FRIEDHOF SAN MICHELE
die toten kommen übers wasser, bevor sie
in den steinen, in der erde liegen. zypressen
halten kalte wege, die im hellen licht vergehen.
und wo die erde sich dem himmel öffnet,
liegt Brodsky und liegt Pound. kreuze stehen
schief, marmorplatten sinken ein. der ort bewegt
die seelen, bricht den stein. und körperlos
fliegt neben ihnen ein vogel in den losen federn,
die am boden zittern. frische blumen welken
auf Stravinskys grab. und einer ist die blüte
abgebrochen. sie ist aus glas. du hättest weinen
können, als du der ballerinen abgetanzten schuhe
auf der begräbnisstätte Diaghilews siehst.
hinter der mauer hebt die wurzel eines knochen
baumes das skelett. ich seh es durch den boden.
unter schritten gehen mir die toten nach. künstliche
blumen versteinern in den augen weites feld.
lässt in seinem neuen Gedichtband die Magie in den Worten aufscheinen. Die Natur und die sich darin spiegelnden geistigen Dimensionen werden zu einem schwebenden Spiel aus Melodik und Rhythmik. Dabei entgehen dem Blick nicht die zivilisatorischen Brachen, leere Fabrikhallen oder stillgelegte Bahnhöfe, geborstener Beton, Rudimente einer vergessenen Zeit und Indizien einer Vergangenheit, die Teil des Naturbildes werden.
poetenladen, Ankündigung
Vorbei die Zeiten, als Novalis im Buch der Natur ein goldenes Zeitalter entdecken wollte. Doch geblieben ist der Poesie Natur als Chiffre, in der sich Gedächtnis und Geschichte kreuzen, als ein Raum, in dem Abwesendes als Erinnerungsspur festgehalten wird. Auch wenn die Natur durch das, was der naturforschende Mensch in sie hineintrug, irreversibel geschädigt worden ist, bleibt sie ein Refugium. Der Dichter Andreas Altmann gehört zu einer Generation, für die Täuschung Teil der Geschichte ist – einer Täuschung, der er im Elementarraum der Natur auf den Grund zu gehen sucht. Geboren 1963 im sächsischen Erzgebirge und mit einem Sozialismus groß geworden, der seine Natur erschließenden Versprechungen in Landschaften zerstörender Weise wahrmachte, fand Altmann auch in den Erinnerungskulturen des Pop kein Zuhause. Seit Mitte der 90er Jahre ist er zu einer der eindringlichsten lyrischen Stimmen avanciert, die für genau geschaute, tiefenscharfe Gedichte steht. Ihre Wahrnehmungsstreifzüge legen den doppelten Boden frei, auf dem Natur sich uns offenbart: dem von Geschichte und Erinnerung – und dem der Sprache, der Natur erst benennbar macht und uns zugleich wieder von ihr trennt.
Der Titel von Altmanns neuem Band, Die lichten Lieder Bäume liegen im Gras und scheinen nur so enthüllt diese Doppel-Natur. Er ist eine Einladung, den Fährten einer Erinnerung zu folgen, die aus dem Unscheinbaren ihre Evidenz bezieht. „Natur ist nichts als lauter Vergangenheit“ – dieses Novalis-Wort erproben Altmanns Gedichte:
eine taube lag geköpft neben
den schienen. im flug wurde ihr
der hals durchtrennt oder er kam
unter die räder. es roch nach benzin
auf dem bahnsteig. das erprochene
vor dem schaukasten war getrocknet.
sturm riss an den ästen, gab sie frei.
unsere gesichter waren angeschlagen.
die durchsage in den zügen ließ sich
nichts anmerken. die taube würde
niemand vermissen. in meiner kindheit
flog sie für den frieden, war weiß,
so etwas wird man nicht los.
Jan Volker Röhnert
Schon der Titel des neuen Gedichtbandes von Andreas Altmann – Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so – könnte als Gedicht gelesen werden. Er öffnet Räume und lädt ein, diese zu erkunden.
