DIE FENSTER
Von Rot zu Grün stirbt alles Gelb
Wenn die Aras kreischen in den heimatlichen
aaaaaWäldern
Pihi-Frikassee
Es gilt ein Gedicht zu schreiben über den Vogel der
aaaaanur einen Flügel hat
Wir werden es telephonisch durchgeben
Gigantischen Wundfiebertraum
Er läßt die Augen tränen
Sieh dort das hübsche junge Mädchen unter den jungen Turinerinnen
Der arme Jüngling schneuzte sich in sein weißes Halstuch
Du wirst den Vorhang aufziehen
Und nun öffnet sich das Fenster
Spinnen als die Hände das Licht woben
Schönheit Blässe unergründliche Violetts
Vergeblich werden wir nach Ruhe trachten
Um Mitternacht wird es losgehen
Hast du Zeit bist du frei
Bigorneaux-Muscheln Quappen vielfache Sonnen und der Seeigel des Sonnenuntergangs
Ein altes Paar gelber Schuhe vor dem Fenster
Türme
Die Türme das sind die Straßen
Schächte
Schächte das sind die Plätze
Schächte
Hohle Bäume die den streunenden Zambonegerinnen Obdach bieten
Die Böcke der Mähnenschafe blöken todtraurig
Nach ihren entlaufenen Weibchen
Und die Schnattergans trompetet im Norden
Wo die Waschbärjäger
Die Pelze schaben
Funkelnder Diamant
Vancouver
Wo der Zug weiß vom Schnee und von nächtlichen Lichtern den Winter flieht
O Paris
Von Rot zu Grün stirbt alles Gelb
Paris Vancouver Hyères Maintenon New York und die Antillen
Das Fenster öffnet sich wie eine Orange
Die schöne Frucht des Lichts
Guillaume Apollinaire wurde am 26. August 1880 in Rom geboren und zu Santa Maria Maggiore auf den Namen Wilhelm-Apollinaris de Kostrowitzky getauft. Kostrowitzky war der Familienname seiner Mutter. Über seinen Vater sind viele Mutmaßungen angestellt worden. Manche wollten in ihm einen Prälaten der römischen Kurie sehen, manche den Bischof von Monaco, andere wieder einen Offizier der italienischen Armee, der mit der königlichen Familie verwandt war. Die letzte Annahme scheint die größte Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, ließ es sich doch die Mutter Guillaumes, Angelica de Kostrowitzky, angelegen sein, sie selbst zu verbreiten.
Die Kostrowitzky oder Kostrowicki stammen aus Litauen und sind von gutem Adel. In ihrem Stammbaum finden sich ein Richter, ein Abgeordneter des Sjem zu Warschau und ein General. Der Großvater Guillaumes, Michel-Apollinaris, hatte eine junge Italienerin namens Julia Floriani geheiratet. Nach der Erhebung von 1863, an der er aktiv teilgenommen hatte, floh er aus Polen und erhielt einen militärischen Posten beim Vatikan, während seine beiden Brüder nach Sibirien verbannt wurden. Die künftige Mutter des Dichters war zu dieser Zeit fünf oder sechs Jahre alt.
Im Juni 1887 gebar Angelica-Maria-Alexandrine einen zweiten Sohn namens Albert und verließ kurze Zeit später Rom, um sich in Monaco niederzulassen; wahrscheinlich zog sie das Kasino von Monte-Carlo in das Fürstentum. Um 1890 bis 1895 war es in Monaco allgemein bekannt, daß der Bischof Mittel zur Erziehung zweier junger Knaben beisteuerte. In Wirklichkeit ist über diesen Lebensabschnitt Guillaumes nichts Genaues bekannt, außer daß er, seinen eigenen Aussagen zufolge, im Alter von sieben Jahren eine erste Reise nach Paris unternahm. Seine Mutter hatte gegenüber dem Elysée-Palast eine Wohnung gemietet, und so konnte Guillaume mit eigenen Augen Jules Grévy, den Präsidenten der Republik, sehen. Angelica-Alexandrine kehrte 1889, im Jahre der Weltausstellung, mit Guillaume und Albert nach Paris zurück. Guillaume war seit einem Jahr Schüler der Maristen am Collège Saint-Charles in Monaco. Hier machte er die Bekanntschaft zweier Mitschüler, die sich später wieder in Paris einfanden und bis zu seinem Lebensende mit ihm befreundet blieben, René Dalize und Toussaint-Luca. Ist den mystischen Anwandlungen Bedeutung beizumessen, die zu dieser Zeit seine junge Seele in Unruhe versetzten und noch in „Zone“, dem ersten Gedicht der Alcools, nachhallen? In den religiösen Erziehungsanstalten machen alle jungen Burschen seines Alters diesen Zustand durch. Den gelegentlichen Hang zur Mystik, die gewisse Vorliebe fürs Okkulte möchte ich lieber seiner slawischen Abstammung zuschreiben. Als glänzender Schüler, der er war, ausgenommen im Exerzitium, zeichnete er sich in fast allen Fächern aus, namentlich aber im Französischen.
Er war sechzehneinhalb, als seine Mutter Monaco mit Nizza vertauschte und ihn zusammen mit seinem Bruder Albert aufs dortige Gymnasium schickte, wo er in die Unterprima kam. Wie läßt sich erklären, daß man ihn fünf Monate später, kurz vor dem Abitur, am College Stanislas in Cannes wiederfindet? Auf Grund der Gunstbezeugungen, der Rücksichtnahme, die ihm hier entgegengebracht wurden, galt er als natürlicher Sohn des Fürsten von Monaco.
1899 ist das Datum seiner dritten Reise nach Paris. Vielleicht hatte er sich zwischendurch in Lyon aufgehalten und sich dort, nach seinen eigenen Worten, einer „ungeheuren Lesewut“ überlassen. Wie dem auch sei, Paris scheint Angelica-Alexandrine nicht sogleich mit Wohlwollen empfangen zu haben. Sie wohnte im Quartier Etoile und sah sich gezwungen, von neuem ihr Glück zu versuchen. Die Kasinos der Côte d’Azur lagen zu weit entfernt. Sie ließ ihre beiden Söhne in der Hauptstadt und entschied sich für Spa, wo sie denn auch bald dem Mann begegnete, mit dem sie ihr Leben beschließen sollte. Er hieß Jules Weil und bewies für Spiel und Spekulation einen mindestens ebenso starken Hang wie seine schöne Freundin. Hier spielt sich auch die Episode Stavelot ab, die den wallonischen Dichtern und belgischen Bewunderern Apollinaires zum Vorwand gedient hat, ihm in der Fagnes ein Denkmal zu errichten und am Hotel von Stavelot eine Tafel anbringen zu lassen. Am 5. Oktober 1899 hatten sich Guillaume und sein Bruder auf Anweisung seiner Mutter bei Morgengrauen dort aus dem Staub gemacht und eine unbezahlte Rechnung von sechshundert Francs hinterlassen. Angelica und Jules, von Ostende zurück, erwarteten sie in Paris.
Ich wäre der letzte, der einen tiefgehenden Einfluß dieses Aufenthaltes in den belgischen Ardennen auf die poetische Empfänglichkeit Guillaumes leugnen wollte; denn die ersten Zeilen, die ich von ihm 1903 im Festin d’Esope las und deren ganz besonderer Reiz mich sogleich verführte, waren ihm von den Ardennen inspiriert worden; ich spreche von der Erzählung „Que Vlo-ve?“
Die Gitarre von Que Vlo-ve? war ein Luftzug, der stets in den belgischen Ardennen seufzt. Que Vlo-ve? war die Gottheit des Waldes, in dem Genoveva von Brabant umherirrte, von den Ufern der Maas bis hin zum Rhein, durch die vulkanische Eifel mit ihren Maaren, welche die sumpfigen Pfuhle der Eifel darstellen, wo die Quelle des Heiligen Apollinaris entspringt und wo der See von Maria Laach ein Auswurf der Jungfrau ist…
Im Oktober 1899 wohnte Angelica möbliert in der Rue de Constantinople Nr. 9. Hier war und ist vielleicht noch das bevorzugte Viertel der hohen und mittleren bicherie, wie man unter Louis-Philippe zu sagen pflegte. Angelica, bei der Polizei als Olga Karpoff gemeldet, gibt ihre Söhne offiziell als ihre Neffen aus. Mittlerweile ließ auch der Hotelbesitzer aus Stavelot wieder von sich hören. Auf ein Ersuchen um Rechtshilfe, das von Verviers aus gestellt worden war, berief der Untersuchungsrichter Lascoux Guillaume vor sich. Um eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen, mußte gezahlt werden. Leider aber hatten Roulette und Bakkarat ihre Versprechen nicht eingelöst. Der arme Guillaume, der viel lieber die Bibliotheken und Buchläden unsicher gemacht hätte, mußte in eine Anstellung als Schreiber einwilligen, die er bald wieder aufgab, um als Sekretär irgendeiner Bourse parisienne zu fungieren. Auch hier hielt er nicht lange aus. Durch die Mutter eines seiner Arbeitskollegen im Bureau wurde er einer gewissen Vicomtesse von Milhau empfohlen, und zwar als Hauslehrer für ihre Tochter Gabrielle. Nun hieß es Frankreich mit Honnef und ,Neu Glück‘ bei Oberpleis im Rheinland vertauschen. Ohne große Begeisterung vielleicht, doch mit jenem Hunger nach Neuem, der einer seiner hervorstechendsten Charakterzüge war, verließ also Guillaume Paris und begab sich ins romantische Deutschland. Dies war im Sommer 1901.
