Tanquem si homo notus sive conspiciatur oculis, sive cogitetur, et nomen ejus obliti requiramus, quidquid aliud occurrerit non connectitur: quia non cum illo cogitari consuevit, ideoque respuitur donec illud adsit, ubi simul assuefacta notitia non inaequaliter acquiescat.
… wenn wir einen Menschen, den wir kennen, vor Augen haben oder an ihn denken und suchen nach seinem Namen, der uns entfallen; was da sonst an Namen uns einfällt, will sich nicht verbinden, weil die Gewohnheit beides nicht mitsammen dachte, und so weisen wir zurück, bis endlich der Name sich einstellt, bei dem nun die gewohnte Einheit der Erfahrung frei von Zwiespalt sich beruhigt.
Augustinus: Bekenntnisse, X–19
Ich hatte einen Traum: eine weiße hohe Leningrader Decke über mir wird blitzschnell von Blut überspült, und der rote Strom stürzt auf mich nieder. Einige Stunden später ging ich zu Anna Achmatowa; die Erinnerung an den Traum belastete mich, und ich erzählte ihn.
„Nicht schlecht“, entgegnete sie.
Eigentlich sind fremde Träume und fremde Unzucht das Langweiligste auf der Welt. Aber Sie haben es verdient, meinen zu hören. Meinen Traum hatte ich in der Nacht zum ersten Oktober.
Nach einer Weltkatastrophe stehe ich einsam und allein auf der Erde, im Schlamm, im Schmutz, ich rutsche, kann mich nicht auf den Beinen halten, der Boden unter mir gleitet weg. Und von irgendwoher aus der Höhe stürzt ein Strom nieder, der, je näher er kommt, um so breiter wird und mich immer mehr bedroht. In ihm haben sich alle großen Flüsse der Welt vereinigt: Nil, Ganges, Wolga, Mississippi… Das hatte gerade noch gefehlt.
*
Ich lernte Anna Achmatowa im Herbst 1959 kennen, ich war damals 23 Jahre alt. Wir hatten gemeinsame Bekannte, ein Anlaß fand sich. Zu jener Zeit schrieb ich schon einige Jahre lang Gedichte und wollte, daß Achmatowa sie hörte. Zudem wünschte ich, daß sie ihr gefielen.
Sie wohnte damals in Leningrad in der Krasnaja Konniza, der früheren Kawalergardskaja, im Haus Nr. 3, Wohnung Nr. 4. Das ist im Smolny-Bezirk, im ehemaligen Roschdestwenski Viertel. Unweit davon, in der Taurischen Straße, befand sich der „Turm“ Wjatscheslaw Iwanows, seine Wohnung, in der sie in ihrer Jugend verkehrte. Unweit lag der Taurische Garten: in seinen stürmischen Alleen hielt er die Gespenster des Jahres dreizehn verborgen. Unweit auch die Schpalernaja, die heutige Woinowstraße, mit dem Gefängnis, das sich durch seine zahlreichen berühmten Gefangenen einen Namen gemacht hatte, in dem zu verschiedenen Zeiten ihr erster Mann, ihr Sohn und ihr letzter Mann eingekerkert waren… In Leningrad war schon an jedem Ort irgend etwas geschehen, lebte irgend jemand, war irgend jemand irgendwem begegnet. „Erinnern Sie sich an unsere Gespräche im Februar 1914 auf der Kawalergardskaja?“ schrieb Nikolai Wladimirowitsch Nedobrowo – ein Mann, der im dichterischen wie persönlichen Leben Achmatowas eine außergewöhnliche Rolle gespielt hatte – einer gemeinsamen Freundin. Wenn wir mitunter durch die Stadt fuhren und sie auf irgendein Haus deutete, dann auf ein anderes und auf ein nächstes, unterbrach sie sich:
Befehlen Sie mir zu schweigen, ich werde sonst noch ganz und gar zum Profi.
Sie durchlebte ein langes Leben und wurde Zeuge unterschiedlichster Ereignisse, die an ein und demselben Ort stattfanden, sah gleichsam ein und dasselbe Stück, in verschiedenen Bühnenbildern. Obendrein beschwor sie die unwahrscheinlichsten Konstellationen herauf, zog die unerwartetsten Doppelgänger an. Die Wiederholung eines Ereignisses, seine Reflexion in einem neuen Spiegel, brachte dieses neu an den Tag. Wenn keine Begegnung stattfand, erfolgte eine Nichtbegegnung; beide waren für sie gleich real und verzaubert, stofflich und körperlos. Die Tage ihres Lebens stellten neben den Worten, Taten, Minuten, aus denen sie bestanden, auch noch Jahrestage, zehnjährige, fünfundzwanzigjährige und fünfzigjährige Jubiläen dar. Alles war „wie damals“, wie einst. Die Zeit, in der ich sie kennenlernte, bis zum Ende ihres Lebens, war die Zeit der fünfzigjährigen Daten: der ersten Gedichtveröffentlichungen, des Eintritts in die „Dichter-Gilde“, der Trauung mit Gumiljow, der Geburt des Sohnes, des Erscheinens von Abend, Rosenkranz, Weißer Schwarm. Entsprechend verhielt sich der Raum, indem er launisch Häuser und Straßen für sie auswählte. In ihrer frühen Kindheit hatte sie in Zarskoje Selo gewohnt, in der Schirokaja; zuletzt war sie in der Leninstraße in Leningrad gemeldet, der früheren Schirokaja. Mehr als dreißig Jahre hatte sie im Fontanka-Palais, dem Schloß der Grafen Scheremetew verbracht; der Sarg mit ihrem Leichnam stand in Moskau in der Leichenhalle des Sklifossowski-Instituts, dem früheren Gästehaus der Scheremetews – dasselbe Wappen, dieselbe Devise: „Deus conservat omnia“, Gott bewahrt alles.
Die Frau, die mir die Tür öffnete, die Besucherin, die sie in derselben Minute verließ, der grauhaarige lächelnde Herr, den ich im Korridor traf, das Mädchen, das in der Tiefe der Wohnung vorüberhuschte, sie alle erschienen mir ungewöhnlich, das Geheimnis, an Achmatowas Leben beteiligt zu sein, hatte Spuren bei ihnen hinterlassen. Sie selbst aber war überwältigend – ich verwende ein ungeschicktes, aber am besten passendes Wort –, grandios, unzugänglich, weit entfernt von allem, was sie umgab, von den Menschen, von der Welt, schweigend, regungslos. Dem ersten Eindruck nach schien sie größer zu sein als ich, später stellte sich heraus, daß wir gleichgroß waren, sie vielleicht ein wenig kleiner. Sie hielt sich sehr gerade, den Kopf schien sie zu balancieren, sie ging langsam und ähnelte selbst in der Bewegung einer massiven, präzis modellierten – manchmal auch gemeißelten – klassischen Skulptur; die man schon gesehen zu haben meinte. Und ihre Kleidung, etwas Altes und Langes, möglicherweise ein Schal oder ein alter Kimono, erinnerte an die leichten, im Atelier eines Bildhauers dem schon fertigen Stück übergeworfenen Tücher. Viele Jahre später, als ich Achmatowas Aufzeichnungen über Modigliani las, der meinte, Frauen, die es zu malen oder zu modellieren lohne, erschienen in Kleidern plump, erinnerte ich mich deutlich an diesen Eindruck.
Sie fragte, ob ich Gedichte schriebe und forderte mich auf, ihr etwas vorzutragen. In einem der Gedichte lautete eine Zeile:
Mein Schuh tanzt. wie ein schwarzer Fisch (Schuh = botinok).
Als ich zu Ende gelesen hatte, sagte sie:
Bei uns hieß es botinka. (Also weiblichen Geschlechts.)
Einige Jahre später las ich ihr ein Gedicht über Pawlowsk vor, darin gab es folgende Stelle:
Und die Blätter kreisen um den Schuh (Schuh = tufel).
Sie meinte:
Wir hätten tufli gesagt.
Ich erinnerte sie an botinka und machte irgendeinen Witz über meine Schusterfehlschläge, der ihr jedoch nicht gefiel.
Die Frau, die mir geöffnet hatte, trug einen kleinen Teller herein, auf dem einsam eine nachlässig geschälte und schon etwas ausgedörrte, gekochte Möhre lag. Vielleicht hielt Achmatowa Diät, vielleicht war es einfach ihr Wunsch oder die Folge des vernachlässigten Haushalts, in jenem Moment aber äußerte sich für mich in dieser Möhre ihre unendliche Gleichgültigkeit dem Alltag gegenüber und gleichzeitig ihr Nicht-versorgt-Sein, ja, man kann sagen – ihre Armut.
Ich traf sie in verhältnismäßig glücklichen Jahren. Der Literaturfonds hatte ihr eine Datscha in Komarowo zur Verfügung gestellt, ein Bretterhäuschen, das sie eher gutmütig als tadelnd „Hütte“ nannte wie die Hütte bei Odessa, wo sie geboren wurde. Sie steht heute noch. Es ist eines der vier Häuschen auf der Spitze zwischen der Ossipenko- und der Osernaja Straße. Einmal sagte sie, man müsse ein außergewöhnlicher Architekt sein, um in einem solchen Haus auch nur einen Wohnraum einzurichten. In der Tat: es gab eine kleine Küche, ein mittelgroßes, obendrein ziemlich dunkles Zimmer, alles andere waren Korridore, eine Veranda, ein zweiter Aufgang. An einer Ecke der Liege, auf der sie schlief, fehlte das Bein, es wurden Ziegelsteine untergelegt. Als sie 1964 nach Italien fuhr, um einen Literaturpreis entgegenzunehmen, mußte sie sich einige Kleidungsstücke borgen; nach ihrer Rückkehr brachte ich der Witwe Alexej Tolstois einen verfilzten Wollschal zurück.
Die Frauen, mit denen sie in Leningrad die Wohnung teilte – Irina Nikolajewna Punina (sie war es, die mir die Tür geöffnet hatte), die Tochter des letzten Mannes von Achmatowa, und Anja Kaminskaja, seine Enkelin –, konnten ihr nicht genug Aufmerksamkeit widmen, sie hatten eigene Familien, eigene Sorgen und Probleme, hier aber war Selbstaufopferung vonnöten. Nina Antonowna Olschewskaja, bei der sie in Moskau am häufigsten Quartier nahm, Maria Sergejewna Petrowych, Nika Nikolajewna Gien, die ihr zu verschiedenen Zeiten Unterschlupf gewährten, waren selbstlos, wirklich gütig und zuvorkommend ihr gegenüber. Es waren jedoch stets nur Zufluchtstätten, kein Zuhause.
Obdachlosigkeit, Ungewißheit, ruheloses Wanderleben. Die Bereitschaft zu verlieren, die Geringschätzung der Verluste, die Erinnerung an sie. Unglück, das gleichsam selbstverständlich war, nicht zur Schau gestellt, aber ins Auge fallend. Nicht kultiviert, ohne wirre Haare, ohne das absichtliche Tragen der Kleider, bis sie löchrig waren. Nicht das imitierte:
Schon drei Monate lang gibt man mir kein Visum nach Paris!
Unglück als Lebensnorm. Auch die augenblickliche glückliche Wendung irgendeiner Angelegenheit erleuchtete – einem Aufblitzen gleich – nur das unglückliche Gesamtbild. Eine „lukrative“ Übersetzung, die ihr angeboten wurde, bedeutete Wochen und Monate anstrengender Arbeit, erinnerte an die Rente von siebzig Rubeln. Der Umzug nach Komarowo im Sommer begann mit der Suche nach einer entfernten Verwandten, Bekannten oder Freundin, die ihr helfen und für sie sorgen könnte. Bei der Verleihung des Preises in Italien oder der Ehrendoktorwürde der Universität Oxford wurde deutlich, wie krank, wie alt sie war. Ebenso unterstrichen ihr Lächeln, ihr Lachen, ihr lebhafter Monolog oder ein Scherz das Schmerzerfüllte ihres Gesichts, ihrer Augen, ihres Mundes.
In den letzten Lebensjahren brachten zwei, drei ihr nahestehende Menschen sehr vorsichtig, auf Umwegen, das Gespräch auf ihr Testament. Es ging darum, daß Achmatowa das Testament zugunsten der Punina aufgesetzt hatte, als ihr Sohn Lew Nikolajewitsch Gumiljow im Lager war, damit nach ihrem Tod, wie sie sich ausdrückte, „die Hausverwaltung nicht wegen des Trödels käme“. Nach der Freilassung ihres Sohnes machte sie eine Notiz (in einem ihrer Hefte und auf einem einzelnen Blatt Papier) über die Änderung des früheren Testaments, was automatisch bedeutete, daß ihr Sohn alleiniger Erbe sein würde. Diese Notiz war jedoch nicht notariell beglaubigt. Sie fragte mich, was ich davon hielte. Ich erwiderte, daß sie meiner Meinung nach kein Testament hinterlassen dürfe, das in irgendeiner Weise gegen ihren Sohn gerichtet sei. Sie explodierte auf der Stelle, schrie etwas von falschen Freunden und der bettelarmen Alten. Einige Tage später kam sie erneut auf dieses Thema zu sprechen: die Szene wiederholte sich. Und noch einmal. Am 29. April 1965, gegen Abend, sagte sie plötzlich:
Lassen Sie uns ein Taxi rufen und zum Notar fahren!
