessen, welchen Nutzen eine gespaltene Identität für einen Schriftsteller haben kann. Der Grund war einfach die „Wahrung des Anscheins“, da literarische Betätigung in den Adelsfamilien – zu denen die Gorenkos zählten – allgemein als ziemlich unpassend galt, angebracht für Leute einfacherer Herkunft, die keine bessere Möglichkeit hatten, sich einen Namen zu machen.
Trotzdem war das väterliche Ansinnen etwas übertrieben. Schließlich waren die Gorenkos keine Fürsten. Doch lebte die Familie in Zarskoje Selo – Zarendorf –, der Sommerresidenz der kaiserlichen Familie, und diese Topographie könnte den Mann beeinflußt haben. Für seine siebzehnjährige Tochter dagegen hatte der Ort eine andere Bedeutung. Zarskoje war die Stätte des Lyzeums, in dessen Gärten ein Jahrhundert zuvor der junge Puschkin „sorglos erblüht“ war.
Was das Pseudonym betraf, so hatte seine Wahl mit Anna Gorenkos Ahnen mütterlichseits zu tun, die sich bis zum letzten Chan der Goldenen Horde zurückverfolgen ließen: bis zu Achmat (Ahmed) Chan, einem Nachkommen Tschingis Chans. „Ich bin Tschingisin“, pflegte sie nicht ohne einen Anflug von Stolz zu bemerken; und für das russische Ohr hat ,,Achmatowa“ einen deutlich orientalischen, genauer: tatarischen Beiklang. Allerdings legte sie es keineswegs auf exotische Wirkung an, schon deshalb nicht, weil ein auch nur entfernt tatarisch klingender Name in Rußland nicht auf Neugierde, sondern auf Vorurteile stößt.
Gleichviel die fünf offenen ,A‘ in Anna Achmatowa hatten eine hypnotische Wirkung und verankerten die Trägerin dieses Namens im Alphabet der russischen Lyrik ganz obenan. Es war gewissermaßen ihre erste gelungene Zeile; einprägsam weil man sich ihrem Klang nicht entziehen konnte, mit dem weniger vom Gefühl als von der Geschichte getragenen langen A. Die Zeile sagt eine ganze Menge aus über Intuition und Gehör dieser Siebzehnjährigen, die bald nach ihrer ersten Veröffentlichung Briefe und Dokumente als Anna Achmatowa zu unterschreiben begann. In seiner Suggestion einer aus der Verschmelzung von Klang und Zeit hergeleiteten Identität erwies sich das erwählte Pseudonym als prophetisch.

