Ana Blandiana: EngelErnte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ana Blandiana: EngelErnte

Blandiana-EngelErnte

IM DORF, IN DAS ICH ZURÜCKKEHRE

Im Dorf, in das ich zurückkehre,
zertrümmern Kuckucksuhren die Zeit,
und große Blöcke von Schweigen
liegen zermalmt im Staub des Wegs.
Die Zeiger drehen sich mit Fleiß
und zeigen stets etwas, das man nicht anschaun kann.
Die Stunden sind längst gefallen,
die Zeiger drehn sich endlos,
und verwirrt, dann und wann,
erscheint der Kuckuck und verkündet
mit trällerndem Ruf den Weltuntergang.

 

 

 

Nachwort

1.
Die Zeitungen überschwemmten das Land mit Erfolgsmeldungen, blätterten wieder mal ein ruhmreiches Kapitel der Geschichte auf und konstruierten aus Vokabeln der Lüge leuchtende Zukunftsvisionen. Der Nationalfeiertag, den die kommunistischen Machthaber lautstark und weihevoll als den Beginn einer neuen Ära zelebrierten, näherte sich. Vor 44 Jahren, am 23. August 1944, war der rumänische Caudillo Ion Antonescu gestürzt worden, erfolgte der Waffenwechsel Rumäniens an die Seite der Alliierten und die Kriegserklärung an Deutschland, den ehemaligen Verbündeten. Doch bei allem Aufwand wirkten diese Inszenierungen eher bescheiden, gemessen an den Kaskaden von Preisgesängen, die zur Geburtstagsfeier des Staatspräsidenten und Parteichefs Nicolae Ceauşescu angestimmt wurden – Monate vor dem Ereignis (26. Januar) und mit monatelangen Nachklängen. Ceauşescu ließ sich 365mal jährlich bedichten und umschmeicheln – als geliebtester Sohn des Volkes, als Architekt des modernen Rumänien, als Heilsbringer und Heiliger.
Da funkte in den Chor der Hymniker und Lobredner eine aparte Stimme hinein. Ende Juli 1988 erschien im Bukarester Ion-Creangă-Verlag das Kinderbuch Intîmplări de pe strada meaBegebenheiten in meiner Straße von Ana Blandiana. Die Verfasserin zählte zu den bekanntesten und beliebtesten rumänischen Schriftstellern, an ihre Bücher – zu jenem Zeitpunkt hatte sie über zwanzig veröffentlicht waren in kürzester Zeit vergriffen. Auch ihr neuestes Buch verschwand in Windeseile aus den Buchhandlungen. Das Erzählgedicht „O vedetă de pe strada mea“ – „Ein Star in meiner Straße“ hatte es den Lesern besonders angetan und kursierte in Abschriften landauf und landab. In lockerem, schelmisch verspieltem Plauderton „porträtiert“ Ana Blandiana einen Kater namens Steckzwiebel, der zum Medienstar aufgestiegen ist, dessen öffentliche Auftritte von Hochrufen, von Huldigungs- und Unterwerfungsritualen begleitet werden und der, ein eitler und dreister Doktor Allwissend, Ratschläge und Rügen verschwenderisch und wichtigtuerisch erteilt. Hinter der Katerfigur ist das Urbild deutlich erkennbar, selbst wenn seine Nachgestaltung mit vorgetäuschter Naivität und nach den Regeln äsopischer Schreibweise erfolgte. Die Autorin hatte durch geschickte Verknüpfung von Anspielungs- und Verschleierungstechniken, durch die Einbettung des Textes in ein Kinderbuch die Zensur ausgetrickst. Was westliche Leser als harmlose Neckerei entziffern, galt in Rumänien als Blasphemie. Der Diktator war sakrosankt, die leiseste Respektlosigkeit hatte gemeinhin schlimmere Folgen als ideologische „Entgleisungen“. Würde es auch diesmal ein böses Nachspiel geben – lautete die Frage, die im Sommer 1988 nicht nur in Literatenkreisen hin- und herwogte.