Damals wohnte sie schon in der Leninstraße, das Büro des Notars befand sich in der Moissejenko, unweit der Krasnaja Konniza, in der sehr hoch gelegenen zweiten Etage, zu der eine steile Treppe hinaufführte. Solche Aufstiege verboten sich für ihr Herz nach dem Infarkt; ich schlug vor, umzukehren und den Notar zu einem Zeitpunkt, da außer ihr niemand in der Wohnung sein würde, nach Hause zu bestellen. Sie begann, langsam hinaufzusteigen. Im Büro war es leer, ich glaube, es wartete noch ein Besucher. Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl nieder. Ich bat den Notar, hinter der Trennwand hervorzukommen. Sein Gesicht und seine Hände waren verbrannt, mit glänzender Haut überzogen. Achmatowa sagte:
Ich vernichte mein früheres Testament.
Er erklärte ihr, daß das schriftlich erfolgen müsse. Sie stöhnte beinahe:
Ich habe nicht die Kraft, viel zu schreiben.
Wir vereinbarten, daß er diktieren, ich schreiben und sie unterschreiben würde. So taten wir es auch. Auf der Treppe äußerte sie oder ich etwas über Dickens. Und als wir auf die Straße hinaustraten, sagte sie schwermütig:
Von welcher Erbschaft kann denn die Rede sein? Man nimmt die Zeichnung von Modi unter den Arm und geht. (Es sei hier hinzugefügt, daß nach Achmatowas Tod jene, die überhaupt kein Recht auf ihr Archiv hatten, in deren Händen es sich aber befand, einen abscheulichen Kampf darum veranstalteten, es kam zu einer schändlichen Gerichtsverhandlung, in deren Ergebnis sich die Manuskripte an drei verschiedene Aufbewahrungsorte zerstreuten, und dabei ist nicht bekannt, wie viele und welche der vereinzelten Blätter an wessen Händen klebengeblieben sind.)
Unglück ist ein unentbehrlicher Bestandteil im Leben eines Dichters, zumindest eines Dichters der neuen Zeit. Achmatowa war der Ansicht, daß es für den wirklichen Künstler, ja für den Menschen von Wert überhaupt, unzulässig sei, in Luxus zu leben. „Warum läßt er sich nur neben teuren Dingen fotografieren?“ bemerkte sie beim Betrachten von Farbfotografien Picassos in einer Zeitschrift. „Wie ein Bankier!“ Aus England zurückgekehrt erzählte sie von der Begegnung mit einem Mann, der in ihrem Leben einen besonderen Platz eingenommen hatte. Jetzt lebte er in einem wunderschönen Schloß, umgeben von Blumenbeeten, Dienern, Silber.
Ich denke, daß ein Mann nicht in einen goldenen Käfig klettern sollte.
Als Brodsky verurteilt und in den Norden verbannt wurde, sagte sie:
Was für eine Biografie bereitet man unserem Rotschopf! Als hätte er eigens jemanden damit beauftragt!
Und auf meine Frage nach Mandelstams dichterischem Schicksal, ob es nicht vom normalen, Millionen Menschen gemeinsamen Schicksal verdeckt würde, antwortete sie:
Es war ideal.
Sie übte nicht nur durch ihre Verse, nicht nur durch ihren Geist, ihr Wissen, ihr Gedächtnis, sondern auch durch die Authentizität ihres Schicksals eine Anziehungskraft aus. In erster Linie durch die Authentizität ihres Schicksals. Ich beendete die Schule drei Monate nach Stalins Tod, zwei Monate nach der Freilassung der jüdischen Ärzte. Die für die Jugend unvermeidliche Unzufriedenheit mit den Älteren, mit den „Vätern“, die Versuche, sich durch Aufruhr von ihrem Einfluß zu befreien, wurden durch deren plötzlich zutage getretene Feigheit, Blindheit, Heuchelei, Schwäche, ganz zu schweigen von ihrer Gemeinheit und Kriecherei, genährt: der geradlinige Verstand wollte sich nicht auf ein tieferes Verständnis der Gründe einlassen, die egoistische Seele war zu Mitgefühl nicht bereit. Gleichzeitig führte die für die Jugend unausbleibliche Suche nach Autorität zu Enttäuschungen: bei näherer Betrachtung erwies sich die offizielle Autorität als aufgeblasen, die illegale als schädlich.
Im Moskauer Almanach Den poesii von 1956 wurde Achmatowas Elegie „Erinnerungen haben drei Epochen…“ abgedruckt. Ich konnte mir nicht darüber klar werden, was mich daran mehr erstaunte: daß sie noch lebte oder Inhalt und Schönheit der Elegie. In den dreißig seitdem vergangenen Jahren tauchten diese Blankverse, die sich mir sofort eingeprägt hatten – aus einem bestimmten Anlaß und auch ohne jeden Anlaß –, wieder und wieder in meinem Bewußtsein auf, wobei sie sich mit Achmatowaschem Inhalt, den ich vorher nicht kannte, der mir entgangen war, ebenso anfüllten wie mit hineingedeutetem, erlebtem, eigenem. Das war eine neue Achmatowa, und gleichzeitig erkannte man sie wieder, die aus den „Epischen Motiven“ herausschaute. Das nächste Mal sah ich die „Erinnerungen“ in der Sammlung von 1961, dem sogenannten „Frosch“ – der grünen Farbe des Einbandes wegen –, in einem Zyklus mit „Da ist sie, diese herbstgeprägte Landschaft…“ (Landschaft – russ. pejsasch, Achmatowa sprach es pe-isasch aus) und mit dem Vierzeiler „Und jene Stimme gibt schon keine Antwort mehr“. Der Vierzeiler hinterließ einen überwältigenden Eindruck, zeitweilig stellte er die Elegie vollkommen in den Schatten. „Jubelnd und trauernd.“ „Alles ist zu Ende.“ Alles war vorherbestimmt, die Intonation nicht abzuändern, die Macht jedes einzelnen Wortes unbestreitbar. Aber die Hauptrolle spielte der Klang. Einige der Dichter, deren Verse im Almanach neben Achmatowas Gedichten zu finden waren, hätten sich miteinander „verabreden“ können. Man konnte sich vorstellen, daß Pasternak zum Beispiel „Die Kerze brannte“, vortrug, danach Zwetajewa – „Die Zeitungsleser“, Sabolozki – „Abschied von Freunden“ und dieselbe Achmatowa – „Erinnerungen“. Aber etwas in der Frau, der man die Möhre gebracht hatte, ging über die Grenzen all dieser neuen sowie aller früheren, mir bekannten Gedichte hinaus. In den Worten, die sie zuweilen äußerte, war ein Klang, der – wie ich damals dachte – überhaupt nicht in Verse zu fassen war. Es gab keinen poetischen Chor, in dem eine solche Stimme erklang, ja erklingen konnte, eine Stimme, gleichsam aus dem Chor herausgerissen, der jene, die selbst schon schwiegen, beklagte. „Wo du nicht mehr bist.“ Gleichzeitig verbargen diese wenigen Abschiedsworte nicht, daß sie kunstvoll gesetzt waren, die Verse hatten „Effekt“, die Zeile riß bei „Und mein Lied zieht dahin…“ ab, das heißt alles ist zu Ende, aber das Lied zieht dennoch dahin.
Mein Literaturlehrer in der Schule, der zugleich auch Schuldirektor war, ein kleiner, untersetzter vierzigjähriger Ordensträger mit mongolischem Augenschnitt und festem Kinn verlor nicht viele Worte über den jeweiligen Gegenstand, auf Feinheiten ging er nicht ein. Zum Thema Achmatowa sagte er, als die Rede auf den ZK-Beschluß von 1946 kam:
Mit ihr ist es einfach. Sie selbst war häßlich, liebte aber ihr ganzes Leben lang einen sehr schönen Mann. Er beachtete sie nicht, daher die Dekadenz.
Im Zentrum der Stunde stand die Gliederung eines Aufsatzthemas. Irgendeines beliebigen Themas – wir schrieben nur einen kleinen Teil der Aufsätze, deren Gliederung wir besprachen. Einleitung. Inhalt. Schluß. Römische Ziffern, arabische Ziffern, Kleinbuchstaben: a), b), c)… Punkt vier: „Onegins Nähe zu den Dekabristen“: a) „Führte er ein statt Frondienst schnöde / Auf seinem Gute leichte Pacht“; b) „Dafür war Adam Smith ihm heilig“; c) eine Variante im Entwurf: „Das Los der Zaren – nach der Reih / Zog man sie zur Kritik herbei.“ Er ging geradlinig an die Literatur heran. Er verlangte die Kenntnis der zu studierenden Werke, gab als Hausaufgabe über den Sommer auf, Krieg und Frieden zu konspektieren; das tat ich mit Vergnügen, nach Kapiteln, es wurde ein dickes Heft. Er forderte keine Liebe zur Literatur, die aus irgendeinem Grund für wichtiger gehalten wird als die Liebe zur Chemie. Er verlangte nicht, daß wir Gorkis Mutter ebenso liebten wie Krieg und Frieden. Er diktierte Gliederungen. „Die Gestalt Pierre Besuchows.“ Seine Bedeutung im Roman. Seine Beziehung zu den anderen Helden. Äußeres, Taten, Charaktereigenschaften. „Die Gestalt Pawel Wlassows.“ Seine Bedeutung im Roman. Seine Beziehung zu den anderen Helden. Äußeres, Taten, Charaktereigenschaften. Er führte die Literatur auf ein Niveau, auf dem die Bücher gleichberechtigt waren. Eigentlich geschah im Physikunterricht dasselbe: ein fallender Mensch hatte dieselbe Beschleunigung wie ein fallender Stein. Und im Biologieunterricht: eine Spinne hatte auch ein Herz, nur ihr Blutkreislaufsystem war nicht geschlossen. Uns wurde nicht Schöne Literatur gelehrt, wir wurden nicht gezwungen, mit den positiven Helden mitzufühlen, dafür sagte man auch nicht, wie dreißig Jahre später meinen Kindern:
Sämtliche Kleidung von Jewgeni Onegin war nicht wie die unsere.
Ob einem das Poem Die Zwölf gefiel oder nicht, man mußte wissen, daß es den Zarismus entlarvte und die Revolution besang. Die Gedanken wurden zurechtgebogen, aber das Gefühl blieb unberührt. Man konnte bezaubert sein vom „Grauäugigen König“ und, nachts geweckt, herunterschnurren, daß das Gedicht dekadent und lasterhaft sei.
Achmatowa sagte, daß jeder, wen immer sie auch getroffen habe, sich den 14. August 1946, den Tag des ZK-Beschlusses über die Zeitschriften Swesda und Leningrad ebenso deutlich eingeprägt habe wie den Tag der Kriegserklärung.
Es war im ersten Nachkriegsjahr. Man hatte mich zu Verwandten in die kleine lettische Stadt Ludzu (Lüzin) geschickt, um mich herauszufüttern. Das Haus meines Tantchens stand auf einem Platz, und genau gegenüber befand sich eine Holztribüne, an der an Feiertagen die Demonstrationen vorbeiführten. Ich war zehn Jahre alt, lag auf den sonnenheißen, gestrichenen Brettern der Tribüne und las irgend etwas, als mein Cousin, ein Rigaer Oberkläßler, mit der Zeitung in der Hand auftauchte und, Strenge mimend, sagte:
Was ist denn bloß bei euch in Leningrad los, die sind ja außer Rand und Band geraten!
Ich begann, die Zeitung zu lesen, und nahm selbst in dieser spezifischen Aufbereitung den Reiz und – wie ich jetzt sagen würde – die Dramatik und daher auch die Wahrheit der in Bruchstücken angeführten Verse wahr, ich spürte die Faszination der Figur, auf die die Steine flogen. Und selbstverständlich hatte ich keinerlei Zweifel, daß Achmatowa nach diesem Beschluß für immer erledigt sein würde.
Mit einem Wort, ich ging in die Krasnaja Konniza in Erwartung der Begegnung mit einer großen, geheimnisvollen, legendären Frau, die standhaft geblieben war, mit Dante, mit der Poesie, mit Wahrheit und Schönheit – einer Begegnung, die es „nicht geben kann“ –, und diese Begegnung fand statt. Ich wurde nicht enttäuscht.