Anna Achmatowa gehört zu jener Kategorie von Dichtern, die weder eine Genealogie noch eine erkennbare „Entwicklung“ aufweisen. Sie zählt zu jenen Dichtern, die einfach „vom Himmel fallen“; die zur Welt kommen mit einer bereits fertigen Sprache und mit ihrer ureigenen Sensibilität. Sie kam, mit allem versehen, und glich nie Jemand anderem. Noch bezeichnender vielleicht war, daß keiner ihrer zahllosen Nachahmer jemals ein überzeugendes Imitat zustandebrachte; letztlich glichen sie sich untereinander mehr als ihr.
Dies läßt darauf schließen, daß Anna Achmatowas Sprache nicht raffinierter stilistischer Kalkulation entsprang, sondern etwas, das weniger faßlich war, und stellt uns vor die Notwendigkeit, den zweiten Teil von Buffons berühmter Gleichung für den Begriff des „Selbst“ – „Le style est l’homme même“ – aufzuwerten.
Von den geheiligten allgemeinen Aspekten dieses Wesens – des „Selbst“ – abgesehen, war dessen Einzigartigkeit im Falle der Achmatowa zusätzlich durch ihre unbestreitbare äußere Schönheit gewährleistet. Sie sah einfach überwältigend aus. Ein Meter achtzig groß, dunkelhaarig, hellhäutig, mit den blassen graugrünen Augen der Schneeleoparden, schlank und unglaublich geschmeidig – so wurde sie ein halbes Jahrhundert lang von einer Vielzahl von Künstlern, beginnend mit Amadeo Modigliani, skizziert, gemalt, modelliert, geschnitzt und photographiert. Und die ihr gewidmeten Gedichte würden mehr Bände füllen als ihre eigenen gesammelten Werke.
All dies soll nur zeigen, daß der sichtbare Teil dieses Wesens ziemlich atemberaubend war; daß der verborgene dem vollkommen entsprach, dafür zeugt ihr Werk, das beide verbindet.
Hauptkennzeichen dieser Verbindung sind Adel und Zurückhaltung. Die Achmatowa ist die Dichterin strenger Metren, genauer Reime und kurzer Sätze. Ihre Syntax ist einfach und frei von Nebensätzen, deren gnomische Windungen für den Großteil der russischen Literatur symptomatisch sind; ja, in ihrer Einfachheit ähnelt ihre Syntax dem Englischen. Vom ersten Tag ihrer dichterischen Laufbahn an bis zum Schluß war die Achmatowa immer vollkommen klar und verständlich. Unter ihren Zeitgenossen ist sie eine Jane Austen. Und wenn manche Aussagen dunkel waren, lag es jedenfalls nicht an ihrer Grammatik.
In einer Ära so vieler technischer Experimente in der Lyrik war sie entschieden nicht-avantgardistisch. Wenn überhaupt, ähnelten ihre Mittel optisch dem, was in Rußland wie überall um die Jahrhundertwende die Erneuerungswelle in der Lyrik ausgelöst hatte: den allgegenwärtigen Vierzeilern der Symbolisten. Diese optische Übereinstimmung wurde von der Achmatowa bewußt aufrechterhalten, aber nicht, um sich ihre dichterische Aufgabe dadurch zu vereinfachen, sondern um keine Vorgabe zu haben. Sie wollte fair und offen spielen, ohne Regeln zu beugen oder zu erfinden. Kurz, ihre Verse sollten den Anschein wahren.
Nichts enthüllt so sehr die Schwächen eines Dichters wie der klassische Vers, und darum wird er auch so allgemein gemieden. Em Verspaar zu finden, das weder komisch noch wie das Echo eines anderen, sondern unerwartet klingt, ist eine äußerst verwickelte Angelegenheit. Dieser Echoaspekt strenger Metren macht einem sehr zu schaffen, und auch wenn man die Zeile mit noch so vielen konkreten Details befrachtet, hilft einem das nicht weiter. Die Achmatowa klingt so souverän, weil sie sich von Anbeginn den Feind zunutze zu machen wußte.
Sie tat es durch eine collageartige Buntheit des Inhalts. Innerhalb nur einer Strophe behandelte sie oft eine Vielzahl scheinbar unzusammenhängender Dinge. Wenn eine Person in einem Atemzug über die Tiefe ihrer Empfindung, über Stachelbeerblüten und darüber spricht, daß sie den linken Handschuh über die rechte Hand zieht, dann überfordert das den Atem – im Gedicht also das Metrum – so sehr, daß man darüber seine Herkunft vergißt. Das Echo, mit anderen Worten, wird der Diskrepanz der Dinge untergeordnet, versieht sie sogar mit einem gemeinsamen Nenner; es hört auf, eine Form zu sein, und wird zu einer Sprachnorm.
Früher oder später erleiden das Echo und die Dinge in ihrer Vielfalt immer dieses Schicksal – in der russischen Dichtung durch die Hand der Achmatowa; genauer, durch die Hand jenes Wesens, das ihren Namen trug. Man kann nicht umhin sich vorzustellen, daß – während der innere Teil dieses Wesens hört, was mittels des Reims die Sprache selbst über die Nähe jener disparaten Dinge andeutet – der äußere diese Nähe buchstäblich vom Blickpunkt seiner tatsächlichen Körpergröße aus sieht. Die Achmatowa paart nur, was schon verbunden ist: in der Sprache und in ihren Lebensumständen, wenn nicht sogar, wie es heißt, im Himmel.
Dies macht den Adel ihrer Ausdrucksweise aus, zumal sie mit dem, was an ihren Gedichten neu ist, sehr zurückhaltend verfährt. Ihr Reime sind diskret, das Metrum ist unaufdringlich. Manchmal ließ sie ein, zwei Silben in der letzten oder vorletzten Zeile einer Strophe weg, um die Wirkung eines Würgens im Hals oder einer durch Gefühlsanspannung hervorgerufenen unabsichtlichen Unbeholfenheit zu erzielen. Aber weiter ging sie nicht, denn sie fühlte sich sehr heimisch in den Grenzen des klassischen Verses, deutete damit auch an, daß ihre Verzückungen und Offenbarungen formal nicht anders behandelt werden mußten, ja, daß sie keinesfalls mehr Gewicht hatten als die ihrer Vorgänger, die zuvor diese Metren benutzten.
Natürlich stimmte das so nicht ganz. Niemand nimmt die Vergangenheit so gründlich in sich auf wie ein Dichter, und sei es nur aus Sorge, das schon Erfundene noch einmal zu erfinden. (Aus diesem Grunde, nebenbei gesagt, gilt der Dichter so oft als „seiner Zeit voraus“, weil diese mit dem Widerkäuen von Klischees beschäftigt ist.) Gleichgültig, was ein Dichter zu sagen vorhat – im Augenblick des Sprechens weiß er immer, daß das Thema ererbt ist. Die große Literatur der Vergangenheit demütigt einen nicht nur durch ihre Qualität, sondern ebenso durch ihre thematische Vorwegnahme. Daß ein guter Dichter zurückhaltend über seinen eigenen Kummer spricht, liegt daran, daß er, dem Ewigen Juden gleich, mit dem Kummer aller Zeiten vertraut ist. In diesem Sinn war die Achmatowa durchaus das Produkt der Petersburger Tradition in der russischen Lyrik, deren Begründer ihrerseits den europäischen Klassizismus wie auch dessen römische und griechische Ursprünge hinter sich wußten. Zudem gehörten auch sie der Aristokratie an.
Wenn die Achmatowa zurückhaltend war, dann zumindest teilweise deshalb, weil sie das Erbe ihrer Vorgänger in die Kunst dieses Jahrhunderts hinüberbrachte. Es war dies offensichtlich nicht mehr als eine Huldigung an sie, da es ja gerade dieses Erbe war, das sie zu einer Dichterin dieses Jahrhunderts machte. Sie sah sich selbst, mit ihren Verzückungen und Offenbarungen, lediglich als ein Postskriptum zu der Botschaft ihrer Vorgänger an, zu dem, was sie über ihr Leben aufgezeichnet hatten. Deren Leben war tragisch, und daher war es die Botschaft auch. Wenn das Postskriptum düster aussieht, dann weil die Botschaft voll aufgenommen wurde. Wenn die Achmatowa nie schreit oder Asche auf ihr Haupt streut, dann weil ihre Vorgänger es nicht taten.