Das Rheinland mußte wohl jene Keime einer nordischen Romantik in ihm zur Entfaltung bringen, die er seiner polnischen Herkunft verdankte und die die belgischen Ardennen bereits zwei Jahre zuvor in ihm wachgerufen hatten. Zahlreiche Spuren davon lassen sich in seinen Versen und seiner Prosa feststellen, am glücklichsten hat sich diese Inspiration jedoch in den neun „Rhénanes“ („Rheinischen“) aus Alcools ausgesprochen. Das Rheinland formte ihn nicht nur als Dichter, es übte auch einen Einfluß auf sein Gefühlsleben aus. Die junge Gabrielle, deren Hauslehrer er war, hatte eine englische Gouvernante namens Annie, in die sich Guillaume sozusagen ganz logisch und als wäre es ihm vorbestimmt verliebte. Es war die erste Frau in seinem Leben, wenigstens soweit sich das beurteilen läßt. Doch sie mußte nach England zurück, er nach Frankreich, und die Trennung fiel ihnen bitterschwer. Zweimal reiste er nach London, um sie wiederzusehen. Doch schließlich wanderte sie nach Amerika aus, wo sie heute noch lebt.
Seine Stellung als Hauslehrer hatte er ein Jahr. Im September 1902 war Guillaume wieder in Paris. Seine Mutter, die jetzt in der Rue de Naples wohnte, war, wie man dazumal sagte, nach wie vor klamm. Er trat in eine Bank der Chaussee d’Antin ein. Unter dem Namen Kostrowitzky hatte er 1901 in der Grande France der Brüder Leblond seine ersten Verse veröffentlicht. Unter seinem Pseudonym Apollinaire gab er im folgenden Jahr andere an dieselbe Zeitschrift sowie an die Revue Blanche, zusammen mit den meisten, acht Jahre später in Hérésiarque et Cie. (Erzketzer und Cie.) gesammelten Erzählungen. Die Revue Blanche war gerade im Begriff einzugehen, und Karl Boès hatte Plume noch nicht wieder ins Leben gerufen. Apollinaire, Max Jacob und Salmon, die ihre Freundschaft im Kellergeschoß eines Cafés begründet hatten, wo Verse rezitiert wurden, kamen überein, selbst eine Zeitschrift zu machen, und dies war Festin d’Esope. Ich habe an andrer Stelle erzählt, wie ich ihnen in einem anderen oder gleichen Kellergeschoß Ende Sommer 1903 begegnete, als gerade die erste Nummer von Festin erschien. Ich habe gesagt, welche Entdeckung für mich der Geist dieser Dichter bedeutete, die so sehr geschaffen waren, einander zu verstehen, das Feenreich, das ich mit ihnen zu betreten schien und in dem einiger Einfluß von seiten Jarrys nicht fehlte.
Festin d’Esope brachte es auf neun Nummern, eine beachtliche Anzahl für eine kleine Zeitschrift von damals.
Apollinaire verdiente seinen Lebensunterhalt in einer Bank, der Bank Rochette, die Konkurs anmeldete; einer ihrer Angestellten gründete den Guide du Rentier und zog einen Teil der Kundschaft mit dorthin. Apollinaire wurde Chefredakteur dieses Finanzjournals und vergeudete die Schätze seiner Unerfahrenheit, wie’s grade kam. Seine Mutter und Jules Weil hatten Paris verlassen und wohnten in Vésinet, Avenue Carnot. Er war ihnen dorthin gefolgt, ohne jedoch das Quartier Europe aufzugeben. Da er immer vom Bahnhof Saint-Lazare abfuhr, wurde er bald Stammgast der Bars der Rue d’Amsterdam, wo er täglich mit Salmon zusammentraf. Hier tranken sie zusammen mit Jockeys und Aushältern der Maisons-Lafitte, vor allem aber mit einem Verleger von Chansons namens Henri Delormel, der, um Guillaume gefällig zu sein, die Revue immoraliste gründete. Sie brachte es auf eine einzige Nummer. Die Lettres modernes, die sie ablösten, hatten keinen größeren Erfolg.
Die eigentlichen journalistischen Debüts Guillaumes liegen in dieser Zeit. L’Européen, Soleil, Messidor, Démocratie sociale bringen kleine Artikel, Echos, „Presseschauen“ von ihm. Bei der Démocratie sociale zeichnete er für den Polyglotten, und er war in der Tat nicht ungeschickt im Übersetzen englischer, deutscher, italienischer und sogar russischer Pressestimmen. Als Slawe war er sprachgewandt. Diese Begabung hatte ihn auch auf den Titel Festin d’Esope gebracht.
In einer Bar am Bahnhof Saint-Lazare saß er eines Tages einem jungen spanischen Maler mit Ebenholzhaar und Kohlenfeueraugen gegenüber, dessen fremdländischer Akzent und nachlässiges Äußeres ihm gefielen. Was gäbe man nicht heute dafür, wenn man hätte dabeisein können, wie der Dichter zum Maler sagte:
– Mein Name ist Guillaume Apollinaire…
Und der Maler ihm antwortete:
– Mein Name ist Pablo Picasso.
Eine Begegnung, von der ich nicht sagen möchte, daß moderne Kunst und moderne Poesie heute nicht das wären, was sie sind, wenn sie nicht stattgefunden hätte; Apollinaire und Picasso waren wahrscheinlich dafür bestimmt, sich früher oder später kennenzulernen; trotzdem ist diese Begegnung von höchster Gewichtigkeit, und man kann nur bedauern, daß Tag, Stunde und alle anderen Umstände nicht auf uns gekommen sind. Die Geschichte ist vollgestopft mit Ereignissen, die zu ihrer Zeit viel Aufsehen erregt haben und sehr viel weniger wichtig sind als dieses erste, zufällige Treffen eines Spaniers und eines Polen in einer Bar des Quartier Europe.
Es war die Zeit des „bateau-lavoir“ der Rue Ravignan. Über diesen Lieblingsaugenblick der ewigen Bohème ist so viel geschrieben worden, daß ich wohl nicht auf ihn zurückzukommen brauche. Apollinaire, der sich bis zu diesem Zeitpunkt auf den Wegen Nervals und Verlaines bewegt hatte, sollte außerordentlich fruchtbar beeinflußt werden durch den Umgang mit so kühnen, so freigesinnten, so abenteuerlichen Geistern wie Picasso und Max Jacob. Er selbst vergalt es ihnen mit Gleichem, und was sich daraus ergab, darf man die große künstlerische und dichterische Revolution von 1910 nennen, ist es doch sehr bequem, ein Ereignis auf eine Jahreszahl festzunageln, das sich in Wirklichkeit über mehrere Jahre erstreckte. Wie Apollinaire, so verließ auch Picasso, als sie sich kennenlernten, das, was man ihre gefühlsbetonte Periode genannt hat. Alle beide überließen sich den „Erfordernissen des Zufalls“, um den Ausdruck eines autorisierten Exegeten zu gebrauchen, und gingen, jeder auf seinem Gebiet, an die Suche und Ausarbeitung eines neuen Kodex der dichterischen und bildnerischen Ausdrucksmittel. Auf eigene Gefahr, muß man hinzufügen. Denn trotz allem schmälert der Erfolg mitnichten das Verdienst, das eine solche Konfrontation mit der Gefahr mit sich bringt. Man vergißt nur allzu leicht, welchen Mut es für einen Künstler erfordert, um sich ohne alle Rücksicht auf die Folgen mit dem Dämon des forschenden Geistes einzulassen. Unser Jahrhundert ist mit Recht stolz darauf, den Neuerern gebührende Anerkennung zu zollen, vor 1914 jedoch verhielt es sich noch nicht so, und Picasso wie Apollinaire wußten beide nur zu gut, welcher Bedrohung sie sich aussetzten: dem allgemeinen Unverständnis und dem Elend. Das Beispiel Cézannes oder Mallarmés, ohne viele andere wie etwa Jarry zu vergessen, die alle für Pechvögel und Gescheiterte angesehen wurden, lag auf der Hand.
