METAMORPHOSE
Ein traum: des tages reflexion,
als tümpeltrüber symbiont
der vagen schattenformation.
Und am bewußtseinshorizont
erwächst ein mensch mit haut und haar,
doch metamorph, wie’s pflanzen sind.
Ob auch in kain ein abel war?
Das anti-ich wird zur gefahr
im wandel bleibt das wesen blind.
Sein körper stülpt sich mählich um.
Zu kugelkleinem rudiment
verschrumpft makaber cerebrum:
ach, krankheit, zeitlos virulent…
Die haut verhornt als rindenrock,
harscht knisterspröd und rau wie grind.
Zerbricht der wirbelsäulenstock?
Weckt uns des traums visionenschock?
Das wesen bleibt im wandel blind…
Schon schlagen adern aus dem leib
und wuchern breit wie baumgezweig.
O grauenzeichen: übertreib,
daß ich die wandlung nicht verschweig,
die fälschung mensch! Als torso-ast
steilts glied im offensiven wind.
Des mannes zehenwurzel paßt
ins schützenloch. Bin ich erblaßt?
Das wesen bleibt im wandel blind.
Welch macbeth-angst: ich fürcht den wald.
Aus wirren ästen stechen starr
patronenknopsen, kupfern, kalt:
apokalyptisch blütenjahr…
Und wird dein dasein anonym:
ein himmel drüber, grau verzinnt
vom rauch, ist helmes synonym,
wird wertlos auch, ist pseudonym
des wesens, das im wandel blind.
Der bau, der baum ist avanciert
zum patriotischen modell:
mit seinen wurzeln engagiert,
erfaßt er klärend visuell
den nachbarn kaum. Und wetter legt
sich heißer in den rauhen wind.
Es wächst der heerwald unentwegt:
o holz, aus dem man keulen schlägt…
Das wesen bleibt im wandel blind.
beinhaltet den ersten Gedichtband Andreas Reimanns, der ursprünglich bereits 1966 ediert werden sollte, aber aus politischen Gründen seinerzeit nicht erschien. Neben dieser Erstveröffentlichung nach 50 Jahren sind in diesem Buch Essays aus der Zeitschrift Sinn und Form versammelt sowie damit im Zusammenhang stehende Diskussionsbeiträge verschiedener Autoren.
Das Buch ist die späte Wiederentdeckung des Debüts eines der wichtigsten deutschen Dichter der Gegenwart und ein spannendes Zeitdokument der Literaturgeschichte der DDR.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Ankündigung
– Der Dichter Andreas Reimann feiert seinen 70. Geburtstag mit Band 1 der Werkausgabe: eine Erstveröffentlichung, denn der Zyklus war verschollen. –
Sie kommen spät, doch auch pünktlich. Zum 70. Geburtstag des Dichters Andreas Reimann erscheint Band 1 der Werkausgabe. Kontradiktionen ist der Titel, versammelt sind Gedichte aus den Jahren 1964 bis 1966, hinzu gesellen sich „Die neuen Leiden der jungen Lyrik“: Essays und Diskussionsbeiträge, die 1974/76 in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen sind.
Zu Wort kommt also der sehr junge Reimann, und dass sich in den Gedichten und Texten dennoch ein Porträt des 70-Jährigen zeigt – das entspricht seinem Stil, seinem Formwillen, seiner Art, erkennbar zu sein, unverwechselbar. Deutlich wurde das auch vor zehn Jahren, als zum 60. Der trojanische Pegasus erschien, 150 ausgewählte Gedichte aus 50 Jahren. Das nun vorliegende Buch ist in anderer, auch mehrfacher Hinsicht besonders.
Geschrieben hat Reimann die Texte Anfang 1964 bis Anfang 1966, mit 17 bis 19 Jahren. Und wenn sie nun zum ersten Mal erscheinen – dann genau 50 Jahre nach dem ersten avisierten Drucktermin. Doch der Dichter wurde vorzeitig vom Literaturinstitut Leipzig exmatrikuliert, das Ministerium für Staatssicherheit eröffnete den „Operativen Vorgang Autor“, er wurde wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu zwei Jahren Haft verurteilt. Danach konnte er nicht mehr in geschlossenen Räumen arbeiten.
Ein Großteil des ersten Manuskripts kam abhanden. Aufgetaucht ist es – Zynismus der Geschichte – erst wieder mit Reimanns Stasi-Akten. So können die Kontradiktionen nun doch noch erscheinen – was auch Peter Hinke von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung zu verdanken ist und der Andreas-Reimann-Gesellschaft e.V.
