IM HAFEN.
Was ist das für ein meer in unsrer mitte,
wenn fischer und bootsbauer in ihre hütten
aaaaazurückgekehrt sind,
die leuchttürme langsam verwittern
und kinder auf rostigen schaluppen kentern,
altes angsteinflössendes mesopotamisches meer
der Phönizier Ionier Ägypter und Griechen,
meer des Odysseus aus Dublins gestorbenen in gay
aaaaaparis
altes meer der zum sterben gerüsteten inseln,
was für ein meer der bezichtigung,
der zerbrochenen tontafeln und der zersprungenen sprachen,
derart eingeschüchtert so verletzt,
so erschöpft von den wüsten aus stein an den küsten,
den küsten der giftigen schlämme,
in denen das hinterland über sein nichts triumphiert,
sein bombastisches blendendes scheitern,
das sich von Erynnien geführt in die flut stürzt,
wie grün es heut ist unter sprühendem niesel,
wie kobaltblau gestern als alles schon sommerte,
wie nüchtern, herr Dionysos, hat dein wein mich gemacht,
wie barfuss, herr Jesus, dein wandelndes wort.
Ulrich Zieger
– Nach-Denken über eine Anthologie. –
Es gibt eine andere Welt – der Titel dieser Anthologie neuester Lyrik aus Sachsen klingt hochgemut, ist entnommen dem Gedicht „Die sächsische Flut 2002“ von Volker Braun und doch auch programmatisch geborgt von jenem „attac“-Slogan, der den Mächtigen dieser Welt zuerst in Genua 2001 zu ihrem ,,G8“-Gipfel entgegenscholl. Zivile Courage, zivilisierter demokratischer Protest, zivilisatorische Verantwortlichkeit gegenüber dem Weltzustand – sind in diesen globalen sozialen Bewegungen womöglich Schnittmengen zuhanden, die mit einer historisch gewachsenen Eigenart sächsischer Kultur, Lebensart und Mentalität zu tun haben? Um dieser Vermutung nachzugehen, erscheint es unabdingbar, an einige kultur- und literaturhistorische Zusammenhänge zu erinnern. Wiewohl die Texte dieser Anthologie fast ausschließlich im 21. Jahrhundert entstanden, sind sie doch eingewoben in eine große und reichhaltige Tradition. Sachsen war seit der frühen Neuzeit eine Kernprovinz deutschsprachiger Poesie. Dass das Wirken Martin Luthers und das Aufblühen von Universität und Verlagslandschaft insbesondere in Leipzig korrelierten, dürfte gemeinhin bekannt sein. Schon weniger, dass die Lebensreise eines der großen deutschen Barockdichter, Paul Fleming, aus dem erzgebirgischen Hartenstein über Mittweida und Leipzig nach Tallinn, Moskau bis an das Kaspische Meer führte. Als 2009 ein Fleming-Lesebuch mit Texten von und über Fleming veröffentlicht wurde, war die Liste der in Sachsen wurzelnden Beiträger, u.a. Volker Braun, Róža Domasčyna, Peter Gosse, Kerstin Hensel, Kito Lorenc, Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher, nicht nur lang, erstaunlich war auch die Intensität, mit der sie sich mit dem lyrischen Werk Flemings ins Vernehmen setzten. Dies nun ist keineswegs einer verlegerischen Laune geschuldet: Flemings melancholiedurchwirkte Vanitas-Dichtung, die sich durch ihre kräftige Subjektivität von den Modeprodukten vieler Zeitgenossen abhob, in Verbindung mit sachter Sprach-Spiel-Lust, Weltneugier und erotischen Meriten, hat die Jahrhunderte überleuchten können. Gerade auch der Sachsen Auszug in die Welt sollte ein Paradigma stiften. In Gedichten etwa von Peter Gosse, Thomas Rosenlöcher oder Richard Pietraß ist im Changieren zwischen Bodenhaftung, Sprachmäandern und mondialem Begehr fast immer auch ein kräftiger Schuss barocker Ingredienzien à la Fleming schmeckbar. Dieses Zusammensehen ist mit großer Wahrscheinlichkeit verantwortbar für das Phänomen, dass die Wellen rein sprachbezogener Textverfertigung, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vorzugsweise aus Österreich die deutsche Lyrik überschwemmten, allenfalls Poetiken berühren, nicht aber die Konturen einer Literaturlandschaft bestimmen konnten. Selbst noch die Sprachblätter eines Carlfriedrich Claus durchweht mehr der Geist der Blochschen Utopie als der Wittgensteins.
Als sich im 18. Jahrhundert in den sächsischen Landen Zentren der Aufklärung wie auch des Pietismus herausbildeten, hatte dies weitreichende Folgen: Klangvolle Namen wie Lessing, Gellert, Goethe, Schiller waren von nun an mit der sächsischen Literaturlandschaft verbunden. Die diesen Dichtern eigene Symbiose von Weltläufigkeit, kritischer Reflexion und dem Pochen auf höchste ästhetische Standards sollte über die Jahrhunderte hinweg maßstabsetzend sein, bis hin zur „Sächsischen Dichterschule“ im 20. Jahrhundert und der aktuellen Lyrik. Hinzu kommt, dass sich Leipzig, Dresden und Zwickau seit dem 17. Jahrhundert auch zu Zentren europäischer Kunst- und Musikkultur entwickelten, mit weitreichenden Synergieeffekten im Austausch der Maler, Musiker, Literaten untereinander, aber auch mit tiefergehenden Wirkungen auf die sächsische kulturelle Identität. Von einer „Weichheit des kulturellen Verlangens, eine(r) Anschmiegsamkeit an große europäische Weltkultur“ spricht treffend Durs Grünbein.
Und noch ein Moment kann nicht außer Acht gelassen werden: Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763, 1813 aufgrund verspäteten Seitenwechsels gegen Napoleon und 1867 in der österreichisch-preußischen Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im sich abzeichnenden Deutschen Reich standen die Sachsen stets auf der Verliererseite. Die damit verbundenen mentalen Prägungen förderten nicht gerade staatstragende Panegyrik, sondern eher Ziviltugenden wie Renitenz und Skepsis gegenüber den Verheißungen der jeweils Herrschenden, und sie verstärkten sicher auch die Momente der Selbstironie und Melancholie, die dem sächsischen „Gemüt“ nicht ganz zu Unrecht zugeschrieben werden.
Springt man in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist eine lose Dichtergruppierung hervorzuheben, der die Herkunft in den Namen eingeschrieben wurde: Die „Sächsische Dichterschule“ (Adolf Endler) bestimmte seit den sechziger Jahren die hohen ästhetischen Standards der Lyrik aus der DDR und strahlte auch auf die Dichter der nächsten Generation aus, etwa auf Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher und Kerstin Hensel. Wiewohl sie als Gruppe Mitte der siebziger Jahre zerfiel, so war doch schwerlich an der Dichtung – um nur einige Namen zu nennen – der Dresdener Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel, B.K. Tragelehn, des Plaueners Bernd Jentzsch, des Oelsnitzers Reiner Kunze, des Meißener Wulf Kirsten, der Leipziger Peter Gosse und Adel Karasholi vorbeizusehen. Sie verband in ihren poetologischen Maximen der enge Aufeinanderbezug von Leben und Schreiben, von geschichtlicher Vergewisserung, politischem Insistieren, erotischem Begehren, sinnlichem Lebensdetail und ästhetischer Reflexion. Signifikation von erfahrener Welt und immenser Kunstanspruch bildeten eine Einheit. Diese Dichter sind in der vorliegenden Anthologie präsent – wen wundert es bei ihrer anhaltenden Produktivität.