Mit diesem Stichwort, in dieser Tonart fing sie an. Ihre ersten Bände hatten ungeheuren Erfolg bei Kritik und Publikum. Im allgemeinen sollte man die Reaktion auf ein Werk als letztes in Betracht ziehen, weil sie das ist, woran der Dichter zuletzt denkt. Anna Achmatowas Erfolg war bemerkenswert, wenn man den Zeitpunkt bedenkt – vor allem bei ihrem zweiten und dritten Band: 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkriegs) und 1917 (Oktoberrevolution in Rußland). Andererseits war es vielleicht genau dieses ohrenbetäubende Donnergrollen des weltgeschichtlichen Hintergrunds, das das private Tremolo der jungen Lyrikerin um so vernehmlicher und um so lebensnotwendiger machte. Auch hier wieder nahm der Beginn ihrer dichterischen Laufbahn prophetisch den weiteren Verlauf in dem folgenden halben Jahrhundert vorweg. Der prophetische Eindruck verstärkt sich noch dadurch, daß damals – für russische Ohren – dem weltgeschichtlichen Donnergrollen nur das unablässige, gänzlich bedeutungslose Gemurmel der Symbolisten begegnete. Schließlich schrumpften beide Geräusche und gingen auf in dem unzusammenhängenden bedrohlichen Dröhnen der neuen Ära, gegen das anzusprechen der Achmatowa für den Rest ihres Lebens bestimmt war.
Jene frühen Bände (Abend, Rosenkranz und Weiße Schar) handelten überwiegend von dem Gefühl, daß für frühe Bände de rigueur ist: dem der Liebe. Die Gedichte in diesen Bänden hatten eine tagebuchartige Intimität und Direktheit; sie beschrieben nicht mehr als ein tatsächliches Ereignis oder seelisches Geschehen und waren kurz – höchstens sechzehn bis zwanzig Zeilen. So konnte man sie sich rasch einprägen, was Generationen von Russen auch taten und noch heute tun.
Und doch waren es weder ihre Kompaktheit noch ihr Sujet, deretwegen man sie im Gedächtnis behalten wollte; derartiges war dem erfahrenen Leser durchaus vertraut. Neu daran war die Art der Empfindung, die sich darin äußerte, wie die Autorin ihr Thema behandelte. Betrogen, von Eifersucht oder Schuld gequält, spricht die verwundete Heldin dieser Gedichte häufiger in Selbstvorwürfen als in Zorn, verzeiht beredter als sie anklagt, fleht eher, als daß sie schreit. Sie entfaltet die ganze emotionale Subtilität und psychische Komplexität der russischen Prosa des neunzehnten Jahrhunderts und all die Würde, die die Lyrik desselben Jahrhunderts sie lehrte. Daneben findet sich auch sehr viel Ironie und Distanz, die nur ihr eigen sind, Ergebnis ihrer Metaphysik und nicht etwa der kürzeste Weg in die Resignation.
Unnötig zu sagen, daß diese Eigenheiten ihrer Leserschaft gelegen kamen. Mehr als irgendeine andere Kunst ist Lyrik eine Form der éducation sentimentale, und die Verse, die die Achmatowa-Leser auswendig lernten, stählten ihre Herzen gegen den Ansturm von Vulgarität in der neuen Zeit. Wer die Metaphysik eines individuellen Dramas begreift, hat größere Chancen, dem Drama der Geschichte zu trotzen. Aus diesem Grund – und nicht nur wegen der epigrammatischen Schönheit ihrer Verse – klammerte sich das Publikum unbewußt so sehr an sie. Es war eine instinktive Reaktion; und zwar die des instinktiven Selbsterhaltungstriebs, denn das wilde Grollen der Geschichte wurde immer vernehmlicher.
Die Achmatowa jedenfalls hörte es ganz deutlich. Den intensiv persönlichen Lyrismus der Weißen Schar färbt ein Ton, der ihr Kennzeichen werden sollte: der Ton beherrschten Entsetzens. Der Mechanismus, der dazu dienen sollte, Gefühle romantischer Natur unter Kontrolle zu halten, erwies sich als ebenso wirksam gegenüber tödlichen Ängsten. Beide Aspekte dieses Mechanismus verflochten sich zunehmend miteinander, bis eine emotionale Tautologie daraus wurde, und die Weiße Schar bezeichnet den Beginn dieses Vorgangs. Mit diesem Band prallte die russische Lyrik gegen das „wahre, nichtkalendarische zwanzigste Jahrhundert“ ohne jedoch bei dem Aufschlag zu zerbrechen.
Die Achmatowa zumindest schien für dieses Aufeinandertreffen besser gerüstet als die meisten ihrer Zeitgenossen. Zum Zeitpunkt der Revolution war sie achtundzwanzig: weder Jung genug, um an sie zu glauben, noch zu alt, um sie zu rechtfertigen. Außerdem war sie eine Frau, und es wäre gleichermaßen unpassend für sie gewesen, das Ereignis zu preisen oder zu verdammen. Sie entschloß sich auch nicht, den Wandel der Gesellschaftsordnung als Aufforderung zu verstehen, ihr Metrum und ihre Assoziationsketten zu lockern. Denn Kunst ahmt das Leben nicht nach, wenn auch nur aus Angst vor Klischees. Sie blieb ihrer Diktion treu, dem privaten Timbre, der Brechung eher als der Reflexion des Lebens durch das Prisma des individuellen Gefühls. Außer daß die Details, die früher in den Gedichten die Aufmerksamkeit von einem emotionsträchtigen Gegenstand hatten ablenken sollen, zunehmend weniger Trost boten und den Gegenstand selbst zu überschatten begannen.
