MUSTER
O, die Flucht des einzelnen
ins Einzigartige,
dem Muster folgend, nach dem
die Quellen entspringen,
die Lawinen sich bilden −
wie viel Entsetzen und wie viel Mut,
wie viel Einsamkeit.
Entfernt sie sich von mir,
folge ich ihr,
zu allem bereit,
mit angehaltenem Atem.
Kehrt sie zurück,
verberge ich mich
und versuche zu verschwinden.
Die Flucht des Einsamen
aus dem Zentrum
und ins Zentrum der Einsamkeit,
dem Muster folgend, nach dem
die Meere Wellen erzeugen!
− Die Lyrik Ana Blandianas sei ein „permanenter rebellischer Akt der Absage“, schreibt Hans Bergel im Nachwort des 2009 im Johannis-Reeg-Verlag erschienenen Gedichtbandes Die Versteigerung der Ideen. Im vergangenen Jahr ist mit Uhren auf Schienen ein zweiter Gedichtband von Ana Blandiana herausgekommen, im Verlag Ralf Liebe. Für Auswahl und Nachdichtung aus dem Rumänischen zeichnete Franz Hodjak. −
Im zarten Alter von 17 Jahren veröffentlichte die in Temeswar geborene Dichterin mit dem bürgerlichen Namen Ottilia Valeria Coman in der Klausenburger Literaturzeitschrift Tribuna ihr erstes Gedicht mit dem Titel „Originalität“ („Originalitatea“) unter dem von ihr gewählten Pseudonym Ana Blandiana. Blandiana – ein Dorf in Transsylvanien – war der Geburtsort ihrer Mutter. Ihre Geschichtslehrerin schrieb an den Verlag, dass sich hinter dieser Autorin die Tochter eines „Vaterlandsverräters“ verstecke. Ihr Vater, ein in Czernowitz studierter Theologe, wurde von den Kommunisten ins Gefängnis gesteckt. Die Autorin erhielt daraufhin ihr erstes Veröffentlichungsverbot. Fünf Jahre später starb ihr Vater wenige Monate nach seiner Freilassung in Großwardein.
1964 gelang es ihr, die Aufmerksamkeit eines Literaturliebhabers in Klausenburg zu wecken, der ihre ersten Gedichte im Band Erste Person Plural veröffentlichte, allerdings zensiert. Ana Blandiana war somit bereits als verbotene Autorin bekannt in der Literaturszene, bevor sie veröffentlicht wurde. Ob ihr dieser Zufall zu mehr Aufmerksamkeit für ihre Lyrik verholfen hat, mag sie heute nicht sagen. Er war jedoch die Voraussetzung für den Beginn einer Schriftstellerexistenz während und nach der kommunistischen Zeit Rumäniens. Blandiana dichtet weiter und definiert sich und ihr Volk stets neu durch ihre Gedichte („Wir sind ein Pflanzenvolk“). 45 Bücher hat sie veröffentlicht, darunter Übersetzungen nicht nur in fast allen europäischen Sprachen, sondern auch auf Koreanisch, Chinesisch und Hebräisch. Als anerkannte Autorin ist sie jedoch ihren Themen stets treu geblieben. Verwurzelt in der spirituellen und traditionellen Prägung durch ihre Heimat, schrieb sie unermüdlich gegen die existierende Wirklichkeit in Rumänien an, was ihr jedoch nicht immer nur Lob einbrachte.
Nun sind zwei weitere Lyrikbände auf dem deutschen Buchmarkt erschienen: Uhren auf Schienen im Verlag Ralf Liebe – Auswahl und Nachdichtung aus dem Rumänischen von Franz Hodjak –, und Die Versteigerung der Ideen. Gedichte. Aus dem Rumänischen von Hans Bergel im Johannis-Reeg-Verlag. Bergel hat in seinem wunderbaren Lyrikband eine Auswahl aus mehreren Gedichtbänden der Autorin getroffen und 137 Gedichte ins Deutsche übertragen. Dazu gehören auch so bekannte Gedichte Blandianas wie „Wir sind ein Pflanzenvolk“, „Ich glaube“, „Am Strand“ „Kinderkreuzzug“, die bereits von anderen Autoren wie Franz Hodjak, Klaus Hensel, Horst Samson, Rolf-Frieder Marmont oder Dieter Schlesak übersetzt wurden. Da Hodjak stets von „Nachdichtung“ spricht und Wert darauf legt, dass die von ihm veröffentlichten Gedichte immer zweisprachig erscheinen, bleibt es dem Leser überlassen, diese „Nachdichtungen“ als solche zu bewerten.