2.
Otilia-Valeria Coman wurde am 25. März 1942 in Temeswar, der Hauptstadt des rumänischen Banats, als Tochter eines griechischorthodoxen Priesters und Gymnasiallehrers geboren. Nach Kriegsende übersiedelt die Familie nach Oradea, eine mittelgroße Provinzstadt im Nordwesten Siebenbürgens. Nachdem die angehende Dichterin unter ihrem Mädchennamen in Schülerzeitschriften mehrfach Verse veröffentlicht hatte, erscheinen 1959 erstmalig Gedichte unter dem Pseudonym Ana Blandiana in der Klausenburger Kulturzeitschrift TribunaDie Tribüne und in einer Anthologie junger rumänischer Lyrik. Im selben Jahr legt sie ihr Abitur ab, kurz darauf wird ihr Vater festgenommen und zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Eine Verhaftungswelle hatte auch Rumänien – nach der Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn durch sowjetische Interventionstruppen – erfaßt. Etwa 120.000 Menschen kamen zwischen 1957 und 1961 in Gefängnisse und Arbeitslager. Den unvermittelten und widersinnigen Einbruch von Gewalt in das Alltagsleben wird Ana Blandiana in mehreren ihrer späteren Erzählungen thematisieren. Die Tochter eines enttarnten „Staatsfeindes“ erfährt doppelte Ausgrenzung: Vier Jahre lang werden ihre Gedichte nicht gedruckt, zum Hochschulstudium wird sie nicht zugelassen. Erst 1963 kann sie an der Philologischen Fakultät Klausenburg das Studium der Rumänistik aufnehmen, 1964 erscheint ihr erster Lyrikband Persoana întîia plural – Erste Person Plural.
Dem verödeten und uniformierten Literaturbetrieb war in kleinen Dosen frisches Leben eingeflößt worden. Der 1965 zum Parteichef aufgerückte 47jährige Nicolae Ceauşescu schwenkte auf diesen Kurs ein und schaffte es binnen kurzer Zeit als kühner Verteidiger rumänischer Interessen gegen sowjetische Hegemonieansprüche aufzutrumpfen und im Machtkampf entscheidende Punkte zu sammeln. Dazu bedurfte es offensichtlich auch der Künstler und Literaten, denen ein größerer Ausdrucks-Freiraum als in den fremdbestimmten, extrem restriktiven fünfziger Jahre gewährt wurde. Der Kanon des „sozialistischen Realismus“ wird aufgeweicht, der geistige Austausch mit dem Westen wieder zugelassen, die nationale Geschichte umgedichtet und zu mythischen Dimensionen aufgebauscht. Hofiert werden sowohl die langjährig marginalisierten älteren als auch die jüngsten unbekannten Autoren – schon 1966 veröffentlichte Ana Blandiana ihren zweiten Gedichtband: Calcîiul vulnerabil – Die verletzliche Ferse.
Ein Jahr später übersiedelt sie zusammen mit ihrem Mann, dem Erzähler und Publizisten Romulus Rusan (geb. 1935), nach Bukarest, ist als Redakteurin der Zeitschriften Viaţa studenţească – Das studentische Leben und AmfiteatruAmphitheater, zeitweilig auch als Bibliothekarin tätig. Seit Ende der siebziger Jahre lebt sie als freischaffende Schriftsteller abwechselnd in Bukarest und in Comana, einem in der Donauebene gelegenen Dorf. In rascher Folge erscheinen nun ihre Bücher: Lyrik- und Prosabände, Essays, Reiseaufzeichnungen und Kindergedichte. Sie avanciert zum Hätschelkind der Literaturkritik, die an ihren Texten die Symbiose von schöpferischem Traditionsbezug und subjektiver Authentizität, von moralischer Glaubwürdigkeit und künstlerischer Eigenständigkeit rühmt. Ihr Werk wird mit den wichtigsten rumänischen Literaturpreisen ausgezeichnet, sie darf ins westliche Ausland reisen, ihre Bücher werden ins Bulgarische, Deutsche, Englische, Polnische, Russische und Ungarische übersetzt. 1982 nimmt sie in Wien den Herder-Preis in Empfang. Ana Blandiana schien in das Literaturgeschehen, das eine gewisse Eigendynamik entwickelt hatte, voll integriert zu sein und war damit in eine Position hineingeraten und hineingewachsen, die der ungarische Romancier und Essayist György Dalos als kennzeichnend für viele beachtenswerte Autoren des Ostblocks in dessen beiden letzten Lebensjahrzehnten beschreibt:

Die Ambivalenz der Situation der kritischen Literaten bestand darin, daß sie strukturell zwar der offiziellen Kultur angehörten, gleichzeitig aber Hoffnungsträger der entmündigten Gesellschaft waren.