Unerwartet, aber sofort sichtbar und gleichsam selbstverständlich war die völlige Hoffnungslosigkeit in ihrer ganzen Gestalt, in ihren Worten, Gesten, eine endgültige, von ihr zugegebene und damit schon entkräftete Hoffnungslosigkeit. Ebenso wie alle, deren erste Begegnung mit ihr ich in der Folge miterlebte, verließ ich, laut der späteren Schilderung von Maria Sergejewna Petrowych, „wankend“ das Zimmer, war völlig durcheinander, murmelte etwas und lallte. Ich ging überwältigt davon – hatte ich doch eine Stunde in der Anwesenheit eines Menschen verbracht, mit dem es nicht etwa kein gemeinsames Thema gab (denn über irgend etwas hatten wir ja diese Stunde gesprochen), sondern mit dem niemand auf der Welt irgend etwas gemein haben konnte. Ich ertappte mich dabei, daß es mir schon nicht mehr wichtig war, ob ihr meine Gedichte gefielen oder nicht. Wichtig war allein die Tatsache, daß sie sie einfach angehört hatte.
*
Eine demutvolle, ärmlich gekleidete, doch majestätisch wirkende Dame.
Nach einem der folgenden Besuche bei ihr stand ich an der Bushaltestelle und bemerkte plötzlich, daß ich schon eine ganze Weile mechanisch diese Zeilen wiederholte, sofort mußte ich darüber schmunzeln, daß sie dieser Puschkinschen „Schulaufseherin“ zu ähnlich, scheinbar absichtlich ähnlich war. Ich wies mich bei dem Gedanken, daß ich mit meinem Schmunzeln den „klaren Sinn wahrhaftiger Gespräche“ auch verkehrt deutete, auf der Stelle zurecht.
Einmal ließ sie die Bemerkung fallen:
Wir erinnern uns nicht an das, was war, sondern an das, woran wir uns einst erinnert haben.
Nach ihrem Tod begann ich, mich an sie zu erinnern, und seitdem erinnere ich mich an meine Erinnerungen. Aber sie hinterließ Erinnerungen, die voll Geheimnis waren. Zum Beispiel erzählte sie mir einmal über ihr Nicht-Verhältnis mit Blok und äußerte sich voll Abscheu über die Tiefen und den Erfindergeist menschlicher Gemeinheit: jemand hatte im Poem ohne Held gelesen: „Jetzt möglichst schnell nach Hause durch die Cameron-Galerie“ und begann nun, auf ihre möglichen Verbindungen, ja beinahe auf einen Ehebruch mit einem der Bewohner des Zarenschlosses anzuspielen. Sie hob gerade die Raffiniertheit des unsittlichen Geistes hervor, und mit derart gesetzter Betonung bewahrte sich diese Bemerkung zusammen mit anderen in diesem Sinne viele Jahre in meinem Gedächtnis auf. Aber auch zusammen mit verschiedentlich erwähnten Erinnerungen an Zarskoje Selo konkret.
Ein andermal trug sie Scherzverse über Zarskoje Selo vor, die mit der Ankunft des französischen Ministers Lubbe in Rußland zusammenhingen: dieser wußte nichts von der kurz zuvor erfolgten, morganatischen Eheschließung des Großfürsten Pawel Alexandrowitsch mit der Fürstin Palej, die ehemals Pistolecorses Frau war, und wandte sich an die Kaiserin:
„Où est Prince Paul, ditez-moi, Madame?“,
so fragt Lubbe, den Rumpf gebeugt.
„Il est parti avec ma femme!“,
ruft Pistolecorse in dumpfem Leid.
Sie erzählte, daß Fürstin Palej in Zarskoje Selo gewohnt habe, wenn ich mich auch nicht genau erinnere, ob sie davon gesprochen hat, mit ihr bekannt gewesen zu sein. Sie sagte, daß sie ihre Memoiren gelesen habe:
Wenig interessante Aufzeichnungen einer untalentierten Dame mit schlechter Beobachtungsgabe.
Nach der Revolution wurde ihr Mann in der Peter-Pauls-Festung gefangengehalten.
Sie brachte ihm die benötigten Sachen in einem Schlitten. Dann wurde er erschossen, nachts, im Festungshof. Sie reiste nach Schweden ab. Ihre Töchter verstanden alles, als sie sie erblickten, und begannen zu weinen. In dem Buch gibt es zwei Fotografien: die einer jungen Petersburger Schönheit und die einer Greisin, und der Abstand zwischen den Aufnahmen beträgt nur wenige Jahre.
Dann gab sie kurz die Einzelheiten des Todes von Palejs zwanzigjährigem Sohn Wladimir wieder, einem Dichter, der ein halbes Jahr nach der Erschießung seines Vaters in einen Schacht in Alapajewsk geworfen wurde.
Auch in den Anmerkungen zum Poem ohne Held schrieb sie über Zarskoje Selo, über ihre Jugendfreundin, die Schauspielerin Glebowa-Sudejkina:
Olga tanzte La danse russe rêvée par Debussy, wie K. W. 1913 über sie sagte.
Und nochmals:
La danse russe im Schloß von Zarskoje Selo.
In den Erinnerungen einer anderen, noch früheren Freundin, W.S. Sresnewskaja, die Achmatowa redigiert, wenn nicht teilweise sogar diktiert hat, wird folgende Episode beschrieben:
In die Vergangenheit gerückt sind die englischen und Versailler Zelte von Z. S. und Pawlowsk, die Mondnächte mit dem dünnen Mädchen im weißen Kleid auf dem Dach des grünen Eckhauses („Wie schrecklich! Sie ist mondsüchtig!“), und alle Launen dieses freiheitsliebenden Kindes, das Baden der weißen schlanken Beinchen (man konnte sich ja nirgends bräunen!) in dem kleinen Bach bei Tjarlew, und die zärtliche Stimme des Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch, der mit einem Adjutanten einen Morgenspaziergang machte: „Und wenn Sie sich erkälten, Fräulein?“, und das Entsetzen ebenjener Mme. Winter, die von unseren Streichen erfahren hatte und versprach, „alles“ unseren Eltern zu erzählen, und unsere Verlegenheit vor dem schönen alten Mann, der uns so lieb einen Verweis erteilt hatte.
Und auf dem von Achmatowas Hand gezeichneten Plan von Zarskoje Selo war das Schloß des Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch markiert (des Vaters von K. W., Kirill Wladimirowitsch).
In der Liste „Daten und Adressen“ zählt Achmatowa unter der Überschrift „Im Alter von 2 bis 16 Jahren in Zarskoje Selo“ auf:
Zarskoje Selo
Das sogenannte „Kalte Haus“ (1893?), Schirokaja Str., das erste Haus vom Bahnhof aus. (Linke Seite. Brannte 1919 durch eine „weiße“ Bombe ab.)
Haus des Kaufmanns Sergejew, Malaja Str. (gerade Seite, erste Etage)
Haus Bernaskoni, Besymjanny Gasse. (1894)
Haus der Kaufmannsfrau Jewdokija Iwanowna Schuchardina. (War das nicht die Witwe des Leskowschen Schucharda – in der Litejnaja, siehe Erinnerungen von Leskows Sohn.) Zunächst Erdgeschoß, oben die Antonows (Juri Michailowitsch, Nietzscheübersetzer und Friedensrichter).
Dann erste Etage, und unten die Tjulpanows. Dort war N.S. Gumiljow bei Bruder Andrej zu Gast.
Schirokaja Str., zweites Haus vom Bahnhof, rechte Seite, Ecke Besymjanny Gasse.
Mein Fenster ging auf die Besymjanny Gasse hinaus. Hier wohnten wir bis Mai 1905.
Sommer 1905. Bulwarnaja, Haus von Sokolowski. Von dort aus Anfang August nach Jewpatorija (Pensionierung des Vaters und Trennung der Eltern).
„Besymjanny Gasse“ stand anfangs im Untertitel der am Ende ihres Lebens geschriebenen „Ode von Zarskoje Selo“. Darauf folgten zwei Epigraphe, Gumiljows „Und in der Gasse der Bretterzaun“ und Punins „Du bist ein Dichter von Bedeutung, hier, in Zarskeje Selo“.
Allmählich, im Laufe der Zeit, verglich mein Bewußtsein unmerklich diese Erinnerungen, bruchstückartigen Daten, zufälligen Bemerkungen und Aufzeichnungen, bis sie sich zu einem, wenn auch mangelhaften Gesamtbild fügten. Und jener weit zurückliegende Angriff auf irgendwelche schmutzigen – und denunzierenden – Vermutungen über die Cameron-Galerie begann anders zu klingen. Selbstverständlich nicht in jenem Sinne, daß es trotz allem „etwas“ gegeben haben muß, nein! – auch in ihren Worten über die Besitzer des verdorbenen, böswilligen Geistes – esprit mal tourné –, die Verse in die Richtung wenden, die ihnen genehm ist, höre ich dieselbe Entrüstung und Abscheu. Sondern in dem Sinne, daß nicht alles so einfach ist, wie es dem ersten Eindruck nach erscheint.
Und wenn sie in ihrem Tagebuch notierte: „Nichts als steinerne Zirkel und Lyren – mir scheint das ganze Leben lang, daß P-n das über Zarskoje gesagt hat…“, denke ich, daß sie nicht weniger als andere wußte, daß Puschkin das über Zarskoje gesagt hatte. Sie wollte aber an die „majestätische Dame“ erinnern; wollte an Mandelstams Rezension im Musenalmanach erinnern, wo er über „die hieratische Wichtigkeit, die religiöse Schlichtheit und Feierlichkeit“ ihrer Gedichte schrieb:
… nach der Frau ist nun die Reihe an der Dame.
Erinnern Sie sich: „Eine demutvolle, ärmlich gekleidete, doch majestätisch wirkende Dame“; und schließlich an die Lyren, die an den Zweigen des fremden Gartens aufgehängt waren.
Das dünne Gift der literarischen Repliken, die beiläufig geäußert werden.
*
Und noch einen Grund gab es, warum es junge Menschen wie mich zu ihr zog. Sie war ein lebendiges und in der damaligen Vorstellung unantastbares Symbol der Verbindung zwischen den Zeiten. Ein junger Mensch ist seiner Natur nach Futurist, er ist unzufrieden mit der Einrichtung des Lebens, die er angetroffen hat und wünscht, die ihm unbequemen, ihn störenden Verbote und Gebote in jedem Fall zu verändern und aufzuheben. Ist sein Wirkungsfeld die Kunst, so schlägt er obendrein statt dessen neue, seiner Meinung nach einzig richtige und notwendige Gesetze vor. Aber während er Beifall von Gleichgesinnten bekommt – in überwältigender Mehrheit von seinen Altersgenossen –, fühlt er intuitiv, daß seine Position nicht begründet und haltbar genug ist und sucht bei „Fremden“, besonders bei Älteren Unterstützung. Er braucht die Billigung seiner Position nicht nur vom „gegenwärtigen Moment“, sondern auch von den „Zeitaltern“. So funktioniert der Mechanismus der Kontinuität, der Tradition.
Achmatowa trat der Revolution als vollkommen ausgeprägter Mensch entgegen, mit Prinzipien und Kriterien, die sie in der Folge nicht änderte. Damit und nicht nur durch ihr strenges und selbstsicheres Auftreten läßt sich insbesondere erklären, daß sie und Mandelstam dreißigjährig für alte Menschen gehalten wurden. Die zweihundertjährige Petersburger Kultur und natürlich die russische jahrhundertealte Kultur hatten sie erzogen. Ihre Wertmaßstäbe resultierten aus der gewaltigen Geschichtsperiode, sie bewertete das Geschehen moralisch ebenso wie, sagen wir, Fürstin Anna Kaschinskaja oder Fürstin Anna, die Frau Jaroslaws des Weisen, oder die Prophetin Anna. Sie erzählte folgendes über eine Freundin: einige Jahre nach der Revolution wusch diese im Waschbecken der Gemeinschaftsküche einer mit Mietern vollgestopften Wohnung Wäsche. Ihre Tochter kam aus der Schule gelaufen und sagte im Vorübergehen leichthin, wenn auch nicht ohne Herausforderung:
Mama, es gibt keinen Gott.
Die Mutter entgegnete, ohne das Waschen zu unterbrechen, müde:
Wo ist er denn geblieben?
Achmatowa war nicht damit einverstanden, vom „Schiff der Neuen Zeit“ den für unnötig erklärten Kulturballast abzuwerfen. Sie lehnte das erprobte Alte nicht um des angepriesenen Neuen willen ab. Deshalb weckte der Klang eines jeden ihrer Worte, wenn sie auf ein „ha“ antwortete, das Echo in der wer-weiß-wohin entschwindenden Perspektive der Epochen und prallte nicht an der nahen Wand der neuen Zeit ab.
Sie hatte keine hohe Meinung von der Estradenpoesie Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Dabei spielte die Qualität der Verse, wie ich bemerkte, nicht die Hauptrolle, sie konnte einen falschen Fund verzeihen, wenn sie dahinter ehrliche Suche sah. Unannehmbar für sie war in erster Linie der Seelenzustand der Autoren, die nur auf den Augenblick berechneten moralischen Prinzipien, der verdorbene Geschmack.