Sie lehnte die Revolution nicht ab: Trotzhaltung lag ihr auch nicht. Im neueren Sprachgebrauch würde man sagen, sie verinnerlichte sie. Sie nahm sie einfach als das, was sie war: ein schrecklicher nationaler Aufruhr, der einen enormen Anstieg des Kummers für jeden einzelnen bedeutete. Sie begriff dies nicht nur, weil auf sie selbst ein zu hoher Anteil davon entfiel, sondern zuallererst durch ihre dichterische Arbeit. Der Dichter ist nicht nur auf Grund seiner prekären Stellung ein geborener Demokrat, sondern auch, weil er sich an das ganze Volk richtet und dessen Sprache verwendet. Dasselbe tut die Tragödie, daher ihre Affinität. Die Achmatowa, deren Lyrik immer zum Volkstümlichen, Volksliedhaften neigte, konnte sich viel eingehender mit den Leuten identifizieren als jene, die damals ihre literarischen oder anderen Programme forcierten: sie ließ Kummer einfach gelten.
Von ihrer Identifizierung mit dem Volk zu sprechen, heißt aber auch eine verstandesmäßige Einordnung vornehmen, die in Wirklichkeit, weil völlig überflüssig, nie stattfand. Sie war Teil des Ganzen, und ihr Pseudonym war ihrer klassenmäßigen Anonymität nur förderlich. Zudem verabscheute sie die Überlegenheitsaura des Wortes „Dichter“ gründlich. „Dichter, Billiarde“, pflegte sie zu sagen, „so große Worte verstehe ich nicht.“ Das war nicht Demut; es war das Ergebnis des nüchternen Blicks, mit dem sie ihr Dasein umschloß. Allein schon, daß die Liebe so beharrlich das Thema ihrer Dichtung blieb, weist deutlich auf ihre Nähe zum Durchschnittsmenschen hin. Wenn sie sich von ihrem Publikum unterschied, dann darin, daß ihre ethischen Grundsätze keiner historischen Anpassung unterzogen wurden.
Davon abgesehen, war sie wie alle anderen. Und die Zeit ließ auch keine große Variationsbreite zu. Wenn ihre Gedichte nicht direkt die vox populi waren, dann weil ein Volk nie mit einer Stimme spricht. Aber ebenso war ihre Stimme nicht die der Oberschicht, wenn auch nur, weil sie völlig frei war von der sentimentalen Volkstümelei, die der russischen Intelligentsia eigen ist. Das „Wir“, das sie um diese Zeit in Notwehr gegen die Unpersönlichkeit des ihr von der Geschichte zugefügten Schmerzes zu verwenden beginnt, wurde nicht von ihr selbst, sondern von den übrigen, die in dieser Sprache redeten, bis an die Grenzen seiner sprachlichen Tragfähigkeit erweitert. Was die Zukunft brachte, war so, daß dieses „Wir“ bleiben und die Autorität seiner Urheberin weiter zunehmen sollte.
Jedenfalls besteht von der inneren Einstellung her kein Unterschied zwischen Anna Achmatowas „staatsbürgerlichen“ Gedichten aus dem Ersten Weltkrieg und den Jahren der Revolution und denjenigen, die sie gut dreißig Jahre später während des Zweiten Weltkriegs schrieb. Ja, Gedichte wie „Gebet“ könnten – ließe man das Datum weg – auf praktisch jeden Moment der russischen Geschichte dieses Jahrhunderts bezogen sein, der den Titel dieses speziellen Gedichts rechtfertigt. Dies beweist die Empfindsamkeit ihrer Membran, aber vor allem auch, daß die historischen Umstände in den letzten achtzig Jahren die Arbeit des Dichters erleichtert haben. So sehr sogar, daß der Dichter einen möglicherweise prophetischen Vers eher verschmäht und einer schlichten Beschreibung von Tatsachen oder Gefühlen den Vorzug gibt.
Daher das charakteristische Benennen in Anna Achmatowas Versen ganz allgemein und zu jener Zeit im besonderen. Sie wußte nicht nur, daß die Gefühle und Wahrnehmungen, mit denen sie sich befaßte, ziemlich verbreitet waren, sondern auch, daß die Zeit, deren Natur die Wiederholung ist, sie allgemeingültig machen würde. Sie spürte, daß die Geschichte, wie ihre Objekte, nur begrenzte Möglichkeiten hat. Noch wichtiger war jedoch, daß jene „staatsbürgerlichen“ Gedichte lediglich Partikel waren, getragen von dem breiten Strom ihrer Lyrik, der das „Wir“ jener praktisch ununterscheidbar machte von dem häufigeren gefühlsbeladenen „Ich“. Da sie sich überschnitten, gewannen beide Pronomen an Wahrscheinlichkeit. Da der Name des Stroms „Liebe“ war, durchzog die Gedichte über die Heimat und die damalige Zeit eine fast unangebrachte Intimität; ebenso bekamen die Gedichte über Gefühle einen epischen Tonfall. Letzteres bedeutete ein Breiterwerden des Stroms.