Doch schon 1971 hatten die berüchtigten „Juli-Thesen“ des Exekutivkomitees der kommunistischen Partei deren führende Rolle sowie den Unfehlbarkeitsanspruch der Staatsideologie, in der repressive Züge mit nationalistischen Tendenzen verschmolzen, festgeschrieben. Ceauşescu verwandelte Rumänien allmählich in ein Experimentiergelände seines krebsartig wuchernden Größenwahns. Und fand dafür auch willfährige Erfüllungsgehilfen unter den Historikern und Schriftstellern, die in abstrusen Geschichtsklitterungen und „patriotischen“ Poemen dem „Conducator“ eine Legitimationsbasis schufen und gleichzeitig wilde Attacken ritten – gegen die „Schwarzseher“ und „Verleumder“ nationaler Größe und sozialistischer Errungenschaften, gegen die „Nachäffer“ ausländischer Schreibmuster und die „elitären“ Literaturkritiker. Ins Visier gerieten nicht nur die dissidentischen Einzelkämpfer wie Paul Goma (geb. 1935), Ion Negoiţescu (1921-1993) und Dorin Tudoran (geb. 1945), nicht nur oppositionelle Poeten wie Mircea Dinescu (geb. 1950) und Ileana Mălăncioiu (geb. 1940), sondern auch jene Autoren, die das in den sechziger Jahren eroberte Terrain zu einer Domäne ästhetischer Autonomie ausgebaut hatten und die ihre eigenen Verlautbarungen von Zugeständnissen und Kompromissen freizuhalten trachteten. Angesichts der massiven Reideologisierungs-Kampagne und des um sich greifenden wirtschaftlichen Desasters erwies sich der „Widerstand durch Kultur“, den man zu betreiben glaubte, zunehmend als Illusion. Und Ana Blandiana wagt Ausbruch und Konfrontation. In der Dezember-Nummer 1984 der Monatsschrift Amfiteatru erscheinen vier ihrer Gedichte – drei davon („Kinderkreuzzug“, „Ich glaube“ und „Grenzen“) wurden in den vorliegenden Band aufgenommen −, die zum Eklat führen: der Chefredakteur wird gefeuert, die Autorin mit Publikationsverbot belegt, die Zeitschrift verschwindet aus den öffentlichen Bibliotheken. Doch der in Rumänien meistgehörte und meinungsbildende Sender Radio Free Europe/München transportiert die brisanten Texte in die kalten und dunklen Wohnungen der Menschen. Die Aura des Poetisch-Allegorischen verbündet sich in diesen Gedichten mit der Schärfe der Anklage, die vorgefundene Befindlichkeiten und Zustände anvisiert, sich an diesen entzündet und wundreibt: der Erniedrigung der Frauen zu Gebärmaschinen, der lethargischen Resignation, die sich landweit ausbreitet, der Verwandlung der fremdgewordenen Heimat in ein Gefängnis. Diesmal gelang es George Ivascu, dem Direktor der angesehenen Zeitschrift des Schriftstellerverbandes România literaraDas literarische Rumänien, nach wenigen Wochen die Aufhebung des Publikationsverbots zu erwirken. Seit 1974 war Ana Blandiana in der Zeitschrift mit ihrer wöchentlichen Kolumne Atlas präsent. Eine Fülle von Leserbriefen, die gegen deren plötzliche Einstellung aufbegehrten, konnte anscheinend noch als Argument dienen. Die Dichterin läßt sich keinerlei versöhnliche Lippenbekenntnisse abringen, die anbefohlene Selbstkritik bleibt aus. Ihr Lyrikbuch Stea de pradă – Der Raubstern (1985) ist eines der Verdüsterung und Verzweiflung. Ein erneuter Konflikt schien geradezu vorprogrammiert. Nun war es der Kater eines Kinderbuches, den die Denunzianten als gefundenes Fressen in den obersten Etagen ihrer Brotgeber servierten. Am 31. August 1988 wird Ana Blandiana zur Unperson deklariert. Von dem Geheimdienst Securitate observiert, ins Abseits gedrängt, arbeitet sie an ihrem 1983 begonnenen Roman Sertarul cu aplauze – Die Applausmaschine weiter, der, ins Groteske verfremdet und Albtraumhafte gesteigert, Preisgegebenheit des einzelnen im Reiche des Terrors auf beklemmende Weise schildert. Am 31. März 1989 protestiert sie in einem schnörkellosen Brief an Ceauşescu gegen das aufgezwungene Schweigen. Und erzielt einen überraschenden Teilerfolg. Vier Tage später wird einem 1988 vom Minerva Verlag Bukarest zurückgestellten Manuskript, einem Band ausgewählter Gedichte, das Imprimatur erteilt. Zwar wird Ana Blandiana die „Rückkehr“ als Publizistin in die Öffentlichkeit verwehrt, doch ihr Lyrikband erscheint im Mai 1989. Sollte die unbotmäßige Schriftstellerin dadurch domestiziert werden? Ein neuer „Fall“ machte dem Regime, das weltweit als eines der letzten Bollwerke neostalinistischer Herrschaftspraktiken galt, jedenfalls schwer zu schaffen. In der französischen Zeitung Libération vom 17. März 1989 hatte der rebellische Mircea Dinescu in einem Interview mit dem Kommunismus made in Romania wortgewaltig abgerechnet und war prompt mit Berufs- und Publikationsverbot belegt und unter Hausarrest gestellt worden.
Neun Monate später war der Wahnsinn vorbei – nicht ohne eine tiefe Blutspur hinterlassen zu haben. 1066 Menschen starben in dem Volksaufstand, der am 16. Dezember in Temeswar seinen Ausgang nahm und am 22. Dezember den Sturz Ceauşescus herbeiführte.
Ein Land im Rausch der Befreiung. Als provisorische Übergangsregierung konstituierte sich die Front der nationalen Rettung, in deren buntschillernden Leitungsrat namhafte Vertreter der oppositionellen Intelligenz berufen wurden – u.a. auch Ana Blandiana. „Die Solidarität ist der Superlativ der Freiheit“, jubelte die Dichterin Anfang Januar 1990 in der Bukarester Zeitschrift 22. Doch die euphorischen Hoffnungen wichen bald der Ernüchterung, die aufbrechenden Befürchtungen verwandelten sich in schmerzliche Gewißheiten: Konspirativ organisierte Reformkommunisten hatten mit Unterstützung von Führungskräften des Geheimdienstes Securitate und des Militärs die Volkserhebung dazu genutzt, um sich an die Macht zu putschen. Und dämpften nun mit allen Mitteln die antikommunistische Stoßrichtung der Rebellion. Als dekorative Alibifigur ließ Ana Blandiana sich nicht mißbrauchen. Schon Ende Januar trat sie aus dem Leitungsrat der Front aus. An der Profilierung einer außerparlamentarischen Opposition war sie, als Gründungsmitglied der Alianţa civicăBürgerallianz, schon im November 1990 maßgeblich beteiligt. Zur Zeit ist sie Vorsitzende dieser locker gefügten Gruppierung, die sich für tiefgreifende soziale Reformen, für eine Westorientierung Rumäniens und für die Herausbildung einer zivilen Gesellschaft engagiert. Und schreibt an einem Buch über die turbulenten Ereignisse des letzten Jahrfünfts.