Das Gedicht „herzgegend“, welches den neuen Band eröffnet, enthält wie eine Ouvertüre wichtige Vokabeln, die im Band mehrfach wiederkehren und ihm Struktur verleihen: Schatten, Augen, Schweigen, Spiegel. Herzgegend könnte man auch den Resonanzboden nennen, aus dem heraus Altmanns Gedichte entstehen – ein Reservoir von Erinnerungen, Anschauungen und Emotionen, für welches er über zwanzig Jahre und neun Gedichtbände eine eigene existentielle Metaphorik entwickelt hat. Altmanns Gedichte entstehen nicht am Schreibtisch, sie entstehen beim Gang durch die Natur und durch Landschaften. Dennoch sind es keine reinen Natur- oder Landschaftsgedichte, wenngleich sie Elemente dieser Gattungen verwenden. Altmanns Gedichte untersuchen die Anatomie der Erinnerung. Natur und Landschaft werden nicht aus der Anschauung beschrieben, ihre Vergänglichkeit wird metaphorisch gedeutet.
Im Gedicht „herzgegend“ „atmen die worte ihr schweigen aus“, „wege… lösen sich unter schritten auf“. „erinnerungen häuten sich. immer wieder stellen sie mir ihre körper in den spiegel“, heißt es, „ich muss mich nur weit genug von ihnen entfernen, / dann kann ich sie sehen. und mich in ihnen / bewegen.“ Manche Erinnerungen kommen beim Gang durch die heimatliche Gegend um Hainichen in Sachsen herauf, andere beim Besuch der Hinterlassenschaften der Sowjetarmee im Märkischen Sand:
angeschossene klinkertürme sind gefallen, liegen
in ihren echos begraben…
… ich höre die vollbesetzten waggons,
als ich das herz an die schienen lege. so still liegt
die gegend in ihren erinnerungsgruben.
(„osterlandschaft“)
Was ist neu an den neuen Gedichten von Andreas Altmann? Auffallend ist, dass sich seine Farbenmetaphorik weiterentwickelt hat. Die Farben werden – wie bei Georg Trakl – immer deutlicher zum Informations- und Sinnträger: „dunkle vögel zwitschern ihre grünen lieder“ („lazarett“), „der blaue schnee hat die farbe des weißen lichtes“ („grenzweg“), „die klänge trugen schwarze federn“ („anatomie der erinnerung“), „ein grüner hauch weht durch den Augenschnee“ („altes licht“), erinnert werden auch „die appelle im roten tüchermeer“ („figuren“)
Ein weiterer neuer Aspekt ist die wiederholte Auseinandersetzung mit der eigenen Person: „du tanzt dir im spiegel etwas vor“ heißt es im Gedicht „im spiegel das fünfzigste jahr“. Auch dieses Gedicht hätte als Ouvertüre stehen können, da es Themen forciert, denen im Band immer wieder nachgegangen wird. Die Erinnerungen an den Vater ziehen sich als eine Art Suchbild durch die Gedichte:
ich such meinen schatten im licht,
das worte nach mir geworfen hat.
sie standen auf leeren seiten. sie waren verrußt.
… aus den worten sprach immer mehr schweigen.
(„der vater der heizer das kind“).
Neues Terrain betritt Andreas Altmann auch in anderen Gedichten. In „rede der alten frau“ beschreibt er in der Art einer Psychopathographie die letzten Stunden einer Sterbenden. In den Gedichten „venedig“ und „friedhof in san michele“ zeigt er, dass er auch eine touristische Landschaft sehr spannend erkunden und mit wenigen Strichen beschreiben kann.
Das Aufzählungsgedicht „jedes gedicht“, welches den Band beschließt, liest sich wie die erinnerte Biografie des eigenen Werks:
jedes gedicht wächst durch den spiegel
…
in jedem gedicht ist ein schweigen zu hören
…
jedes gedicht hat eine narbe
Altmanns „lichte Lieder“ gehören zu jenen Gedichten, die einem nachgehen. Beim wiederholten Lesen mischen sie sich ein. Viele dieser Gedichte sind Meditationen. Sie schwingen ein auf eine Kommunikation jenseits der Sprache.
