Andreas Hegewald: SODOM und TOMORROW

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Hegewald: SODOM und TOMORROW

Hegewald/Hegewald-SODOM und TOMORROW

SODOM UND TOMORROW

Einst hingen die Pyramiden
an Geduldsfäden aufgehängt
als geistige Lampen
an der Wimper
des göttlichen Auges
Wandelsterne kreisten
um die Iris des Hauptgotts
und sandten ihr Licht
in die hängenden Trichter

Wer dieses Werk zerstörte
ist nicht überliefert

Menschen entdeckten die
herab gestürzten Schirme
und füllten sie mit Steinen
legten ihren edelsten Charakter
in das Herz der Gebäude
und glaubten so
dass die steinernen Lampen
eines Tages
neu aufleuchten würden
so errechneten sie
den Tag und die Stunde

Aber sie wussten nicht
dass die Wandelsterne bereits
vor tausenden Jahren
das göttliche Auge verliessen

 

 

 

Zwei Lyrikbände und ein Aphorismenbuch

von Andreas Hegewald

Man muß etwas Neues machen,
um etwas Neues zu sehen.

Georg Christoph Lichtenberg

Jedes einzelne Blatt am Baum
strebt zum Wort.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Dichten ist bei Andreas Hegewald anscheinend etwas Unwillkürliches, nahezu Vegetativ-Natürliches. In seinem Buch Sodom und Tomorrow weist ein Text namens „Dichtung“ daraufhin, der den poetischen Entstehungsvorgang als eine Art Aufruhr der Elemente beschreibt. Programmatisch lässt sich das jedoch nicht unbedingt verstehen. In der Regel steht man beim Lesen seiner Gedichte nicht gerade Deckung suchend in einem Gewitter der entfesselten Assoziationen. Vielmehr herrscht in ihnen eine höchst spielerische, zuweilen etwas variationsverrückte Ordnung der Dinge, die man oft zu kennen glaubte und nun anders erfährt. Vor allem aber kennzeichnet sie ein entdeckungsfreudiger Schwung und, so würde ich es nennen, eine weitestgehend tänzerische Form der festen Überzeugung, dass nur das überraschende ein wirkliches Ergebnis ist. Nicht wenige Texte wirken in diesem Sinne wie Beiträge zur Entwicklung eines ungewöhnlichen Alphabets oder wie poetische Thesenanschläge gegen geläufige Schulweisheiten. Wenn ein bildender Künstler auch mit Gedichten hervortritt, vermutet die Geläufigkeit ganz gern, dass es sich entweder um poetisierende Begleiterscheinungen seines primären Metiers oder um etwas anderswie Sekundäres handelt. Andreas Hegewald betrifft das nicht, er zählt zu den Maler-Dichtern im souveränen Sinne des Worts. Manche Verse weisen zwar tatsächlich auf den Maler, Grafiker, Bildhauer und Objektkünstler, versammeln Spurenelemente seiner Arbeitsbedingungen und Erfahrungen als Zeichner oder Maler zu einer Erkundung von interessierenden Nebensächlichkeiten, wie es ja oft Ablenkungen sein dürfen, die der Arbeit neue Impulse geben. Doch andererseits ist das Grafische ohnehin vom Schriftlichen nicht zu trennen, das Zeichen nicht vom Zeichnerischen, das Ornament nicht vom Orientierungsmuster, und so bedarf es keiner ferneren Begründung für die Motivation zur rein dichterischen Verwirklichungsarbeit. Es finden sich in seinen Büchern Gedichte auch über andere Kunstwerke sowie über Architektur, vornehmlich die von Sakralbauten, doch auch einem Gerichtsgebäude wird einmal sozusagen der lyrische Prozess gemacht, und ein Konzerthaus wie die Semperoper erfährt eine höhnische Deutung als Tortentempel für den nichts als naschhaften bürgerlichen Kunstgeschmack. Aber es sind die alten Gotteshäuser mit ihren Konstruktionsrätseln, die Hegewald, den mutmaßlichen Atheisten, gelegentlich zu schlüssigen Auslegungen animieren. Er, der Leser aller möglichen magischen Strukturen der abendländischen Formgeschichte, erweist sich, in Gedichten wie „Kathedrale“ oder „Tempel“, als Löser, als einer, der fern vom Banne religiöser Suggestion dem Überlieferten seine eigene Sicht, unbefangen, inspiriert und umwertungslustig, überschreibt.