Der Literaturwissenschaftler Peter Geist, Kenner des gesamten Werks, sagt:
Gedichte vergleichbarer Intensität, die die „verfluchte narbe aus zement“ zum Thema erheben, sucht man in der deutschen Lyrik dieser Zeit vergebens. Diese literaturgeschichtlich erheblichen Leistungen der Lyrik dieses Dichters harren nach wie vor des Eingangs in die historische Aufarbeitung.
Dem Heimweh gehen schon früh die Wörter nach, „Werd glatt, / du borstenpelz der heimwehklette, / denn unterm schotter folgt die stadt.“ Eine „Hymne vom Fahren“ ist dieses Gedicht, von der Ambivalenz des Abschiednehmens. „Ein abschied darf so groß nicht sein, / daß uns kein abschied übrigbleibt.“ Die Verse sind ein Einfall der Wörter in die Welt, wie man sie weniger sehen als spüren kann. Wörter wie „knisterspröd“ und„erschütterungsbitter“.
Fahrten sind es immer wieder. Züge. Fort. Zu reisen kann ja nie nur etwas Äußerliches sein. In der „Elegie zwischen zwei zügen“ heißt es:
Leb nicht. Bin nicht tot. Nenns warten.
Hektisch morst die schreibmaschine.
Nächtlich sauf ichs irisgrüne
anti-wasser, kipp den harten
oft sto gramm, da schlaf ich gut.
Aber noch in morpheus blut
grolln die großen überfahrten.
Je tiefer man in diese Elegien blickt, umso herausfordernder schauen sie zurück. Sie kommen aus einer anderen Zeit in einer Sprache, die sich selbst erschafft. Nichts klingt leicht. Der Dichter fügt eine Welt aus dem, was er vorfindet, er findet das Verlorene.
Dem Zyklus „Kontradiktionen“ folgen Gedichte aus der Zeit vor 1964 und Gedichte, dem Buch Die Weisheit des Fleischs zugehörig, die in diesem Band 1 der Werkausgabe eine kleine Werkschau gestatten. Dazu gehört auch, die Form zu studieren. Um die geht es im Essay „Die neuen Leiden der jungen Lyrik“ aus dem Sinn und Form-Heft 2/1974.
Festzustellen ist der Niedergang des Formbewusstseins in einem Grade, dass es bedenklich erscheint, noch auf dem Gattungsbegriff zu beharren.
Der neue Inhalt, schreibt Reimann, verkommt durch die neue Form.
Wo Form nicht zählt, verfällt das Individuelle.
Er geht hart ins Gericht mit den Lyrikern jener Zeit, mit den Gedichten, die veröffentlicht wurden in Anthologien oder verschiedenen Heften der Reihe Poesiealbum. Die sich anschließenden Reaktionen der Kollegen wirken teils recht angekratzt.
Jedenfalls zeigt sich der emotionsbewusste Lyriker Reimann hier als ein Kritiker höchster Schule: einer Schule der Ernsthaftigkeit bei absolutem Gehör für die Zwischentöne der Wahrhaftigkeit, begabt mit Ironie. Wenn es ihm um alles geht, buchstabiert er die einzelnen Teile. Der am 11. November vor 70 Jahren in Leipzig geborene Dichter – er musste nie fort, um hier bleiben zu können, und hat sich doch stets weit genug entfernt, um hier ganz da zu sein.
Hartmut Rüffert: Zum Siebzigsten: Andreas Reimanns unveröffentlichtes Frühwerk
Andreas-Reimann-Gesellschaft e.V.
– Gespräch mit Andreas Reimann im Leipziger Café Grundmann am 28. April 2016. –
Axel Helbig: Lieber Andreas Reimann, ich will ganz am Anfang ansetzen. Ihre Kindheit in der frühen DDR kann man sich tragischer kaum vorstellen. Der Suizid der Mutter, der bis heute nicht restlos aufgeklärte Tod des Vaters, die Heimerfahrungen des Siebenjährigen, ehe Ihre Großmutter Thea Reimann-Weide Sie zwei Jahre später aufnehmen durfte. Ist dieses Tragische der Ausgangspunkt Ihres Dichterlebens?