Axel Helbig, Ostragehege, Heft 74, 2014
„Lichte Lieder zu leicht, zu schwer“: Andreas Altmanns Gedichte
Genau zu beobachten, Laute zu übersetzen und Mimik zu deuten, habe ihn seine Arbeit gelehrt. Andreas Altmann, 1963 im sächsischen Hainichen geboren, betreut in Berlin geistig behinderte Menschen. In unserer Kreativ-Hauptstadt fällt man mit einem solchen Beruf auf. Wer dagegen sagt: „Ich bin Dichter“, ist einer von vielen und hat es schwer, wenn er nicht zu den jungen Wilden gehört. 2011 hat Andreas Altmann deswegen eine Anthologie herausgegeben, die sächsische Dichterinnen und Dichter vorstellt. Thomas Kunst, Volker Sielaff und Ulrich Zieger sind dabei, aber auch Steffen Popp und Martina Hefter, die zum Kookbooks-Kosmos gehören.
Auf die lyrischen Welten jenseits der Berliner Pfade wollte Altmann damals aufmerksam machen. Seine eigenen Gedichte passen ebenfalls eher in die sächsischen Traditionen geerdeter, visuell stimulierter, sacht surrealistischer Poesie, zu den Schreibweisen eines Wolfgang Hilbig oder einer Sarah Kirsch. Das zeigt auch sein neunter Gedichtband: Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so. Wer dabei an Brecht denkt, liegt nicht ganz falsch. Allerdings löst sich die Assoziation nicht formal ein, sondern eher in Hinblick auf ein Dichten nach den deutschen Diktaturen. Altmann schreibt:
es sind figurenschatten, in die wir uns stellen.
ohne über die ränder zu treten, kommen wir nicht
weiter
Bei Altmann werden in diesem Sinne keine Gespräche „über“ Bäume geführt. Sie sprechen selbst, die Bäume. In sich gekehrt lauscht Altmann den Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, Gewalt und Gewissen, die Waldwege und verlassene Gemäuer gespeichert haben. Er reagiert auf sie mit einem achtsam nach außen gerichteten, zeitlosen Schauen:
bäume haben sich ihre schatten herausgerissen,
brennen im wurzelfeuer. holzasche über
geöffneter erde verstreut. Das licht der laternen
wurde durchtrennt. lose treibt es im augenwind.
die tür ist zugemauert, fenster sind verschweißt.
auf den scheiben liegen die nerven der blicke
blind. Hier atmen worte ihr schweigen aus.
Im Schrittmaß des Wanderers reihen sich die Sätze aneinander. Den komplizierten Zusammenhang von Erinnerung, Herkunft und Generationengespräch und die widersprüchliche Schönheit dieser Verse stiften die Bilder und Klänge. Allein durch die Längen und Laute der Vokale ergibt sich ein Text, der sich über das bloße Sagen der Verse legt. Das lange „e“ der „herzgegend“, so heißt das Eröffnungsgedicht, aus dem die zuletzt zitierten Verse stammen, taucht mitten im Gedicht in den „wegen“ wieder auf und ganz am Ende, wenn Altmann mit unseren Klanggewohnheiten spielt: „wie leicht mir das alles fehlt“, heißt es da – eben nicht, was aber mitklingt: „fällt“. So entsteht eine irritierende Mehrdeutigkeit, die uns doch geradlinig erreicht wie die Widmung, die den Gedichten voran steht: „Für Mutter und Vater“.
Mit Volksdichtung haben wir es hier in gewisser Weise zu tun und mit einem Poeten, der in barocken und romantischen Spuren seine Motive variiert: die Schatten, den Schnee, die Spiegel, das Licht, die Wege, das Meer und immer wieder Bäume und Augen: „dunkle vögel zwitschern ihre grünen lieder“ an diesem Ort, fernab vom schnellen Takt der Großstadt.
Man möchte sich verlaufen in den Bildwelten, die einem auf merkwürdige Weise vertraut sind, vielleicht aus Kindheitstagen. Zumindest gilt das für einzelne Gedichte. Als Buch aber fallen auch die Schwächen auf, die Monotonie der Parataxe die Häufung von Adjektiven und lokalen Präpositionen. Die Verrätselung wirkt irgendwann prätentiös:
hier sehe ich die versteinerten geräusche, die im spiegel
aus den augen gefallen sind
(…)
augentrost säumt
an den pfaden die ränder, über die ich ins
straucheln gerate
Man möchte die Bilder auseinanderziehen, Tautologien auflösen. Die beharrliche Wiederholung der einen Form bringt leider auf Dauer eine Unbeweglichkeit mit sich, die eigentlich nicht zu einem Dichter passt, für den die Poesie so sichtlich Ereignis ist.
