IM 31STEN JAHR
ich finde keinen wirklichen anfang
bin schon zu weit gegangen
türen sind aus den angeln gehoben
die eingerannten maskieren das fleisch
sind verwachsen die risse in der haut
kein zufall mehr
glas lügt wie gespiegelt
wirft ein nacktes gesicht auf mich
der augen blick bricht ab
hier breche ich
verliere tage an mich
eröffne früher das spiel
mit dem tod ist nicht zu rechnen
das glaube wer will
„die dörfer am ufer das meer“ Einige Sätze über Andreas Altmann. –
Sein erster Gedichtband liegt vor.
Wer ist dieser junge Lyriker?
Wo kommt er her?
Vor sechs Jahren lernte ich ihn kennen. Ein Telefonanruf – ein erster Besuch in meiner Schreibwerkstatt. Das war 1988 in Leipzig. Sein erstes Gedicht überreichte er mir mit den Sätzen:
Dieses Gedicht ist fertig. Daran ist nichts mehr zu ändern.
„Hoppla“, dachte ich, „entweder ist der junge Mann besonders sensibel oder besonders überzeugt von sich“.
Wochen und Monate folgten, in denen wir uns über seine Texte näher kennenlernten, uns Haltungen verdeutlichten, über Lyrik, Liebe oder Semantik redeten. Hinter der alltäglichen Stimme erhob sich eine zweite.
GEDICHT VORTRAG
ich stand steif vor der klasse
unter geröteter haut richteten sich
die worte in vorgeschriebener folge
meine stimme flattrig die gehißten fahnen
auf dem appellplatz wenn sich der wind
hinter der mauer überschlug
die tücher straff um den hals lagen
ein ernstes lächeln trat auf der stelle
finger spielten an der hosennaht
ein ruhiger himmel schwieg sich
im zimmer aus schwache betonung setzen
noch gut wo ich mich aufbaute
narbte kein stein
Der große blasse Mann, dessen Gesicht von einem langen rotblonden Lockenwust umwachsen ist, sah sich als Außenstehender in dem Staatsgefüge DDR. Keine Abhängigkeiten, keine Nähe, eine eigene Sprache.
Bleiben oder weggehen war oft die Frage, die wir diskutierten. Als er mir vor einer Reise im Sommer ’89 sein Solidarnosc-Abzeichen gab, war mir klar, er würde das Land verlassen. Nach seiner Rückkehr, vier Wochen später, sprachen wir über seine Pläne und vor allem seine neuen Texte.
Der anfänglich noch deutliche Anspruch des Genauwissenwollens wich zunehmend einer Haltung, die unsentimental von innerer und äußerer Befindlichkeit spricht. Außen und innen geht ohne Trennwände ineinander über.
RÜCKZUG
… ich erinnre mich dunkel heut nacht fährt
sicher mein zug jede spur fehlt von mir
am bahndamm sind die weichen gestellt
ich bin der einzig wartende gleich ist es
nach zwölf die fahrkarte abgelaufen
Dieser Lyriker formt was ihn erregt, beunruhigt, verunsichert, was unter seiner Haut sich einen Weg sucht. Er spricht ohne Scheu in einer Sprache, die um neue Findungen bemüht ist. Kaum wahrnehmbare Bewegungen werden beobachtet, genau und mit einem ausgeprägten Empfinden für Sprache auf’s Papier gebracht. Momentaufnahmen, Befindlichkeiten, Unwegsamkeiten werden Poesie. Mit dem Naheliegenderen der Wortbedeutungen bricht Altmann häufig. Träumer! Energischer, skeptischer, gelegentlich romantischer Träumer.
Dort, wo elegische Selbstironie den Ton bestimmt: „ein farbiger unpassender fleck / auf dem fußbreiten weg bin ich…“, bricht Altmann auf in eine respektlose Ungerührtheit, die ihm erlaubt sorgsam zu bewegen, was er an sich und in seinem Umfeld wahrnimmt. Erregtheiten sind nicht zufällig. Harmonische Bilder zerfallen und gewinnen durch den Grad des Zerfalls an Deutlichkeit.
Andreas Altmann schreibt in einer unpathetischen Sprache, immer wieder bedacht, die Ursprünglichkeit von Wortbedeutungen nahezulegen in einer Landschaft seiner Kindheit und Jugend, in einem Feld von Begegnungen gegen das Anzweifeln des eigenen Standortes.
Regine Möbius, August 1994, Nachwort
Andreas Altmann liest sein Gedicht „ein mann ohne schlaf“.
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