Abschließend sei in dieser kleinen lyrikgeschichtlichen Reihe auf den 2006 gestorbenen Solitär Wolfgang Hilbig verwiesen, dessen Epiphanien der Heillosigkeit, Labyrinthe der Zermarterung, ,,Saturnische Ellipsen“ mit schier alttestamentarischer Wucht überwältigen. Der hohe, pathosbestimmte Ton des gebürtigen Meuselwitzers hatte bereits in den achtziger Jahren jüngere Lyriker wie Jayne-Ann Igel, Ulrich Zieger oder Tom Pohlmann inspiriert, nun setzt er sich in gewisser Weise in Gedichten von Uwe Tellkamp oder Steffen Popp fort.
II
Um die Zusendung neuer Gedichte hatten die Herausgeber Lyrikerinnen und Lyriker gebeten, die entweder in Sachsen geboren, zum Teil auch aufgewachsen waren und die es später woandershin zog, oder die immer schon im Sächsischen lebten, aber auch jene, die erst in den letzten Jahren dort ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. Diese Anthologie ist also schwerlich als eine von „Heimatdichtern“ zu apostrophieren, zumal das sächsische Idiom allenfalls als Zitat in das Gedicht hereinklingt – dann aber kräftig, man sehe bei Kerstin Hensel oder Volker Braun nach. Die Liste der „Weggegangenen“ indes ist lang, und sie ist mitnichten vorwiegend der landestypischen Umtriebigkeit geschuldet. Vielmehr spiegeln sich in den Umständen der Ortsentfernungen die geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Peter Härtling oder Guntram Vesper trieb es in der Nachkriegszeit als junge Menschen in Richtung Westen, wo sie mit großem Erfolg ihre beruflichen und literarischen Karrieren starteten. Eine andere Gruppe von Autoren eint das düstere Schicksal, in die Fänge des politischen Strafrechts in der DDR geraten zu sein: Ulrich Schacht, Siegfried Heinrichs, Siegmar Faust, Utz Rachowski, Jürgen Israel, Andreas Reimann, Gerald Zschorsch, Salli Sallmann saßen in den sechziger bzw. siebziger Jahren aus politischen Gründen in DDR-Gefängnissen ein – eine einschneidende Erfahrung, die sich auch in ihrem lyrischen Werk spiegelt. Sie wurden – bis auf Andreas Reimann und Jürgen Israel, die sich für ein Bleiben in Leipzig entschieden – von der Bundesrepublik freigekauft und von ihr aufgenommen. Wieder andere Autoren wie Reiner Kunze, Bernd Jentzsch, Bernd Wagner wurden in den kulturpolitischen Turbulenzen um die Biermann-Ausbürgerung 1976 mehr oder minder freiwillig zur Ausreise bewogen. In Volker Brauns Gedicht „Dresden als Landschaft“ aus den achtziger Jahren heißt es: „Mickel Czechowski Braun Tragelehn / Exilieren nach Preußen“ – in den Berliner „Transitraum“ (Durs Grünbein) sollten nach ihnen besonders viele der jüngeren Lyriker folgen. Andere verschlug es in die USA (Gabriele Eckart), nach Schweden (Ulrich Schacht), nach Darmstadt (Kurt Drawert) oder Montpellier (Ulrich Zieger). Und selbstredend sind viele der Beiträger seit Jahrzehnten im sächsischen und sorbischen Raum ansässig geblieben.
Diese Anthologie ist in gewisser Hinsicht eine Autorenanthologie: Die Herausgeber wählten nicht aus Gedichtbänden aus, sondern baten Dichterinnen und Dichter um neue Texte, aus denen sie höchstens vier für die Sammlung auswählten. Diese Beschränkung bot die Möglichkeit, ein Spektrum sächsischer Lyrik zu präsentieren, das auch Entdeckungen zulässt, gerade wenn ein Autorenname zunächst nicht vertraut erscheint. So ergeben sich unvermutete Korrespondenzen, die der Leselust überlassen bleiben mögen, zumal Andreas Altmann und Axel Helbig sich für eine grobe Binnenordnung nach Motiven entschieden, so dass motivähnliche Gedichte in der Lektüre gleichsam in ein Gespräch eintreten können.
III
Lyrik als gebundene Rede in Versen ist inkommensurabler Gedächtnisort, Traumspeicher, Sprachkonzentrat von Wahrnehmung, Empfindung, Vision und Reflexion, ist auch „Anderswelt“ (Alban Nikolai Herbst), auf jeden Fall aber auf ein „Vernehmen aus“ (Paul Celan). Fragen wir also nach Selbst-Vergewisserungen und Welten in der Lyrik, nach Erkundigungen und Erkundungen sächsischer Poesie im 21. Jahrhundert, wie sie diese Zusammenstellung offeriert. Da Gedichte aufeinander reagieren, in Rudeln auftreten und als Sammlung im besten Falle etwas unterscheidbar Charakteristisches vermitteln, ist durchaus die Distinktion unterlegt, inwieweit dieser Poetenladen von einer Anthologie deutscher Gegenwartslyrik sich abheben würde. Auf den ersten Blick dünkt ein solches Unterfangen entmutigend: Zu viele der vertretenen Autoren repräsentieren die deutschsprachige Gegenwartsdichtung schlechthin: Thomas Böhme, Volker Braun, Kurt Drawert, Peter Gosse, Durs Grünbein, Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig, Wulf Kirsten, Barbara Köhler, Thomas Kunst, Reiner Kunze, Richard Pietraß, Andreas Reimann und etliche andere sind längst von Standardanthologien wie dem Conrady oder dem Echtermeyer kanonisiert. In dieser Anthologie aber entstehen andere Kontexte, die weniger auf Repräsentativität denn auf Authentizität verweisen, und sie entstehen durch eine bemerkenswerte Stimmenvielfalt, in der auch ganz neue Stimmen vernommen werden wollen. Auf einige wiederkehrende, tragende oder grundierende Motive und Intentionsbögen sei deshalb aufmerksam gemacht.
Schon in den siebziger und achtziger Jahren ließen Gedichte sächsischer Autoren aufhorchen, die die Verheerungen der mitteldeutschen Braunkohlenlandschaft als Großmetapher für die Gefährdung unserer Zivilisation aufgriffen. Volker Brauns „Bodenloser Satz“ oder Wolfgang Hilbigs geschichtssattes „das meer in sachsen“, das nicht zufällig der Anthologie vorangestellt ist, umkreisen eindringlich die finalen Konsequenzen von Natur-und Selbstverwundung des Menschen im Namen des Fortschritts. Hilbigs Großgedicht endet mit den apokalyptisch anmutenden Versen:
ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen
es verschlingt die arche
stürzt den ararat.
Gewiss, die Rekultivierungsprojekte in den Tagebaulandschaften, die Rekonstruktion der historischen Bausubstanzen in sächsischen Städten nach 1990 hatten diese düsteren Befunde in den neunziger Jahren in den Hintergrund von DDR-Geschichte treten lassen. In Texten nach dem Jahr 2000 sind sie allerdings wieder als durchscheinende Folie präsent. Was ist passiert? Nach den Wellen der Deindustrialisierung und der Einverleibung ehemals staatlicher Ländereien, Immobilien, Produktionsmittel durch Nicht-Ostdeutsche in den neunziger Jahren trat nun ein neues Moment hinzu: Der neoliberale Globalisierungsfuror potenzierte die existentielle Befindung von Unbehaustheit. Es ist auffällig, wie oft und wie dringlich dieses nun globalisierte Unbehagen in Gedichte eingeschrieben ist, die das Verhältnis von sprechendem Ich und Welt ausloten. Durs Grünbein fand hierfür das eindrucksvolle Bild vom – so auch der Titel des Gedichts – „Astronaut im Oktober“, das anhebt:
Er war weit draußen, wochenlang im Schwerelosen,
Wo er nicht heimisch wurde zwischen Kabeln und Modulen.
Hamster im Laufrad auf milliardenteurer Raumstation,
Trieb ihn ein Wort nur um: Mission, Mission.
Nun kehrt er wieder in die Welt, so wie sie ist. Verkorkst,
Und kein Stück besser als die Welt, die er verließ.