In einem 2012 in der Literaturzeitschrift poet erschienenen Interview spricht poetenladen-Verleger Andreas Heidtmann Andreas Altmann darauf an, dass es in den Rezensionen zu Das zweite Meer ein Für und Wider bezüglich dessen Vorliebe für bestimmte, wiederkehrende Wörter gegeben habe – ein Umstand, der dazu führe, dass man ihn, wäre er Maler, als einen Maler mit einer schmalen Farbpalette bezeichnen könnte, der alles Grelle und Effektheischende meide.
Altmanns damalige Antwort:
Ich mag viele Worte nicht. Und noch weniger mag ich sie im Gedicht. Die meisten haben mir nicht lange genug gelebt. Und bisher scheinen die ,bestimmten Wörter‘ noch mit mir auszukommen. Ein Klavier beispielsweise hat auch nur eine bestimmte Anzahl von Tasten. Und was kann man für Musik darauf spielen.
Es stimmt, Andreas Altmann, 1963 im sächsischen Hainichen geboren, ist kein Mann der vielen Worte. Auch ich habe die Ballung bestimmter Wörter in seinen Gedichten (wie z.B. „haut“, „blick“, „himmel“, „baum“ / „bäume“, „licht“) bereits ausführlich thematisiert, kam dabei jedoch – im Gegensatz zu einigen anderen – zu dem positiven Schluss, dass diese starke Beschränkung im Wortmaterial zu einem sehr eigenen, geschlossenen Kosmos führe, in dem die Wiederholung das ausschließliche Ziel der Intensitätssteigerung habe. Es ergibt sich daraus eine zu vielen Seiten offenporige Geschlossenheit, die Altmann in meinen Augen zu einem legitimen Nachfolger Karl Krolows macht.
Altmanns jüngstes Buch, Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so, hat den typischen Altmann-Sound. Im Laufe der Jahre souverän geworden im Umgang mit seinem Vokabular (das er mit traumwandlerischer Sicherheit handhabt), tut Altmann, was er am besten kann: Er verbindet Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen mit einer vordergründigen Sachlichkeit, die seinen Gedichten oftmals einen dokumentarischen Anschein verleiht.
Das aber ist nur der erste Blick, ein zu schneller Blick. – Jedem, der tiefer liest und auch die früheren Gedichte kennt, dürfte auffallen, dass Altmann im neuen Band viel wortreicher zur Sache geht, dass außerdem viele der Gedichte einen offensichtlichen (auto)biografischen Bezug haben. Sie scheinen der Vermessung der eigenen Welt und damit einer Standortbestimmung zu dienen.
Altmann bezeichnet das seinen Eltern gewidmete Buch, das eine konsequente Fortführung seines lyrischen Werks darstellt, als sein bislang politischstes.
Dazu ein Textbeispiel:
GESCHICHTE IM LANDSCHAFTSPARK
wind zieht farben der gräser herunter. ein stein
löwe liegt auf der mauer mit geöffneten augen.
dahinter das skelett einer parteizentrale. wege
sind in beton gegossen. bäume verbinden sich
in zeitlosen geräuschen. blind stellen sie sich
entgegen. das große gewächshaus ist geräumt.
auf außenbeeten blühen winterastern. ein gang
unter die erde führt ins gebäudehirn. nur ein paar
schädelknochen setzen das gedächtnis zusammen.
der geist einer anderen welt. die wärmerohre sind
gekappt, ihre enden verschweißt. im himmel
rauschen starkstromleitungen. und knacken.
viele zäune sperren die schritte aus. auf den wiesen
weiden schafe. es sind nur schwarze unter ihnen.
Mit Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so ist Andreas Altmann ein großer Wurf gelungen. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Vieles steht zwischen den Zeilen, vieles findet sich im eigenen Kopf wieder.
Ein abschließendes Lob für das wunderschöne, von Miriam Zedelius stammende Cover-Artwork.
Jayne-Ann Igel: Produktive Irritation
signaturen-magazin.de
Jürgen Brôcan: Gedämpft melancholisch
fixpoetry.com, 18.3.2014
Andreas Altmann liest sein Gedicht „ein mann ohne schlaf“.
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