Ein junger Moskauer Dichter, ein Bekannter von mir, bat mich, eine Zusammenkunft mit ihr zu vereinbaren. Ich richtete ihr das aus, empfahl ihn, und sie fragte, ob ich mich an einige seiner Gedichte erinnerte. Ich trug zwei Zeilen aus einem Jugendgedicht vor:
Für jeden wird es anders Herbst – durch Verse, Frauen, Wein.
„Zuviele Frauen“, äußerte sie, lehnte es aber nicht ab, ihn zu empfangen.
Oder ihre Äußerung über einen damals in Mode gekommenen Dichter, den ich hier Albert Bogojawlenski (bogojawlenije = Gotteserscheinung) nennen will:
Wie kann sich ein Mensch als Dichter bezeichnen, der unter einem solchen Namen auftritt? Merkt er denn nicht, daß ein russischer Popenname nicht mit einem Operettenvornamen aus Übersee zusammenpaßt?
Und als ich versuchte, ihn zu verteidigen, da müßte man wohl bei den Eltern nachfragen, folgte:
Dazu ist man doch Dichter, um sich ein anständiges Pseudonym auszudenken.
Einmal wurde die Post gebracht; sie begann, einen Brief von Hanna Gorenko, ihrer Schwägerin, zu lesen und ich, die Zeitschrift Nowy mir durchzusehen. Nach einiger Zeit hob sie den Kopf und fragte, was ich da entdeckt hätte. „Jewtuschenko.“ Sie bat mich, ein Gedicht zur Probe vorzulesen:
Sonst schimpfe ich über ihn und habe doch fast nichts gelesen.
Das Gedicht handelte davon, daß dem Menschen, wenn ihm das eine Gedächtnis und noch irgendein anderes, ein zweites Gedächtnis (ich glaube, des Herzens) versagt; ein drittes bleibt:
Mögen die Hände sich an das und das erinnern, möge sich die Haut erinnern, mögen die Füße sich an den Staub der Wege erinnern, mögen die Lippen…
Das Gedicht hatte etwa zehn Strophen, ich bemerkte, wie sie nach der dritten nur noch unaufmerksam zuhörte und wieder in ihren Brief schaute. Als ich geendet hatte, sagte sie:
Irgendwie hat Hannas Brief den Eindruck verschönert… Was er doch für gefühlvolle Füße hat!
In anderen Versen, die ich in der Bahn nach Komarowo las, variierte ein damals beliebter Leningrader Dichter verkrampft und nicht sehr erfinderisch folgendes Thema: im kommenden Jahrhundert würde es die Möglichkeit geben, Menschen, die früher gelebt hatten, künstlich wiederzuerschaffen. Dann würden die schlechten, die Reaktionäre sozusagen, in vielen Exemplaren wiedererstehen, um den Schulen als Anschauungsobjekt zu dienen; die guten, progressiven aber würde man in nicht mehr als einem Exemplar bauen können. Ich behielt nur, daß es fast anderthalb Dutzend Mohameds, aber nur einen Majakowski geben würde.
„Gestatten Sie“, sagte Achmatowa, „das ist nicht nur abgeschmackt, das ist obendrein noch lukrativ.“
Bald nach der Revolution spielte sich vor ihren Augen das ab, was sich von da an stolz und tiefsinnig „Umorientierung der Interessen der Dichtung“ nannte. Die äußere Überzeugungskraft der Formel jedoch, die Selbstsicherheit, mit der sie ausgesprochen wurde, dienten in erster Linie dazu, den Leser zu betrügen, von der Rechtmäßigkeit der Abkehr von dem, was Verse zu Poesie macht, zu überzeugen. Die persönliche Meinung, der besondere Blick – mit einem Wort – die persönliche Beziehung des Dichters zu allen Erscheinungen auf der Welt garantiert allein die Echtheit jeder seiner Zeilen. Wenn der Dichter wie Puschkin die ganze Welt in sich vereint, bekommen seine persönlichen Gedichte das Recht, als Vertreter „für alle“ zu wirken, „im Namen aller“ – genauer, eines jeden – zu sprechen. Das heißt, auch ich erinnere mich an einen wunderbaren Augenblick, auch von mir ist gestern abend Leila gleichgültig weggegangen, und überhaupt hat er das alles „über mich gesagt“. Aber selbst wenn ein Dichter Individualist oder gar Egoist ist – wie Balmont oder Igor Sewerjanin –, bleibt ihm nichts übrig, als nur von sich und nur für sich zu sprechen, und dabei stellt er den Leser vor die Wahl, sich an seiner Ausschließlichkeit zu erfreuen oder sie nicht zu beachten.
Die neue Einstellung – „im Namen des Volkes“, „für alle Menschen“ zu sprechen – warf den Standpunkt des Dichters um, er mußte sich nunmehr nicht nach innen, sondern nach außen richten. Zugelassen (und gefördert) wurde das Zusammenfallen beider Richtungen, wobei der neuen unbedingt der Vorrang eingeräumt wurde. Das „Wir“ verdrängte offen und versteckt das „Ich“ aus der Poesie: „Ich bin von verschiedener Art, überlastet mal und müßig“ – sagen wir – eignete sich, denn es war anzunehmen, daß es „so wie viele“, „gemeinsam mit anderen“ hieß; aber etwas wie „Zechbrüder sind wir alle, Huren“ paßte aus verständlichen Gründen nicht. Eine Vielzahl von Gegenständen und Themen, die sogenannten überlebten und darum verlachten Kammerthemen, wurden offiziell und – was weitaus bedeutender war – auf Befehl des Herzens verboten. Das Nichteigene wurde nach Möglichkeit verallgemeinert und das Allgemeine, der Absicht folgend, angeeignet. Der Autor ging in der Tat dem Leser entgegen, umwarb ihn geschickt, bekam ein tausendfaches Auditorium, spekulierte dabei aber mit der Poesie, gab dem Leser alles, was dieser wollte und nicht das, was er, der Autor, besaß. Achmatowa äußerte über W., der in den sechziger Jahren schnell an Popularität gewann:
Ich sage das mit voller Verantwortung, nicht ein Wort seiner Verse hat er durch sein Herz gelassen.
Dabei hat das „Wir“ in der lyrischen Dichtung einen ganz konkreten Inhalt und bedeutet nichts anderes als: ich und du, er und sie, eine Gruppe Nahestehender oder Freunde, die der Dichter namentlich nennen kann. Nur so wird das begrenzte „Wir“ größer und allgemein. Meine Freunde, herrlich ist unser Bund, unser, das heißt der Lyzeumsschüler, Delwigs, Puschkins usw., und darum aller, die „Lyzeumsschüler“ sind, insofern als sie „Lyzeumsschüler“ sind. Wir aber leben mühsam, wir Petersburger, die wir einander auf der Straße erkennen, und darum erkennen wir jeden, der von dieser oder ebenso von seiner eigenen Stadt vergiftet und verzaubert ist, da er vergiftet und verzaubert ist. In den Versen der Kriegszeit: „Ihr, meine Freunde, die zuletzt man rief…“ spricht Achmatowa von ihrer Pflicht, „eure Namen muß in alle Welt ich schrein“, und in „Den Siegern“ nennt sie sie auch: die Wankas, Wasskas, Aljoschkas, Grischkas – Enkel, Brüderchen, Söhne.
1961 schrieb sie im Krankenhaus das Gedicht „Heimaterde“. Es besteht in nicht geringem Maße aus Klischeeformeln, die wenn überhaupt mit umgekehrtem Zeichen zu lesen sind: „wir preisen sie nicht schluchzend in Gedichten“, „und nicht einmal an sie erinnernd“ usw. Es fehlt die ihren Versen eigene Schärfe, viele Zeilen scheint man schon gelesen zu haben, und ganz und gar nicht nach Achmatowa klingt das „Wir“ – unbestimmt, ohne konkrete Adresse. Wenn es nicht zwei Zeilen, genauer gesagt, zwei Worte darin gäbe, die alles an seinen Platz rücken. „Doch wir mahlen, kneten und bröckeln diesen Staub, der mit nichts sich vermischt.“ „Wir kneten und bröckeln“ – das ist die ein Vierteljahrhundert später gesandte Antwort auf Mandelstams Losungswort „Und Arabiens Geknet’ und Gebröckel“ in „Verse vom unbekannten Soldaten“. Das ist ihr Staub, vielleicht der Staub der Kollegen der „Dichter-Gilde“, von Gumiljow, Mandelstam, „die mit nichts sich vermischen“, vielleicht weiter gefaßt: der Staub der Jugendfreunde, „Um zu beweinen euch, muß ich am Leben sein“. Noch deutlicher tritt ebendiese Adressierung des Gedichts in der naheliegenden Gegenüberstellung mit dem weniger als drei Jahre später geschriebenen Gedicht „Zwar ist die Erde nicht die Heimat“ zutage. Es enthält auch Schablonen-Bilder, besonders konzentriert im letzten Vierzeiler, die die „zwar nicht heimatliche, doch für alle Zeit denkwürdige“ Poetik der Symbolisten darstellen:
Der Sonnenuntergang in den Wellen des Äther, so daß ich nicht ergründen kann, ob Ende des Tages, ob Ende der Welt, oder ob Geheimnis der Geheimnisse.
Hier findet sich auch die zum Allgemeinplatz gewordene Kritik des Symbolismus: „Wenn ein Symbolist ,Sonnenuntergang‘ sagt, meint er den Tod“, und die spöttische Erinnerung Achmatowas:
Wenn man einem Symbolisten sagte: „Diese Stelle in Ihren Versen ist schwach“, antwortete er herablassend, „aber hier liegt ein Geheimnis!“
Interessant ist, daß die vorhergehenden zwei Zeilen gleichsam die akmeistische Bearbeitung des vorrangig von den Symbolisten gepachteten „Untergangs“-Landes demonstrieren:
Und der Kiefern rosa Körper stehen zur Untergangszeit nackt.
(„Wir gingen bergauf. Wir waren vermessen, erfolgreich; unbehütet“, sagte sie. Der Symbolismus, dessen Meister sie sowohl am Anfang ihres Weges als auch im Verlaufe ihres Lebens, aller Kritik zum Trotz, schätzte, machte eine Krise durch.
Wir sind in den Akmeismus gegangen, andere in den Futurismus.
Einmal bemerkte ich, daß die poetische Plattform – und das Programm – der Symbolisten, würde man die Organisationsmotive und Prinzipien der Vereinigung beiseite lassen, auf jeden Fall grandioser seien als die der Akmeisten, die sich hauptsächlich in der Opposition zum Symbolismus konsolidierten. Achmatowa äußerte gedämpfter und darum bedeutungsvoller als bisher:
Denken Sie etwa, ich wüßte nicht, daß der Symbolismus vielleicht die letzte große Strömung in der Dichtung überhaupt ist?
Möglicherweise hatte sie sogar „in der Kunst“ gesagt.)
„Es darf nicht vergessen werden“, betont sie in Tagebuchblätter bei der Erinnerung an Mandelstams Woronescher Vortrag über den Akmeismus, „was er 1937 gesagt hat: ,Ich schwöre weder den Lebenden noch den Toten ab‘.“
Sie atmete die Luft der Gegenwart, ihre Lunge aber war mit der Luft gefüllt, die sie in jungen Jahren geatmet hatte. Sie erzählte, daß sie zufällig am Tag, als die Adligen aus Leningrad ausgesiedelt wurden, auf dem Bahnhof gewesen sei, um jemanden – ich glaube, Mandelstam – zum Zug zu begleiten. Sie drängten sich auf dem Bahnsteig, und alle grüßten sie, während sie vorbeiging:
Ich hätte nie gedacht, daß ich soviele Adlige kenne.
Durch sie lernte ich einige ihrer Freundinnen, „jüngere Zeitgenossinnen“, kennen. Damals meinte ich, daß diese sechzig-, siebzigjährigen Frauen die natürliche Konstante einer beliebigen Gesellschaft bildeten, daß es solche betagten Damen und solche Greisinnen – gequälte, doch nicht verbitterte, leidgeprüfte, doch nicht verzweifelte, mit blutleeren Gesichtern, schmerzerfüllten Augen, aber selbstlose, verzeihende, entgegenkommende – immer gegeben habe und immer geben werde. Wie sich jedoch herausstellte, waren das die letzten Vertreterinnen eines aussterbenden Geschlechts. Die heutigen Siebzigjährigen können ihre Zöglinge sein, aber sie leben von Geburt an in einer völlig anderen Atmosphäre, das ist nicht nur an ihrer Psychosomatik, wie die heutigen Ärzte sagen würden, sondern auch an ihrer Blutformel nicht spurlos vorbeigegangen. Ljubow Dawydowna Stenitsch-Bolschinzowa sagte mir nach Chaplins Tod:
Ich war Soldat in jener Armee, die er als General anführte.
Welche alte Dame kann heute über welche Armee und über sich etwas Ähnliches sagen?