(…)
Das Wort „Mission“ ist im Gedichtkontext von jeder missionarischen, visionären oder utopischen Konnotation bereinigt und ganz auf pragmatische Funktionalität heruntergedimmt. Da aber mal ein Anspruch da war auf eine gerechtere, menschengemäße Welt, ein Anspruch, der gerade in Sachsen im Herbst 1989 freudigste Lebenserfahrung war, fallen Resümees auch bei anderen Dichtern vergleichbar düster aus: „Schwarz fährt die Hoffnung und weiß nicht / Wo steigt sie aus“, heißt es bei Kerstin Hensel, und Radjo Monk konstatiert in „Stellung Eine Welt“:
Die Frage, woher das Dunkel gekommen ist, bohrt sich in den Augenblick und
dehnt ihn bis zum Südpol
Ulrich Zieger nimmt Hilbigsche Motive direkt auf und deklamiert in biblischem Ton:
was für ein meer der bezichtigung,
der zerbrochenen tontafeln und der zersprungenen sprachen
„Welt entwundert“ (Volker Braun) allenthalben. Gerät dabei die nähere Landschaft in den Blick, sind sowohl die verrotteten sowjetischen Truppenübungsplätze (Ulrike Almut Sandig, Thomas Rosenlöcher) als auch die Abbrucharbeiten der letzten beiden Dezennien zu besichtigen, etwa bei Jayne-Ann Igel, Ralph Grüneberger oder Andreas Altmann:
die nahe fabrik ist geräumt. Und
die mauern beginnen, sich ein geheimnis zu suchen.
es wird erzählt, sie haben maschinen im see versenkt. (…)
Es sind luzide, oft traumdurchwirkte Textlandschaften, die nicht von ungefähr einen Hilbigschen Ton aufnehmen. Durchaus im Gegensatz zur neuen Berliner Naturlyrik (Monika Rinck, Ron Winkler u.a.), die es sich leisten kann, angesichts weitgehend intakter Natur in der näheren Umgebung ihr Zeichenreservoir für eher philosophische Konstellationen des Mensch-Natur-Verhältnisses in ihren Verkehrungen zu aquirieren.
An vielen Gedichten fällt auf, dass, wenn die rasanten Umbauten von Landschaften und Biographien nach 1990 in den Fokus geraten, dem Irrwitz der Geschichte mit allen Spielarten des Komischen, von feingezeichneter Ironie bis zum schrillen Hohnlachen, begegnet wird. Sarkastisch etwa B.K. Tragelehn:
Shoppen und Ficken goldener Zeitvertreib
Dauernd der Lärm die Stille rasend Wer
Niemals zuvor gelacht hat lacht jetzt sehr
Und wer stets lachte lacht jetzt um so mehr
Ironisch, mit Seitenblick auf Hilbigs „das meer in sachsen“, Thomas Kunst:
In Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben:
Das Meer nimmt hier am Bahndamm seine letzte Hürde,
Ich ahme den Gang von Fliegen nach und werde weise.
Ach, Böhmen am Meer (Shakespeare/Bachmann) und Sachsen auch, und immer noch befeuert das Urbild ozeanischer Entgrenzung die Imagination jüngerer Lyriker:
wenn sich ein wind erhebt
und die planen in deinen straßen
wie segel gegen die fassaden schlagen,
dann ist es,
als wolltest du davon fliegen,
fort von dieser trübnis,
fort von dieser vergangenheit
und stadt am meer sein,
mit schonern im azur,
statt kraftwerken am horizont.
(André Hille, „leipzig 3“).
Nur, es kann eben kein schnelles „fort von dieser vergangenheit“ geben. Wenn Uwe Johnsons Kontrapunkt zu Ernst Bloch wahr ist, dass „Heimat ist, wo die Erinnerung Bescheid weiß“, dann nehmen viele Autoren die Bürde einer damit verbundenen Beunruhigungsarbeit auf sich, um ein Stück weit Heimat wiederzugewinnen. Sei es das lyrische Erinnern an Kindheitsorte wie „Frohburg, von Manhattan aus“ (Guntram Vesper), an den „russenwald“ (Ulrike Almut Sandig), sei es ein „Besuch in Hartmannsdorf (Sachsen) nach vierzig Jahren“ (Peter Härtling). Gleichnamiges Gedicht hebt mit den Versen an:
Da wirft meine Vergangenheit
einen Kinderschatten.
Ihr habt ihn
nicht wachsen sehn.
(…)
Bemerkenswert ist auch die Vielzahl von Epitaphen auf verehrte Dichter: Auf Bernd-Dieter Hüge (André Schinkel), Heinz Czechowski (Walther Petri), Heiner Müller (B.K. Tragelehn) und gleich vier Gedichtnachrufe auf Wolfgang Hilbig (Jürgen Israel, Thomas Kunst, Siegmar Faust, Jörg Seifert). Benannt werden müssen aber auch Wunden, die sich nicht nicht schließen lassen, die Zerstörung Dresdens etwa (bei Volker Braun, Heinz Czechowski, Christian Lehnert), Erfahrungen der Überwachung, des Verrats, von Gefängnis in der DDR, wie sie in Gedichten von Utz Rachowski, Bernd Jentzsch, Andreas Reimann oder hier bei Siegfried Heinrichs aufgerufen werden:
(…)
Traurig ist mein Weib, traurig, weil ich nur
Verse schreibe
und mehr nicht;
Verse vom erschossenen Vater,
vom Verrat des Bruders, den Verhören, Gefängnissen
und den Jahren, später, im Dorf,
und den Städten, später,
und den Frauen, später,
die nicht verrieten,
(…)
Einen breiten Raum in dieser Anthologie nehmen poetische „Ausfahrten“ ein. Warum das so ist, darüber kann nur gemutmaßt werden. Sicher, „der Sachse liebt das Reisen sehr“, verkündete schon das allbekannte „Sachsenlied“ von Jürgen Hart aus den achtziger Jahren. Ob „Libellen in Liberia“ (Durs Grünbein), das „Seouler Straßenbild“ (Reiner Kunze), ein „Brief vom Yukon“ (Gregor Kunz) oder „Die Unstrut bei Naumburg“ (Volker Ebersbach) die lyrische Phantasie entzünden – um versifizierte Reisepostkarten handelt es sich dabei in den wenigsten Fällen. Vielmehr befördert die Erfahrung der Fremde existentielles Innehalten und neugierige Kontaktnahme mit der anderen Kultur. Es ist sicher kein Zufall, dass dabei gerade dem unmittelbar östlichen Nachbarn größte Aufmerksamkeit zuteil wird, etwa in Gedichten von Kristian Pech, Undine Materni, Róža Domasčyna.
Traditionell haben Ausfahrten in die Natur einen festen Platz in der sächsischen Lyrik, man denke nur an die Dresdener Zeitschrift Die Kolonne, die zwischen 1929 und 1932 zu einem Zentrum der deutschen Naturlyrik avancierte. Akzentuierten die Lyriker in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Natur als „durchgearbeitete Landschaft“ (Georg Maurer), in den achtziger Jahren im Warngedicht die ökologischen Katastrophen der Spät-DDR, so erscheint Natur in den neuen Gedichten wieder vorzugsweise als Kontemplationsraum, wenn sie nicht, den Schmerz der Entfremdung in Worte fassend, als „ein unter die Gürtelfederlinie gehender Scherz“ ( Saskia Fischer) apostrophiert wird. Charakteristisch für eine in etlichen Gedichten zuhandene Auratisierung im Verhältnis zur Natur sind etwa Verse aus einem Gedicht von Ulrich Schacht:
(…)
das ist der Traum, der sich
verspielt im Schauen: auf reines
Licht und abgrundlosen
Schein ein Bild an dem wir
uns erbauen: Nur um zu
sein.