3.
Persoana intîia plural – Erste Person Plural – der Titel von Ana Blandianas Debütband signalisiert ein Bewußtsein der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts. Junge Dichter hatten zwischen 1965 und 1970 die literarische Szene erobert, sie belebt und umgestaltet. Dabei bildeten sie keine geschlossene Phalanx, keine Formation mit programmatischen Zielsetzungen und übergreifenden, klar umrissenen poetologischen Konzeptionen.
In ihrem Namen glaubte Ana Blandiana sprechen zu dürfen ohne sich einem Gruppenzwang zu unterwerfen. Was jene miteinander verband, war der Wille, die Poesie aus den Fesseln verordneter Akklamation zu befreien, der Wunsch nach ungezügelter Entfaltung produktiver Einbildungskraft sowie die selbstbewußte Überzeugung, eine Wende in der rumänischen Literatur herbeizuschreiben. Ausgeprägt war bei allen der Ablehnungsreflex gegenüber dem reduzierten Formelvorrat, den schmetternden Verheißungen und der belehrend eingreifenden Rhetorik der sozialistisch-realistischen Auftrags- und Aufbauliteratur. Sie starteten nicht nur zu Expeditionen ins sprachlich Unerprobte, sondern übten auch Rückbesinnung und knüpften an Schreibweisen rumänischer Autoren der Zwischenkriegszeit an, deren Werke im Tauwetter der sechziger Jahre in hohen Neuauflagen weite Verbreitung fanden und die zu Dialogpartnern und Vorbildfiguren wurden. In der Lesart rumänischer Kulturgeschichte aus nationalhistorischer Perspektive fungierten sie als Kronzeugen großer schöpferischer Potenzen einer von Minderwertigkeitskomplexen gepeinigten kleinen Literatur. Nationaler Wertkonservativismus und ästhetische Innovationsbestrebungen verschwistern sich in den Verlautbarungen der „Generation ’60“. Mit diesem Kenn- und Schlagwort bezeichnete und begrüßte die Literaturkritik diese Lyriker, die den Inspirations- und Arbeitsraum der Phantasie erweiterten, das Formenrepertoire bereicherten, das Textgewebe verfeinerten und den Kunstcharakter des poetischen Diskurses „rehabilitierten“. Auf höchst unterschiedliche Weise. Als Hauptakteure traten die ungleichen Zunftbrüder Nichita Stănescu (1933-1985) und Marin Sorescu (geb. 1936) in Erscheinung. Stănescu, ein Visionär in der Tradition „pontifikaler“ Lyrik, begibt sich auf metaphysische Sinnsuche und erschafft in kühnen Bildneuschöpfungen und assoziativer Kombinatorik eine Kosmogonie von autochthonem Kolorit. Marin Sorescu hingegen, ein Adept „profaner“ Realitätserkundung, verbannt Pathos- und Beschwörungsformeln, schlägt einen nüchtern-ironischen Sound an, reaktiviert Parodie und Persiflage, konstruiert effektvoll pointierte Parabeln und betreibt einfallsreiche Mythenzerstörung.
Ana Blandianas erste Auftritte verliefen spektakulär. Ihre frühen Gedichte – die in diesen Band keine Aufnahme fanden – sind Selbstausforschungen und Selbstbekenntnisse in stimmungsvoller und stimmiger Metaphorik, in festlicher Syntax. Ein Ich meldet sich darin unbeschwert zu Wort und entdeckt in staunendem Frohlocken den eigenen Empfindungsreichtum und die bunte und verlockende Fülle der Erscheinungswelt. Ein überbordendes Mitteilungsbedürfnis erschließt sich die Natur als Resonanzraum und feiert in jugendlichem Überschwang die wiederentdeckte Leichtigkeit des Seins. „Immer zeichnet mir die Freude Vögel“, heißt es in dem Gedicht „Mîndrie“ – „Stolz“ (1964). Die Sehnsucht nach unverstümmeltem