Achmatowa erbte das majestätische Wort, die Muse Dantes, die Schwäne von Zarskoje Selo, Dostojewskis Rußland, die Güte der Mutter. Daraus formte sie wohl alles, was nur möglich war, baute das Haus der Poesie aus den Steinen des ihr hinterlassenen Hauses auf ihre Art um und hinterließ es der Zukunft als Erbe. Diese Steine sind ewig und wie immer, wie von alters her, geeignet für das nächste Bauwerk. Geeignet, doch einstweilen nicht nötig, nicht verwendbar, denn eine neue Lebensweise, neue Funktionen der Architektur, neue Materialien – üblich ist jetzt Plastik, das „unsterbliche Furnier“, wie Achmatowa es nannte – haben Einzug gehalten.
*
Im Dezember 1962 las ich ihr ein von mir eben fertiggestelltes Poem vor. Es war in Moskau, große Kälte herrschte, doch Schnee lag nicht. Sie wohnte damals bei Nika Nikolajewna Glen in der Sadowo-Karetnaja, und in der Wärme und Behaglichkeit dieser Familie nahm sie sich sanfter, häuslicher aus. „Auch eine Matrjona“, sagte sie über die Mutter von N. N. und meinte Solschenizyns Erzählung „Matrjonas Hof“. Zu jener Zeit hatten sich zwischen ihr und mir schon recht freundschaftliche Bande herausgebildet, aber noch ohne die künftige Vertraulichkeit, ohne jene – „nach einigem Zweifeln entschließe ich mich zu schreiben“ – Herzlichkeit, die einige Monate später aufkam. Sie sagte, daß ihr das Poem gefalle, „dieses die ganze Zeit währende Balancieren auf dem Rand und die Anwesenheit von Luft, Licht, Meer und Erde“. Auch sagte sie: „Gedankendichte“ – nicht als Kompliment, nicht als Mißbilligung, sondern gleichsam konstatierend. Sie sagte:
Das ist zweifellos ein Poem, obwohl das Maß nicht wirklich gefunden ist.
Und:
Ich mag den sechsfüßigen Jambus nicht in Verbindung mit dem fünffüßigen.
Über die bestimmende, konstruierende Rolle des Versmaßes für das Poem, um nicht zu sagen: „Ein Poem ist ein Versmaß“, sprach sie immer wieder, sowohl vor als auch nach diesem Gespräch. Dabei bestand sie darauf, daß das Versmaß (und die Strophe) – sagen wir, der Puschkinsche Jambus (und Onegin vor allem) – keine offene Tür sei, sondern eine Schranke, an der sich viele Poeme zerschlagen hätten, angefangen bei Festmahle von Baratynski bis hin zu Bloks Vergeltung: Er habe das russische Poem „aufgefressen“, und umgekehrt sei allein das neue Versmaß für den Erfolg von Frost, rote Nase und Die Zwölf bestimmend gewesen.
Was die Vermischung des fünffüßigen mit dem sechsfüßigen Jambus betraf, erhob sie, soviel ich verstand, nicht gegen diese Methode an sich, die sie selbst häufig anwendete, Einspruch, sondern gegen eine willkürliche Vermischung, welche möglicherweise nicht durch Absicht, sondern durch Ungenauigkeit oder sogar durch fehlendes Gehör hervorgerufen wurde. Ihr mißfiel ein Abschnitt entschieden, und als sie davon zu sprechen begann, schämte ich mich, daß ich sie veranlaßt hatte, diese ihr unangenehmen Verse zu hören; sie sagte: „Arbeiten Sie diesen Abschnitt um, oder streichen Sie ihn!“ und nach einer kurzen, aber deutlich akzentuierten Pause:
Oder lassen Sie ihn, wie er ist.
Etwas später meinte sie noch: „Das ist etwas Neues“, was ich keineswegs als Billigung verstand, sondern vor allem als „nicht unser“. Und schließlich ließ sie wie im Vorbeigehen in einem Nebensatz fallen: „… diese Einheitssuite“ und gab mir damit den Unterschied zwischen ihrer Auffassung von einem Poem und meinen damaligen Vorstellungen davon zu verstehen.
Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, wollte ich in ihrer Äußerung über dieses „Jugendpoem“ – wie auch in anderen Fällen über andere Gedichte – ein Lob heraushören, und hörte es auch. Heute lasse ich mich, was das betrifft, nicht verführen, ich betone nur, daß ihr Urteil fachlich, professionell und ohne einen Schatten des „greisen Derschawin“ war. Aber heute weiß ich ebenso, daß dies keine gewöhnliche „Achmatowa-Platte“ war.
„Platten“ nannte sie ein besonderes Genre der mündlichen Erzählung, das sich auf viele Zuhörer eingespielt hatte, mit ein für allemal geeichten Details, Wendungen und Spitzen, das aber gleichzeitig seinen improvisatorischen Urgrund der Intonation, der Wechselbeziehung zu den augenblicklichen Umständen bewahrt hatte. „Habe ich Ihnen schon die Platte über Balmont… über Dostojewski… über die Lokomotivfunken aufgelegt?“ – darauf folgte eine glänzende kurze Etüde, eine lebendige Anekdote nach der Art von Puschkins Table-talk, mit einem Aphorismus, der auf ähnliche oder gänzlich unterschiedliche Situationen angewendet werden könnte – und anschließend auch angewandt wurde. Wenn sie sie aufschrieb – und das meiste schrieb sie auf –, gewannen sie an Nachdrücklichkeit und Authentizität, verloren aber, wie mir schien, ihre Spontaneität.
Manchmal also – nebenbei gesagt nicht so oft, wie man hätte annehmen können – wandten sich Menschen, die Gedichte schrieben, an sie, um ihr Urteil zu hören. Sie bat, ihr die Gedichte dazulassen, begann, sie zu lesen, und wenn sie sie nicht berührten – und das war nicht selten der Fall –, beschränkte sie sich auf das Lesen einiger Zeilen. Wenn der Autor wegen der Antwort kam, bemühte sie sich, ihn nicht zu beleidigen und sagte irgend etwas Unverbindliches, das aus ihrem Mund als Lob aufgefaßt werden konnte. Und auch hier gab es „Platten“, zwei, drei Sentenzen, die je nach den Umständen erfolgreich verwendet wurden.
Wenn sich in dem, was sie gelesen hatte, eine Landschaftsbeschreibung fand, sagte Achmatowa:
Ihre Verse zeugen von Gefühl.
Wenn ein Dialog eingeflochten war:
Mir gefällt es, wenn direkte Rede im Gedicht verwendet wird.
Wenn die Verse ohne Reim waren:
Blankverse zu schreiben ist schwieriger, als zu reimen.
Derjenige, der sie danach bat, „einige neue Gedichte“ anzusehen, konnte hören:
Das ist ganz Ihr Stil.
Und schließlich war immer das universelle „In Ihren Versen stehen die Worte an ihrem Platz“ zur Stelle.
Am Ende jenes Abends, an dem ich ihr das Poem vorgelesen hatte, erzählte sie, wie Inna Erasmowna, ihre Mutter, nach der Lektüre der Gedichte Achmatowas (oder hatte sie sie sogar von ihr rezitiert gehört?) unerwartet zu weinen begann und sagte:
Ich weiß nicht, ich sehe nur, daß es meiner Tochter schlecht geht.
So sehe auch ich jetzt, daß es Ihnen schlecht geht.
Eigentlich begannen wir von diesem Tag an, uns öfter zu sehen und lange Gespräche zu führen.
Im großen und ganzen hatte sie zu jener Zeit nicht einmal von der Dichtung jener jungen Menschen, deren Versen sie gewisse Aufmerksamkeit schenkte, eine hohe Meinung. Das alles seien Äußerungen von Wilden, bestenfalls gerademal vom Analphabetentum Kurierten, wie sie einmal feststellte. Eines Tages saßen wir auf der Veranda, schauten auf die Kiefern, das Gras, das Heidekraut, und sie sagte mit spöttischem Gesichtsausdruck:
Kolja stand groß und aufrecht dem ebenfalls großen, aber gebückten Gorki gegenüber und belehrte ihn im Mentorton: „Sie können keine Gedichte schreiben und sollten sich nicht damit befassen. Sie kennen die Grundlagen des Versaufbaus nicht, können die Versmaße nicht unterscheiden, haben kein Gefühl für den Rhythmus, für den Vers. Mit einem Wort, das ist nicht Ihre Sache.“ Gorki hörte unterwürfig zu. Ich beobachtete diese Szene und langweilte mich.
An dieser Stelle möchte ich einen Brief Achmatowas von 1960 einfügen. Ich erhielt ihn aus ihren Händen, obwohl er nicht an mich, genauer, nicht direkt an mich gerichtet war. Es war einer jener „Briefe an NN“, die der ausgezeichnete Achmatowa-Forscher Timentschik „Botschaften an den Überbringer“ nannte. Im letzten Jahrzehnt ihres Lebens schrieb sie mehrere derartiger Briefe, und einige Menschen, darunter auch ich, können sich nicht ganz unberechtigt, unter Bezug auf diesen oder jenen konkreten Satz, für ihre Adressaten halten. Jener, um den es hier geht, lag in einem alten italienischen Koffer, in einer Kredenz, die in ihrem Zimmer stand und mit Manuskripten, Mappen, Heften, alten Korrekturen usw. gefüllt war. An einem der Wintertage des Jahres 1964 unterbrach sie unser Gespräch, das um den damaligen poetischen Boom und die Wendung in ihrem Schicksal (Veröffentlichung des Requiem im Westen, italienischer Literaturpreis usw.) ging, und sagte:
Öffnen Sie die Kredenz und suchen Sie an der und der Stelle den und den Brief!
Ich fand ihn; darin lag ein weiteres beschriebenes Blatt, von dem noch die Rede sein wird. „Das ist für Sie.“ Ich las beide und legte die Blätter auf den Tisch. „Das ist für Sie.“ Ich bedankte mich und versteckte sie in die Jackentasche. Sie begann, von etwas anderem zu sprechen.
Auf Ihre zahlreichen Briefe möchte ich folgendes antworten. In der letzten Zeit bemerke ich eine entschiedene Abkehr der Leser von meinen Gedichten. Das, was ich veröffentlichen kann, befriedigt den Leser nicht. Mein Name wird nicht unter den Namen sein, die die Jugend (für Gedichte ist immer die Jugend zuständig) heute auf den Schild hebt.1
Obwohl hunderte gute Gedichte existieren, werden diese nichts retten. Man wird sie vergessen.
Es bleibt ein Buch mit mittelmäßigen, einförmigen und natürlich altmodischen Gedichten. Die Menschen werden sich wundern, daß sie irgendwann einmal in ihrer Jugend von diesen Gedichten begeistert waren, ohne zu bemerken, daß sie gar nicht von diesen Gedichten begeistert waren, sondern von jenen, die in dem Buch nicht enthalten sind.
Dieses Buch wird am Ende meines Weges stehen. In jenen Aufschwung und jenes Interesse an der Poesie, der sich jetzt so stürmisch abzeichnet, werde ich keinen Eingang finden, genau wie Sologub, der die Schwelle des Jahres 1917 nicht überschritt und so für immer im Jahr 1916 eingemauert blieb. Ich weiß nicht, in welchem Jahr man mich einmauern wird, aber das ist auch nicht so wichtig. Ich war viel zu lange auf der Bühne, es ist Zeit für mich, hinter die Kulissen zu treten.
Gestern habe ich selbst erstmals dieses fatale Buch gelesen. Das ist gute, gediegene dritte Wahl. Alles fließt in eins zusammen – viele Gärten und Parks, gegen Ende wird es ein klein wenig besser, aber bis zum Ende wird es ohnehin niemand lesen. Ja, und um wieviel angenehmer ist es dann, den „völligen Fall“ (chute complète) des Dichters selbst zu konstatieren. Das kennen wir schon von Puschkin, von dem sich alle (einschließlich seiner Freunde, siehe Karamsin) abwandten.
Im übrigen (auch wenn das schon ein anderes Thema ist) bin ich überzeugt, daß es heute überhaupt keine Leser für Gedichte gibt.
Gedichte werden abgeschrieben oder auswendig gelernt. Die Zettelchen mit den Gedichten werden im Busen versteckt, die Verse ins Ohr geflüstert, unter der Beteuerung, auf der Stelle alles für immer zu vergessen usw.
Gedruckte Verse erregen allein durch ihren Anblick Gähnen und Übelkeit – die Menschen sind mit schlechten Gedichten überfüttert worden. Die Verse haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Statt: „Die Herzen brenn mit deinem Wort“ – rufen gereimte Zeilen Langeweile hervor.