Andreas Reimann: Das kann ich natürlich nicht beurteilen, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn ich nicht gerade bei dieser Großmutter aufgewachsen wäre, die selber schriftstellerisch tätig war, die aus sieben Sprachen Literatur übersetzt hat und die einen mit den Werken der Klassiker und literarischen Raritäten vollgestopften Bücherschrank hatte, der mir von Anfang an offen stand. Aber vielleicht hätte ich von diesem Angebot kaum Gebrauch gemacht, wären meine Schwester und ich nicht in einem Kinderheim gewesen, in dem wir als einzige Kinder zwischen 14- bis 18-jährigen schwer erziehbaren Jugendlichen lebten: Ich hatte dort verlernt, mich altersgemäß zu verhalten, und habe auch später nie einen wirklichen Kontakt zu gleichaltrigen Kindern finden können. Aber ich hatte bereits mit zehn Jahren die Entdeckung gemacht, dass innere Spannungen und Staus sich am besten lösen ließen, wenn sie schriftlich artikuliert werden. Seitdem versuche ich unablässig, mir meine Probleme im Umgang mit der Wirklichkeit buchstäblich ab-zu-schreiben.
Helbig: Ich sehe schon in Ihren frühen Gedichten einen nahezu abgeklärten existentiellen Blick auf die Gesellschaft.
Reimann: Von Anfang an ist es in dem, was ich geschrieben habe, wie bei Shakespeare oder Schiller um Leben und Tod gegangen. Ich hatte meine Mutter nach ihrem Selbstmord selbst gefunden. Aber damals gab es niemanden, der auch nur den Versuch unternommen hätte, dieses traumatische Erlebnis professionell mit mir zu bearbeiten. Vielleicht kam gerade mal zehn Jahre nach dem Krieg auch noch gar keiner auf die Idee, dass Einer der psychologischen Behandlung bedürfe, der unversehens vor einem getöteten Angehörigen stand.
Man hatte meine Schwester und mich also in ein sehr abgelegenes Jugend-Heim verschleppt, damit unser Vater uns nicht nach Westberlin holen konnte. Bis zu seinem Tod hat er alles versucht, seine Kinder zu bekommen. Auch mit Hilfe eines sogenannten „Menschenhändlers“. Der Mann, der geplant hatte, uns über die Grenze zu bringen, war gefasst und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Aber warum bemühten sich die Behörden so intensiv darum, uns vor meinem Vater zu verstecken? Mein Vater hatte vor seiner Flucht in den Westen als politischer Karikaturist gearbeitet. Und arbeitete – mit umgekehrten Vorzeichen – im Westen als politischer Karikaturist. Im Ministerium für Staatssicherheit [MfS, Stasi] war man folglich der Meinung, man müsse ihn in die DDR zurücklocken oder -holen, um ihn zu bestrafen. Deshalb war mehrmals versucht worden, ihn zu entführen. Er ist den Häschern fünfmal entkommen. Später war es dem MfS allerdings gelungen, seine Westberliner Frau anzuwerben. Der Tod meines Vaters – kurz nach einer Party wurde er in seinem Haus erdrosselt aufgefunden – ist bis heute ungeklärt. Meine Großmutter hat man übrigens erst mehr als ein Jahr später über den Tod ihres Sohnes informiert. Nicht im Sozialamt, sondern in der SED-Bezirksleitung. Als „Trost“ hat man der Vierundsechzigjährigen die Kinder überlassenen. Bei meinem „nahezu abgeklärten existentiellen Blick auf die Gesellschaft“ in den frühen Gedichten handelt es sich also um die Wunschvorstellung eines unfreiwillig altklugen Kindes von einer menschlichen Gesellschaft, von der er glaubt, sie würde draußen existieren.
Helbig: Das Leben bei Ihrer Großmutter war ein behütetes. Ein Leben ohne Kinderbücher, aber mit Zugang zu den Klassikern, Schiller vor allem?