In ihren späteren Jahren nahm es die Achmatowa stets übel, wenn Kritiker und Wissenschaftler ihre literarische Bedeutung auf ihre Liebeslyrik der Jahre 1910–1920 beschränken wollten. Völlig zu Recht, denn das Werk der folgenden vierzig Jahre wiegt ihre erste Dekade zahlenmäßig wie qualitativ mehr als auf. Dennoch sind diese Wissenschaftler und Kritiker zu begreifen, da Anna Achmatowa von 1923 an bis zu ihrem Tod im Jahre 1966 nicht einen einzigen eigenen Band veröffentlichen konnte und sie so gezwungen waren, sich mit dem zu befassen, was zugänglich war. Vielleicht aber gab es noch einen anderen Grund, weniger offensichtlich oder auch von jenen Wissenschaftlern und Kritikern weniger begriffen, weshalb es sie zu der frühen Achmatowa hinzog.
Im Lauf des Lebens redet die Zeit den Menschen in verschiedenen Sprachen an: in denen der Unschuld, Liebe, Treue, Erfahrung, Geschichte, Erschöpfung, Schuld, in denen des Zynismus, des Verfalls usw. Von all diesen ist die Sprache der Liebe eindeutig die lingua franca. Ihr Wortschatz nimmt den aller anderen Zungen in sich auf, und ihre Äußerung beschwingt ein Sujet, so unbeseelt es auch sein mag. So ausgedrückt zu werden, verleiht dem Sujet einen geistlich verbindlichen, fast heiligen Namen, worin sich sowohl unsere Art und Weise, die Gegenstände unserer Leidenschaften wahrzunehmen, widerspiegelt als auch die der Bibel entsprungene Ahnung dessen, was Gott ist. Liebe ist im wesentlichen eine bestimmte Haltung des Unendlichen gegenüber dem Endlichen. Die Umkehrung begründet entweder Glauben oder Dichtung.
Anna Achmatowas Liebesgedichte waren natürlich in erster Linie einfach nur Gedichte. Von allem anderen abgesehen besaßen sie aber auch eine enorme erzählerische Qualität, und ein Leser hätte sich auf angenehmste Art die Zeit damit vertreiben können, die diversen Drangsale und Anfechtungen ihrer Heldin aus ihnen herauszulesen. (Einige taten genau das, und die erhitzte Phantasie des Publikums sah daher die Autorin dieser Gedichte in „romantischer Verbindung“ mit Alexander Blok – dem Dichter jener Zeit – wie auch mit Seiner Kaiserlichen Majestät höchstpersönlich, obwohl sie weitaus bessere Gedichte schrieb als jener und zwanzig Zentimeter größer war als letzterer.) Halb Selbstporträt, halb Maske, fügte die handelnde Person dieser Gedichte zu einem realen Drama das Schicksalhafte des Theaters hinzu, um so ihre eigenen Grenzen und die des Schmerzes zu erproben. Glücklichere Zustände wurden der gleichen Probe unterworfen. Kurz, der Realismus diente als Transportmittel zu einem metaphysischen Ziel. Trotzdem hätte dies nur die Belebung der Tradition des Genres bedeutet, wäre da nicht die schiere Menge an Gedichten, die von besagtem Gefühl handeln.
Diese Menge sperrt sich gegen biographische wie freudianische Betrachtungsweisen, denn sie läßt die konkreten Adressaten weit hinter sich und macht aus ihnen Redevorwände der Autorin. Das Gemeinsame von Kunst und Sexualität ist, daß beide Sublimierungen der eigenen schöpferischen Energie sind, und das läßt keine Rangordnung zu. Das fast idiosynkratisch Beharrliche der frühen Liebesgedichte der Achmatowa läßt weniger auf stete Wiederkehr von Leidenschaft schließen als auf häufiges Gebet. Dementsprechend weisen diese Gedichte, so verschieden ihre erdachten oder wirklichen Protagonisten auch sind, beträchtliche stilistische Ähnlichkeiten auf, da das Thema Liebe die formalen Möglichkeiten nun einmal einschränkt. Dasselbe gilt für den Glauben. Es gibt eben nur eine gewisse Zahl angemessener Äußerungen für wahrhaft starke Gefühle; was – letztlich – die Rituale erklärt.
Es ist die Sehnsucht des Endlichen nach dem Unendlichen, die der steten Wiederkehr des Liebesmotivs in den Versen der Achmatowa zugrundeliegt, nicht die realen Liebschaften. Liebe ist in der Tat für sie eine Sprache geworden, ein Code, um die Botschaften der Zeit aufzuzeichnen oder wenigstens ihren Tonfall zu vermitteln; sie hörte sie einfach besser so. Denn was diese Dichterin am meisten interessierte, war nicht ihr eigenes Leben, sondern die Zeit und die Auswirkung ihrer Eintönigkeit auf die menschliche Psyche und insbesondere auf ihre eigene Ausdrucksweise. Wenn sie später die Versuche, nur ihre frühen Gedichte gelten zu lassen, verübelte, dann nicht weil ihr der Status des ständig liebeskranken Mädchens unangenehm war: sondern weil ihre Ausdrucksweise und damit ihr Code sich in der Folgezeit stark verändert hatten, um die Eintönigkeit des Unendlichen hörbarer zu machen.
In Anno Domini MCMXXI, ihrem fünften und, genaugenommen, letzten Band, war diese Eintönigkeit des Unendlichen schon durchaus vernehmlich. In einigen Gedichten dieses Bandes gehen das Eintönige und die Stimme der Autorin so sehr ineinander über, daß diese die Konkretheit eines Details oder Bildes schärfer fassen muß, um sie – und damit auch den eigenen Geist – vor der unmenschlichen Neutralität des Metrums zu retten. Die Verschmelzung, oder vielmehr die Unterordnung ersterer unter letztere, erfolgte später. In der Zwischenzeit versuchte die Autorin ihre eigenen Daseinsvorstellungen davor zu bewahren, von dem, was die Prosodie ihr lieferte, überrollt zu werden: denn Prosodie weiß mehr über eine Zeit, als ein menschliches Wesen wahrhaben möchte.
Diesem Wissen oder genauer: dieser Erinnerung neu gefügter Zeit unmittelbar ausgesetzt zu sein, hat eine übermäßige geistige Akzeleration zur Folge, die die Einsichten, die sich aus den realen Gegebenheiten herleiten, ihrer Neuheit, wenn nicht ihres Gewichts beraubt. Kein Dichter vermag diese Kluft je zu überbrücken, doch kann er, wenn er gewissenhaft ist, die Stimme senken oder seine Sprache dämpfen, um seine Entfremdung vom wirklichen Leben herunterzuspielen. Manchmal tut er das aus rein ästhetischen Gründen: um die eigene Stimme weniger theatralisch, weniger belcantohaft klingen zu lassen. Häufiger jedoch ist der Zweck dieser Camouflage, bei klarem Verstand zu bleiben, und als Dichterin strenger Metren benutzte die Achmatowa die Tarnung genau zu diesem Zweck. Aber je mehr sie das tat, desto unerbittlicher näherte sich ihre Stimme der unpersönlichen Tonlage der Zeit selber an, bis sie zu etwas verschmolzen, das einen schaudern macht bei dem Versuch zu erraten – wie in ihren Nordischen Elegien –, wer sich hinter dem Pronomen „Ich“ verbirgt.