Die Soirées de la Plume, von Karl Boès im Jahre 1905 im Soleil d’Or, Place Saint-Michel, wieder ins Leben gerufen, dann die der Vers et Prose, von Paul Fort an der Closerie des Lilas veranstaltet, zogen jede Woche und jeden Monat die ganze junge Literatur vom linken Seineufer und vom Montmartre an. Im Vachette residierte Moréas, von einem ganzen Hof umgeben. Selbst zur Zeit der Symbolisten waren die literarischen Cafés nicht so sehr Mode gewesen. Bald schon wurde Guillaume Apollinaire zu einer der profiliertesten Figuren dieser kleinen, pittoresken und turbulenten Welt, für die alle Anlässe recht waren, um in Kneipen und Restaurants Versammlungen abzuhalten. Die Soirées genügten schon bald nicht mehr. Man vervielfachte die honorigen Banketts, eine von der vorherigen Generation übernommene und bis zu lächerlichem Mißbrauch gesteigerte Gewohnheit. Eines Abends machte Apollinaire die Bekanntschaft mit Jean Royère, dem Herausgeber der Phalange, der ihn mit Romankritiken beauftragte. An einem anderen Abend, es war 1907, bei einem jener Diners der Vierzehn, die Charles Morice begründet hatte, erlaubte er sich einen literarischen Scherz, der, obwohl mehr als gelinde, bei Max Daireaux erschien und für würdig befunden wurde, im Censeur politique et littéraire nachgedruckt zu werden, einer heute völlig vergessenen Zeitschrift, deren Redaktionssekretär ich war. Der Artikel erregte den Ärger Guillaumes, der seine Zeugen, Jean de Mitty und Max Jacob, zu dessen Unterzeichner entsandte. Die Affäre konnte friedlich beigelegt werden, aber auch später noch fand Guillaumes Blut oft genug einen Anlaß zu brodeln, und so bestellte er noch mehrmals die Zeugen, deren Besonnenheit ihn im übrigen niemals um die Gelegenheit brachte, allsogleich die von seinen polnischen Vorfahren ererbte Tapferkeit unter Beweis zu stellen.
Seit April 1907 wohnte er nicht mehr bei seiner Mutter und Jules Weil in Vésinet, wenn er überhaupt jemals dort gewohnt hat, denn wie mir seine Mutter mitteilte, erschien er nur von Zeit zu Zeit, um ein neues Hemd anzuziehen, und übernachtete fast allabendlich in einem Hotel der Rue d’Amsterdam. Jetzt also wohnte er in der Rue Léonie Nr. 9, der heutigen Rue Henner, in einem Quartier, durch das noch der Duft subtiler Galanterie zieht, wie er ihn seit seiner Geburt eingeatmet hatte. Sein winziges Appartement bestand aus zwei Räumen, einem Salon und einem Schlafzimmer, in denen jeden Mittwoch zahlreiche Besucher die gute Ordnung durcheinanderbrachten. Sein Ruf will, daß er ein Mann gewesen sei, dessen Vorliebe für die Bohème nur bis zu seiner Wohnungstür ging und der zu Hause ein kleinbürgerliches Leben geführt habe. Das ist natürlich Übertreibung. Ich selber war nie in der Rue Léonie, und so weiß ich auch nicht, ob es wahr ist, daß die Besucher, die sich auf seinem Bett niederließen, vernichtende Blicke auf sich zogen; die Wohnung am Boulevard Saint-Germain ist mir allerdings immer sehr ordentlich vorgekommen. Andererseits hat Apollinaire, soweit ich weiß, sein Geld nie groß verschwendet; doch liegt dies daran, daß ihm das, als er arm war, gar nicht möglich gewesen wäre, denn da besaß er niemals einen Pfennig. Seine Unregelmäßigkeit im Kommen und Gehen, seine Verspätungen bei Verabredungen waren sprichwörtlich, und vielleicht beschränkte sich die Bohème bei ihm darauf. Jedenfalls verzückte ihn die Bohème bei anderen. Im Falle Jarrys sprach er von ihr mit offensichtlichem Vergnügen. Jarry und der Zöllner Rousseau, den der Vater Ubus nur deshalb entdeckt hatte, um ihn lächerlich zu machen – Charles-Henry Hirsch hat diese Entdeckung geschildert –, waren sicherlich in allem und jedem verschieden; aber Apollinaire liebte sie gleicherweise und streute allen beiden mit aufrichtiger Rührung Weihrauch. Hier sollte vielleicht der Hang Apollinaires zur Mystifikation seine Erklärung finden. Wenn Mystifizieren heißt, daß man sich über die Leute lustig machen und sie auf den Leim locken will, so neigte Apollinaire gewiß nicht zur Mystifikation; wenn es aber bedeutet, daß man mit dem Quentchen Zufall, Gefahr und Geheimnis spielt, das jede menschliche Unternehmung umgibt und in einem gewissen Maße ihre Richtung und ihr Gelingen ausmacht, so hatte er allerdings einen solchen Hang. Es war immer so, als ob er sich sagte:
Leisten wir ruhig einmal dieser Idee, diesem Gesichtspunkt, dieser Tendenz, diesem Werk Vorschub; das Neuartige, das sich in ihnen zeigt, wird uns im Falle, daß es schiefgeht, schon hinlänglich rechtfertigen.
Ich vereinfache, vergröbere, natürlich vollzogen sich Guillaumes Überlegungen nicht so, zumindest nicht in seinem Bewußtsein; aber eine ästhetische Doktrin, die sich auf das Prinzip der Neuigkeit gründete, wie er sie gegen Ende seines Lebens formulierte, hielt ihn in einem Zustand, fortwährender Verfügbarkeit. Von Rousseau ausgehend, hätte er sehr wohl die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einer großen dekorativen Malerei und zum „Sujet“ unterstreichen können. Er hat es nicht getan. Er hat sich durch Rousseau nicht festgelegt gefühlt, ebensowenig wie durch den Kubismus, in dem er gern nur einen neuen Stil sah, außerhalb dessen es für die Maler sehr wohl noch viele andere Heilsmöglichkeiten gab. In Kunstdingen führte ihn sein Dilettantismus zu kuriosen Paradoxien. Ich will es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, einmal gehört zu haben, wie er Bourguereau immerhin Begabung zusprach; eine solche Konzession lag durchaus in seiner Art. Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich sogar, ob das, was ich seinen Dilettantismus nenne, nicht so etwas Ähnliches war wie ein Glauben an die allen Dingen immanente, universelle Schönheit, in deren Befreiung er die eigentliche Aufgabe des Dichters wie des Ästhetikers sah. Skeptizismus war das letzte, was man diesem Dilettanten hätte vorwerfen können.
Eine ebenso leidenschaftliche wie auf Vergnügung bedachte Neugier führte ihn in die verschiedensten geistigen Bereiche. Zu der Zeit, als er über die Erfolgsaussichten des Zöllners Rousseau nachgrübelte, interessierte er sich für die Erzähler des späten achtzehnten Jahrhunderts und im besonderen für den Marquis de Sade, in dem er – wahrlich ein Mann, der seine einmal bezogenen Positionen nicht verheimlichte – einen der größten französischen Moralisten und zugleich den Vorläufer des modernen Immoralismus sah. Die literarische Erotik hatte in ihm einen überaus gelehrten Adepten, seine Mitarbeit an der Bibliothèque des Curieux legt davon Zeugnis ab. Dieses Erotische unterschied sich übrigens sehr stark von der Zurückhaltung gegenüber Frauen, wie ich sie stets bei ihm habe beobachten können. Von zuweilen heikler Kühnheit, wenn er die Feder in der Hand hielt, war er geradezu keusch in der Unterhaltung, und was seinen Lebenswandel betrifft, so zweifle ich daran, daß er da ein großer Vogelfänger war; davon hätte ich wahrscheinlich gewußt.