Leben, dem außerhalb sozialer Verwertungszusammenhänge nachgespürt wird, paart sich mit dem Votum, der Wahrhaftigkeit und Wahrheit zu dienen. Das Zeitalter der Lüge, so hofft und träumt die 22jährige, sei endgültig vorbei. Als Erfahrungsstationen pantheistischer Allverbundenheit und ungetrübter Harmonie werden im Frühwerk Kindheit und das archaische, in naturmagischer Landschaft eingebettete Dorf erinnert und vergegenwärtigt. Der Einfluß des bedeutenden rumänischen Dichterphilosophen Lucia Blaga (1895-1961) hinterläßt schon in Ana Blandianas frühen Versen Spuren. Blaga, der zu Lebzeiten im kommunistischen Rumänien ein verfemter und totgeschwiegener Autor war, wird Ana Blandiana auf ihrem Werdegang begleiten – als moralischer Mentor, als Gestalter eines poetischen Universums in mythischen Konfigurationen, von stilistischer Geschlossenheit und weltanschaulicher Kohärenz.
Der ethische Rigorismus der Pfarrerstochter kollidiert jedoch immer häufiger und schmerzhafter mit den Regulativen und Verhaltensnormen der verwalteten Welt. „Schwerer zu ertragen ist das anbefohlene Glück als das Unglück, das dir als einzelnem beschieden ist“, notiert Ana Blandiana in ihr „Antitagebuch“ In calitatea de martor – In der Eigenschaft als Zeuge (1970). Das vielfach beschworene Ideal der „Reinheit“ und „Lauterkeit“ als Voraussetzung und Grundlage einer kompromißlosen Lebens- und Schreibpraxis zerschellt am Realitätsprinzip.
Der Duktus ihres dritten Bandes A treia tainăDas dritte Geheimnis (1969) verbindet auf unverwechselbare Weise Vision und Sentenz, Anschauung und Erörterung. Die in Rekapitulation, Variation und Verklammerung aufgerufenen „Gegenstände“ und „Gestalten“, Motive und Bildsyntagmen verleihen diesem und den folgenden Lyrikbüchern Kohäsion und Konsistenz. Wie Szenen eines Seelendramas folgen die Gedichte aufeinander.
Ana Blandianas Daseinsbewältigung und Daseinsergründung unterwerfen sich weder den Regeln hermetischer Artistik noch jenen experimenteller Textproduktion. Auch der aufklärerisch-kritische, unverbrämt und unmißverständlich auf soziale Sachverhalte zielende Gestus war mit ihrem Lyrikverständnis nicht vereinbar. Ihr Diskurs ist fortan nicht in einem historisch-verifizierbaren Zeitraum verwurzelt, Realien des Alltags und Beschreibungen von Alltagsabläufen, geschichtliche Fakten und geographische Konkreta bleiben weitgehend ausgeklammert. Diese Gegenwelt, die sich in ihrer Konstitution und Beschaffenheit gegen ideologische Vereinnahmung sperrt, verweist auf die Realitätserfahrungen eines entmächtigten, verletzlichen und versehrten Subjekts. Nicht zu Unrecht glaubte der Literaturkritiker Eugen Simion aus dem lyrischen Œuvre Ana Blandianas die „soziale Biographie“ der Autorin herauslesen zu können. Allerdings verkürzt man ihre elegischen, das Schrille und Sarkastische vermeidenden Existenz-Meditationen um entscheidende Aussagebereiche, wenn man die poetische Geographie der Texte ausschließlich nach politischen-gesellschaftlichen Bezügen durchforstet.
