– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Die Visite“ aus Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. –
HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Die Visite
Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.
Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.
Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.
Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,
fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,
gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der Großen Magellanschen Wolke.
Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.
Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.
Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.
Ein jeder hat den Engel, den er verdient. Er ist da, so will es die biblische Mythologie (oder die kindliche Lesart), um uns zu beschützen, er kommt, so wollen es neuerdings viele Filme, um die Sterblichen hinüberzuleiten in eine schwebende Daseinsform. Seiner Bestimmung nach ist er der Bote, der uns Mitteilungen aus höheren Sphären macht; seit der himmlische Absender unbekannt verzogen zu sein scheint, ist er selber die Botschaft – der Knoten im Taschentuch zur Erinnerung daran, daß etwas vergessen zu werden droht. Gott ist tot, aber die Engel leben wie nie. Besonders den Dichtern statten sie gern ihren Besuch ab. Der Engel ist wahrscheinlich die populärste Verkörperung kosmologischer Nachrichtentechnik im zeitgenössischen Gedicht.
Ein Engel klopft nicht, er steht plötzlich im Raum. Und in welcher Lage sollte der Dichter seinen Besuch heftiger wünschen als vor einem leeren Papier? Der Wunsch jedes Autors: zu schlafen, während der Engel die im Traume erfundenen Werke aufs leere Papier schreibt. Doch der Augenblick der Empfängnis, der dichterischen Inspiration, mutiert hier zur Krise. „Die Visite“ – klingt das nicht wie ein Krankenbesuch? Und nicht etwa der Chefarzt persönlich kommt, um die schlechte Nachricht zu überbringen, denn darum handelt es sich ja wohl in diesem Gedicht, sondern bloß irgendein Pfleger, unterste Charge. Eine Aushilfskraft verkündet die Diagnose: unheilbar überflüssig. Hat je ein himmlischer Bote verächtlicher zu den Menschen gesprochen? Nicht „Siehe“, spricht er, sondern „Sie können sich gar nicht vorstellen“, nicht große Freude verheißt er oder die Rettung des Menschengeschlechts, sondern die Entbehrlichkeit jener Spezies, die sich einst als die Krone der Schöpfung empfand.
Das ist vorbei; wir wissen um unseren Prestigeverlust. Doch offenbar ist der Dichter vor seinem weißen Blatt noch immer insofern ein Auserwählter, als er selber zum Boten geadelt wird. Wenigstens das Papier wird hinterher nicht mehr leer sein. Und wenn auch der Engel vergeblich auf Widerspruch, ja auf ein alttestamentarisches Ringen hofft, so ist doch am Ende nicht klar, ob er mit seiner Verachtung Recht behält. Im Gegenteil. Fast scheint es, als sei er, der Besucher, es, der durch uns Menschen an Größe verliert. Wenn wir entbehrlich sind, wer braucht dann die Engel? Und wer mißt die Lücken, wer wiegt das Gewicht der Welt?
Das Gedicht „Die Visite“ stammt aus dem Gedichtband Kiosk; es steht unter der Rubrik „Belustigungen unter der Hirnschale“. Das ist eine sehr enzensbergerische Überschrift, nicht nur wegen der anatomisch unterfütterten Ironie. Allemal aber wird unter diesem Titel vom Verlust gesprochen: vom Schwund solcher Worte wie Wollust, Entsagung und Seligkeit, vom Schwinden der Grazie und Fehlen der Gnade, von Waldhörnern, Beichtzetteln und anderen aussterbenden Arten – wie beispielsweise jenen „Frauen von früher“, denen die schöne Seele noch so gut stand. Natürlich bietet der Verse schmiedende Kioskbetreiber seine Verlustanzeigen ohne postromantischen Katzenjammer und ökologische Schlagzeilen feil. Er handelt nämlich mit einer List.
Denn kündet der Engel auch nicht mehr von unserer Einmaligkeit, so preist er doch die Vielfalt des Daseins: Gibt es etwas Tröstlicheres als die fünfzehntausend Schattierungen der Farbe Blau? Gnade, Grazie, Nimbus, Mirakel – all die verlorenen Worte sind im Spektrum des Blaus aufbewahrt, Marias Gewand, Benns blaue Stunde, von Himmeln und Heiligkeit gar nicht zu reden. Mag ja sein: wir wissen nicht mehr, was das ist, Himmel und Heiligkeit. Doch Hand aufs Herz, wer weiß denn schon, was der gemeine Froschlöffel ist oder der Feldspat oder die Große Magellansche Wolke
Erteilt diese himmlische Heimsuchung also eine Lektion in Sachen Demut? Nein, dieses Gedicht ist kein Zeugnis der Selbstzerknirschung, neun Zweizeiler lang spricht es von einem Kampf, den der Dichter gewinnt. Es ist ein metrisches Messen, ein Kampf zwischen Schweigen und Schreiben, den der Empfänger der Botschaft – in Tarnstarre wie ein bedrohtes Insekt – für sich entscheidet. Der Engel verschwindet, das Gedicht bleibt da.
Andrea Köhler, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2000
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