Reimann: Es war kein „behütetes Leben“, sondern ein wildwüchsiges in einem außerordentlich Musen-freundlichen heimischen Umfeld und einer zumindest verständnislosen „Außenwelt“. Übrigens hätte ich vermutlich auch Karl May gelesen, wenn ich seine Werke im Bücherschrank gefunden hätte. Aber Schiller ist ja, wenn Sie so wollen, mit ihm „identisch“; Ein „Karl May für Bildungsbürger“. Und Kinderliteratur – auch gute Kinderliteratur – hätte ich damals von meinem arroganten Standpunkt aus, alles besser zu wissen, vermutlich als „kindisch“ abgetan, wie ich ja auch fast sämtliche Beschäftigungen meiner Klassenkameraden als „kindisch“ wertete. Alles normale Spielen – das ich heutzutage so gern versuche literarisch nachzuholen – habe ich damals vollkommen verachtet. Auch bin ich in Hoch-Zeiten meiner Schulschwänzerei mehr als 120 Tage im Jahr dem Unterricht ferngeblieben. Allerdings mit Einverständnis eines Klassenlehrers, der eingesehen hatte, dass ich nicht dauernd in der Schule herumsitzen muss, wenn ich sowieso etwas anderes im Kopf hatte. Die „Nachsicht“ mit mir wurde grenzenlos, als ich dann mit zwölf zu veröffentlichen begann. Schaut euch das „Wunderkind“ an! Und es ist nicht mal dressiert! Ich bin dann Tag für Tag entweder ins Museum der Bildenden Künste oder in den Zoologischen Garten gegangen. Wir hatten auch zu Hause immer irgendwelche Tiere: Fische, Schildkröten, verschiedenartige Vögel, Goldhamster und Kaninchen: alles Geschöpfe, die sich bei uns rege vermehrten. Und auch im Stadtpark aufgelesenen räudigen Katzen und einem kleinen Mischlings-Hund bot meine Großmutter zeitweilig Unterschlupf. Ich wollte natürlich irgendwann einmal Zoodirektor werden. Auf jeden Fall wollte ich Biologie studieren.
Helbig: In Ihrem Schreiben ist der Blick auf die Natur von Beginn an wichtig. Als Blick auf die Schöpfung, auf die Naturgewalten und als Metapher für existentiellen Druck.
Reimann: Auch das kommt von meiner Großmutter her, die noch ein sehr emotionales, aber nicht weniger praktisches Verhältnis zur Natur hatte. Da sie nur die Mindestrente und wir Kinder nur Waisenrente bezogen, sind wir sehr oft in die Pilze gegangen und haben dabei auch gelernt, Parasol- und Pantherpilz zu unterscheiden. Wir haben Beeren gesammelt und häufig schmackhafte Bärlauch- und Brennnessel-Suppen gegessen. Eigentlich mussten wir uns die Natur in einem sehr profanen Sinne aneignen. Weil wir etwas zu essen brauchten. Dass ich darüber hinaus einen Blick für die Schönheiten und Wandlungen der Natur zu entwickeln vermochte, verdanke ich ebenfalls der jugendlichen Begeisterungsfähigkeit meiner Großmutter. Allerdings wären wir trotz unseres Waldfrüchte-Erntens kaum über die Runden gekommen, wenn wir nicht durch Zufall in einem Wohnblock gewohnt hätten, in dem außer uns ausschließlich sowjetische Offiziere mit ihren Familien lebten. Als diese mitbekamen, dass wir verdammt wenig zu essen hatten, stellten sie regelmäßig ihre Deputate vor unsere Tür – Fischkonserven, Butter, Grütze und zu ihren Feiertagen auch die entsprechende Flasche Wodka für meine Großmutter. Die Deutschen sind niemals auf die Idee gekommen, uns etwas zu geben, auch wenn sie sahen, dass wir Kinder in den Schulpausen oft ohne Frühstücksbrot dastanden.
Helbig: Der Zoodirektor war die eine Phantasie, die andere war es, ein Dichter zu werden. Sie haben schon als Zwölfjähriger publiziert.