Was den Pronomen geschah, geschah auch anderen Redeteilen, die in der von der Prosodie gelieferten Zeitperspektive versickerten oder sich drohend auftürmten. Die Achmatowa war eine sehr konkrete Lyrikerin, doch je konkreter das Bild, desto außerzeitlicher wurde es durch das begleitende Metrum. Kein Gedicht wird je um seiner erzählerischen Linie willen geschrieben, so wie kein Leben um eines Nachrufs willen gelebt wird. Was die Musik eines Gedichts genannt wird, ist im wesentlichen die Zeit, neu gefügt auf eine Weise, daß der Gedichtsinhalt in einen sprachlich zwingenden, einprägsamen Brennpunkt gerückt wird.
Der Klang, mit anderen Worten, ist im Gedicht der Sitz der Zeit, ein Hintergrund, vor dem sein Inhalt Raumwirkung gewinnt. Die Kraft der Verse Anna Achmatowas rührt von ihrer Fähigkeit her, das unpersönlich-epische Brausen der Musik mitzuteilen, das dem eigentlichen Inhalt der Gedichte nur allzu sehr entsprach, besonders von den zwanziger Jahren an. Die Wirkung dieser Instrumentierung auf ihre Themen ließe sich vergleichen mit der Reaktion von jemandem, der gewohnt ist, vor die Wand gestellt zu werden, und sich plötzlich vor den Horizont gestellt findet.
Ausländische Leser sollten sich das immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, da dieser Horizont sich in Übersetzungen auflöst und auf dem Papier fesselnde, aber inhaltlich eindimensionale Texte zurückläßt. Andererseits mag es den ausländischen Leser vielleicht trösten, daß auch die einheimische Leserschaft dieser Dichterin mit ihrem Werk in sehr entstellter Gestalt umzugehen gezwungen war. Übersetzungen und Zensur haben miteinander gemein, daß beide nach dem Prinzip des Möglichen vorgehen, und es muß festgehalten werden, daß sprachliche Barrieren ebenso hoch sein können wie die vom Staat errichteten. Anna Achmatowa jedenfalls ist von beiden umringt, und lediglich erstere weisen Anzeichen von Auflösung auf.
Anno Domini MCMXXI war ihr letzter Band: in den folgenden vierundvierzig Jahren brachte sie kein eigenes Buch heraus. In den Nachkriegsjahren gab es zwar zwei schmale Ausgaben ihrer Texte, die hauptsächlich einige wenige Nachdrucke früher Gedichte enthielten, dazu wirklich patriotische Kriegsgedichte und ungelenkes Gereime, das die Ankunft des Friedens pries. Letzteres hatte sie verfaßt, um die Entlassung ihres Sohnes aus den Arbeitslagern zu erreichen, in denen er dennoch achtzehn Jahre zubrachte. Diese Veröffentlichungen können aber in keiner Weise als ihre eigenen angesehen werden, denn die Gedichte waren von den Lektoren der staatseigenen Verlage ausgewählt worden mit dem Ziel, die Öffentlichkeit (vor allem im Ausland) davon zu überzeugen, daß die Achmatowa am Leben, bei guter Gesundheit und staatstreu war. Insgesamt waren es etwa fünfzig Texte, und sie hatten nichts mit dem zu tun, was sie in jenen vier Jahrzehnten geschaffen hatte.
Für jemanden von der dichterischen Statur Anna Achmatowas hieß das, lebendig begraben zu sein, mit ein paar Steinplatten, die den Grabhügel bezeichneten. Ihr Zugrundegehen war das Ergebnis mehrerer Kräfte, in erster Linie der Geschichte, deren Hauptelement Vulgarität ist, und als deren direkter Vertreter der Staat handelt. Bereits MCMXXI, d.h. im Jahre 1921, hatte der neue Staat es geschafft, mit der Achmatowa über Kreuz zu sein; ihr erster Mann, der Lyriker Nikolaj Gumiljow, war von der Tscheka hingerichtet worden, angeblich auf direkten Befehl des Staatsoberhauptes Lenin. In seiner irrwitzigen Schulmeistermentalität des Auge-um-Auge war der neue Staat außerstande, von der Achmatowa daraufhin etwas anderes als Vergeltung zu erwarten, besonders angesichts ihrer bekannten Neigung zum autobiographischen Detail.
Derart war vermutlich der Gedankengang des Staates, und er wurde durch die Auslöschung ihres gesamten Kreises (einschließlich ihrer engsten Freunde, der Dichter Wladimir Narbut und Ossip Mandelstam.) in den folgenden anderthalb Jahrzehnten bekräftigt. Er gipfelte in den Verhaftungen ihres Sohnes Lew Gumiljow und ihres dritten Mannes, des Kunsthistorikers Nikolaj Punin, der bald im Gefängnis starb. Dann kam der Zweite Weltkrieg.
Jene fünfzehn Jahre, die dem Krieg vorangingen, waren vielleicht die düstersten in der gesamten russischen Geschichte; zweifellos waren sie es im Leben der Achmatowa. Das Material, das dieser Zeitraum lieferte, oder genauer: die Menschenleben, die er nahm, trugen ihr schließlich den Titel der „klagenden Muse“ ein. Diese Jahre tauschten einfach die Häufigkeit von Liebesgedichten gegen die von Gedichten in memoriam aus. Der Tod, den sie früher als Lösung dieser oder jener gefühlsmäßigen Anspannung beschworen hatte, wurde zu real, als daß er noch für irgendwelche Gefühle eine Rolle spielte. Von einer Sprachfigur wurde er zu einer Figur, die sprachlos macht.
Wenn sie zu schreiben fortfuhr, dann weil Prosodie den Tod in sich aufnimmt und weil sie sich schuldig fühlte, daß sie weiterlebte. Die Stücke, die ihren Totenkranz bilden, sind einfach Versuche, diejenigen, die sie überlebt hatte, Prosodie in sich aufnehmen oder sie zumindest daran Anteil haben zu lassen. Nicht, daß sie ihre Toten „unsterblich“ zu machen versuchte: die meisten von ihnen waren längst der Stolz der russischen Literatur und hatten sich daher selbst bereits unsterblich genug gemacht. Sie versuchte nur, mit der Sinnlosigkeit des Daseins irgendwie umzugehen, die sich, weil die Quellen seiner Sinnhaftigkeit zerstört waren, plötzlich abgrundgleich vor ihr auftat, versuchte, die verwerfliche Unendlichkeit zu domestizieren, indem sie sie mit vertrauten Schatten bevölkerte. Die Toten anzusprechen war außerdem der einzige Weg, das Sprechen davor zu bewahren, in Geheul überzugehen.