Die Imagination entrückt den Ort des Geschehens ins Kosmische und Mythische und verrückt ihn gleichzeitig ins Unheimliche und Nicht-Geheure. Zwar leuchten noch manchmal die Metaphern der Verschmelzung, der Symbiose mit der Magna Mater Natur auf, die mystische Einkehr und Heimkehr ins Vorbewußte, Kreatürliche gewährt. Doch die Oasen der Geborgenheit werden von Kälte und Düsternis umzingelt. Wie kahlgeschoren wirken die ihrer vegetativen Vielfalt beraubten Landschaften, die unverhofft einbrechenden Augenblicke des Glücks sind von Melancholie umrandet. Auch im Fluchtreich des Schlafs, dem geheimnisvolle Kräfte schöpferischer Regeneration entströmen und in dem die Leiden der Individuation auflösende Erlösung finden, nistet sich immer häufiger allgegenwärtige Bedrohung ein. Im Dorf, einstmals Topos ursprünglicher Lebensintensität, türmen sich Blöcke von Schweigen auf, und der Kuckuck verkündet den Weltuntergang, der Weg nach Innen führt in fremde, unvertraute Gegenden.
Die Sprache entledigt sich ihres ornamentalen Beiwerks, der Reim irrlichtert nur noch durch die Verszeilen. Aufgeschreckte Fragesätze schwärmen umher, die einer potenzierten Verunsicherung entspringen. Gespräch und Begegnung sind Wunschziele, als Utopie schwebt Ana Blandiana ein angstfreier, vom Prinzip Vertrauen regierter Lebensraum vor, in dem – wie es in dem Gedicht „Ţară“ – „Das Land“ (1977) heißt – „einer des anderen Heimat wird“.
Doch die Aufbrüche und Annäherungen stranden meistens am Ufer der Vergeblichkeit, unerfüllt bleiben die Hoffnungen auf Echo, Ankunft und Gemeinsamkeit. Zurückgeworfen in die Abgründe der Einsamkeit, versucht ein sensibles mit-fühlendes „durchlässiges“ Ich in trotzig-verzweifelten Anläufen sich seiner gefährdeten Identität zu vergewissern. Wehrloses Ausgeliefertsein, transzendentale Obdachlosigkeit und Endzeit sind Erfahrungskonstanten der Gedichte Ana Blandianas, die in vielfacher Abwandlung das Motiv der verkehrten Welt variieren.
Verrat und Frost treiben die Vögel davon, Wörter werden wie Waisenkinder im Gänsemarsch über die Straßen gehetzt und stoßen verängstigte Pfauenschreie aus, Gebirge lösen sich von der Erdoberfläche, der Schnee, der einst das Evangelium der Liebe verkündete, verwandelt sich in tödliches Gift. In toter Sprache redet der Mond, an Krebs ist die Zeit erkrankt, und die Propheten sind in der Wüste erloschen.
Das Sakrale – ein Fixstern im metaphysischen Seinsverständnis der Schriftstellerin – büßt die sinnstiftende Ausstrahlung ein, seine Sendboten, die Engel, stürzen aus herbstlichen Himmeln wie Fallobst zu Boden, werden gejagt und gesteinigt, seine Heimstätten, die Kirchen, profaniert und zerstört.
Ana Blandianas Texte der achtziger Jahre sind, um ein Wort von Rilke heraufzurufen, „Vokabeln der Not“. Sie bringen das zur poetischen Sprache, worüber die gewalttätige Lügen-Beredsamkeit der gleichgeschalteten Medien ihres Landes realitätsfern hinwegdröhnte. In einem ihrer schönsten Gedichte „O umbră a ierbii“ – „Der Schatten eines Grashalms“ (1981), das man auch als eine Ars poetica lesen kann, beschreibt die Lyrikerin, wie der Schatten eines Marienkäfers „im bösen und eroberungssüchtigen Licht“, „in der Hundshitze des Nachmittags“ den Schatten eines Grashalms hochkriecht. „Was kann gebrechlicher sein, / und was kann unmöglicher ausgelöscht werden?“ lauten die beiden letzten Zeilen, in denen staunende Hoffnung jenseits aller Aussichtslosigkeit aufklingt. Das Zarteste und das Flüchtigste erweisen sich als widerständig und dauerhaft.
Gedichte von Ana Blandiana werden wohl noch dann ihre Leser finden, wenn die albtraumhaften Erinnerungen an das rabiate Urbild ihres Katers Steckzwiebel und dessen Zerstörungswerk erloschen sind.