Die zu beobachtende Wiederkehr des Erhabenheits-Gestus’ in der Naturlyrik ist aber weniger, wie im 18. Jahrhundert, der Feier der Natur geschuldet, denn nicht unberechtigten Verlustängsten, derweil das Zerstörungswerk an unserer inneren und äußeren Natur jenseits kosmetischer Beruhigungen ungebremst weitermahlt. „– ich kann nicht erkennen, ist es die Welt / in ihrem Sinken, die dieses Garn aus meiner Haut zieht / oder nur ein verlorener Dämon / ein Plastikreptil aus den Jahren der Kindheit.“, heißt es schlusshin im Gedicht „Diese Erinnerung endet am Meer“ von Steffen Popp.
Es wäre unberaten, dieses Stöbern in den Schätzen der Anthologie zu beenden, ohne wenigsten auf die gelungene Fortführung einer Tradition sächsischer Dichtung seit dem Barock zu verweisen: So wie sich im wachen Sprach-Einholen von alltäglicher Wahrnehmung in der Gedicht-Versammlung Eine Perle aus dem Rätsel meines Fleisches brach eine ungebrochene Sensualität fortschreibt, die bezüglich ihrer meist zugezogenen Verfasser bereits als „Neue Leipziger Schule“ (Lars Reyer, Carl-Christian Elze, Kerstin Preiwuß, Sandra Trojan, Martina Hefter u.a.) delektiert wurde, so sinnenprall begegnet die neuere erotische Dichtung aus sächsischen Gefilden. Es gibt ja nicht von ungefähr das geflügelte Wort, wonach in „Sachsen die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen“. Peter Gosse, der sich immer schon nicht scheute, an das Sprachtänzelnde der Barock- und Manierismus-Lyrik anzuknüpfen, zelebriert die Feier des Erotischen: „(…) Da Du die Hohest-Erregung in das Mysterium lila / Aufblauend aufgehen sahst, sahe, geblendet, auch ich.“, heißt es in „Siebthimmel“. Oder Gerald Zschorsch, der in „Spätsommer” apodiktisch meißelt:
(…)
Wer Schönheit trägt, verliert das Herz.
Wer Schönheit sieht, gewinnt eines.
Sie schrie, wie eine Schwalbe segelt.
Hier nun kann ein Bogen gerundet werden mit Versen aus einem der großen Gedichte aus dem neuen Jahrtausend, die gleichsam zusammenziehen, was das Unverwechselbare dieser Anthologie auszeichnet: dass sich plebejische Haltung und höchster Kunstanspruch, Geschichtsbewusstein und Aufmerksamkeit für Lebensmomente, pure Sinnlichkeit und philosophisches Zweifeln, melancholische Ironie und visionäres Trotzdem im Gedicht verbünden können. Es sind Verse aus Volker Brauns atemraubendem Gedicht „Die sächsische Flut 2002“, denen der anspruchsvolle Titel dieser Blütenlese entnommen wurde:
(…)
Die Landschaft der Liebe Schlamm
Auf den Laken.
Und Dresdens feuertrunkene Tote
Schwimmen nach oben wassersüchtig
So rasch gommdr ni davon/Im Lehm und Tod ni
ES GIBT EINE ANDERE WELT und so sieht sie aus;
Die albträumende Menschheit
Wir Menschen sind nah am Wasser gebaut
Und verdichten den Boden
Undurchlässigste
Kreaturen.
(…)
Peter Geist, Nachwort
ein Land der Dichter. Das ist immer wieder einmal zu hören oder zu lesen gewesen. Mit der vorliegenden Anthologie haben die Herausgeber versucht, dieser begründeten Vermutung nachzugehen. Dabei ist ein gleichermaßen lesbares wie umfassendes Gedichtbuch entstanden, das die Qualität eines Standartwerks besitzt. Es bekennt sich zu seiner literarischen Verortung in Sachsen und zeigt doch zugleich ein überregionales dichterisches Panorama auf. Der Leser mag staunen, wie viele Dichter ihm hier begegnen, die die deutschsprachige Gegenwartsdichtung schlechthin repräsentieren,
peotenladen, Klappentext, 2010
Und kommt der Sachse nach Berlin, da sucht er eine Bemme,
der Preusse, immer auf dem Kien, sagt: Hier ist Ihre „Pemme.“
Da zieht sich der Sachse an den Weiher seines Weilers zurück,
und ihn schüttelt’s.
frei nach Jacob Grimm
Der folgende Versuch soll meinem ersten Umherwandern in der Anthologie Es gibt eine andere Welt gelten, deren Beleg mich, von Andreas Altmann und Axel Helbig im Poetenladen Leipzigs herausgegeben, vor ein paar Tagen hier im steinigeren Süden erreichte. Gleich anschloss sich eine liebenswerte Befragung, das druckfrische Buch noch in sich verschweisst, durch eine junge Praktikantin mit I-pad, in der es um Freundlichkeit des Empfangs, sowie Funktionalität und Sauberkeit des Postamts ging. Da ich heutzutage nicht mehr so oft auf die Post gehe, fühlte ich mich in Vorfreude auf die Lektüre und stattfindender Realität sofort an meine Waldheimer Kindheit erinnert. Für einen Augenblick stand ich quasi wieder mitten in der einstigen Perle des Zschopautals mit ihren gelben Streifen auf den grauen Jacken, mitten in der augenblicklichen Kälte des internationalen Klimawandels auf der nach oben offenen Richterskala.
Derart beschwingt will ich gern bleiben, denn Friedensfahrer müssen diese Anthologie zusammengestellt haben, die ein Nachwort von Pete Spirit krönt wie ein federnder Dutt in Form einer ledernen Sturzkappe. Ein lang gestrecktes Hauptfeld tritt in die Pedale und spricht miteinander im Wirbel des Aufbruchs, nur wenige Ausreisser, wenige Schlusslichter, kaum jemand im Strassengraben. Ein Chorwerk aus den Einsamkeiten der „Cellosonaten“ Bachs, und aller Bäche, schwingt sich, auf schmalen Brücken mit dem Schwindel zwischen Flut und Stillstand spielend, zur Passion in die Höhe. Ein Völkchen, dem in meiner Kindergartenzeit noch angedroht wurde, bei auffälligem Schwatzen ein Heftpflaster auf den Mund geklebt zu bekommen, nimmt augenscheinlich kein Blatt mehr vor denselben und stirbt deshalb sicherlich bald aus.
Das Buch liegt jetzt vor mir auf dem Tisch, ich entscheide mich dazu, auch weiterhin frei aus ihm zu zitieren, ohne jedes Mal die Quelle für den Fliesstext anzugeben. Man findet sie im Abspann alle ganz leicht wieder, soll es sich doch bei meiner kurzen Wanderung nur um eine Reihe stiller Betrachtungen handeln. Und ausserdem ist ganz Sachsen von Quellen gesprenkelt. Als Junge, vom Spiel überhitzt, habe ich selbst noch aus mancher von ihnen getrunken, und oft einer Quargbemme entsprechende Mengen der üppig wuchernden Sauerlumpe dazu verschlungenen. Zum Nachtisch saugten wir Nektar aus einer mir namentlich heute nicht mehr geläufigen, zartblauen Blume. Und so wächst man dann auf, in erzener Luft, in der Hoffnung, wenn es Frühling wird nicht an den Sommer zu denken.