1909 war das Jahr, an dem seine Mitarbeit an der Zeitschrift Marges begann, in der Eugène Montfort eigens für ihn eine Rubrik über Frauen-Literatur eingerichtet hatte, der zunächst Gérard d’Houville seine Zustimmung nicht erteilen wollte. Apollinaire zeichnete für diese Rubrik mit Louise Lalanne. Ein Jahr darauf verschwand die mysteriöse Louise Lalanne, entführt von einem nicht weniger mysteriösen Offizier der Dragoner. Zur gleichen Zeit lieferte Guillaume der Zeitschrift die Artikelreihe seiner Contemporains pittoresques: Ponchon, Jarry, La Jeunesse, Gourmont, Moréas, Mendès, in der sich seine Wißbegierde für außergewöhnliche, nicht einzuordnende Menschen widerspiegelt, die einzig und allein durch sich selbst eine Art Beweis dafür erbringen, was es an Reichtum und unendlicher Mannigfaltigkeit im menschlichen Bereich gibt. Die Liebe für das Pittoreske und Sonderbare war bei Guillaume nur eine Form der Liebe, die er in der bezaubernden Ungezwungenheit seines Dichterherzens für das Leben hegte. Er hatte die Gabe, in dem, worin andere nur Plattheiten und Banalitäten gesehen hätten, Quellen der Freude, der Lust und des Vergnügens zu entdecken. Für ihn verwandelten sich wie durch ein Wunder die bedeutungslosesten Wesen und die allergewöhnlichsten Umstände. Unter diesem Blickwinkel erst gewinnt sein Spürsinn für das Wunderliche und Pittoreske seine wahre Bedeutung. Das Anekdotische besaß für ihn stets eine poetische Fortsetzung.
1909 war auch das Jahr seiner ersten Mitarbeit am Mercure de France, und zwar mit dem „Chanson du Mal-Aimé“ (Lied des Ungeliebten), das dank Paul Léautaud veröffentlicht wurde. Von da an zählte er zu den gewohnten Figuren der Rue de Condé, einem Milieu, das in der Literaturgeschichte nicht weniger Bedeutung haben wird als die Revue des Deux Mondes von François Buloz oder die Encyclopédie von d’Alembert und Diderot. 1909 erschien auch, bei Kahnweiler, sein erstes Buch, L’Echanteur pourrissant (Der verwesende Zauberer), illustriert mit Holzschnitten von André Derain. Hier macht sich der Einfluß eines von Symbolismus und Surrealismus avant la lettre getönten Mittelalters bemerkbar. Apollinaire bewahrte sich immer einen Sinn für das Keltische und alles, was in diesem Wort an Märchenhaftem und Wunderbarem mitschwingt.
Im „Salon der Unabhängigen“ hatte er Vorträge über die Dichtung und die Dichter gehalten. Er vereinigte sie mit anderen Texten von Paul-Napoléon Roinard und Victor-Emile Michelet zu einem Sammelband. Im Oktober schließlich verließ er die Rue Henner und das Quartier Bréda und zog nach Auteuil in die Rue Gros, wo er in Nr. 15, später in Nr. 37 wohnte. Er veröffentlichte L’Hérésiarque et Cie., eine Sammlung von Erzählungen, die er vor sieben oder acht Jahren an die Grande France sowie an die Revue Blanche gegeben hatte. Elémir Bourges, sein Nachbar in Auteuil, schlug das Buch für den Prix Goncourt vor, wo es im ersten Wahlgang drei Stimmen erhielt.
Aus derselben Zeit stammt seine Freundschaft mit Fernand Fleuret, demjenigen, der die größte Ähnlichkeit mit ihm hatte, obwohl sie sich in vielen Punkten unterschieden. Niemand hat besser von Guillaume gesprochen als der köstliche Fernand, niemand ihn besser verstanden, niemand war mehr dazu geschaffen, ihn zu begreifen. Ihre Freundschaft hatte in der Bibliothèque Nationale begonnen, wo sie in einträchtigem Nebeneinander Aretino, Sade, Merciat, Casanova, Restif und die italienischen Novellisten lasen… Sie taten sich sogleich zusammen, fühlten sie sich doch verbunden durch einen gemeinsamen Hang zur Phantasie und das, was ich Mythomanie nennen würde, hätte das Wort nicht einen schlechten Beigeschmack. Fernand hatte von der Kunst zu schreiben eine anspruchsvollere Vorstellung als Apollinaire, der ihn durch jenen abenteuerlichen Charakter seiner Erfahrungen in Verwirrung stürzte, in dem Fernand nichts als eine bedauerliche Verschwendung von Begabung, Intelligenz und Geistesgaben sehen wollte. Das Gebiet, auf dem sie sich fraglos am besten verstanden, war die Erotologie. In dieser Hinsicht war ihre Zusammenarbeit mit Louis Perceau am Katalog des Enfer de la Bibliothèque Nationale äußerst fruchtbar für sie. Wie Guillaume zogen auch Fleuret alle Merkwürdigkeiten des Lebens und der Literatur an. Wie Guillaume neigte er zur schöpferischen und poetischen Mystifikation. Zum Ausgleich dafür huldigte er im Gegensatz zu seinem Freunde nicht jener Art von ästhetischem Messianismus, durch den sich Apollinaires Traum beständig aufs Zukünftige richtete, zumindest von einer gewissen Zeit an. Fleuret hat sehr säuberlich zwischen dem Apollinaire vor und dem Apollinaire nach dem Kubismus unterschieden:
Um die Wahrheit zu sagen, habe ich zwei Apollinaires gekannt, die sich ziemlich deutlich voneinander abhoben, den einen vor dem Hérésiarque, als er noch in der Rue Gros über einem Sattlermeister wohnte (genaugenommen war Guillaume ein paar Monate vor dem Hérésiarque aus der Rue Gros ausgezogen), den anderen, der sich zum Verteidiger der Kubisten machte. Und ich weiß nicht, ob die folgende Begebenheit sich wirklich abgespielt hat, oder ob ich sie nur geträumt habe. Eines Abends jedoch ging ich mit dem einen über den Pont de Grenelle, und als ich so neben ihm herging und ihm, die Augen auf die Erde geheftet, zuhörte, schüttelte er mir lebhaft die Hand und sagte überstürzt Lebewohl. Ich suchte ihn neben mir: schon war er verschwunden. Da hörte ich ein letztes Lebewohl über mir und sah, wie sich mein Gefährte, dem Propheten Elias gleich, auf einem Feuerwagen in die Lüfte erhob, dem chinesische Pi-his voranflogen, „die nur einen Flügel haben und paarweis fliegen“. Mit einem sehnsüchtigen Blick folgte ich dem Dichter, der in so jungen Jahren zu den Göttern versammelt wurde und langsam mit dem Gepränge der Dämmerung verschmolz. Am nächsten Morgen fand ich ihn wieder in der Bibliothèque Nationale vor. Sein erstes Wort war: Kubismus, sein zweites: Futurismus, – da mußte ich erkennen, daß es sich nicht um den gleichen Menschen handelte, sondern um einen von einem modernen Kunsthändler höchst geistvoll abgerichteten Doppelgänger. Ich glaube jedoch, daß es ein Traum war, denn die Person war zu schwer zu ertragen.
Diese Worte lassen den Kummer darüber erkennen, daß Apollinaire seine Begabung und sein freundliches Wesen zugunsten dessen verpfuschte, was der Autor der Bienheureuse Raton (Glückseligen Ratte) nur für Ignoranz und Barbarei erachtete. Über diesen Kummer, den viele andere Freunde Apollinaires teilten, ließ sich unser Dichter keine grauen Haare wachsen, er lachte nur über ihn. Die von Fleuret berichtete Vision ist sehr bezeichnend für ihn. Oft hatte er andere, und an die glaubte er. Ich sehe uns noch, wie wir beide gegen zwei Uhr morgens in einer Kneipe des Faubourg Montmartre sitzen, die sich allmählich zu leeren beginnt. „Sieh mal!“ sagt er plötzlich zu mir, „erkennst du nicht Apollinaire da hinten? Du siehst ihn nicht? Aber guck doch genau hin! Siehst du ihn jetzt? Er winkt dir zu! Geh, sprich ein Wort mit ihm! Warum willst du bloß nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen? Du tust ihm weh. Jetzt weint er, sieh, er weint. Und du bist daran schuld!“ Und er selbst hatte Tränen in den Augen. Diese unangenehme Szene dauerte eine gute Viertelstunde. Ich beendete sie abrupt, indem ich mich erhob und wegging. Armer Fernand! Wie konnte ich damals das traurige Ende voraussehen, das er infolge seiner krankhaften Halluzinationen nehmen würde, ähnlichen wie in jener Nacht, ob sie nun wirklich oder nur vorgespielt waren. Hätten sie mir wirklich ein Anzeichen sein können?