Peter Motzan, Nachwort

 

Auch Vögel machen ein Land aus

Ana Blandianas Gedichte EngelErnte

Unter der Zensur lernen Leser zwangsläufig die Kunst der Lektüre zwischen den Zeilen; vielleicht gehört dies zu den Voraussetzungen für jenen Umgang mit Lyrik, der Dichtern in vielen Ländern den Status von Galionsfiguren gibt: sie werden verstanden.
Ana Blandiana alias Otilia-Valeria Coman ist nicht nur Lyrikerin (und Essayistin, Publizistin und Autorin eines Romans), sie ist eine rumänische Kulturinstitution. Obwohl sie bis 1988 zu den am meisten gelesenen Autoren gehörte, mit einer Position im offiziellen Kulturbetrieb, mit Auslandsreisen, Preisen und fester Kolumne, war ihr Werk durchaus nicht staatstragend; aber es war eben auch lange Zeit nicht so offenkundig dissident, dass es der Zensur – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unangenehm aufgefallen wäre. 1988 wurde sie mit völligem Publikationsverbot belegt; einzig ein Gedichtband konnte ein Jahr später erscheinen.
Ana Blandianas Lyrik machte nicht (oder nur höchst selten) die himmelschreienden Missstände des Ceausescu-Regimes zum Thema, sondern das, was sie subjektiv auslösten: Entfremdung, Ich-Verlust, Angst. Und sie bedient sich dabei oft einer nur scheinbar harmlosen Naturmetaphorik.