Reimann: Ich dachte mir, den Zoodirektor machst du zum Spaß und das Schreiben zum Geldverdienen. Damals wurden nahezu jeden Tag in den verschiedensten Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen Gedichte, Kurzgeschichten oder Fortsetzungsromane abgedruckt. Als ich erfahren hatte, dass man als Autor für eine Gedichtzeile 4 Mark bekommt, setzte sich in mir die Vorstellung fest, dass man von so etwas wie Lyrik ganz gut leben kann. Damals hatte z.B. das Neue Deutschland, Zentralorgan des ZK der SED, eine Beilage namens Die gebildete Nation, die sogar weitestgehend ohne Parteikommentare auskam. Auf diesen Seiten hatte ich begonnen, regelmäßig zu veröffentlichen. Die Kultur-Redakteure wussten allerdings nicht, wie alt ich war. Erst als sich einige Leser brieflich über mein Gedicht „Diskussion“ erbosten und ich in der Art einer Formalismus-Debatte wegen angeblicher Unverständlichkeit vollkommen fertiggemacht wurde, wurde ruchbar, dass der Autor beim Produzieren des Ärgernisses gerade mal 15 Jahre alt war. Trotz einer öffentlichen Ermutigung durch Eva Strittmatter war ich wie am Boden zerstört, wusste ich doch: Nach dieser Diskussion würde keine Tageszeitung der DDR noch ein Gedicht von mir drucken. Das musste gar nicht erst „von oben“ angeordnet werden. So etwas geschieht in einem Untertanen-Staat in einer Art Selbstlauf. Allerdings: Aus meinem Traum, von Gedichten leben zu können, hätte ich schon früher erwachen müssen. Denn seit ich eine Lehre als Schriftsetzer begonnen hatte, war mein bis dato eher harmonisches Bild der Arbeitswelt völlig in sich zusammengefallen. Nun, da ich tagtäglich höchstselbst mit dem wirklichen Leben der arbeitenden Bevölkerung konfrontiert wurde, waren es plötzlich zornige, traurige, bittere Verse über die vorgefundenen gesellschaftlichen Zustände, die sich mir aufs Papier drängten. Es entstand ab 1964 ein Gedichtzyklus mit dem bezeichnenden Titel „Kontradiktionen“, von dem ich wusste, dass er auf absehbare Zeit nicht in der DDR publiziert werden würde. In dieser scheinbar verfahrenen Situation lud mich im Mai 1965 Georg Maurer ein, am Leipziger Literaturinstitut zu studieren.
Helbig: Wie haben Sie Georg Maurer erlebt?
Reimann: Vom Sehen her kannte ich den Dichter Maurer schon lange, wusste auch, dass er mit meinem Vater gemeinsam bei der Leipziger Zeitung gearbeitet hatte, und getraute mich doch nicht, den großgewachsenen Mann anzusprechen. Am Institut war Maurer für mich eine absolut vertrauenswürdige Vaterfigur. Und er war offensichtlich auch bereit, diese Rolle anzunehmen. Vielleicht nicht nur meiner „Begabung“ wegen, sondern auch, weil ich am Institut der mit Abstand jüngste Student gewesen bin. Die meisten Kommilitonen – zumeist schreibende Arbeiter, allesamt Genossen mit einem ideologisch ausgehärteten Weltbild – waren etwa zehn Jahre älter als ich. Für mich war es am Institut anregend und spannend, solange Helga M. Nowak und Kurt Bartsch noch dort waren und gelegentlich ein paar bunte Künstler-Vögel aus der BRD vorbeigeflattert kamen. Auch mit einer Litauerin war ich gut befreundet. Eine sehr interessante Persönlichkeit, die sich später allerdings auch als eine sehr eifrige Mitarbeiterin des MfS entpuppte. In dieser kleinen Runde konnte man vertraulich über Persönliches sprechen; das Lästern, auch über die Dozenten, ja, auch über das liebe Vaterland mitsamt seinen Bonzen und Spitzeln, betrieben wir öffentlich. Wir wussten freilich, dass das Institut eine Insel war. Neben Maurer, von dem man lernen konnte, die eigene Arbeit in aller Demut an den Schöpfungen der Weltliteratur zu messen und sich trotzdem an den nächsten Vers zu wagen, gab es am Institut für mich keinen wichtigen Lehrer. Da Maurer allerdings kaum etwas über Verslehre erzählte, musste man sich seine handwerklichen Fertigkeiten eben autodidaktisch erarbeiten, sofern man nicht einfach der Meinung war: „Wenn Maurer nichts davon erzählt, dann…“ Auch wegen dieser Art der Genügsamkeit sind etliche Schüler des großen Lehrers doch eher winzig geblieben. Umgekehrt wussten Helga M. Novak und ich, nachdem wir Robert Havemanns verbotene Schrift Dialektik ohne Dogma am Institut eingeschleppt hatten, welcher Dozent uns nunmehr noch einen besseren Marxismus-Leninismus hätte auftischen können. Es waren ein paar wirbelnde Monate, in denen wir liebten und dichteten und rauchten und soffen und an eine bessere Welt glaubten, und möglichst alles gleichzeitig. Und überall „Gedichte an den Anschlagsäulen“! Es gab nämlich in dieser Zeit die von der Freien Deutschen Jugend [FDJ] organisierte sogenannte „Lyrikwelle“. Das waren Gemeinschaftslesungen von mehreren Gedicht-Schreibern, zu denen buchstäblich massenweise Zuhörer kamen. Ein enormes Erfolgserlebnis für die Autoren, in Leipzig vor 500 Leuten im großen Saal des Klubhaus Freundschaft zu lesen, der heute längst wieder ein Ballsaal ist. Die meisten der Zuhörer kamen allerdings nicht aus Liebe zur Poesie zu den Veranstaltungen, sondern weil sie glaubten, in den Texten, die sie nicht kapierten, sei eine scharfe Regime-Kritik versteckt. Die Dummköpfe vom MfS vermuteten allerdings desgleichen. Nur die Autoren glaubten, allein ihr unbeholfen Untereinandergeschriebenes würde das Publikum zuhauf anziehen.