Noch bevor ich die Übersetzungen Hans Bergels kannte, fand ich bereits Hodjaks 66 Nachdichtungen in Engelernte (erschienen im Ammann-Verlag, Zürich 1994) stimmig, präzise und lyrisch-melodisch ansprechend. Hans Bergel jedoch schafft es, mit seinen Übersetzungen der Gedichte Blandianas in knapper melodischer Sprache die Ursprungsatmosphäre ihrer Lyrik, jene melancholische Nachdenklichkeit und Präzision spürbarer zu machen. Die Silbenzahl ist passend, der pathetische Ton der Gedichte Blandianas präsent. Zwar sind die Worte Bergels archaischer („sengende Sonne“ statt „zehrende Sonne“ bei Hodjak; „allabendlich“, „den aus der Zeit gefallenen Tag“ bei Bergel statt „jeden Abend“, „den Tag, den ich auf diese Weise aus der Zeit streiche“ in „Der Kalender“), jedoch atmosphärisch stimmiger!
So heißt es bei Hodjak im Gedicht „Ich glaube“:
Ich glaube, wir sind ein Volk von Pflanzen,
woher sonst die Ruhe,
Mit der wir dem Laubfall entgegensehn?
Woher der Mut,
uns die Rutschbahn des Schlafs hinunter gleiten zu lassen,
… Ich glaube, wir sind Pflanzenvolk –
Wer hat jemals
einen Baum in der Revolte gesehn?
(aus „Engelernte“). Dazu dichtet Hans Bergel:
Ich glaube, wir sind ein Pflanzenvolk, woher denn sonst die Ruhe, mit der wir der Entlaubung harren?
Woher der Mut, dahinzugleiten auf des Schlafes Rutschbahn bis nahe an den Tod.
… Wir sind ein Pflanzenvolk, wer sah je einen Baum in der Revolte?
Oder das aus einem Satz bestehende Gedicht „Buzeşti-Platz“ liest sich bei Hodjak:
Lass Herr, den Hund und das Kind
vom gleichen Stück Brot beißen
zwischen den Schutthaufen
und den Bergen von Müll
unter der zehrenden Sonne,
die beide einschlafen lässt,
zusammengerollt und versöhnt
mit dem kleinen Universum
des Stück Brots,
in dem noch die Zähne
des Engels sichtbar sind.
Demgegenüber übersetzt Bergel das Gedicht „Piazza Busescht“:
Lass doch Herrin, den Hund und das Kind
beißen vom selben Stück Brot,
aus dem selben Haufen Abfall
und Dreck
unter der sengenden Sonne,
in der sie umschlungen
einschlafen mögen, versöhnt
mit der auf das Brotstück beschränkten Welt,
in dem noch die
Zähne des Engels zu sehen sind.
Ana Blandiana ist für mich die Autorin des Glücks in der Lyrik. Selbst in ihren düstersten Gedichten findet sie einen hellen Moment. Ihr reales Lächeln ist fast mythisch übertragen in ihren Gedichten:
Das Glück gleicht
einem pointillistischen Bild:
Kleine Farbenpunkte
ohne Beziehung zueinander
gewinnen manchmal Bedeutung,
manchmal auch nicht, lediglich der Schauer
einer unvollständigen Frage
bewirkend,
auf die du keine Antwort kennst,
weil du die Frage nicht verstehst,
du verstehst nur die Eindringlichkeit der Frage,
der einige Punkte fehlen.
Der Verlust des Vaters, die Drangsalierungen durch die kommunistischen Machthaber, eine zeitweise ständige Bewachung durch den Geheimdienst, ein versuchter Mordanschlag in ihrem Wahldorf im Bărăgan – all das konnte diese aufrichtige Autorin nie erschüttern. Auch als man ihr nach der Wende die Präsidentschaft antrug, in der ersten bürgerlichen Regierung von 1996 nach der Abwahl von Präsident Iliescu, musste sie viel Häme einstecken, da ihr Wahlkandidat Constantinescu bald ins Zwielicht der politischen Öffentlichkeit geriet. Blandiana blieb die Botschafterin ihres Landes durch Schreiben und durch ihren Einsatz für die Bürgerfreiheiten und die Erinnerung in Rumänien, auch durch die Gründung einer Gedenkstätte in Sighet.
Katharina Kilzer, Siebenbürgische Zeitung, 23.4.2010– Über Ana Blandiana. –
Ana Blandiana ist ein Pseudonym. Biographische Notizen weisen darauf hin, dass Otilia-Valeria Comans Mutter aus dem Dorf Blandiann stammt. Warum die Tochter aber gerade diesen Künstlernamen gewählt hat, erklären sie damit noch nicht. Der Name Ana Blandiana hat den gleichen melodischen Klang wie Ileana Cosanzeana, die lichte, feenhafte weibliche Figur der rumänischen Märchen. Auch enthält er die aus dem Lateinischen stammende Wurzel „bland“, also: „sanft“. Kennzeichnend war und ist für Ana Blandiana jenes Sanfte, Zarte, Träumerische, irgendwie Gefährdete, irgendwie Entrückte. Ana, die feenhafte Sanfte. So wäre ihr Pseudonym, das längst zu ihrem eigentlichen Namen geworden ist, zu deuten.