Aber bei mir liegen die Dinge etwas komplizierter. Abgesehen von allen Schwierigkeiten und Nöten auf der offiziellen (zwei ZK-Beschlüsse) und auf der schöpferischen Ebene begleitete mich ununterbrochenes Mißgeschick, und vielleicht verdeckte oder beschönigte das offizielle Mißgeschick sogar zeitweise jenes hauptsächliche. Ich befand mich ziemlich schnell rechts außen (nicht politisch). Linker, demnach neuer, moderner waren alle: Majakowski, Pasternak, Zwetajewa. Ganz zu schweigen von Chlebnikow, der bis heute als Neuerer par excellence gilt. Daher verhielten sich die uns folgenden „Jungen“ mir gegenüber immer so scharf und unnachgiebig feindselig, Sabolozki zum Beispiel und natürlich die anderen Oberiuten. Der Salon der Briks kämpfte systematisch mit mir, indem er mich der inneren Emigration beschuldigte, was leicht nach Denunzierung klang. Eichenbaums Buch über mich ist voll Schrecken und Besorgnis, daß er sich meinerwegen am Ende des Literaturtrosses wiederfinden könnte. Einige Jahrzehnte später zog all das ins Ausland. Dort begann man, weil es bequem war und um freie Hand zu haben, mich für eine Null als Dichterin zu deklarieren (Charkins), danach wurde es sehr leicht, mit mir fertigzuwerden, was nicht ohne Grazie zum Beispiel Ripolino in seiner Anthologie macht. Ohne zu wissen, was ich schreibe, ohne zu verstehen, in welche Lage ich geraten war, schreit er einfach, daß ich mich verbraucht hätte, allen überdrüssig geworden sei, daß ich das 1922 selbst eingesehen hätte und so weiter.
Dies ist ungefähr alles, was ich Ihnen aus diesem Anlaß sagen wollte. Selbstverständlich habe ich eine Vielzahl von Beispielen parat, die meine Gedanken belegen. Im übrigen dürfte das für Sie kaum von Interesse sein.
1960. 22. Jan. – 29. Febr.
Leningr. – Moskau
*
Die Mehrzahl der Achmatowaschen Tagebuchaufzeichnungen der letzten Jahre sind dem „Anfang“ gewidmet: dem silbernen Zeitalter, den damaligen Verhältnissen, dem Akmeismus. Sie erklärte Ursachen, entlarvte Verleumdungen und Lügen, korrigierte Fehler und Ungenauigkeiten und korrigierte meiner Meinung nach überhaupt ein wenig mal dieses, mal jenes Strichlein der vergangenen Wirklichkeit – nicht, um zu beschönigen, nicht um des künftigen Vorteils willen, sondern eher mutatis mutandis, den sich verändernden Umständen gemäß. Zu vieles klang anders und sah anders aus, mitunter direkt entgegengesetzt dem, wie es im Moment des Ereignisses geklungen und ausgesehen hatte. Sie berücksichtigte das, sagte, das zwanzigste Jahrhundert habe einige Worte – wie „Stille“ – abgeschafft, anderen – zum Beispiel „Kosmos“ oder „Unendlichkeit“ – eine neue Bedeutung verliehen, dritten ihre frühere Eigenschaft genommen: „Wenn jemand das Wort -Nachbar, ausspricht, stellt sich niemand etwas Angenehmes vor, alle denken an die Gemeinschafsküche.“ Eine der extremsten und naivsten Korrekturen war die in meinem Exemplar des Rosenkranz: Sie hatte in dem Vers „Zechbrüder sind wir alle, Huren“ – „Zechbrüder“ und „Huren“ gestrichen und statt dessen „kommen aus dem Märchen“ geschrieben:
Wir alle kommen aus dem Märchen.
Man könnte darüber lachen, hätte es die Millionenauflagen der Zeitungen im August 1946 mit Schdanows Worten über sie – „halb Nonne, halb Hure“ – nicht gegeben, die dann in tausenden von Vorträgen, in tausenden Versammlungen wiederholt worden sind.
In welchem Maße blieb Achmatowa ein „Mensch ihrer Zeit“, das heißt, was unterschied sie von dem, was vor 1914 war, und von dem, was danach kam? Abgesehen vom sozial-politischen Umbruch und den dadurch hervorgerufenen Verschiebungen in den verschiedensten Lebenssphären, machte die Zeit vor ihren Augen auch eine Reihe von sozusagen natürlichen Evolutionen durch, die nicht das Gesicht, sondern den Gesichtsausdruck der Epoche veränderten. Es änderten sich Geschmack, Ästhetik, Moden. Erstens endete mit Annenski jene Zeit, in der die Worte der Dichter durch den bloßen Fakt ihrer früheren Verwendung und nicht durch die Biografie des Poeten Gewicht bekamen; und mit Blok ging jene Dichtergeneration zu Ende, die das Ziel verfolgte, mit Hilfe der Poesie der Schönheit und nicht der Kultur zu dienen. Zweitens war die Kunst – als Handwerk, als Ritus, als Mittel zur Veränderung der Welt – das essentielle Moment des Kreises, in den Achmatowa eingetreten war, um ihren Platz einzunehmen.
Einmal, an einem strahlend hellen Leningrader Sommerabend des Jahres 1963, beschlossen wir spontan, nach Komarowo zu fahren. Anna Andrejewna, Nina Antonowna Olschewskaja, deren Sohn Boris und ich. Bis der Kognak besorgt und ein Taxi gerufen war, bis wir aus der Stadt herausgefahren waren, wurde es nach zehn Uhr, die Sonne aber stand hoch oben und stach den ganzen Weg über in die Augen. Wir waren in gehobener Stimmung, die Fahrt – ohne Vorbereitung, ohne die übliche Besorgungen – roch nach Abenteuer, es war ungewiß, ob wir Lew und Sarra Arens, die in jenem Sommer für Achmatowa sorgten, antreffen würden. Unterwegs herrschte eine freudige Stimmung, ein fortlaufendes Gespräch gab es nicht, zufällige Repliken wurden – im Hinblick auf die gut gelaunten und fröhlichen Zuhörer – schnell und fröhlich geäußert. Nina Antonowna erwog verschiedene Varianten, wie wir wohl unterkommen würden. Ich sagte:
Wenn wir ankommen, trinken wir einen, und dann werden wir schon unterkommen.
A. A. entgegnete:
Sind Sie überzeugt, daß das, was Sie sagen, völlig anständig ist?… Borja, habe ich dich und deinen Bruder in eurer Kindheit etwa so erzogen?
Boris warf mir einen teilnahmsvollen Blick zu. Als wir ankamen, begann es zu dunkeln. Wir zündeten Kerzen an, die Nacht war warm, die Kiefern standen ganz nah am geöffneten Fenster. Es schien so, als säßen wir zwischen ihnen, gleichzeitig aber riß das Licht – wie auf den Bildern De la Tours’ – das Bücherregal, den Tisch, die Ikone heraus. Wir tranken Kognak, wechselten immer seltener ein Wort. Unerwartet für mich selbst und ungewöhnlich aufgeregt sagte ich:
Irgendwo gibt es so wunderschöne Verse, daß alle, die hier, auf der Erde geschrieben worden sind, verzeihen Sie, Anna Andrejewna, auch Ihre, im Vergleich zu ihnen schrecklich roh, mißklingend und stammelnd erscheinen. Das einzige in ihnen mögliche irdische Wort, wenn auch das unvollkommenste, ist ,wunderschön‘ … Vielleicht gibt nur Blok durch einige Zeilen eine, wenn auch ganz entfernte Vorstellung davon…
Es vergingen Augenblicke der Stille, die mir in jenem Moment völlig natürlich erschienen. Als Nina Antonowna und Boris sahen, daß A. A. schwieg, begannen sie, in demselben Stil, der auf der Fahrt üblich gewesen war, über mich zu spötteln. Plötzlich sagte Achmatowa sehr ernst:
Nein, was er sagt, ist nicht ohne.
Ein anderes Mal, als das Gespräch auf die moderne französische Poesie kam, sagte sie:
Ich weiß, daß Apollinaire der letzte Dichter war, davon muß man mich nicht überzeugen.
Möglicherweise hatte sie „der letzte europäische Dichter“ gesagt, in meinem Bewußtsein aber war „der letzte überhaupt“ geblieben. Ich flechte diese Erinnerung hier ein, weil in jenem Gespräch gleich auf den Namen Apollinaires der Name Bloks folgte – mit demselben Attribut – „letzter“. Das sollte nichts anderes heißen, als daß nach ihm oder nach ihnen etwas anderes begonnen hatte.
Die Zeit der bewußt auf das Zitat eingestellten Dichtung brach an. Vor allem der fremde, poetische und dokumentarische Text, der Verweis auf den Mythos, aber auch auf Musik und Malerei wurden in der Poesie der neuen Zeit verwendet. Dies geschah auf neuer Grundlage, demonstrativ und de rigneur. Die Zeichen der Kultur wurden in den Versen wie offensichtliche und verdeckte Orientierungspunkte aufgestellt – im letzten Fall mit der implizierten Forderung, nach dem Dechiffrierschlüssel zu suchen.
Häufig kamen wir auf T.S. Eliot zu sprechen: In den sechziger Jahren wuchs das Interesse für ihn, er wurde Nobelpreisträger. Seine kurze Zeit brach an. Mit fokussiertem Lichtbündel leuchtete sie seine Figur aus, seine Ideen gewannen an Aktualität, seine Essays wurden neu aufgelegt. Er wurde ein Jahr vor Achmatowa geboren und starb ein Jahr früher. Einige Tage vor seinem Tod begann sie, recht ausführlich über ihn zu sprechen, eben gerade über ihn, nicht „aus Anlaß“. (Ebenso grundlos und plötzlich brachte sie die Rede auf Nehru einen Tag vor dessen Tod, auf Corbusier eine Woche vor dessen Herzstillstand.) Sie sprach mit Zärtlichkeit von ihm, wie über einen jüngeren Bruder, der das ganze Leben lang auf Erfolg gewartet hatte und endlich damit ausgezeichnet worden war.
Der Arme, jahrelang hat er in der Bank gearbeitet, wie schwer er es hatte! Nun kommt er wenigstens im Alter zu Anerkennung und Ruhm.
Später zeigte sie ihren Gästen eine rührende, herzergreifende Fotografie: Er steht etwas gebeugt hinter dem Sessel seiner Frau – das Foto fand sich in der Ausgabe der Zeitschrift Europa Letteraria, die ankündigte, daß ihr (A. A.) der Ätna-Taormina-Preis zuerkannt worden war. Ich übersetzte damals ein Kapitel aus Das wüste Land, dann ein Kapitel aus Vier Quartette. In Vier Quartette strich sie die Zeilen an:
The only wisdom we can hope to acquire
Is the wisdom of humility: humility is endless.
Oft wiederholte sie: „Humility is endless.“ Zu dieser Zeit entstand das Epigraph zu „Kehrseite“ – „In my beginning is my end“, auch aus Vier Quartette.
Eliot führte auf Schritt und Tritt Zitate offen in den Verstext ein. Bei Achmatowa gab es solche Collagen nicht, sie transplantierte das Zitat, nachdem sie es so umgestaltet hatte, daß sich der fremde Stoff mit ihrem eigenen verband. Aber beide schöpften aus denselben Quellen: Dante, Shakespeare, Baudelaire, Nerval, Laforgue… Und ich glaube, sie begann gerade mit der von Eliot zitierten Zeile aus „El Desdichado“ von Gerard de Nerval einmal das Gespräch über dieses Gedicht, trug einige Zeilen auswendig vor, nahm das dünne Büchlein Les chimères vom Regal oder zog es aus der Tischschublade, öffnete es bei „El Desdichado“ und sagte gleichsam mit spöttischem Lächeln:
Das müssen Sie übersetzen.
Bald darauf wurde ein Halbvers dieses Sonetts Epigraph zur „Vorfrühlingselegie“: „Toi, qui m’as consolée“, mit Veränderung des grammatischen Geschlechts („Toi, qui m’as consolé“).
Man muß sofort den Vorbehalt machen – obwohl das aus dem Folgenden von selbst deutlich wird –, daß Achmatowas Bezüge auf jemanden, die Herstellung eines Kontakts mittels des Zitats fremder (oder eigener entfremdeter) Texte sich nicht nur der Methode, sondern auch dem Wesen nach gänzlich von der Nacherzählung, sei sie auch wortgetreu, irgendwelcher Aufsätze oder einzelner Stellen daraus, die das Werk mit geliehenen Kostbarkeiten füllen, unterscheiden. Als ich ihr das Gedicht „Die Kartoffelesser“ eines Altersgenossen vorlas, das den Lyrikfreunden gefiel – es beschreibt das Bild Van Goghs aus der Sicht der Essenden und endet mit Zeilen, die die Idee des Ganzen zusammenfassen: „Entweder essen wir Kartoffeln in der Finsternis, oder er“ –, platzte sie unzufrieden heraus:
Soll er doch eigene ,Kartoffelesser‘ erfinden!