Helbig: Ende dieses Jahres 1965 gab es das berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED, welches die Situation in der Kulturszene einschneidend verändert hat.
Reimann: Auf dem 11. Plenum wurden vorrangig die neuesten Spielfilme der DEFA angegriffen. Fast eine ganze Jahres-Produktion wurde verboten. Es ging aber auch um aufmüpfige Literaten. Gegen Wolf Biermann, der mit einem Auftrittsverbot belegt wurde, auch gegen Günter Kunert und Rainer Kirsch und überhaupt. Werner Bräunig, Dozent am Institut und vormals der Erfinder des naiven Aufrufs „Greif zur Feder, Kumpel!“, bezog öffentlich vorsorglich Dresche für ein noch in Arbeit befindliches Werk, aus dem ein Kapitel bekannt geworden war. Von den Studenten des Instituts wurde erwartet, dass sie der neuen Kulturpolitik huldigen und sich von den Kritisierten abwenden würden. Ich war mit Bräunig befreundet, ich war in jener Zeit mit Biermann und Havemann befreundet. Für mich gab es keinerlei Grund, mich von ihnen zu distanzieren.
Helbig: Im März 1966 erfolgte Ihre Exmatrikulation am Literaturinstitut, mit der Begründung, dass „ein Talent sich subjektiv verschleißt, wenn es versucht, sich über die Zinnen der Partei zu erheben“. Zeitgleich wurde die Akte eines „Operativen Vorgangs“ beim MfS (OV „Autor“) eröffnet. Ebenfalls 1966 waren einige der Gedichte aus dem von Ihnen seit 1964 vorbereiteten Band Kontradiktionen als „ungenehmigte“ Vorabdrucke im Westen erschienen [in den Zeitschriften Alternative und Kürbiskern und in den Anthologien Lyrik in unserer Zeit, hrsg. von Wolfgang Weyrauch sowie Aussichten. Junge Lyriker des deutschen Sprachraums, hrsg. von Peter Hamm] Aber bereits 1965 hatten Sie zunächst erwogen, den Band Kontradiktionen dem Verlag Klaus Wagenbach in Westberlin anzubieten. Wie kamen Sie auf diesen Gedanken? Welche Verbindungen gab es zu Wagenbach? Georg Maurer und Franz Fühmann hatten, wie Sie an anderer Stelle sagten, von einer Westpublikation abgeraten. Hat man wirklich so offen über diese Dinge gesprochen?