1907 hatte Guillaume in der Galerie Sagot, Rue Lafitte, in der Picasso von Zeit zu Zeit ein Bild verkaufte, ein junges Mädchen von ungefähr fünfundzwanzig Jahren mit vor Schalk und Intelligenz funkelnden Augen und stets unvermuteten Reden kennengelernt. Hübsches Haar kräuselte sich über ihrer Stirn. Ihre Figur war makellos. Es war Marie Laurencin. Guillaume verliebte sich in sie, die ihrerseits bezaubert war von der liebenswürdigen Genialität, die er ausstrahlte. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Katze in der Rue La Fontaine, und ihretwegen hatte er 1909 die Rue Henner mit Auteuil vertauscht. In der Rue Gros war es selbstverständlich Maries Aufgabe, Guillaumes Häuslichkeit ein wenig zu pflegen und sogar für ihn zu kochen. Das entsprach ihrem Geschmack wenig. Dafür erwies er ihr den unschätzbaren Dienst, ihre noch schwankende Persönlichkeit zu befreien und aus der braven Schülerin der Académie Jullian die Zauberin mit dem gequälten Herzen zu machen, von der er sich seinerseits so gequält fühlte, daß er hin und wieder seinem Herzen durch Klagen Luft machen mußte. Stets entzog sich ihm Marie mehr oder minder, und darunter litt er.
Die Überschwemmungen vom Winter 1910 wurden für Auteuil zu einer schrecklichen Heimsuchung. Guillaume veröffentlichte im Intransigeant, bei dem er jetzt die Kunst-Rubrik innehatte, seine Eindrücke eines Überschwemmten. Das folgende Jahr war das des Bestiaire ou Cortège d’Orphée (Bestiarium oder Orpheus’ Gefolge), mit Holzschnitten illustriert von Dufy. Diese von einem kühnen Klassizismus, in dem sich Phantasie und Sinn fürs Dekorative aufs Glücklichste aussprachen, bestimmten Holzschnitte trugen viel dazu bei, den Namen Raoul Dufy bekanntzumachen.
Damit bin ich bei der nicht zu umgehenden Affäre der Statuetten angelangt, die ich möglichst abkürzen möchte, denn sie ist schon oft berichtet worden.
Apollinaire hatte einen belgischen Sekretär namens Géry Piéret, den ich nicht kennengelernt habe, von dem aber alle Welt übereinstimmend sagte, er sei nicht gerade auf den Kopf gefallen. Hätte sich Apollinaire auch mit der Gesellschaft eines Dummkopfs zufriedengegeben? Géry Piéret war höchstens ein bißchen wirr, was nicht gerade dazu angetan war, Guillaumes Mißfallen zu erregen. Einige Jahre zuvor hatte er in einem kühnen Streich phönizische Statuetten aus dem Louvre entwendet. Zwei von ihnen hatte er Picasso geschenkt, eine andere thronte auf dem Kamin in der Rue Gros. Da passierte der Diebstahl der Mona Lisa. Um sich aufzuspielen, bezeichnete sich Géry Piéret angeblich in einem Brief an die Polizei als den Täter und kompromittierte auf diese Weise zugleich Guillaume. Bei dem wurden denn auch Nachforschungen angestellt. Nervös gemacht, warnte Apollinaire Picasso. Sie taten die Statuetten in einen Koffer, um sie nachts in der Seine zu versenken. Sie kehrten zum Boulevard de Clichy zurück, wo Picasso sein Atelier hatte, ohne sich entscheiden zu können. Am nächsten Morgen begab sich Apollinaire zu Paris-Journal. Er war auf die Idee gekommen, die Statuetten anonym durch Vermittlung dieses Tageblatts zu hinterlegen, was keine schlechte Reklame für dieses bedeuten würde. Paris-Journal ging darauf ein, aber die Polizei nahm den Scherz übel, und am nächsten Tag, nach einem erneuten Verhör, wurde Guillaume verhaftet. Zwei Tage später wurde er Picasso gegenübergestellt. Der Dichter bot einen kummervollen Anblick. Picasso stand nicht viel glänzender da, wurde aber wenigstens nicht beschuldigt; man bat ihn lediglich, sich zur Verfügung des Untersuchungsrichters zu halten. Inzwischen sammelten sich unter einer Petition, die wir zur Freilassung Apollinaires aufgesetzt hatten und zirkulieren ließen, die Unterschriften. Von José Théry geschickt verteidigt, wurde unser Freund kurze Zeit später einstweilig auf freien Fuß gesetzt. „Viele Freunde Apollinaires“, hat Fernande Olivier in Picasso et ses amis geschrieben, „gaben eine gewisse Zeit keinen Mucks von sich. Sie hatten Angst, sich zu kompromittieren, und außer Picasso, Max Jacob und José Théry sah der arme Guillaume in den Tagen, da er sich sorgenvolle Gedanken machte, nur wenig Leute. Ich erinnere mich, daß es sogar unmöglich war, Marie Laurencin dazu zu überreden, demjenigen ein paar Zeilen zu schreiben, dem sie so viel verdankte.“ Dummheit, Ignoranz und Böswilligkeit! Unsere Petition hatte gezeigt, daß wir Guillaume in seinem Mißgeschick nicht allein gelassen hatten. Ein noch besserer Beweis unsrer Treue war die Gründung der Soirées de Paris. Ich war auf die Idee gekommen um damit – der Name Guillaumes stand auf dem Umschlag neben den unsrigen – öffentlich Zeugnis abzulegen, daß wir ihn nicht im Stich ließen. Man muß bedenken, daß das Verfahren gegen ihn noch nicht niedergeschlagen war. Erst im Januar 1912 intervenierte er. Ein paar Tage später erschien die erste Nummer von Soirées de Paris. Ihre Ouvertüre war ein Artikel von Apollinaire: Vom Gegenstand in der modernen Malerei.
Ich will nicht noch einmal wiederholen, was die Soirées waren und wie sie, ohne Verleger von Apollinaire, Salmon, Tudesq, Dalize und mir gegründet, denen sich bald Charles Perrès zugesellte, der Salmen ersetzte, nach Verlauf eines Jahres, in dem ich als eine Art Herausgeber fungierte, in die Hände Apollinaires und der Baronin von Oettingen übergingen, die unter den Pseudonymen Roch Grey oder Léonard Pieux schrieb. Einige der schönsten Gedichte aus Alcools erschienen in ihnen.
In der Zwischenzeit, im Oktober 1911, war Guillaume von der Rue Gros in die Rue La Fontaine übergesiedelt und schleppte seine Bibliothek seltener und alter Bücher mit, vor allem seinen Dictionnaire von Bayle, seine Fetische, seine kubistischen Bilder und sein bürgerliches Mobiliar.
Les Peintres Cubistes, das Evangelium der neuen Malerei, erblickte im Frühjahr 1912 das Licht der Welt, beinahe zur gleichen Zeit wie jener Enfer de la Bibliothèque Nationale, auf den Guillaume zusammen mit Fleuret und Louis Perceau so viel Mühe verwendet hatte. Im folgenden Januar richtete er sich mit Pierre Reverdys Hilfe in der Wohnung ein, in der er etwas über zehn Jahre später sterben sollte, im Boulevard Saint-Germain Nr. 202, einem Gebäude, das – welch merkwürdiger Zufall! – dem Fürsten von Monaco gehörte, der einst als sein Vater gegolten hatte.
Apollinaire, der gerade eine große finanzielle Krise durchmachte, war wie Fleuret darauf angewiesen, für den Lebensunterhalt Bücher und Vorworte zurechtzuschustern, bei deren Verfertigung Dalize ihm kräftig zur Hand ging und die er in bedauerlicher Sorglosigkeit mit seinem Namen zeichnete. Fin de Babylone war mit Anspielungen gespickt, die nur wir verstanden, und enthielt Späße, wie sie damals die Unterhaltungen unsres kleinen Kreises würzten.
Im Frühling 1913 erschien Alcools mit einem Porträt des Verfassers von Picasso. Dieses Porträt sowie das Fehlen jeglicher Zeichensetzung in den Gedichttexten provozierten natürlich manche Gefühlswallung. Das hatte nicht in Guillaumes Absicht gelegen; ohne vorheriges Überlegen hatte er seinem Hund den Schwanz gestutzt. Einer typographischen Kleinigkeit verdankte er es demnach, daß seine allgemeine Bekanntheit von einem Tag zum anderen wiederaufgefrischt wurde. Er war es gewesen, der die Mona Lisa gestohlen hatte; nun wurde er zu dem, der die Zeichensetzung abgeschafft hatte! Kein Mensch dachte daran, daß die Zeichensetzung in den Dichtungen Mallarmés zwar nicht völlig verschwunden, jedoch stark eingeschränkt ist und daß Apollinaire nur dem Beispiel des Dichters der Hérodiade folgte, indem er es systematisch weiterführte.