Von ihren frühen Gedichten hob sie „Mit Kohle hat er die Stelle markiert…“ ganz und die letzte Strophe insbesondere heraus:
Mit Kohle hat er die Stelle markiert,
Wohin man schießen muß, links,
Um den Vogel – meine Trauer –
In die öde Nacht zu schicken.
Liebster! Deine Hände, sie zittern nicht,
Und ich muß nicht lange leiden.
So fliegt der Vogel – meine Trauer –
Auf einen Ast, hebt an zu singen.
Daß jener, der ruhig in seinem Haus,
Das Fenster öffnet und sagt:
„Bekannt die Stimm’, doch ich versteh kein Wort“,
Und dabei die Augen senkt.
Sie verglich ein koreanisches Gedicht des siebzehnten Jahrhunderts, das sie später übertragen hatte, mit diesen Zeilen:
Wenn gekommen die Zeit und anbricht mein Tod,
Verwandelt die Seele sich in einen Kuckuck,
Und in der Birnbäume dichtem Laub
Verstecke ich nachts mich und stelle mich taub.
Und werde so singen im Dunkel,
Daß meine Stimme den Liebsten erreicht.
Sie wiederholte die zwei letzten Zeilen und fügte hinzu:
Welch ein Hieb von der koreanischen Geisha!
Aber es kam nicht auf die kuriose Gegenüberstellung und nicht auf den Witz an.
Die Stimme, die Worte singt, welche der Hörer nicht erkennen kann, aber offenbar doch erkennt, oder die ihm bekannt vorkommen, das eben ist. Achmatowas poetische Stimme, die sie schon in ihren ersten Gedichten zu erheben begann.
Wie klingst du als Antwort auf alle Herzen,
Die Lippen geöffnet, atmest du Seelen,
Und hörst beim Nah’n eines jeden Gesichts
Schalmeiengesang in deinem Blut!
schrieb ihr Nedobrowo, indem er eines der Hauptthemen seines Aufsatzes „Anna Achmatowa“ variierte. Dieser Aufsatz erschien 1915 in Russkaja mysl und war die erste ernsthafte Analyse der Achmatowaschen Lyrik und – man muß hinzufügen – die einzige dieser Art. Nicht nur, daß diese interessante wissenschaftliche Analyse durch Schärfe und Gründlichkeit der Beobachtungen, durch die Unbestreitbarkeit der Schlußfolgerungen und die Frische der Eröffnungen beeindruckt, sondern sie zeigt der Dichterin gleichsam auf, welcher Weg ihr noch offensteht, wo fruchtbare Anregungen zu finden sind und wo sie in eine Sackgasse läuft. Nun, wo man Achmatowas ganzen Weg überschauen kann, wird das Gefühl der Neuartigkeit von Nedobrowos Gedanken wesentlich durch die Klarheit und Deutlichkeit ihres Ursprungs in den Gedichten selbst gedämpft. Der Artikel aber war über die Autorin der ersten beiden Bücher – Abend und Rosenkranz – geschrieben worden, und vieles von dem, zu dem Achmatowa in der Folge gelangte, bestätigte diese Bücher nur, war, wenn man so will, die Akzeptanz dessen, was der Kritiker vorgeschlagen hatte. Als ich ihr meinen Eindruck von dem Aufsatz, den sie mir übrigens selbst gegeben hatte, mitteilte, sagte sie, die auch in vorangegangenen Gesprächen Nedobrowo schon zu den hervorragenden Zeitgenossen gezählt und sich an seinen Einfluß auf sie erinnert hatte, einfach:
Vielleicht hat er ja die Achmatowa geschaffen.
In Tagebuchblätter erinnert sich Achmatowa, wie sie Mandelstam ein Stück aus der Göttlichen Komödie vorlas und er zu weinen begann:
… diese Worte – und mit Ihrer Stimme.
Dasselbe könnte man über eine Vielzahl von Stellen in ihren Gedichten sagen, während aber ihre Stimme 1922 die berühmten Worte Dantes –
Tu proverai sì come sa di sale
Lo pane altrui, e com’è duro calle
Lo scendere e’l salir per altrui scale
(Du wirst an dir selbst erfahren, wie bitter fremdes Brot und wie schwer es ist, fremde Treppen hinauf- und hinabzusteigen) – wie in freier Nacherzählung spricht:
Doch dauern wird mich ewig der Verbannte,
Gleich einem, der in Haft ist, krank, in Not,
Denn dunkel ist der Weg ins Unbekannte,
Und bitter schmeckt nach Wermut fremdes Brot.
so klingt Dantes Ausruf –
Men che dramma
Di sangue m’è rimaso che non tremi:
Conosco i segni dell’antica fiamma!
(Weniger als für eine Drachme ist Blut in mir geblieben, das nicht zittern würde: ich werde die Zeichen der alten Flamme erkennen!) – vierzig Jahre später weitaus verschlüsselter:
Du verlangst mein Gedicht unumwunden…
Doch du lebst auch, wenn kein Vers mehr brennt.
Wenn im Blut jetzt kein Gramm auch mehr sein mag,
Das das Bittre der Strophen nicht kennt.
Der Rhythmus verrät das Zitat: dramma/fiamma und prjamo/(unumwunden) / gramma (Gramm), indem er es aber verrät, begibt er sich in einen schwindelerregenden Zitattrichter hinein, denn der letzte, an Vergil gerichtete Vers der Terzine Dantes, das sind die von Dante genau übertragenen Worte Didos aus der Aeneis Vergils; und das vorhergehende Achmatowasche Gedicht im Zyklus „Die Heckenrose blüht“ wird mit einem Vers aus der Aeneis eröffnet und hieß anfangs „Dido spricht“.
Die Enthüllung „fremder Stimmen“ in Achmatowas Poesie war in den vergangenen zwei Jahrzehnten häufig Gegenstand philologischer Arbeiten, es wurde üblich, ihre Verwendung irgendwelcher Texte nachzuweisen. Das, was T.W. Zywjan, R.D. Timentschik und W.N. Toporow entdeckt haben, indem sie zum zweiten Boden ihrer „schicksalhaften Schatulle“ vorgedrungen sind, wird nunmehr immer durch das Gespinst ihrer Gedichte hindurchschimmern als „dritte, siebente und neunundzwanzigste“ Ebene, um ihre Worte zu verwenden. Es gab eine Zeit, da eine regelrechte – und durchaus erfolgreiche – Jagd nach Zitaten in ihren Gedichten begann: stets wurde etwas entdeckt. Es schien, daß Achmatowa alles gelesen, von überallher entlehnt hatte. Die Ergebnisse der Gegenüberstellungen hingen hauptsächlich von den mnemonischen Fähigkeiten der Gegenübersteller ab. Beim Wiederlesen ihrer Gedichte der Jahre 1921/22 stieß ich zum Beispiel auf eine Batjuschkow-Schicht, die in den im Winter in Beschezk entstandenen Gedichten besonders konzentriert ist. Es stellte sich vor allem heraus, daß Achmatowa auch das erwähnte „fremde Brot“ Dantes nicht unmittelbar in ihre Verse eingeführt hatte, sondern über das Gedicht „Sterbender Tasso“ von Batjuschkow:
Als Kleinkind war ich schon vertrieben;
Unter Italiens wonnigem Himmel
Irrt’ ich umher wie ein armer Pilger,
Welch Schicksalswandlung erlebt ich nicht?
Wohin verschlug es meinen Kahn nicht auf den Wellen,
Wo fand ich Ruhe? Wo war mein täglich Brot
Nicht von den Tränen des Schmerzes durchtränkt?
Doch was bezeugten diese und ähnliche Funde? Illustrierten sie nur Achmatowas Aphorismus:
Wiederhole nicht – deine Seele ist reich,
An dem, was einmal gesagt,
Vielleicht aber ist Dichtung selbst
Ein einziges, herrlich’ Zitat?
Oder verleiten sie zu der Vermutung (und wir bestehen auf nichts lieber als auf einer Vermutung, die ausreichend, doch nicht gänzlich überzeugend bestätigt ist), daß Achmatowa in dem Haus in Beschezk ein Bändchen Batjuschkow gefunden und es in jenem Winter gelesen hatte? Möglicherweise würde das in bezug auf einen anderen Dichter zutreffen. Achmatowa jedoch dichtete nicht, um etwas zu illustrieren und fand immer genau das, was sie suchte. Mit anderen Worten: „Was wird zitiert?“ ist nur die erste Frage, unfruchtbar ohne die zweite:
Warum wird es zitiert?
Welches kulturelle Umfeld, welches Sujet, welcher Mythos wird durch das ausgewählte Zitat in die Verse einbezogen (und – gespiegelt: welcher konkrete Ort des kulturellen Universums ist von da an durch neue Verse gekennzeichnet)?
Wenn auch Shakespeare alles gesagt, lieber mag ich Horaz.
Was hat Shakespeare „alles“ gesagt? Wodurch ist ihr Horaz lieber? Warum wird einmal an Shakespeare erinnert, ein andermal aber an Horaz? Welches Zeichen setzt der eine und der andere in Achmatowas Versen? Und was bedeutet – in Achmatowas Chiffriersystem – ihre unerwartete Verbindung in einer Zeile?
*
(…)
Anna Andrejewna Achmatowa, eine noble und sehr bewegende Schriftstellerin, gehört zu den vier großen Dichtern, deren Kunst die russische Literatur während des halben Jahrhunderts nach der Revolution beherrschte – und auch heute noch beherrscht; ihre Genialität und grauenvolle Verfolgung durch den Staat werden so lange in Erinnerung bleiben, wie wir Kenntnis von der Geschichte und Literatur Rußlands haben. Naiman, selbst Lyriker und Kritiker, hat ein Buch von einzigartiger Autorität über ihre Dichtung, ihre persönlichen, literarischen, metaphysischen Ansichten geschrieben und – vor allem – über ihre Persönlichkeit, die keiner, der sie kannte, je vergessen konnte.
Sein Buch, zusammen mit Lidija Tschukowskajas Erinnerungen an sie, ist ein ebenbürtiges und – für alle, die an russischer Literatur interessiert sind – sehr wertvolles Denkmal für eine Dichterin von göttlicher Begabung und eine als Märtyrerin ihrer Zeit herausragende Figur.
Isaiah Berlin, Januar 1991
Lebensläufe von Dichtern sind in erster Linie deswegen interessant, weil das Verhältnis zwischen Leben und Dichtung eindeutig nicht zugunsten des letzteren ausfällt. In einer idealen Bibliothek, in der jedem Autor ein eigenes Regal zugeteilt wird, würden die Werke eines Romanschriftstellers, wenn ihm denn Zeit genug gegeben war, weitaus mehr Raum einnehmen als die eines Dichters mit einer ähnlichen Lebensdauer. Denken Sie zum Beispiel an W.B. Yeats oder an Robert Frost, ganz zu schweigen von T.S. Eliot oder Marianne Moore. In jedem dieser Fälle stünde ein einziger Band dort auf jenem Regal, umgeben von viel Leere. Dieser Anblick würde dem Besucher einer solchen Bibliothek das Verhältnis zwischen einem künstlerischen Werk und einem Leben vermitteln: der Faktor eines Wunders.
Ich will damit nicht die Bedeutung von Prosa herabsetzen. Dichtung jedoch – jedes einzelne Gedicht – ist in der Tat ein Wunder: zunächst ein linguistisches, und dann – wenn der Dichter begnadet ist – ein Wunder spiritueller Intensität und Bindungskraft. Um es anders auszudrücken, unter den Künsten ist Dichtung nicht eine mimetische, sondern eine offenbarende. Wunder und Offenbarungen sind jedoch – wie schon die Existenz dieser Substantive selbst demonstriert – sehr selten im Leben, und ein Dichter schreibt eben nur soviel, wie er schreibt. Das Gedicht selbst, ein schwarzes Viereck umgeben von leerem weißem Raum, ist emblematisch für seine mißliche Lage.
Daher die Lebensläufe der Dichter, die Biographien, die Memoiren der Zeitgenossen, alle möglichen Exegesen; daher auch die Veröffentlichung ihrer Briefwechsel, Tagebücher und Wäschelisten. Sie alle unternehmen es, die Unermeßlichkeit der Randflächen auszufüllen, das Wunder zu erklären, eine Offenbarung zu deuten. Hin und wieder gelingt es ihnen, den Kontext, in dem jene Dinge stattfinden, anzudeuten. Gewöhnlich ziehen sie den Dichter auf die Ebene seines Biographen oder der Öffentlichkeit herab. Zur Zeit der Renaissance war die Annäherung direkter, und Texte dieser Art erschienen auf derselben Seite wie das Gedicht selbst: man „umschrieb“ im wörtlichen Sinne, man schob das Weiße beiseite.