Die Kunst ist frei, was sonst, diese Sentenz ist mal eine Unmöglichkeit und mal eine griffige Binse. Doch Vorsicht, die Binse kann, auf praktischer Ebene, auch einem Malwerkzeug gleichen, das, im Falle Hegewalds, zu einer Serie von Blättern führen könnte, auf denen Schriftzeichen zu Landschaften werden, Vegetation zu Geometrie, kalligrafische Reize zu Navigatoren des beseelten Auges auf der Suche eines „Sehwegs“ nach – wohin? Man läuft Gefahr, das Wesentliche zu verkennen, wenn man vergisst, dass die Kunst in erster wie letzter Linie das Ziel ihrer selbst ist. Malerische und grafische Arbeiten Hegewalds changieren nicht selten zwischen Schwebezuständen aus Landschaft und Landkarte, Lebewesen und Fossil, konzentriertem Formenpotential und explosiver Verschwendung, es scheint, als schüttele er Welten aus dem Handgelenk, die zugleich aussehen wie Instrumente für ihre Erkundung. Doch zurück zu dem Dichter, der mit anderen Mitteln jongliert, er muss Analogien aus der Luft greifen, Gegensätze zu Metaphern schmelzen, er muss Wörter zu Worten machen. Diese Selbstverständlichkeit, die gar keine mehr ist, beinhaltet, dass er, obschon bestimmten Regeln und Gesetzen unterworfen, selber Gesetzgeber und Regelnerfinder sein muss. Dichten bedeutet, nicht nur, jedoch auch: Weglassen, also Opfern von Stofflichem zugunsten des Ausdrucks. Mag sein, dass die Dualität von Geist und Materie auf den gegenwärtigen Zeitflächen keinen breiteren Grund mehr findet. Mag daher sein, dass Intelligenz und Material das heute näherliegende Gegensatzpaar abgeben. Abstieg ist immer, und die anschließenden Zerstreuungen in den Ebenen bringen mit dem Abschied von der einen großen Differenz eine Vielfalt von neuen Möglichkeiten der Differenzierung. Schon eine Abweichung von einer bestimmten sprachlichen Konvention, sofern sie sich nicht nur auf den Aspekt der Verunsicherung beschränkt, kann neue Spielräume eröffnen.
Hegewald, dessen Gedichte viel Sinn für die Einhaltung von Versregeln sowie deren Brechungsmöglichkeiten zeigen, weicht gerne vom Erwarteten ab, führt herkömmliche Bedeutungen aufs Glatteis – der Sinn muss springen und sich verwandeln, oder, Künstlerpech dann, nur fallen und geprellt werden. Es sind die wesentlichen Mehrdeutigkeiten im Wortschatz, das Funkelnde und Schillernde der zahlreichen Homonyme, was dazu einlädt, das Sprechen aus seiner eingleisigen Orientierungsfunktion zu entführen. Hier beginnt das Spiel, die Suche nach dem Glück, das dann das Gedicht ist, ein Glücksfall der Sprache, die in Momenten des zu sich selber Kommens ihren jeweiligen Gegenstand erfasst, erhebt, aufhebt oder transzendiert oder wie immer auch man das Entscheidende an der Sache nennen will.
„Das Schloß“, es steht in Sodom und Tomorrow auf Seite 49, bezeugt, obwohl es durch einen feierlichen Ernst in der Neugestaltung eines traditionell romantischen Themas gekennzeichnet ist, nebenher auch den neugierigen Umgang mit den Mehrdeutigkeiten mancher Wörter. Oder „Erdengel“, so etwas wie eine traumatische Epiphanie, spielt mit dem Wort „Flügel“ so, dass dessen Bedeutung zwischen Flugattribut und Musikinstrument wechselt. Es wäre jedoch irreführend, diesen zweifellos häufig mitwirkenden Zug der verspielten Wortspalterei in weiteren Gedichten nachweisen zu wollen, man würde vordergründig wenig finden. Mir scheint er nur darum erwähnenswert, weil er schon auf ein anderes Buch hinweist: Ledige Sätze, Aphorismen und Zeichnungen, wo er dann erschöpfender zu sich selbst, d.h. zum Zuge kommt.
Von den insgesamt 103 Gedichten in Sodom und Tomorrow sowie denen, die in einer neuen, noch um ein gutes Drittel umfangreicheren Gedichtssammlung Haarrisse enthalten sind, finde ich fast jedes interessant, die meisten anregend, manche zum Nachdenken, manche zum Lachen, viele verführen zu beidem in einem, getreu dem Satz, dass Erkenntnis mit einer Reizung des Zwerchfells beginnt. Manche bleiben mir rätselhaft, wirken auf mich wie orakelhafte Wortfetzen einer Wahrheitsfindung aus dem Nebenzimmer, andere wiederum erscheinen mir derartig gelungen, dass meine Beschreibung nicht ohne den Begriff Schönheit auskommen möchte. Zum Beispiel das bereits erwähnte „Das Schloß“, oder „Spur“, in dem es um eine nicht näher bezeichnete Gesandtschaft geht, um den als Spur nur aufzufassenden Charakter einer entschlossenen Bewegung von Figuren, die ein Märchen durch die Realität schleusen. Oder „Narziß“, das diesem populären Inbegriff der Selbstverliebtheit in seiner spiegelbildlichen Verirrung erschöpfend auf den Grund geht. Auch „August“ sei im Schönheitszusammenhang hier noch hervorgehoben, ein Gedicht über kranke Rosen, dessen Metrik an die Zeit des lyrischen Symbolismus erinnert, als man nur dem Morbiden einen ausreichend salonfähigen Swing zugestand, um dies hier einmal etwas nachlässig zu sagen. Doch ob nun Symbolistisches oder Expressionistisches, ob Innerlichkeit oder Surrealismus – die an Ismen reiche Formensprache der dichterischen Moderne ist Hegewalds Gedichten nicht Maßstab sonder fragmentarischer Nachlaß, und so verschwenderisch aufgelöst, dass sich stilistische Herkunftsfragen erübrigen.