Die Soirées de Paris, die ich auf eigene Kosten wiederaufgenommen hatte, kamen mir teuer zu stehen. Im Einverständnis mit Serge Férat und der Baronin von Oettingen kaufte Guillaume sie mir wieder ab, um aus ihnen das Organ der neuen Tendenzen in Literatur und bildender Kunst schlechthin zu machen. Also erschienen sie im November 1913 von neuem, illustriert mit Stilleben von Picasso. In der nächsten Nummer war die Reihe an Matisse, Marie Laurencin, Albert Gleize und Jean Metzinger. Im Januar 1914 wurde eine Sondernummer für den Zöllner Rousseau veranstaltet. Es folgten Derain, Picabia, Georges Braque, Archipenko, Vlaminck und Fernand Léger. In der neuen Reihe der Soirées war die Poesie mit Max Jacob, Fernand Divoire, Henri Hertz, Jean Royère, Vincent Muselli, Blaise Cendrars, Jacques Dyssord, Henri Strentz, Soffici und, natürlich, mit Apollinaire vertreten. Die vorletzte Nummer, vom Juni 1914, enthielt, was Guillaume damals lyrische Ideogramme und später Kalligramme nannte. „Diese Produktion“, schrieb Gabriel Arbouin in der folgenden Nummer, „läßt keinen Zweifel mehr daran, daß gewisse moderne Notationsformen das Bestreben haben, wieder in die ideographische Schreibweise einzumünden. Das Ereignis ist merkwürdig… Es handelt sich um eine Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes. Und doch steht diese Revolution erst an ihrem Beginn…“ Welche Hoffnungen gründete Guillaume auf diese Neuerung? Er hielt viel auf sie, er verteidigte sie mit der ganzen Subtilität, deren er in solchen Fällen fähig war, aber vielleicht hätte es ihm schon genügt, sich in ihr durch ein paar hübsche Errungenschaften bestätigt zu sehen. Ich für meinen Teil glaube nicht daran, daß er, selbst wenn er die Calligrammes längere Zeit überlebt hätte, viele junge Dichter auf seine Bahn nachgezogen hätte. Zudem werfe ich diesen autographischen, photographisch reproduzierten Kalligrammen den Mangel an Perfektion vor. Apollinaire konnte sich nicht entschließen, diese Ansicht zu teilen. Perfektion ging ihm in Kunst und Poesie nicht über alles.
In dieser Periode der Vorkriegszeit erreichte sein Einfluß den Höhepunkt. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften im Café de Flore drängten sich Maler und Dichter. Über die Trottoirs von Montparnasse und Saint-Germain-des-Prés ging an seiner Seite ein ganzes kosmopolitisches Stabsgefolge. Von morgens bis abends klingelten bei ihm Künstler und Intellektuelle aus allen Himmelsrichtungen. Er war der Fürst des modernen Geistes, der Chefdirigent der neuen Ideen, die Seele der großen Revolution, durch die bereits die alten Konventionen der beschreibenden Dichtung und der gegenständlichen Malerei untergraben und zerstört worden waren. Die Literatur, so hatte er entschieden, sollte von der Poesie geschieden werden und nichts mehr mit ihr zu schaffen haben. Poesie und Literatur waren zwei verschiedene Dinge, und es gab keinerlei Grund, sie miteinander zu vermengen. Nieder mit der Rhetorik! Es leben die Worte in Freiheit! Es lebe das Gedicht, in dem die Poesie in einem ständig vom Dichter ausgespannten Netz gefangen, gleichsam ertappt sein würde! Auf diese Weise entstanden die sogenannten poèmes-conversations. Wir unterhielten uns in den Bars, den Cafés, den Kneipen, und Apollinaire notierte, mitten unter uns sitzend und mit halblauter Stimme vor sich hin singend oder summend, Satzfetzen, die er sorgfältig aus dem Wirrwarr der Gespräche auswählte… Auch diese Erfindung blieb ohne Folgen, doch würde er sich nicht mit der Feststellung zufriedengegeben haben, daß es dank ihrer und für den Zeitraum einiger Abende einen Augenblick des universellen poetischen Bewußtseins gegeben hatte?
Mit Royveyre, der für sein Andenken eine so große Rolle spielen sollte, war er in Deauville, als die allgemeine Mobilmachung ausgerufen wurde. Im September verläßt er Paris und begibt sich nach Nizza. Hier trifft er natürlich Lou und macht ihr den Hof. Vergebens. In seiner Verzweiflung meldet er sich beim 31. Artillerieregiment in Nimes. Sie reist ihm nach, das große Glück ist da… Guillaume ist ein musterhafter angehender Artillerist. Gibt es in der ganzen französischen Armee einen Mann, der zufriedener mit seinem Los wäre? Und wie stolz er darauf ist, eine Geliebte zu haben, die „dem ältesten europäischen Adel“ angehört! Aber leider ist diese Frau sehr launenhaft. Ende März 1915 verläßt sie ihn um eines anderen willen, den sie mehr und schon seit langer Zeit liebt, und der arme Guillaume muß viel Kummer über sich ergehen lassen. Es ist nicht das erste Mal, daß eine Frau ihn leiden läßt. Die Liebe ist vielleicht doch nicht seine Stärke… Mehr aber bedauert er noch, daß er sich nicht als Freiwilliger für den nächsten Abgang zur Front gemeldet hat. Er hoffte noch auf eine neue Verständigung mit ihr, auf ein Wiedersehen, darauf, daß sie wieder die seine würde. Er ist feig gewesen. Das verzeiht er sich nicht.
Jetzt ist es aus, ich will dich nicht mehr lieben, man leidet, leidet, dann lernt man, nicht mehr zu leiden.
Trotzdem sahen sie sich noch einmal in Marseille: Nachdem sie ihn ein letztes Mal abgewiesen hatte, trennten sie sich als gute Freunde und beschlossen, brieflich miteinander in Verbindung zu bleiben, und zwar in vollkommenster, zynischer Offenheit.
Er hatte es nun eilig, von der Etappe in Nîmes an die Front zu kommen, wohin ihn die Neugier auf ein so andersartiges, so neuartiges Leben zog. Am Ostertag 1915 erhielt er den Abmarschbefehl. Daraufhin schrieb er mir sogleich:
Als erster Richtkanonier
Grüß ich dich von der Front.
Nein, nein, du siehst nicht falsch,
Neunundfünfzig ist mein Abschnitt.
Briefe in Versen, Briefgedichte, hatte er schon von Nîmes aus gesandt.
An der Front setzte er diese Art Korrespondenz fort, in der seine spielerische Anmut und seine Improvisationsgabe wunderbar zum Ausdruck kamen.
Ein paar Tage später wurde er zum Gefreiten ernannt. Diese Nachricht übermittelte er mir folgendermaßen:
Endlich, mein Alter, bin ich Gefreiter.
Glaub nicht, daß man die Litzen sich hier
Ersitzt. Doch in der Unterkunft werden sie
Mit Salatöl begossen.
Das Kriegsleben gefiel ihm gleich. Wenn man seine Briefe von damals liest, hat man den Eindruck, daß er in einer Art von Rausch lebte. Seine Gedichte aus Case d’Armons haben in allen Literaturen einen wahrscheinlich einzigartigen Charakter. Der Krieg wird hier von einem Dichter dargestellt, der ihn nicht als Soldat, sondern als Dichter mitmacht. Ganz sicher war Guillaume ein ausgezeichneter und tapferer Krieger, doch der Dichter in ihm wich niemals dem Artilleristen. Wir haben nicht etwa einen Artilleristen vor uns, der sich gelegentlich daran erinnern würde, daß er Dichter ist, sondern einen Dichter, der in keinem Augenblick und unter keinen Umständen aufhört, Dichter zu sein, den die Tatsache, daß er mit der Kanone schießt, überaus amüsiert, ja exaltiert und der in der Gefahr eine Quelle der Verwunderung und Inspiration ganz nach seinem Geschmack sieht.
Im September 1915, kurz vor der Offensive in der Champagne, wurde er zum Artillerieunteroffizier befördert.