Elemente von Geheul sind jedoch in anderen Achmatowa-Gedichten dieser und späterer Jahre durchaus hörbar. Sie tauchen auf als gereizt-übersteigertes Reimen oder als eine völlig unverbundene Zeile innerhalb einer ansonsten zusammenhängenden Darstellung. Nichtsdestoweniger sind die Gedichte, die direkt vom Tod eines Menschen handeln, frei von derartigen Dingen, als ob die Autorin die Adressaten nicht durch ihre extremen Gefühlsäußerungen beleidigen wollte. Diese Weigerung, die letzte Gelegenheit zu nutzen, sich ihnen aufzudrängen, spiegelt natürlich ihre lyrische Praxis wider. Doch indem sie die Toten weiterhin anspricht, als wären sie lebendig, indem sie ihre Ausdrucksweise nicht dem „Anlaß“ anpaßt, weist sie ebenso die Gelegenheit zurück, die Toten als jene idealen, absoluten Gesprächspartner auszunutzen, die jeder Dichter sucht und entweder bei den Toten oder unter Engeln findet.
Tod als Thema ist ein guter Prüfstein für die ethische Einstellung eines Dichters. Das „in memoriam“-Genre dient häufig als Übung in Selbstmitleid oder zu metaphysischen Trips, die die unterbewußte Überlegenheit des Überlebenden gegenüber dem Opfer anzeigen, der Mehrheit (der Lebenden) gegenüber der Minderheit (der Toten). Die Achmatowa will nichts von alledem wissen. Sie hebt ihre Gefallenen einzeln hervor, anstatt sich allgemein über sie zu ergehen, weil sie für eine Minderheit schreibt, mit der sich zu identifizieren für sie jedenfalls leichter ist. Sie behandelt sie einfach weiterhin als Individuen, die sie kannte und die, wie sie spürt, sich höchst ungern als Ausgangspunkt zu irgendeinem Ziel, und sei es noch so spektakulär, benutzen lassen würden.
Nur allzu begreiflich, daß derartige Gedichte nicht veröffentlicht werden konnten, nicht einmal aufgeschrieben oder abgetippt. Als einziges blieb, sie auswendig zu lernen – was die Autorin und mit ihr etwa sieben andere Leute taten, da sie ihrem eigenen Gedächtnis nicht traute. Von Zeit zu Zeit traf sie sich heimlich mit einer dieser Personen und bat ihn oder sie, ganz ruhig diese oder jene Texte aufzusagen, als Bestandsaufnahme gewissermaßen. Eine keineswegs übertriebene Vorsichtsmaßnahme: Menschen verschwanden auf immer auf Grund geringerer Dinge als eines Stücks Papier mit ein paar Zeilen darauf. Außerdem fürchtete sie nicht so sehr um ihr eigenes Leben als um das ihres Sohnes, der im Lager war und um dessen Freilassung sie sich achtzehn Jahre lang verzweifelt bemühte. Ein kleines Stück Papier mit ein paar Zeilen darauf konnte viel kosten, ihn mehr als sie, die nur noch die Hoffnung und – vielleicht – den Verstand verlieren konnte.
Beider Tage jedoch wären gezählt gewesen, hätten die Staatsorgane ihr Requiem gefunden. In diesem Gedichtzyklus beschreibt sie den Leidensweg einer Frau, deren Sohn verhaftet wurde, die mit einem Päckchen für ihn an Gefängnismauern wartet und scheu über Schwellen von Amtszimmern hastet, um etwas über sein Schicksal in Erfahrung zu bringen. Nun, hier war die Achmatowa wirklich autobiographisch, und doch liegt die Stärke des Requiems darin, daß ihre Autobiographie nur allzu alltäglich war. Dieses Requiem betrauert die Trauernden: Mütter, die ihre Söhne verloren, Frauen, die zu Witwen wurden, manchmal beides, wie im Fall der Autorin. Es ist eine Tragödie, in der der Chor eher als der Held zugrundegeht.
Das Maß an Mitleid, mit dem die verschiedenen Stimmen des Requiems wiedergegeben sind, läßt sich nur aus dem orthodoxen Glauben der Autorin erklären; das Maß an Verständnis und Vergebung, auf das der bohrende, fast unerträgliche lyrische Ton dieses Werkes gründet, nur aus der Einzigartigkeit ihres Herzens, ihres Wesens und dem Zeitempfinden ihrer Persönlichkeit. Kein Glaubensbekenntnis hätte helfen können, diese zweimalige Witwenschaft durch die Hand des Regimes, dieses Sohnesschicksal, diese vierzig Jahre des erzwungenen Schweigens und der Achtung zu verstehen, geschweige denn zu vergeben und erst recht nicht zu überleben. Keine Anna Gorenko wäre fähig gewesen, das zu ertragen. Anna Achmatowa ertrug es, als hätte sie gewußt, was sie erwartete, als sie diesen Namen wählte.
In gewissen Phasen der Geschichte ist nur die Lyrik imstande, mit der Wirklichkeit adäquat umzugehen, indem sie sie zu etwas Faßlichem kondensiert, zu etwas, das anders vom Verstand nicht begriffen werden kann. In diesem Sinn nahm das ganze Volk den Namen Anna Achmatowa an – was ihre Beliebtheit erklärt und, was noch wichtiger war, ihr ermöglichte, für das Volk zu sprechen und ihm etwas zu sagen, was es nicht wußte. Im Grunde ihres Wesens war sie eine Dichterin der menschlichen Bindungen: der liebevoll gehegten, angespannten, zerrissenen. Sie zeigte diese Entwicklungen zuerst durch das Prisma des individuellen Gefühls, dann durch das Prisma des historischen Ablaufs, so wie er war. Das ist ungefähr das, was man an Optik überhaupt erreichen kann.
In den Brennpunkt gerückt wurden diese beiden Sehweisen durch Prosodie, die nichts anderes als ein Zeitspeicher innerhalb der Sprache ist. Daher übrigens auch ihre Fähigkeit zu vergeben – weil Vergebung keine vom Bekenntnis geforderte Tugend ist, sondern eine Eigenheit der Zeit in weltlichem wie metaphysischem Sinn. Deshalb auch werden Anna Achmatowas Verse, gedruckt oder nicht, überleben: wegen der Prosodie, wegen ihrer Beladenheit mit Zeit in beiderlei Sinn. Sie werden überleben, weil Sprache älter ist als der Staat und weil Prosodie die Geschichte immer überlebt. In der Tat bedarf sie der Geschichte kaum. Was sie braucht, sind Dichter, und genau das war Anna Achmatowa.