Die vorliegende Anthologie konstatiert solche Dinge mit schöner Gelassenheit. Und ohne Heimatklang schamhaft zu unterdrücken, quirlt da ein in der Breite weitläufiger, und vertikal sogar ein donnernder Diskurs an unsre abstehenden Ohren: Sachsen ist ein Land scheusslichsten Wetters, tagelang strahlt nacktes Sonnenlicht gegen die Erde, dann wieder wochenlang eisiger Regen, fressende Kälte. Ich gebe das hier so freimütig preis, weil ich eigentlich nur väterlicherseits selbst Sachse bin. Zur Mütterlichen bin ich Anhalt. Denn die wütenden, maulenden Sachsen mussten gestoppt werden, auch in mir, sie sind zu verrückt für den abstrakteren Norden, der ganz ähnliche Kurven auf sein Millimeterpapier strichelt, ohne dabei jedoch gleich zu explodieren. Aber so ist es eben im Lähm, das kommt von tief innen, aus alten Tiefen, aus Bergwerken und Tagebauen, von Abraumhalden und gleissendem Winterlicht auf blass überfrorenem Geäst, von verlassenen, rostigen Gleisen und unter ihrer pappenden Schneelast ächzenden Satteldächern. Und von den fernen Schreien schwarzer Vögel in Zeitlupe, einen Zettel im Schnabel, den Schreien einsam in ihren Häusern verzweifelnder Frauen, über Gasherde gebeugt, und es kommt aus den Tiefen eines knorrigen, kauzigen Humors, der angesichts der Ewigkeit nicht wirklich schwarz wurde, aber aschgrau, von dunkelster Asche. Die Sachsen sind, denkt man da vorschnell, allumfassend und unverstanden. Sie ehren ihre Ahnen, sind in sich gekehrt und eitel. Wie alle Autochtonen und ihre Beutegermanen sind sie leicht zu kränken, da ihre Individualität, die streng gehütete, sie doch stets wieder an die Stammessitte bindet. Da sind sie nun, so hingeklatscht wie einfach alles eben da ist, aber da ist ja nichts: Die Kinder tun sehr wichtig mit dem Nichts.
Ich sage es klar und laut, so wie e Neescher, der ich dort meiner mütterlichen Dunkelheit wegen, eher freundlich begrüsst wohl, einst gewesen sein muss – würde man die Namen und Herkunftsorte der meisten in dieser Anthologie Versammelten untereinander austauschen oder durchgängig weissen, es erschiene das Ganze als das Lebenswerk eines einzigen, überaus facettenreichen Dichters, leicht androgyn womöglich, aber das ist nicht so wichtig, der im Laufe seines Erdendaseins von Töppeln oder Oschatz aus, über Hainichen, Rochlitz und Wippra, über Sporbitz, Doberlug-Kirchhain und Radebeul bis ins Gewimmel des Dresdner Naschmarkts hinein, und später dann über Meissen, Wilkau-Hasslau, Nossen, Grossbothen, Mittweida, Grossenhain, Hartha und Schweikershain bis nach Leipzig mehr schleuderte als ging: Sing, mei Sachse, sing dein stilles, dein trunkenes Lied hinauf in den Sternenlaich über dem treibenden Mondfisch, brenn dir aber vorher eine an, denn Sanduhren öffnend steht da der Tod mit dem Glasbläsermund auch nach Jahren noch an Haltestellen, und noch die Apfelblüte ist dem Eis verwandt, ein dunkler Himmel blüht in den Veilchen auf, dort hinterm Prellbock auf der Niemandsschneise. Alles in Sachsen, so scheint es dann, ist Selbstverbot und reine Sinnlichkeit, alles ist gleichzeitig Verlassenheit und Fülle, alles umrankt sich und durchdringt einander wie Brombeergesträuch und Taubnesseln, echte und falsche Lupine, wie poröse Autoreifen, eingesunkene Ziegelsteinmauern, frei rollende Zinkeimer und angeschlagene Emailschüsseln, in deren Regenwassertümpeln Kaulquappen und Wasserläufer zucken. Das muss mit der Naturverbundenheit des Urvolks zusammenhängen, einer seit Jahrhunderten klug kultivierten Natur aus Hainwäldern und grünen Auen, und ihrem Scheitern im Industriezeitalter. Und mit seinem alten Leidensweg vom Rauhmeer in den slawischen Südosten Deutschlands, seiner Weltfremdheit, im nobelsten Sinne des Wortes, die auch Weltverachtung ist: Der Himmel wölkt, wo geht die Reise hin? Denn an der Eberesche hält man ja gleich wieder inne, am Birnbaum, den schrundigen Pappeln, man sinkt in Schleierkraut, das in der Sommernacht erglomm wie ein verflogner Weihnachtsengel…, trifft auf den Feuersalamander und sein Köpfchen mit den leeren Augen, und an der Zwölfapostelbuche lehnt ein Kind mit einem Stecken. Das alles kenne ich, das ist wie eine Schiffsmühle in den Unstruten und Mulden meines Herzens verankert. Wie ich den Schachtelhalm, wie Hirtentäschel, Güldenpfennig, Schafgarbe und das für immer unschlagbare Buschwindröschen um mich her vermisse, dieser duftenden Wiesen und Wäldchen entbehre, darinnen es kribbelte und krabbelte, darinnen wohl noch immer das rätselhafte Männlein im purpurnen Mantel steht und einsam in den blauen Baldachin der Stratosphäre bläkt, dass es doch auch schon seit langem ni mehr gann. O ja, das Grün im Maiwuchs, helles Grün der Hoffnung und Verzweiflung, des Erbarmens und Zusammenbrechens. Hätte Durs Grünbein in seinem Oktobergedicht nicht vom „Astronauten“, sondern vom „Kosmonauten“ gesprochen, so hätte sich Deutschland sogar einmal ohne Verhaltung vor dem ehemaligen Sternenflieger Siegmund Jähn verneigen dürfen. Aber zwischen gestern und morgen tut sich bis heute kein intergalaktisches Wurmloch auf: Das Tunnel, wie mein Vater zu sagen pflegte, war nicht einmal ein Tunnel, sondern eine einfache Eisenbahnunterführung, worunter ich stand, um dem Donnern der Züge zu lauschen. Im Übrigen betonen Sachsen das Wort Tunnel gern deutsch-französisch, also das Tunnell. Weltoffene Menschen durchschreiten den Acheron gar. Man muss sie aufhalten, man muss ihnen Visa erteilen. Und so tauche ich noch einmal in das Grün des Mühlgrabens ein, verboten nackt, kaum pubertär, gemeinsam mit meinem waghalsigen, fast auf den Tag gleichaltrigen Blutsbruder Tino, der später im Leben in eine Industriesäge Sachsens stürzte und dabei umkam: Der Weg verliert seine Spuren unter den Sträuchern. Vielleicht bin ich der einzige, der ihn noch geht. Erst an den Resten des Zaunes hab ich bemerkt, dass sich der Weg nur um die Fabrik drehte und eigentlich keinen Ausgang hatte, wenn man sich einmal auf ihm befand.
Denn auch ätzend ist Sachsen, langweilig, ungastlich, graurot. Nicht nur Wolfgang Hilbig hat das erfahren, auch meine Freundin Heidemarie Härtl und Gert Neumann, die dort als Ehepaar im Widerstand gegen Stasi-Überwachung jahrelang ausharrten, und der wüste Siegmar Faust, und die alle zusammen für ein paar Jahre eine Clique bildeten in Sachsens Leib: Muss man gelitten haben, um glauben zu können? Muss man gehasst haben, um lieben zu dürfen? Ich bin Mensch, ich habe gelitten, ich war dabei, schrieb Walt Whitman, oder einer seiner guten Freunde, als Grusspamphlet vom Yukon. Ätzend wie die Schneeschmelze, wenn das Frühjahr noch kraftlos im Matsch demmelt und die Zschope die Niederstadt überschwemmt, und wen man einfach nur weg will: Ich taue kleine Brocken Eis mit den Fingern aus deinem Haar: Es muss Jahre her sein, im Garten ist dir seit Langem mein Hund auf der Spur, auf der Scheibe die Fahrrinnen meiner Finger auf deinem Weg, Mir hat es das Eis ins Fell getrieben, hast du gesagt, da waren nur wir im Garten und Schnee. Aber man haut eben nicht einfach so ab, wo sollte man denn auch hin? Deshalb geht es weiter in Sachsen, da liegt noch viel Gold in den Hohlwegen und im Holunder Holzens. Denke nur an das hübsche Liedchen „Ting, tang, Tellerlein, wer klopfet an mein Tor“, an die kleinen Mädchen mit den streng geflochtenen Zöpfen, wenn du eine fremde Haustür aufstösst, erster Stein, zweiter Stein, denk an mich … Scheiss Volkskunst, rülpst da der überall lauernde, böhmische Kater, kippt noch e Angewärmdes unn enn Gurzn, sie aber halten hartnäckig ihre kleinen Gesichter, hell wie Teller, emporgewandt. Auch diese Haltung ist in Sachsen allgemein verbreitet. Die Kunst, schrieb Franz Kafka, ist eine Angelegenheit des Volkes.