Vielleicht kann man diesen beiden Gedichtbüchern am besten gerecht werden, wenn man sie weniger als „Lyrikbände“ sondern als Ausstellung betrachtet, in der man lange umhergehen (herumblättern) sollte, bis man in dem oft übergangslosen Wechsel von schwer- und leichtgewichtigen Exponaten das Konzept versteht: Tiefes neben Flachem, Satirisches neben geradezu wissenschaftlich Ernstem, Spott- und Zersetzungslustiges neben Gebilden von schlafwandlerisch sicherer Konstruktivität und, wie schon angemerkt, Schönheit. Gedichte mit dem Charme von auskristallisierten Schnapsideen, inspirierte Nonsenslyrik wie z.B. „Schraubenmesse“, schwarzhumorige Etüden wie „Morgue“ oder philosophische Kalauer wie „Wahrheit“ haben die gleiche Erscheinungsberechtigung wie etwa „Steine“, einem Text in Form einer predigtähnlichen Beschwörung von mitreißender Prägnanz, oder wie „Lichtspiele“, ein poetisches Exerzitium zur Frage der eigenen spielerischen Identität. Abgründige Slapstickminiaturen wie „Nacht“ (S. u. T. S. 113) und kultursatirische Abräumer wie „Wien“ oder „Rom“ vertragen sich mühelos mit dichterischen Auslegungen von geometrischen Grundbegriffen wie z.B. „Parallele“ oder „Perspektive“.
Einige Titel hat Hegewald auch doppelt vergeben. Unter dem Titel „Wahrheit“ findet sich so noch ein weiteres Gedicht, das Wahrheit als Herausforderung apostrophiert, die einem Kampf mit der Hydra gleicht und also übermenschliche bzw. mythologische Operationen erfordert. Figuren der antiken Mythologie spielen überhaupt eine wichtige Rolle, sie erfahren zum Teil eine freie träumerische Neudeutung, bei der man sich die Augen reibt, doch angesichts der schwungvollen Sicherheit, mit der die Interpretation ausgeführt ist, dann doch nicht widersprechen möchte. Poesielektüre kann so einiges abverlangen; was bei Versen von intensiverer Hellsichtigkeit wie z.B. bei „Pandora“ nicht sofort einleuchten will, geht einem dafür vielleicht umso länger nach. „Sodom“ wirft einen tiefschwarzen Blick auf die Möglichkeit der entropischen Erstarrung einer von architektonischer Hochstapelei total verstädterten Erde, während „Disteln“ hingegen ein Stück Naturlyrik von entwaffnend ungebrochener Erbaulichkeit darstellt. „Dämonen“ inszeniert einen schaurigen Nachtspuk in disziplinierter Choreographie, wohingegen „Spiegel“ nüchtern über das scheinbare Nichts hinter jeder kosmischen Projektion reflektiert. Hin und wieder wird auch das Wirken bestimmter Künstler in den Focus der lyrischen Einsicht genommen, z.B. in „Raps“, das ein Bild von Matisse mit Worten nachkomponiert. Joseph Beuys gibt Anlass zu gleich drei Gedichten, die das Vermächtnis des umstrittenen Gesamtkünstlers untersuchen. In einem, schlicht mit „Beuys“ betitelten, stehen die Zeilen:

… Die genesende Geste
mit einem Taktstock dirigieren
den ein Sturm aus dem Gehölz
des sozialen Götzen brach

Das liest sich wie eine Universalformel der künstlerischen Intention, die, unabhängig von ihrem konkreten Bezug, auch das Verständnis dieser Texte im allgemeinen wecken und begleiten könnte.
Erst zuletzt will mir dämmern, was nach diesem sporadischen Durchgang eigentlich gar nicht übersehen werden kann: Wo andere Dichtung in typologischer Hinsicht meist auf die Kultivierung weniger Gewächse beschränkt ist, erhebt sich hier eine ganze Waldung von großem Abwechslungsreichtum, in der herumzulesen sich lohnt…

Andreas Koziol, aus dem Nachwort in Andreas Hegewald: HAARRISSE, Buchenpresse, 2010.

Interview von Gregor Kunz mit Andreas Hegewald: Was man nicht teilen kann sollte man ganz lassen – der innige Wunsch nach Ganzheit durch Kunst.

 

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