Zu einem Land gehören auch Vögel,
diese grossen V-s, die im Süden niederstürzen,
verwundet, vertrieben von Kälte
und Verrat
(…)
Auch Vögel machen ein Land aus, so
wie eine Kirche auch aus dem Leben nach dem Tod
gemacht ist.

Solche transzendenten Dehnungen finden sich in zahlreichen Gedichten. Von „Sünde“, „Gnade“, „Seele“ ist wieder und wieder die Rede. Zwar leben diese Worte von ihrer theologischen Begrifflichkeit, aber im lyrischen Zusammenhang gehen sie ganz in diesseitigen Wahrnehmungen auf. So verfährt Blandiana zum Beispiel mit den Engeln, die ja poetisch ziemlich schwer zu handhabende und trotz ihrer Luftverwandtheit schwerwiegende Gestalten sind. Ana Blandianas Engel zeichnet eine zwar nicht theologische, aber botanische Unschuld aus. Sie fallen auch – aber ganz ohne die funkelnde Grossartigkeit eines Luzifer:

… Hin und wieder
ein dumpfer Aufprall
wie beim Fall
von Obst im Gras.
Wie die Zeit vergeht!
Die Engel sind überreif und beginnen
herabzufallen:
Es ist Herbst auch im Himmel…

Überhaupt vermeidet Blandiana grossformatige Bilder und drastische Wendungen. Ihre Lyrik ist von täuschender Sanftheit; Schärfe gewinnt sie durch eigenwillige metaphorische Kombinationen, die sich zu vielschichtigen Gedankengebäuden fügen. Da gleiten Kirchen nachts durch die Strassen und versuchen sich zu verbergen. Oder Schatten liefern sich hinter dem Rücken eines ahnungsvollen Ichs „eine wilde Keilerei“: die Grenzen zwischen dem Erhabenen und dem Grotesken sind fliessend. Profanität (wie Fallobst) und die Göttlichkeit (wie Engel) verbinden sich in Ana Blandianas Lyrik zu überzeugender Harmonie. Es wurde über die Dichterin oft gesagt – und im Nachwort steht es zitiert – dass ihre Lyrik eng an ihre „soziale Biographie“ geknüpft sei. Das mag stimmen; aber es bedeutet doch nur, dass sie mit den Mitteln der Poesie die Bedingungen der menschlichen Existenz am eigenen Beispiel reflektiert: unhermetisch, aufrichtig und subjektiv; dabei aber zu distanziert, um naiv zu wirken.

Die für die vorliegende zweisprachige Ausgabe ausgewählten Gedichte stammen mit wenigen Ausnahmen aus einem 1989 erschienenen Band. Die Zusammenstellung besorgte Franz Hodjak, ebenso wie die Übertragung ins Deutsche; und der sollte man mit einigem Misstrauen begegnen. Wenn eine Verszeile – noch dazu die Schlusszeile! – im Original „E fuga“ lautet und die „nachgedichtete“ Version dies als „ist, auf dem davonlaufenden zu sein“ wiedergibt – da muss man weder Dichter noch des Rumänischen mächtig sein, um den haarsträubenden Unsinn solch umständlicher Kunstfertigkeit zu bemerken. Auch die wenigen gereimten Gedichte, im Original von formaler Präzision, bekommen in Hodjaks Deutsch den Glamour danebengegangener Stilübungen. Das ist um so ärgerlicher, als Ana Blandianas Gedichte grosse Aufmerksamkeit fordern – und verdienen.

Katharina Döbler, Süddeutsche Zeitung, 1994

 

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Ana Blandiana liest beim 8. Internationale Poesiefestival am 17. Mai 2017 zum Musik- und Poesie-Marathon in der zentralen Universitätsbibliothek Halle I in Bukarest.

 

Zum 60. Geburtstag des Herausgebers:

Peter Motzan: „Ich wohne in einem Türrahmen“
Ostragehege, Heft 35, 2004

Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Tom Schulz: Sehnsucht nach Feigenschnaps
Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2014

Georg Aescht: Mühlen antreiben, doch welche? Franz Hodjak (70) weiß Letzteres nicht und tut Ersteres erst recht
Siebenbürgische Zeitung, 19.10.2014

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Instagram 1 & 2 +
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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Franz Hodjaks Laudatio zum Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturpreis 2013 in der St.-Pauls-Kirche Dinkelsbühl.

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