Der Briefwechsel mit Lou dauerte an, unbelastet von dem, den er nunmehr mit Madeleine führte, einem jungen Mädchen, dem er ein paar Monate zuvor im Zug zwischen Nizza und Nîmes begegnet war und dem er im Verlaufe des Sommers, einen Heiratsantrag machte. Sie hatten sich brieflich verlobt. Er überschüttete sie mit Briefen. Er war sentimental, er war zärtlich, er war entschlossen, ein guter Ehemann zu werden…
Da er aber sehr darauf aus war, die Offizierstressen zu tragen, und bei der Artillerie die Ränge besetzt waren, wurde ihm das Überwechseln zur Infanterie gestattet, wo der Krieg größere Lücken gerissen hatte. Am 20. November 1915 wurde er zum Leutnant beim 96. Infanterieregiment befördert, und da er Anspruch auf Urlaub hatte, beantragte er ihn für die Umgegend von Oran, wo Madeleine wohnt. Auf dem Schiff, das ihn wieder von Afrika zurückbringt, hat er noch ein kleines Abenteuer, dessen Heldin er uns, da er über Paris kommt, vorstellt; anschließend dann die Gräben der Champagne, der schreckliche Krieg als Landser… Für ihn dauerte er nicht länger als drei Monate. Am 17. März 1916, gegen vier Uhr nachmittags, in einem Graben im Bois des Buttes in der Nähe von Berry-au-Bac, saß er in einem Behelfsunterstand und las die letzte Nummer des Mercure de France, wo er weiterhin die Rubrik Vie anecdotique versah, als ein Granatsplitter seinen Helm durchschlug und ihn am Kopf verletzte. Er kam ins Lazarett von Château-Thierry, von da ins Val-de-Grâce, Zimmer 13. Dort blieb er vom 29. März bis zum 3. April. In einer unveröffentlichten Notiz von Frau Dr. Nageotte, deren Obhut er damals anvertraut war, heißt es:
Durch Granatsplitter verursachte Verletzung des Schädels und der Kopfhaut in Höhe der rechten Schläfengegend mit Auftreibung der äußeren Hirnschale. Keine zerebralen Schäden. Verwundet am 17. März 1916 im Bois des Buttes (Villeau-Bois). 16 Uhr erster Wundverband im P. S. 17 Uhr zweiter Wundverband in der Ambulanz 1–55; T-förmiger Einschnitt, Entfernung der Granatsplitter. Blieb dort vom 18. bis zum 20. Vom 20. bis 28. in Château-Thierry. Während dieses Aufenthalts keine zerebralen Störungen, weder Verlust des Bewußtseins noch Erbrechen, keine optischen oder akustischen, auch keine Sprechstörungen oder Lähmungserscheinungen an den Beinen. Gutes Allgemeinbefinden, 37,9°–38,8° in den ersten Tagen. Antitetanusserum am 8. und am 23. März. Am letztgenannten Tag Flecken von Nesselfieber. Am 29. März, im Val-de-Grâce, mißt die T-förmige Operutionswunde 5 cm/4 cm, in gutem Granulationszustand, die Kopfhaut zeigt einen schleimigen eitrigen Belag. 1. April: Kopfschmerzen seit einigen Tagen, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, manchmal Fallempfindungen. Äußerer Eindruck: ziemlich benommen, schwerfällig, schweigsam, meistens liegend, sehr nachlässig, aber ruhig, geduldig und sehr liebenswürdig. Pupillen normal, Gehör ebenfalls. Fühlt sich etwas benommen. 9. April: bittet um Überweisung ins italienische Hospital. Die Wunde ist um die Hälfte zusammengeschrumpft. Mai 1916: wird nach einigen Tagen der Benommenheit auf der Straße ohnmächtig; einseitige Lähmung. Im italienischen Hospital Trepanation durch Dr. Baudet, der einen intercraniellen Abszeß entdeckt. Geheilt, scheint alles normal. Exitus 9. November 1918. Er hätte trotz des Fehlens schwerwiegender zerebraler Störungen auf Grund der Benommenheit und der fortgesetzten schleimigen und eitrigen Granulation trepaniert werden sollen.
Serge Férat, Krankenwärter im italienischen Hospital am Quai d’Orsay, hatte ihn dorthin überweisen lassen. Hier war er nicht bis zu seiner vollständigen Ausheilung geblieben, wie man nach der vorliegenden Notiz glauben könnte. Nach dem Aufenthalt im italienischen Hospital kam er in die Villa Molière, wo er Henri Duvernois zum Krankenpfleger hatte. Von neuem trat eine Lähmung ein, und eine zweite Trepanation erwies sich als erforderlich, die er mit bewundernswertem Mut und bewundernswerter Heiterkeit auf sich nahm. Danach endlich kam er frei. Seine Freunde sahen einen gravitätischen, leicht zu Zornausbrüchen neigenden Apollinaire auftauchen, dessen Schnurrbart und bandagierter Kopf unter der Schirmmütze auf einen ziemlich tiefgreifenden geistigen Wandel schließen ließen. Ich habe den Apollinaire dieser Zeit täglich besucht. Ich lancierte ihn bei Paris-Midi, Information und bei der Zensur. Wie weit lag sie doch zurück, die charmante Phantasie der Vorkriegszeit! Er war sehr stolz auf seine Uniform nahm jetzt alles ernst, erteilte Lektionen in Patriotismus und stöhnte über die Entvölkerung Frankreichs. Weit auch war die Verlobte von Oran, vergessen…
Le poète assassiné (Der gemordete Dichter) gab, Ende Dezember 1916, Anlaß zu einem großen Bankett im Palais d’Orléans in der Avenue du Maine. Einer seitdem verlorengegangenen Tradition entsprechend, kam es unter den Tischgenossen beinahe zu Handgreiflichkeiten, Madame Aurel gelang es nicht, sich Gehör zu verschaffen, und ich sehe noch Blaise Cendrars, wie er mit dem Stumpf seines rechten Armes und dem leeren Ärmel schreckliche Windmühlenbewegungen macht. Dies war einer der letzten guten Augenblicke im Leben Apollinaires. Vollkommen glücklich erhob er sich von der Tafel.
1917 wechselte er von der Zensur ins Kolonialministerium über wo ihn Charles Régismanset in seine Dienste nahm. Am 24. Juni findet im Theater René Maubel in der Rue de l’Orient die Aufführung der Mamelles de Tirésias (Die Brüste des Tiresias) statt; die Ausstattung stammt von Serge Férat, die Musik von Germaine Albert-Birot. Der Zweck dieser Buffonnerie ist die Ermunterung der Franzosen zum Kinderzeugen. Dabei geriet man sich nicht weniger in die Haare als beim Bankett in der Avenue du Maine. Dieser nur teilweise Erfolg entmutigte den Autor keineswegs, ganz im Gegenteil. Kurze Zeit später las er uns zwei neue Stücke vor, Couleur du Temps (Farbe der Zeit) und Casanova, deren Aufführung er nicht mehr erleben sollte…
1918: Le Flâneur des deux Rives (Der Bummler an beiden Seineufern) und Calligrammes. Und immer wieder das Echo im Blätterwald immer wieder Übersetzungen in der ausländischen Presse, immer wieder die Brotarbeit, die ihn müde macht und erbittert… Er war wirklich sehr müde als er mit Schere und Leimtopf mehr schlecht als recht Fragmente eines unvollendeten Romans über die Mormonen mit Zeitungsartikeln abstimmte, um daraus die Femme assise zusammenzusetzen.
Wenigstens führte ihn die Heirat dazu, regelmäßigere Lebensgewohnheiten anzunehmen. Am 4. Mai 1918 heiratete er Jacqueline in Saint-Thomas d’Aquin. Sein Glück dauerte nur kurze Zeit. Am 9. November, am Vortag des Waffenstillstandes, raffte ihn die spanische Grippe dahin.
Dies war, von allen Anekdoten entblößt, die ihn zu guter Letzt mit einer legendären Gloriole umgeben hatten, das irdische Leben Guillaume Apollinaires.
Kurze Zeit vor seinem Tod hatte er dem Mercure de France den überarbeiteten Text eines Vortrages wieder zugestellt, den er im Vieux-Colombier über den Esprit nouveau et les Poètes gehalten hatte. Er stellt den letzten Stand seines Denkens hinsichtlich der Zukunft der Poesie dar und sollte eine Art von Manifest sein. Der Tod machte daraus sein Testament.
Was war ihm zufolge der neue Geist? Wie definierte er ihn?
Zunächst durch das klassische Erbteil: den gesunden Menschenverstand, den bewährten kritischen Geist, die umfassende Anschauung vom All und der menschlichen Seele, den Sinn für die Pflicht, der den Mißbrauch der Gefühle zügelt. Sodann definiert er ihn durch das romantische Erbteil: Erforschung aller Bereiche, die geeignet sind, Material für eine Verherrlichung des Lebens zu liefern. Und er fügt sogleich hinzu:
Die Wahrheit erforschen, sie beispielsweise ebensowohl im ethnischen Bereich wie in dem der Imagination aufsuchen, das sind die wichtigsten Charakterzüge dieses neuen Geistes.
Diese Tendenz hat seit jeher bestanden, aber zum ersten Male wird sie sich ihrer selbst bewußt. Bisher hielt sich der literarische Bereich in engen Grenzen. Man schrieb Prosa oder man schrieb Verse. Die Prosa, ihre grammatischen Regeln, bestimmten die Form des Schreibens. Für die Poesie war die gereimte Versifikation das einzige, zwar oft diskutierte, doch stets lebendige Gesetz. Der freie Vers war nur eine Etappe der Forschungen, die man im Bereich der Form anstellen konnte. Die Formuntersuchungen haben eine große und legitime Bedeutung gewonnen.