Nein, die Menschen in Sachsen können natürlich auch gehässig sein, niederträchtig, futterneidsch, ohne sich jemals Rechenschaft darüber abzulegen. Sie sind zu verstrickt in ihr Unglück, der als klagend, manchmal gar als nörgelnd empfundenen Sprachfärbung wegen von allen anderen belächelt zu werden, die in Wahrheit von Dorf zu Dorf, von Dingskirchen nach Dingens variiert und dabei ebenso schwermütige und glockenhelle Mannigfaltigkeit entwickelt wie der Mittlere Osten. Sie leben in einer Sphäre, einem Fischglas, nicht in einem Aquarium mit Meerwasser und Seenadeln. Sie sind zu verliebt in ihr Idyll unter Nussbaum und Streithammer. Irgendwie sind sie fast so vergeblich wie die Russen bei Tschechow und Beckett. Sie verkrauchen sich, ansonsten müssten sie die Welt angreifen. Aber das machen sie nur einmal in zweitausend Jahren, dann erobern sie Teile der Britischen Inseln und lassen sich auf der Stelle doch wieder von ihren angelnden Nachbarn vergackeiern, die ihnen von Abenden in Kaditzsch erzählen, wo Mäuse in Pantoffeln frühmorgens am Feldrainhimmel aufs Dach steigen, um Bussarde an die elektrische Hundeleine zu ketten. Da sehen sie dann aus wie das Schneefrühstück unterm Bett im Spiegel. Und sie werden schwärmerisch und erobern geistig die Vereinigten Staaten von Amerika, und so wissen sie bald viel von Indschanern, denen sie vor allen Völkern der Welt wahrscheinlich am ehesten gleichen. Und dann hängen sie sich an einem windschiefen, hölzernen Leitungsmast in Richtung „Silbersee“ am eigenen Schlawittchn auf.
Oder sie dichten: Ich will dir sagen, was geschieht, legst du die Aprikosen in den Kühlschrank. Sie verfaulen schneller, essen wir sie nicht sofort, und ihre Haut wird ledern, und setzt Schimmel an, während ihr Fruchtfleisch hart und schwarz und sehr geschmacklos wird, und dennoch an Gewicht verliert. Wenn man das Gedicht von Tom Pohlmann aus Altenburg Thüringens bis zur letzten Zeile liest, dann beölt man sich, und man hat alle Voraussetzungen begriffen. Die Sächsin soll ja so ihren Charakter haben. Oder war sie, die später erst Zugewanderte, pfirsichblütenartig ahnungslos? Fragen tun sich auf an dieser Stelle. Fehlen nicht doch ein paar Namen in der Versammlung? Wer lebt schon zu lange nicht mehr, wer entfloh? Wer verlor sich selbst, wer jeglichen Kontakt? Aber keine Anthologie der einen oder anderen Welt beabsichtigt Vollkommenheit. Und so beende ich hier meinen Kurzausflug auf den Majoranbärg, das imaginär und wohl auch tatsächlich klirrend verschneite Grimma grüssend, wie ich soeben telefonisch erfuhr. Ich raste im Schneidersitz und nehme einen Schluck aus der Pulle. Hat doch mein Freund Andreas Hegewald, damals zu Gast in der Lommatzscher Pflege, ein Landschaftsname der mich nach wie vor verzaubert, in spontaner Eigeninitiative auch mich in den Volksthomanerchor meiner Abkunft wieder einberufen. Mit zwei sehr mittelmeerischen Gedichten wohl, die aber natürlich allesamt aus Sachsen stammen. Ich muss nun weiter nachdenken. Die Sachsen sind nicht einfach zu durchschauen, nicht auf die Leichte zu nehmen. Aber das hier ist scheenes Les’buch geworden, ganz ohne weitere Anstalten. Soweit und fern ich es aus meinem mit Leere gefüllten Nikolausstiefel heraus nur posaunen kann: Was sollchn da Tränen vergiessen.
Ulrich Zieger, 6.12.2010
(Maskiert zitiert sind in der Reihenfolge ihres Auftretens: Jürgen Hart in memoriam, Lutz Nitzsche Kornel, Uta Ackermann, Matthias Zwarg, Wolfgang Hilbig in memoriam, Dieter Hoffmann, nochmalig Jürgen Hart, Uwe Claus, Ulrich Grasnick, nochmalig Uta Ackermann, Volker Ebersbach, Gerald Zschorsch, Andreas Reimann, Thilo Krause, Volker Sielaff, Heinz Czechowski in memoriam, Andreas Altmann, Gregor Kunz, Katrin Marie Merten, Angela Krauss, B.K. Tragelehn, Ralph Grüneberger, Hans-Ulrich Treichel und Volker Braun. Einige mehr, im Unterholz kichernd und knackend, schwanken mit in den weiteren Hellen. Zum Wohl! )
6.7.2011
auch in Ostragehege, Heft 6, 2011
Wer die lyrischen Neuerscheinungen ein wenig im Blick hat, der weiß, dass so ziemlich jedes Kalenderjahr mit zumindest einigen interessanten Anthologien aufwarten kann, und ja: Ich lese sie gerne. Neulich wurde ich von einem Journalisten gefragt, was ich denn lieber lesen würde, Anthologien oder Einzelbände – eine Frage, auf die ich keine wahrheitsgemäße Antwort geben konnte. Ich lese auch gerne Einzelbände, aber ob ich einen guten Einzelband einer guten Gedicht-Anthologie vorziehe, oder auch andersrum, kann ich nicht grundsätzlich sagen: frische Nordseekrabben vom Kutter oder Spargel-Quiche – gottseidank kann man ja auch beides genießen, eines nach dem anderen, je nach Tagesform, Lust und Laune.
Während ich Gedichtbände einzelner Autoren deshalb mag und gerne lese, weil sie oftmals einen/ihren eigenen Sound entwickeln, der mich bestenfalls von der ersten bis zur letzten Seite zieht, ist es gerade die Gegensätzlichkeit und Vielfältigkeit, die mich regelmäßig zu Anthologien greifen lässt.
Glücklicherweise sind viele (die meisten?) Lyrikanthologien keine bloße Ansammlung beliebig zusammengewürfelter Gedichte, sondern unterstehen als Textsammlung einem Konzept des/der Herausgeber(s). Da gibt es die „junge“ Lyrik (was sich ein wenig relativiert wenn man sieht/liest, wie alt manch 20jähriger daherzukommen vermag), Lyrik von Frauen und Männern, von Emigranten, von Einarmigen, politische Lyrik, Lyrik aus Finnland, Lyrik aus Serbien. Manche Herausgeber verlassen sich auf den Kanon und die Zugkraft etablierter Namen, was dafür sorgt, dass manche Gedichte in 15 Sammlungen zu finden sind; wieder andere schließen diese modernen Klassiker von vornherein aus (was das Bild mindestens ebenso zu verzerren vermag wie eine Musik-Dokumentation über die 70-Jahre, die kein Wort über Bowie verliert). Mir persönlich kommen Anthologien mit thematischer Klammer entgegen, ohne Frage nach Generation und Geschlecht. Eine Anthologie mit Themenvorgabe, an der sich die vertretenen AutorInnen abarbeiten können, die mir einen breit gefächerten Einblick in ein bestimmtes Sujet zu bieten vermag.