Heutzutage finden solche Unterfangen in Form von Büchern statt. Vielleicht haben wir mehr Papier. Vielleicht züchtet die demographische Wirklichkeit unserer Zeit größere Eitelkeit in uns heran. Vielleicht lädt dieselbe Wirklichkeit unserer Zeit, ohne es selbst zu merken, die strengsten Lektionen in Demut geradezu ein. Bücher über Dichter schießen überall hoch, wie blitzende Kameras um einen ausländischen Würdenträger (bei seinem Abschied, wohlgemerkt, nicht bei seiner Ankunft). Die Leere wird von Tratsch und Analyse verdunkelt; unter dem Strich steht allerdings ein bitteres Gefühl des Versagens, das im Verhältnis steht zum Eifer der Gewöhnlichen, das Einzigartige einzufangen. Der Würdenträger wird immer exotischer.
Sinnvoller wäre es vielleicht, mehr Exemplare vom Gesammelten und Ausgewählten eines Dichters zu drucken und sie zu Sonderpreisen in Supermärkten anzubieten, d.h. den Zugang zu dem Wunderbaren zu vermehren und zu erweitern, statt das Banale zu fördern. Aber es soll wohl nicht sein, denn Wunder sind offensichtlich das Gefilde der Toten, während ihre Deutung und deren Markt die Domäne der Lebenden ist. Ein Dichter ist immer in der Minderheit, erst recht, sobald er tot ist. Die Zahl der großen Dichter einer Nation beläuft sich bestenfalls auf etwa drei bis vier pro Jahrhundert. Und selbst das natürlich nur, wenn eine Nation Glück hat oder besonders bevölkerungsreich ist. Das war beispielsweise das Verhältnis in Rußland in diesem Jahrhundert. Das heißt, es hat im zwanzigsten Jahrhundert Glück gehabt – zumindest in dieser Hinsicht.
Anna Achmatowa war das älteste Mitglied jenes großen Quartetts, das Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak einschloß, deren hundertste Geburtstage nun überall gefeiert werden. Sie wurde 1889 geboren; die anderen, nacheinander, 1890, 1891, 1892. Zwei Revolutionen (1905 und 1917), mit dem Blutbad des Ersten Weltkrieges dazwischen, waren der Hintergrund ihrer Jugend. Der nationale Aufruhr des Bürgerkrieges, Kollektivierung und der Stalinsche Terror das Klima ihrer Reife. Dieses Klima verschluckte Mandelstam. Dann folgte der Zweite Weltkrieg, kurz nach dessen Ausbruch Zwetajewa Selbstmord beging. Der fünf Jahre andauernde Krieg mit seinen zwanzig Millionen Opfern, die Endphase der Herrschaft Stalins mit ihren strafenden Crescendi – damit durften Pasternak und Achmatowa ins hohe Alter gehen. Sie überlebte ihn um sechs Jahre und starb 1966. Auf ihr Leben zurückschauend, sagt sie in einer ihrer „Nordischen Elegien“:
Da also fiel uns ein, geboren zu werden,
um ja nicht zu verpassen
ein einziges beispielloses Spektakel…
In der Tat, keines hat sie verpaßt. Der beispiellosen Spektakel, auf die sie zurückblicken konnte, waren viele, die meisten davon sehr blutig. Für sie persönlich bedeuteten sie in zunehmendem Maße immer nur das eine: die erzwungene Subtraktion jener, die sie liebte und kannte, zwei ihrer Ehemänner miteingeschlossen, der Dichter Nikolai Gumiljow, der 1921 erschossen wurde, und der Kunsthistoriker Nikolai Punin, der 1953 im Lager starb, und Mandelstam selbst. Eine weitere Subtraktion war der achtzehnjährige Gefängnisaufenthalt ihres einzigen Kindes, Lew Gumiljow. Für die Gesellschaft als ganze bedeuteten sie den Tod von etwa vierzig Millionen Menschen, durch die Hand jenes Polizeistaates, dessen Bürgerin sie war.
Das alleine könnte die Randflächen um ihre Gedichte aufreißen. Was sie und ihre Verfasserin noch weiter ins Abseits schob, war ein praktisch jahrzehntelanges Publikationsverbot. Ganz abgesehen von dem, was sie schrieb, war allein die Tatsache, daß sie immer weiter schrieb, an sich schon ein Wunder. Daher wäre die Leere zu beiden Seiten ihrer Gesammelten auf dem Regal der obenerwähnten Bibliothek ein Echo der buchstäblichen Leere. Das Leben eines Dichters ist natürlich reich an solcher Art von Symbolismus; bei dieser Art Profession gehört das Ausgesperrtwerden einfach dazu. Achmatowas Isolation war allerdings die Isolation eines Menschen, der zur Zielscheibe wurde.
Das ist es, was die augenblickliche Fülle von Achmatowiana hervorbringt (in Form von Memoiren, Textauslegung, Faktensammlung – gierig, unersättlich) – das Umschreiben, da es unwahrscheinlich ist, daß wir jemals in den Genuß kommen, Briefe oder Tagebücher zu lesen. Zu ihrer Zeit konnte sich der kleinste Papierfetzen in ein Beweisstück verwandeln. Weshalb sie nur im Fall sprachlicher Notwendigkeit zur Feder griff, d.h. um ein Gedicht zu schreiben. Ihre Redeweise war dementsprechend knapp, aphoristisch, frei von Geschwätz, geistreich in einer recht drastischen Weise. Das beste, das man uns offerieren könnte, wären daher ihre gesammelten Tischgespräche (wovon es bereits drei Bände gibt, die ihre lebenslängliche Freundin, die Schriftstellerin Lidija Tschukowskaja, zusammengetragen hat; bald werden sie das Dunkel des Drucks in englischer Sprache erblicken).
Wenn das Buch vor ihnen als das zweitbeste erachtet werden sollte, dann lediglich weil der Autor, Anatoli Naiman, Achmatowa nur während der letzten fünf Jahre ihres Lebens kannte. Daher seine größte Tugend, nämlich die Intensität der Aufmerksamkeit des Autors für seinen Gegenstand – Intensität, die im Verhältnis steht zu der begrenzten Zeit, die ihm das Schicksal gewährte. Die andere Tugend ist, daß dieses Buch über eine Dichterin von einem Dichter geschrieben wurde, d.h. von einer Person, die den Vorrang der Gedichte vor dem Biographischen zu begreifen fähig ist. Denn bei einem Leben wie dem Achmatowas ist die Versuchung nur zu groß, das Pferd beim Schwanz aufzuzäumen. Es bedarf eines Dichters, dieser Versuchung nicht nachzugeben, und eines jungen Dichters dazu.
Dreimal jünger als seine Dienstherrin, war Anatoli Naiman genau das: zuallererst ein Dichter. Daraus folgend – und vermutlich unfreiwillig, unbewußt – war er ebensosehr ein Schüler Achmatowas wie ihr Sekretär. Eine glückliche Kontamination, was dieses Buch angeht, denn Anatoli Naiman weigert sich, zwischen Gedichtzeilen seiner Hauptperson und nebenbei von ihr Geäußertem zu unterscheiden: uns zum Gewinn erinnert er sich an beides. Dies ist sowohl das Verdienst seines guten Gedächtnisses als auch der Qualität der Äußerungen Achmatowas, die tatsächlich, was Stil und Inhalt betrifft, von ihren Versen nicht zu unterscheiden sind.
Erzählungen über Anna Achmatowa hatte bei den russischen Lesern deswegen einen so großen Erfolg, weil praktisch auf jeder zweiten Seite Achmatowa im Gespräch festgehalten wird; und zumeist handelt dieses Selbstgespräch auf die eine oder andere Weise von Literatur. So daß dies ein Buch über Literatur ist; wobei es nicht so sehr die Dichterin selbst darstellt als vielmehr ihre Sicht auf das, was sie seit mehr als einem halben Jahrhundert gewesen ist und was es sie gekostet hat. Aus diesem Grund ist es nicht das Porträt eines Opfers der Geschichte, sondern einer Siegerin: einer triumphierenden Seele und des triumphierenden Wortes – in ihrem Fall Synonyme –, die ihren Lesern einen existentiellen Standard bot.
Die Möglichkeit dieser Gleichung von Seele und Wort ist es, was die Anziehungskraft von Dichtung ausmacht, und genau durch das Prisma dessen, was diese Gleichung erreicht, betrachtet Achmatowa sowohl die Literatur als auch die Wirklichkeit. „Eine russische Sappho“ in ihren frühen Büchern in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, eine Kassandra in den Zwanzigern und Dreißigern, die klagende Muse während des Rests ihres Lebens, durchlief sie genaugenommen alle Möglichkeiten, die zu ihrer Zeit einer Dichterin – und überdies jedem Menschen schlechthin – offenstanden. Daher ist ihre direkte Rede von größter Bedeutung für ihre Leserschaft, und dies nicht nur, weil sie Timbre, Grazie und Ernst ihrer Gedichte widerspiegelt, sondern weil sie die Stimme einer spirituellen und sprachlichen Norm darstellt.
Das Anziehendste an diesem Buch ist, daß es nicht geschrieben wurde, um Achmatowa zu verstehen oder zu interpretieren, sondern aus Liebe zu ihr, aus Liebe zu jener Norm oder – um sie mit den Augen des Autors vor gut einem Vierteljahrhundert zu betrachten – aus Liebe zu jenem menschlichen Maximum. Daher rührt Anatoli Naimans Erinnerungsvermögen, denn Liebe vergißt nicht, sie bearbeitet und streicht nicht: Sie behält ihren Gegenstand so lange in der Scharfeinstellung des Präsens, wie jener, der liebt, lebt. Deswegen klingen auf diesen Seiten, ein Vierteljahrhundert später, die Worte Achmatowas, die Kadenzen ihrer Stimme – zumindest für diesen Leser – so, als hätte sie gestern gesprochen. Ein weiterer Grund für diese Wirkung ist vermutlich der, daß die Weisheit ihrer Worte und die mitfühlende Wärme ihrer Stimme an sich schon Garanten ihrer Langlebigkeit sind, Garanten der Kraft, in den Herzen und Köpfen jener, die sie kannten, noch lange Zeit nachzuhallen. Um das mindeste zu sagen: Eine ganze Generation russischer Dichter – eine Generation, zu der Anatoli Naiman und der Autor dieser Einleitung gehören – lebt mit ihrem Echo oder, noch besser, ist ihr Echo. Dieses Buch trägt jenes Echo ein wenig weiter und, wenn man so will, über das Wasser.
Die Lebensläufe von Dichtern sind vor allem interessant aufgrund dessen, was sie sagen, nicht was sie tun. Was das Tun, das Handeln im Leben angeht, so sind die Möglichkeiten eines Dichters ebenso begrenzt wie die eines jeden Menschen, und ein politisches System, Krankheit oder Armut können sie noch weiter reduzieren. Nicht so steht es aber mit den Worten, die das Geschäft des Dichters und nicht reduzierbar sind. Im Gegenteil, Sprache hat eine eindeutig zentrifugale Qualität, und der Radius der Bedeutung eines Wortes kann sich durch häufigen Gebrauch, durch Wiederholung, nur erweitern. Daraus folgt, daß der Dichter weniger von den Begrenzungen abhängt, die ihm von seiner Wirklichkeit oder seiner persönlichen Situation auferlegt werden, als von denen des Wortes, das er gerade zu Papier bringt.
Es ist nicht überraschend, daß man da oft auf die eigenen Äußerungen zurückkommt, daß sie anfangen, Handlungen und Betragen zu diktieren. Wörter haben die Gewohnheit, nicht nur die Gedanken, sondern auch den Körper und unbeseelte Gegenstände in Bewegung zu setzen. Wegen dieser Fähigkeit und aufgrund des „Am Anfang war das Wort“ verkörpert der Dichter – im kollektiven Unterbewußtsein – einen Mini-Schöpfer. Das ist es, was dem breiten Interesse an der Biographie eines Dichters zugrundeliegt, und aus eben diesem Grund ist es müßig, in den persönlichen Daten eines Dichters nach dem Schlüssel zu seinen Wundern zu suchen.
Wie beim Allmächtigen selbst (vernommen durch seine Propheten) wird weitaus mehr enthüllt durch die flüchtige Bemerkung eines Dichters über sein métier, sein Handwerk – über literarische Themen und Geschmäcker, Vorläufer, Zeitgenossen, Vorlieben, Abneigungen und Quellen der Inspiration, unter denen die wichtigste die Sprache selbst ist – als in einer Chronologie seiner dürftigen menschlichen Bemühungen. Denn dies sind seine Etymologie, Genealogie, Geologie; dies sind seine Heiligen Geister. Hätte die Kunst sich tatsächlich in dem Maße auf die Erfahrung gestützt, wie uns die Kritiker und Forscher glauben machen möchten, wäre uns weitaus mehr – und weitaus bessere – Kunst überliefert worden, als wir heute haben. Ein Dichter ist immer Produkt seiner Sprache – genauer, die seiner Nation –, die sich zur Lebenserfahrung verhält wie das Feuer zum Holzscheit. Natürlich, wenn Erfahrung und Sprache beide russisch sind, so verbrennt einen auch in der Übersetzung das Feuer.
Joseph Brodsky, Januar 1991, Vorwort
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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