Die sehr weit und mit großer Kühnheit vorangetriebenen typographischen Kunstgriffe haben den Vorteil, eine visuelle lyrische Sprache entstehen zu lassen, die vor unsrer Zeit nahezu unbekannt war. Diese Kunstgriffe können noch viel weitergehen und die Synthese der Künste, der Musik, der Malerei und der Literatur bewirken… Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin, das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufriedengeben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man verwundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten suchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.
Warum sollte es in der Poesie nicht genauso viel Freiheit geben wie im Journalismus? Warum sollte der Dichter im Zeitalter des Telephons, der drahtlosen Telegraphie und des Flugzeugs zu größerer Zurückhaltung gegenüber dem Raum angehalten sein? Was nicht besagen will, daß die Kunst ihre nationalen Bindungen verlieren sollte…
Der neue Geist beruft sich vor allem auf Ordnung und Pflicht, jene beiden großen klassischen Werte, durch die sich der französische Geist am erhabensten kundtut, und er fügt ihnen die Freiheit hinzu, Freiheit und Ordnung, die sich im neuen Geist durchdringen, bilden seine Charakteristika und seine Stärke.
Apollinaire verheimlicht sich nicht, daß die Untersuchungen des neuen Geistes die Gefahr der Sterilität und des Lächerlichen mit sich bringen, aber das ist kein Grund dafür, sie rundweg zu verurteilen:
Was der Dichter, was der neue Geist ansammelt, sind Materialien, und diese Materialien werden einen Fundus an Wahrheit bilden, dessen Einfachheit, dessen Bescheidenheit keineswegs abstoßen muß, denn ihre Konsequenzen, ihre Ergebnisse können große, sehr große Dinge sein.
Wozu soll diese Sucht nach Neuem gut sein? wird man dem Dichter entgegenhalten. Es gibt ja nichts Neues unter der Sonne… Worauf er protestiert:
Man hat mir den Kopf geröntgt. Ich habe bei lebendigem Leib meinen eigenen Schädel gesehen, und das sollte nichts Neues sein? Das glaube, wer will!
Der neue Geist definiert sich daher vor allem durch das Moment der Überraschung, sie ist seine wesentliche Triebfeder:
Durch die Überraschung, durch den bedeutenden Platz, den er der Überraschung einräumt, unterscheidet sich der neue Geist von allen vorherigen künstlerischen und literarischen Bewegungen… Er ist kein Ästhetizismus und würde auch gar keiner sein können; denn er ist dem Snobismus und allen Formeln feind. Er will keine Schule sein, sondern eine der großen Strömungen der Literatur, welche alle Schulen seit dem Symbolismus und dem Naturalismus umfaßt. Er kämpft für die Wiedereinsetzung des unternehmenden Geistes, für das klare Verständnis seiner Zeit und für die Eröffnung neuer Ausblicke auf das innere und äußere Universum, die keineswegs weniger wichtig sein sollen als jene, welche die Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen jeden Tag entdecken und denen sie Wunder zu entlocken wissen.
Der Tod hat Apollinaire daran gehindert, seine Ideen theoretisch zu untermauern und dort, wo es vielleicht möglich war, anzuwenden. Die Ambitionen des neuen Geistes sind mit ihm erloschen. Nicht alle immerhin. Als Erforschung des Unterbewußten ist der Surrealismus eine Manifestation des neuen Geistes gewesen, anti-ästhetisch, anti-literarisch und jenen Prinzipien getreu, die Apollinaire aufgestellt hat, vor allem dem Prinzip der Überraschung. Alle Poesie nach Apollinaire ist eine Poesie der Überraschung gewesen, und sie wird es bleiben. Und darum darf Apollinaire zu Recht als Vorläufer der jetzigen Dichter gelten. Ich wüßte keinen, der es bestritte.
1917 hatte Apollinaire in der Bibliothèque des Curieux eine Neuausgabe der Fleurs du Mal veranstaltet und in seinem Vorwort, nach einer Untersuchung von deren Beziehungen zum neuen Geist, das Ende des Baudelaire-Epigonentums angekündigt, dessen ungesunden Charakter er mißbilligte. Roger Allard antwortete ihm darauf in einer Broschüre Baudelaire und der Neue Geist. Aus dieser Antwort ist mir nur noch der Vorwurf gegenwärtig, Apollinaire habe die mystische Angst Baudelaires nicht verstanden, und ich glaube wirklich, daß ihm mystische Angst, was man auch über sie sagen kann, sehr fremd war. Im Manifest des Esprit nouveau zeigt sich keine Spur von Metaphysik. Ich habe mich oft genug mit Apollinaire unterhalten, um sagen zu können, daß das Jenseits in seinen Augen wenig zählte. Sein naturgegebener Optimismus schenkte Leben und Tod blindes Vertrauen. Zwar trug er, wie ich schon gesagt habe, neugierige Wißbegierde nach dem Okkulten und Mysteriösen, aber dazu verführte ihn vor allem deren pittoreske und wunderbare Seite. Es ist eine Tatsache, daß sein Werk auf das christliche Wunderbare nur selten Anspielungen macht, obwohl er in dessen Betrachtung erzogen worden war. Seine Philosophie war weder rationalistisch noch mystisch und gipfelte in einer Haltung vollkommener Verfügbarkeit gegenüber dem Geschick des Menschen und dem Geheimnis des Universums, einer Verfügbarkeit, die wesenhaft diejenige eines Dichters war und sich weder von der Inspiration noch vom Gesang trennen ließ. Sein Meditieren war stets musikalisch und stets dem freien Spiel des Zufalls anheimgestellt. Für ihn wie für Nerval, dem er meiner Meinung nach als Schriftsteller am meisten ähnelte, hauptsächlich in seiner Prosa, die köstlich ist, waren Respiration und Inspiration einunddasselbe. Alles war ihm Stoff für Poesie, Vorwand für Verwandlung und Gesang. Ob Gegenstand, Begegnung oder Wort, er bemächtigte sich ihrer, transponierte sie in seinen persönlichen Rhythmus, glich sie der Farbe und Bewegung seines Träumens an, kurzum: er erschuf sie von neuem. Nichts Eingeübtes, Zurechtgemachtes ist jemals aus seiner Feder geflossen. Auf Grund seiner erstaunlichen Disposition hatte er die Gabe, alles aufzunehmen und hundertfach wieder von sich zu geben.
Was ihn betrifft, so spüre ich deutlich, daß Kritik nicht meine Stärke ist. Trotzdem muß ich aussprechen, welchen Platz er meiner Ansicht nach in der Literaturgeschichte einzunehmen scheint. Er ist der letzte in der Reihe der großen romantischen Dichter, die auf Chénier und Lamartine zurückgeht. Die Bewegung einer lyrischen Expansion, die mit der Romantik begonnen hat und unaufhörlich nach immer direkterem und reinerem Ausdruck der Gefühle und Wahrnehmungen des Dichters strebt, hat ihr Ziel in Apollinaire gefunden. Sein Beispiel ist weidlich genutzt worden, man hat den Versuch unternommen, in der Emanzipation des dichterischen Vermögens noch weiter zu gehen als er, doch um welchen Preis? Dergestalt repräsentiert dieser große Wagehals, dieser große Abenteurer des Geistes alles in allem und wenn man ihn aus der Distanz betrachtet, einen Gleichgewichtszustand; und so wollte er sich auch am Ende sehen, so begriff er sich selbst.
Er hat es verstanden, eine überaus gefährliche Partie zu spielen. Er hat sie mehr als zur Hälfte gewonnen. Das ist viel. Ein großer Teil seines Werkes ist unvergänglich. Er hat den inneren Schatz eines jeden von uns für immer bereichert. Nerval, Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Apollinaire… Ohne sie wäre das Liebesleid und die Süße zu leben, alle Nuancen kurzum der Sensibilität dieses Jahrhunderts, anders, und vielleicht würde es sie gar nicht geben. Ohne sie würden wir nicht lieben, wie wir lieben, würden wir nicht leiden, wie wir leiden, wären wir weder traurig noch froh, wie wir traurig und froh sind. Sie sind die Hausgötter unsrer verschwiegensten und bestgehüteten Bleibe. Sie leben in uns. Aber sie werden nicht mit uns sterben… So lange wie das Wort Mensch und das Wort Poesie den Sinn bewahren, den wir ihnen heute geben, so lange werden sie als Zeugen und Beispiele dienen.
André Billy, Vorwort
Nico Bleutge: Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher
Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018
Guillaume Apollinaire: „Un siècle d’écrivains“, Nummer 175, ausgestrahlt am 18. November 1998 in Frankreich unter der Regie von Jean-Claude Bringuier.
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