Andreas Altmann und Axel Helbig haben im Frühjahr 2011 im Buchprogramm des Leipziger Poetenladens mit Es gibt eine andere Welt eine Lyrikanthologie herausgegeben, die sie mit gleich zwei Untertiteln versehen haben: „Neue Gedichte“ und „Eine Anthologie aus Sachsen“. Neu bedeutet hier, dass sämtliche enthaltenen Gedichte nach der Jahrhundertwende entstanden sind. Bei der Vorgabe „aus Sachsen“ waren sie großzügig genug, nicht nur gebürtige Sachsen anzufragen und aufzunehmen, sondern auch Autorinnen und Autoren, die es dorthin verschlagen hat, die eine maßgebliche Zeit dort gelebt haben oder noch leben.
Die Großzügigkeit, die sie walten ließen, hat sich ausgezahlt. Ausgezahlt hat sich vor allem aber auch die Vorgehensweise, nicht auf unveröffentlichte Gedichte zu bestehen, sondern die Dichterinnen und Dichter um ihre – nach eigener Auswahl subjektiv – besten Gedichte zu bitten. Die Qualität der hier versammelten Gedichte bezeugt die vortreffliche Selbsteinschätzung der Autorinnen und Autoren, potenziert durch die abschließende Auswahl durch Altmann und Helbig, deren einziges Kriterium die Güte der Texte war, was dazu geführt hat, dass manche Autoren mit einem, andere aber auch mit bis zu vier Gedichten vertreten sind (ein Ausreißer mit fünf).
Es gibt eine andere Welt demonstriert in jeder Hinsicht Bandbreite, präsentiert 269 in 12 grob strukturierende Kapitel gefasste Gedichte von 132 Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Couleur. Viel Neues gibt es für mich zu entdecken, neue Namen, starke erste Eindrücke. Und gleichzeitig Bekanntes, das sich wie ein altes Klassenfoto auf Augen und Hirn legt und Erinnerungen wachruft. Um einige Autoren kommt man bei einer Sachsen-Anthologie nicht herum, und warum auch, starke Texte haben einer Anthologie noch nie geschadet (und es ist ein viel natürlicheres Gefüge, als wenn man diese arrivierten Autoren weggelassen hätte, nur um individuell bzw. „dagegen“ zu sein).
Zarte, von Liebe durchwirkte Gedichte, realistische und utopische, verklärende, harte, düstere, mit Verhängnis hadernde und von Hoffnung erfüllte Gedichte, religiös motivierte bzw. esoterisch angehauchte, ebenso atheistische, misanthropische Gedichte, changierend zwischen romantisch und anzüglich-frivol. Trotz thematischer Vielfalt lassen sich bei geneigter Suche einige Ballungsgebiete ausfindig machen. Das Naturgedicht gewinnt an Boden, gerne auch in Kombination mit der inneren Landschaft. Und Selbstverständlich sind bei einer „Sachsen“-Anthologie auch die spezifisch (ost-)deutschen Themen präsent, Kindheit und Jugend, der Mauerbau und die Teilung Deutschlands, der Sozialismus, FDJ und NVA, auch das MfS, die Wiedervereinigung, der persönliche Kampf im Schatten bzw. vor der Kulisse des Kampfes der Systeme.
An dieser Stelle einzelne Autoren hervorzuheben und wie einen Solitär vor eine mehr als grüne Hecke zu stellen, scheint mit weder angebracht noch reell – diese Anthologie funktioniert in ihrer Gesamtheit, in ihrer Komposition; hier gewinnt, wie es im Sport so oft beschworen wird, das Team. Sicher, ein jeder Leser bringt den eigenen Geschmack ins Spiel, und subjektiv können nicht alle Gedichte das gleiche Gewicht auf die Waage bringen – wie sollten sie!? Vier oder fünf der Gedichte haben mir nicht gefallen, aber was fallen einige wenige Fehlpässe bei hochkarätigem Spiel, beinahe ununterbrochenem Ballbesitz und hohem Tempo schon ins Gewicht?! (Ehe nun wieder die Lyrikpolizei ihre Sturmhauben aus dem Mannschaftswagen holt und sich darüber echauffiert, wie ich es wagen kann, 5 Gedichte nicht so gut zu finden und keine Namen an die Wand zu sprühen: Ich unterlasse dies aus dem gleichen Grund, aus dem der akrobatische Hund seine Eier leckt!)
Es gibt eine andere Welt ist eine Anthologie mit breiter Basis, profitierend von hervorragender Textauswahl, angenehmer Typographie und einem ebenso fachkundigen wie unaufgeregten Nachwort von Peter Geist. Sachsen – „ein Land der Dichter“ (wie es in der editorischen Notiz heißt). Verlag und Kompetenz der Herausgeber hatten bei mir große Erwartungen geweckt. Es gibt eine andere Welt löst sie ohne Abstriche ein!
Es ist gut 35 Jahre her, dass Franz Fühmann seine große enthusiastische Besprechung zu Sarah Kirschs zweitem Lyrikband Zaubersprüche veröffentlichte. „Gedichtbände sind Städte“, begann dieser 50-Seiten-Essay, der als Wegmarke emphatischer Literaturvermittlung gilt. Städte, die man geduldig durchwandert, in immer neuen Anläufen erkundet, für die man Zeit braucht, Neugier und einen mindestens wachen, vielleicht aber auch ein wenig trainierten Sinn. Fühmanns beziehungsreiches Denkbild kam mir schon beim Anblättern dieser voluminösen, anspruchsvollen sächsischen Anthologie in Erinnerung. Auch dies eine Stadt, eine Landschaft voller höchst individueller „Bauten“ von (in diesem Fall) höchst unterschiedlichen Qualitäten, Mikrokosmen charaktervoller Sprachformen, die durchaus für sich verstanden werden wollen, wiewohl sie auch miteinander ein Gefüge bilden. Vor uns haben wir ein Lesebuch, das einen Kulturraum erkunden will aus Gedichten. Was für eine Herausforderung – und zwar für die Macher wie die erhofften Leser.
Ist Sachsen noch das Land der Dichter, fragten sich die Herausgeber, die für ihre ,Feldforschung‘ schließlich gut 130 Autoren aus drei Generationen zusammengetragen haben. Dichter mit konstitutiven wie lockerem Sachsen-Bezug (die Liberalität ist korrekt) und mit Arbeiten etwa des letzten Jahrzehnts (die Zeitbegrenzung ist mir weniger plausibel). Was herauskommt, ist ein glänzender Beweis lyrischer Produktivität heute – z.T. erwartbar, weil man natürlich die einschlägigen Namen kennt, z. T. aber auch überraschend, weil sich eine beachtliche Kontinuität über die Generationen hinweg genauso auftut wie ein gemeinsames Bezugsfeld mindestens im handwerklichen Anspruch, der laut Peter Gosse im Lande eine große Sogwirkung entfalte. In lockerer, hinreichend durchlässiger Ordnung werden die gut 250 Gedichte in Gedankenfelder portioniert, die teils motivisch, teils energetisch bestimmt sind, und wo sich, wie der Herausgeber Axel Helbig sagt, Gedichte auch die Hände reichen. Das tun sie nicht immer.