Sanftheit ist jedoch nicht mit Schwäche, gar Feigheit zu verwechseln. Während der kommunistischen Epoche hat Ana Blandiana dem Regime immer wieder die Stirn geboten. Sie gehörte nicht zu der schweigenden Mehrheit. Wiederholtes Schreibverbot war die Folge. Dennoch tat das ihrer Beliebtheit keinen Abbruch und nicht wenige trugen ihre vernichtend kritischen Gedichte (unvergessen: „Ich glaube, wir sind ein Pflanzenvolk“) stets bei sich. Nach der Wende ist Ana Blandiana durch ihr ständiges Bemühen um demokratische Veränderung und Vergangenheitsbewältigung zu einer wichtigen Figur des öffentlichen Lebens geworden. Sie hat die Bürgerliche Allianz und die Gedenkstätte Sighet mitbegründet.
Ana Blandiana ist zweifelsohne die bedeutendste Dichterin der rumänischen Nachkriegszeit. Lang ist die Liste ihrer Gedichts-, Prosa- und Essaybände, ihrer Auszeichnungen, Preise und Mitgliedschaften in Dichterakademien. Und wenn es auch in der letzten Zeit etwas stiller um sie geworden ist, so hat sie von ihrem Mut und von der Schärfe ihres Blickes doch nichts eingebüßt. Im Gegenteil. In ihrem neuesten Gedichtband, Meine Heimat: A4, konzentriert sie sich schonungslos auf das, was man üblicherweise als „die wesentlichen Fragen des Lebens“ bezeichnet. Vergänglichkeit, Altern, Ohnmacht, Tod werden in einer einfachen, jede Effekthascherei bewusst meidenden Sprache behandelt und aus einer sehr persönlichen Perspektive beschrieben. Hier spricht kein „lyrisches Ich“, sondern die Lyrikerin selbst. Ana Blandiana schreibt, wie sie selbst sagt, für sich, und sie schreibt – sich, ihre inneren Zerwürfnisse, ihren Zwiespalt, ihre Unruhe. Das Tiefe, Inhaltschwangere ihrer Verse wirkt durch die schnörkellose, unvermittelte Darbietung um so erschütternder: Da ist das Grauen vor dem unaufhaltbaren Herabgleiten in jenen Abgrund, der sich uns allen öffnet. Da ist das Gefühl der Fremdheit in einer Welt, die sich nicht so entwickelt, wie man es wünschte, und die Sehnsucht nach den geliebten Toten. Da ist, vor allem, der Hader mit „Gott“, dem schuldigen Schöpfer, der den Menschen durch Prägung dem Bösen geweiht hat. Derjenige, der den Stellenwert der Orthodoxie in der sich tief gläubig gebenden rumänischen Gesellschaft kennt, wird gerade in diesen fast „blasphemischen“ Versen den Mut der Pfarrerstochter Ana Blandiana bewundern. Sich gegen „Gott“ endgültig zu erheben, den Nihilismus bis zu seiner letzten Konsequenz auszukosten, ist ihre Sache aber nicht. Diese Sanfte schaut, drückt aus und nimmt hin – in dem Bewusstsein ihrer, ja, sagen wir es ruhig: welterrettenden Bedeutung:
Ich habe nicht das Recht, stehen zu bleiben,
Jedes nicht gesagte Gedicht, jedes nicht gefundene Wort
Gefährdet das Universum,
Das an meinen Lippen hängt.
Ein einfacher Bruch im Vers
Unterbricht den Zauber, der die Gesetze des Hasses auflöst,
Stürzt alle zurück, wild und verlassen,
In die feuchte Höhle der Instinkte.
Ioana Orleanu, Akzente, Heft 3, Juni 2012
Klaus Hübner: Geschlossene Kirchen / Biserici închise | Lesung mit Ana Blandiana am 2.7.2019 im Lyrik Kabinett München.
Texte und Bilder zu einer Lesung von Ana Blandiana und Franz Hodjak am 11.3.2010 an der Universität zu Köln.
Ana Blandiana liest beim 8. Internationale Poesiefestival am 17. Mai 2017 zum Musik- und Poesie-Marathon in der zentralen Universitätsbibliothek Halle I in Bukarest.
Peter Motzan: „Ich wohne in einem Türrahmen“
Ostragehege, Heft 35, 2004
Tom Schulz: Sehnsucht nach Feigenschnaps
Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2014
Georg Aescht: Mühlen antreiben, doch welche? Franz Hodjak (70) weiß Letzteres nicht und tut Ersteres erst recht
Siebenbürgische Zeitung, 19.10.2014
Franz Hodjaks Laudatio zum Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturpreis 2013 in der St.-Pauls-Kirche Dinkelsbühl.
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