Joseph Brodsky, 1982, Deutsch von Sylvia List

 

In der Klage das Aufbegehren

„Klagende Muse“ hat Jossif Brodskij seinen Essay (1982) über Anna Achmatowa überschrieben, den die Herausgeber der Biographie von Amanda Haight hinzugefügt haben. „Auf das Jahrhundert Anna Achmatowas“ heißt ein Brodskij-Gedicht aus dem Jahre 1989 – es steht am Ende des Buches von Jelena Kusmina. Der junge Brodskij gehörte zu dem engsten Kreis der Dichter und Freunde, die Anna Achmatowa im hohen Alter bewundernd und lernend umgaben, die sie zu Grabe trugen. Nimmt man den Untertitel der Biographie Jelena Kusminas hinzu. „Ein Leben im Unbehausten“, dann läßt sich der Lebensweg Anna Achmatowas kaum besser benennen.
„Klagende Muse“, sagt Brodskij, nicht trauernde, in der Klage liegt das Aufbegehren, das Sich-nicht-Beugen, die letztlich ungebrochene Würde einer Frau und ihrer makellosen Dichtung, die mit dem eigenen Schmerz dem aller anderen Frauen des Jahrhunderts die Stimme verleiht. In einem Gedicht Anna Achmatowas heißt es:

Alle sind fortgegangen und niemand ist zurückgekehrt… Sie beschmutzten das allerreinste Wort… Sie trennten mich von meinem einzigen Sohn… Ich werde als Wahnsinnige der Stadt auf stillgewordenen Plätzen umherstreifen. (Übertragung aus der Biographie von Amanda Haight)

Man gerät in Versuchung, auch in einer Besprechung der Biographien die klassisch schöne Lyrik zu zitieren.
Die Verfasserinnen beider Lebensbeschreibungen haben die Gedichte in ihre Texte verwoben. Und die Gedichte werden jeweils in wortgetreuer, interlinearer Übersetzung wiedergegeben, was ausgesprochen zu begrüßen ist, da der Leser so einen ganz ursprünglichen Eindruck von der Dichtung erhält. Amanda Haight gibt immer zugleich mit der Darstellung der Lebensabschnitte auch eine Deutung der Gedichte, was wohl daher rührt, daß das Buch aus einer Dissertation entstanden ist. Diese Darstellungsweise hat Vor- und Nachteile. Das Buch erhält so eine gleichmäßige Struktur, läßt aber dem Leser weniger Raum für eigene Assoziationen und sein Stil ist (oder die Übersetzung?) leider zuweilen etwas trocken. Trotzdem muß diese deutsche Ausgabe zwanzig Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung als Verdienst gewürdigt werden, weil Amanda Haight noch selbst mit Anna Achmatowa gesprochen hat und ihre Darstellung unmittelbar unter diesem Eindruck entstand. Jelena Kusmina bezieht sich unter anderem auch auf die Mitteilungen von Amanda Haight und erzählt, daß die russische Dichterin zu der englischen Slawistin großes Vertrauen gehabt habe. – „Achmatowa hat ihr viel diktiert oder ihr einfach von ihrem Leben und von ihren Gedichten erzählt.“
Das Erscheinen beider Biographien gleichzeitig in Deutschland kann die literarische Öffentlichkeit ohne weiteres verkraften, ist doch bisher vieles aus dem Leben der Achmatowa und ihrer Dichtung nur bruchstückhaft bekannt gewesen. Der vielleicht größte und erschütterndste Gedichtzyklus Requiem erschien in der BRD erst 1989, als er auch erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht wurde (rund dreißig Jahre nach Achmatowas Tod).
Das Leben, das die Biographien beschreiben, könnte insgesamt mit einer Kapitelüberschrift von Jelena Kusmina benannt werden: „Den Schmerz in Kraft umschmelzen“. Lebensstationen können nur in Stichworten genannt werden: Weltkrieg, Revolution, Stalinismus, „Säuberungen“, Besetzung. Der erste Mann, der Lyriker Nikolai Gumiljow, wurde 1921 erschossen, Nikolai Punin, den die Achmatowa in dritter Ehe heiratete, kam 1953 im Lager um wie vorher viele Freunde, unter ihnen Mandelstam und Pilnjak. Ihr einziger Sohn mußte achtzehn Jahre in Haft verbringen. In Requiem beschreibt sie das Leid einer Frau, deren Sohn verhaftet ist und die mit einem Päckchen für ihn vor dem Gefängnistor wartet.
Von 1923 bis zu ihrem Tod 1966 hat Anna Achmatowa keinen einzigen Band veröffentlichen können. Sie lebte „unbehaust“ und trug ihre Gedichte in einer kleinen Schatulle bei sich. Einiges schrieb sie zunächst nicht auf, unter anderem die Gedichte zu Requiem. Wären sie gefunden worden, hätte das ihren und den Tod des Sohnes bedeuten können. Erst später hat sie es mühsam rekonstruiert. All dies ist nun in den Biographien nachzulesen – bei Jelena Kusmina noch vollständiger als bei Amanda Haight.
Kusmina, Mitarbeiterin am neugegründeten Achmatowa-Museum in St. Petersburg, hat ein brillantes, spannendes und fast atemlos zu lesendes Buch geschrieben, in das sie bisher noch nicht veröffentlichte Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen der Dichterin eingebaut hat. Dazu enthält das Buch sehr viele (ebenfalls bisher noch unveröffentlichte) Fotos, die eine Ergänzung zu den Abbildungen der anderen Biographie bilden. Das Buch fordert geradezu heraus, die Gedichte einer der größten Dichterinnen unseres Jahrhunderts ganz neu zu lesen.

Sabine Neubert, nd, 11.8.1995

 

FÜR ANNA ACHMATOWA

Das Regenrohr und eine Eisenleiter
Ich höre den Regen. Wieder stemmt er sich
Dem Dach entgegen

Wie der Regen an die Scheiben trommelt!

Solange gewartet, bis der Granit
Weicher als Wachs wurde.

Frisch wehte der Wind den Mai herbei
Durch alle Regenfälle steil vom Himmel

Es legen sich die vordiktierten Zeilen
Aufs reine Weiß.
bis alles schwebt –

Brigitte Struzyk

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zum 2. Todestag von Anna Achmatowa:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag von Anna Achmatowa:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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