Was bei einem Überblick als Erstes auffällt – die gut verteilten Kraftfelder der großen Namen oder um im Fühmannschen Bild modern zu sprechen: die Leitbauten. Das beginnt mit der phänomenalen Beschwörung des ,sächsischen Meeres‘ von Wolfgang Hilbig – ein Gedicht über das einfache Leben und die schwere Geschichte, das leitmotivisch an den Anfang des Bandes gestellt auch eine nicht ungefährliche Messlatte legt für zeitgenössische Dichtung überhaupt. Ihm antworten quer durch den Band Braun, Mickel und Tragelehn (die ,Preußen-Exilanten“), Czechowski und Kirsten, Rosenlöcher und Pietraß , Grünbein und Gosse – hier nur beispielhaft genannt. In ihren besten Gedichten bilden sie die Fixpunkte für die Stabilität des Bandes, gelegentlich sogar in verblüffend direktem Bezug zu Hilbig; wie z.B. Brauns elementare „Sächsische Flut 2002“ oder Czechowskis Elegie vom 13. Februar oder Kirstens „Rückkehr der Wölfe“. – Es sind tatsächlich viele in Maßwerk und Gedanklichkeit wunderbare Gedichte in diesem Band, die einen Kunstanspruch transportieren, der von weither kommt, nicht nur aus der seit Georg Maurer gern kolportierten Sächsischen Dichterschule. Man darf getrost an einen Mann wie Paul Flemming denken, dessen melancholische Weltdeutungen eine nicht nur melodische Anregung geblieben sind, von ,klassischen‘ Reibflächen zu schweigen, die sich im letzten Jahrhundert mit dem plebejischen Selbstbewusstsein eines ,Lebens von unten‘ aufgeladen haben. Wer an solcher Interpretation Interesse hat, kommt (und nicht nur darin) bei dem exzellenten Nachwort von Peter Geist ganz auf seine Kosten. Er verweist auch auf die Traditionen der Naturlyrik als Sensorium der Gefährdung, auf Ländererkundungen (sächsische Reiselust), Dichterverehrung und subtile Erotik. Viel Sauerstoff kommt naturgemäß von den heiteren Tönen in den Band (Wind in die Stadt), der Ironie von Tragelehn und Pietraß, dem Witz von Rosenlöcher und Kerstin Hensel.
Einen Effekt haben diese Kraftzentren des Bandes aber auch – sie sondern heftig die Spreu vom Weizen. Man kann es regelrecht ausprobieren, wie mittlere Talente im Umfeld der Gedichte von z.B. Braun, Hilbig oder Mickel (sein „Epitaph“ beschließt den Band) in die Knie gehen und sie kein freundlicher Wille mehr als das nur gut Gemeinte durchgehen lässt, von mancher Verrätselung und Bedeutungshuberei im Metaphernsalat (leider auch das) zu schweigen. Es wäre nicht fair, hier Namen zu nennen, aber Fairness gebietet zu sagen, dass der Herausgeber Freundlichkeit gegenüber den Kollegen nicht immer ein guter Ratgeber war. Ich lese ja nicht aus pädagogischen Absichten Gedichtbände, sondern nur dann, wenn Können mich fasziniert. Und das ist reichlich da und wie gesagt klug komponiert. Ein Drittel weniger wäre aber vermutlich für den Leser mehr gewesen.
Gibt es eine sächsische Spezifik aus dieser beschriebenen Herkunft, einen sächsischen Ton? Kerstin Hensel vermutet einen ähnlichen Sound als permanente Unterströmung, Peter Gosse – beide waren Akteure der Dresdner Buchvorstellung – eine sächsische „Sanguinik“ und vor allem einen übergreifenden „Handwerksernst“. Ohnehin ist Handwerklichkeit kein schlechtes Stichwort. In seiner sehr empfehlenswerten sächsischen Kulturgeschichte geht Joachim Menzhausen genau diesem speziellen Phänomen nach: Wie sich in Sachsen mindestens seit den Zeiten der Reformation und der Blüte des Bergbaus handwerkliches Können, ästhetischer Sinn und aufgeklärte Rationalität zu erstaunlichen Gebilden verschmelzen konnten. Er nennt plausible Beispiele solcher ,sächsischen Sonderformen‘ in Architektur, Plastik, Malerei und eben auch Dichtung. Und tatsächlich reizt diese „Sächsische“ Anthologie zu solcherart Querschlüssen. Nahe liegend für den Rezensenten ist der Blick zur Bildenden Kunst. Gar nicht zuerst, weil viele Dichter einen ganz direkten Bezug zur Malerei haben (Kirsten zu Querner, Czechowski zu Gussy Hippold, Wüstefeld zu Peter Graf) und etliche Maler sich illustrierend mit Literatur befassen (Giebe mit Axel Reitel, Schlegel mit Uwe Greßmann, Kerbach mit Durs Grünbein), sondern aus eher phänomenologischen Gründen. Auch die sächsische Bildende Kunst ist von hoch entwickelter Individualität, handwerklicher Solidität und stilistischer Vielfalt; sie kommt mit sinnlichem Anspruch mehrheitlich aus einer Tradition der Anschaulichkeit erfahrbarer Welt. Das alles erlaubt natürlich keinen vordergründigen Analogieschluss, aber doch einen der Tönungen und Klänge. Dann hat z.B. zeichnerischer Verismus plötzlich etwas zu tun mit lyrischer Lakonie. – Wer will, kann diese habituellen Ähnlichkeiten probeweise auch in ihrem Werdegang durchbuchstabieren und gedanklich austesten, wie etwa Dichter und Maler in den siebziger Jahren ähnlich rigoros und mit hohem Qualitätsbewusstsein gegen die Dogmen der DDR angingen, wie sie nebeneinander den „Aufrechten Gang“ (Volker Braun) erprobten und wie sie – bitte sehr – ihr Selbstbewusstsein nunmehr in einer von anders-falschen Botschaften manipulierten Gegenwart, denen des Marktes, energisch verteidigen.
Da allerdings hört der Vergleich auch auf. Bildende Kunst ist heute zum Ersatzschauplatz für die ungelösten Konflikte unseres Landes geworden und dieser ist als deutsch-deutscher Bilderstreit allgegenwärtig. Aber wer liest Lyrik? Die Qualitäten z.B. sächsischer Dichtkunst der Gegenwart – wer weiß davon, wer studiert sie, und gar mit jener Lust, die uns einst ein Franz Fühmann vorgelebt hat? Es ist ein merkwürdiges Ding mit der Dichtung. Sie macht vorher die Arbeit, man muss sich anstrengen, bevor die konzentrierten Sprachgebilde einen (wenn’s gut geht) belohnen. Das ist so fundamental gegen den Mainstream der Gesellschaft gerichtet, dass Dichtung geradezu als Musterbeispiel künstlerischen Außenseitertums gelten kann und Dichter zu den bescheidensten Menschen der Überflussgesellschaft gehören. Aller lyrischer Mut, möchte man meinen, ist fundamental entkoppelt von herrschenden Werten und ein reines Dennoch. Dann kann dieser Eigensinn aber auch – sofern er die Mechanismen der Selbstbetrugs begriffen hat – wie sonst keiner zu den Sternen auf Erden fliegen:
Was bleibet aber, stiften die Dichter
Mit dieser Anthologie lässt sich der alte Spruch ganz zeitgenössisch begreifen. Und dann gewinnt auch der Titel des Buches, der in Volker Brauns Gedichtzeile eher sarkastisch tönt, seine behaupteten utopischen Züge: „Es gibt eine andere Welt“ – und genau hier fängt sie an, im Gedicht.
Dem Poetenladen kann man zum Mut dieser Herausgabe nur gratulieren. Leider unterlief das Missverständnis einer „poetischen“ Umschlagillustration. Die possierliche Häuserstadt im Reisekoffer mit Schmetterling hat mit der Botschaft des Buches nichts zu tun und schon gar nichts mit der apostrophierten Stadtlandschaft eines Franz Fühmann (den der Gestalter nicht kennen muss). Allenfalls dass diese außergewöhnliche Ladung nun schwimmt, mag stimmen: Durch die Buchläden des Landes. Möge sie an vielen Ufern landen!
Hans-Peter Lühr, Ostragehege, Heft 62, 2011
Andreas Altmann liest sein Gedicht „ein mann ohne schlaf“.
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