Reimann: Am Institut ja. Auch noch die ersten Tage nach dem 11. Plenum. Maurer beurteilte die Arbeiten ausschließlich nach künstlerischen Kriterien. Er hütete sich davor oder fühlte sich außerstande, die politische Aussage von Texten zu kommentieren. Mein Kontradiktionen Vorhaben war vom Aufbau-Verlag bereits abgelehnt worden, noch ehe die Vorabdrucke erschienen. In Erwägung einer West-Veröffentlichung dachte ich sofort an Wagenbach, da er mit Hermlin und Bobrowski hiesige Autoren in seiner Quartreihe verlegt hatte. Die Gestaltung dieser Bände erinnerte erfreulich an Kurt Wolffs Reihe Der Jüngste Tag, die mir aus dem heimischen Bücherschrank vertraut war. Ich habe Maurer und Fühmann damals gesagt: „Wenn die Sammlung hier nicht erscheint, dann mache ich das Bändchen bei Wagenbach.“ Auch Biermann hatte in dieser Quartreihe einen Band. Ich war in jenen Jahren zweimal im Monat nach Berlin gefahren, um die neuen Lieder von ihm aufzunehmen und sie hernach in Leipzig bekanntzumachen. So hoffte ich, dass Biermann seinerseits dem Verleger mein Manuskript empfehlen würde. Beim Durchblättern der MfS-Akten ist mir übrigens der erheiternde Vermerk begegnet, dass „Reimann seine Gedichte nunmehr unter dem Namen Klaus Wagenbach im Westen veröffentlicht“. Naja. Ich bin auch auf Mitschnitte von Gesprächen gestoßen, die in meiner damaligen Wohnung stattgefunden haben. Dem eilfertigen Protokollanten war es freilich offenbar nicht geheuer, dass zwei Gesprächspartner auch gelegentlich mal einvernehmlich miteinander schweigen. In solchen Situationen malte er sich sofort aus, dass die beiden Schwulen nun wieder miteinander… Und prompt erfand er sich die entsprechenden Beischlafs-Dialoge, die trotz ihrer selbstentlarvenden Obszönität in ihrer Sprachlosigkeit und Naivität teilweise wirklich köstlich sind.
Helbig: Im November 1966 waren Sie zum Wehrdienst in der NVA eingezogen worden und sind im März 1967 nach einem Suizidversuch wieder entlassen worden.
Reimann: Ich hatte mir bei einem Apotheker Gift besorgt, für den „Ernstfall“. Weil man nie wusste, welchen Situationen man beim Militär ausgeliefert sein würde. Ich hatte das weiße Pulver aus Angst vor einem für den nächsten Morgen angekündigten Manöver-Einsatz dann auch wirklich geschluckt und war daraufhin mit lebensbedrohlichen Krämpfen ins Haftkrankenhaus eingeliefert worden. Ein paar Tage lang wussten die Ärzte nicht, ob sie mich durchkriegen würden. Aber bei einem Verhör kurz nach meiner Verhaftung bezeugte der erwähnte Apotheker, er habe in Voraussicht, dass ich von diesem Mittel schon bei der erst-schlechtesten Gelegenheit Gebrauch machen würde, mir seinerzeit ein „Giftfläschchen“ übergeben, dessen ursprünglichen Inhalt er gegen ein paar pulverisierte Spalttabletten ausgetauscht hatte. Meine „Vergiftung“ erwies sich also als pure Auto-suggestion! Deshalb konnte auch kein Gift nachgewiesen werden. In meinem Fall diagnostizierten die rätselnden Ärzte letztendlich einen Nervenzusammenbruch. Und so entkam ich nicht nur einer Inhaftierung im Militärgefängnis in Schwedt, in dem für gewöhnlich jene Armeeangehörige landeten, die sich partout dem rühmlichen und ehrenvollen Wehrdienst in der NVA zu entziehen versuchten: Ich entkam sogar der Armee. Und stürzte mich wieder in Arbeit und Rausch, bosselte an Nachdichtungen herum, fertigte Verlags-Gutachten, versuchte mehrmals, meine Vorstellungen von Partnerschaft zu leben. Und begeisterte mich in zunehmendem Maße für die Entwürfe der Reformer des „Prager Frühlings“. Damals schrieb ich:
Prags silhouette ein viel-
zahniger kamm.
Dieser anblick! Und schon
stieben aus meinem pelze
die läuse des vaterlands.
Die Zerschlagung dieser Bemühungen mit Waffengewalt entsetzte und empörte mich und diese verzweifelte Empörung machte sich monatelang öffentlich Luft.
Helbig: Hatten sich Ihre Verhaftung 1968 und die Verurteilung nach eineinhalb Jahren Untersuchungshaft wegen „staatsgefährdender Hetze“ auch auf Ihre Gedichte und Zeichnungen gestützt?
Reimann: Bei den Haussuchungen und der späteren Verhaftung durch das MfS waren mehrere Manuskripte, u.a. auch meines Bandes Kontradiktionen beschlagnahmt worden. Zu diesem Band hatten der Stasi auch die bereits vorhandenen ablehnenden Gutachten vorgelegen. Auch habe ich ein gesondertes Schriftstück aufgefunden, in dem seitenlang Zeugenaussagen zu einzelnen meiner Gedichte aufgelistet sind. Aber während ich in einem „Lagebericht“ der Hauptabteilung XX des MfS hochtrabend gar als „international bekannter Lyriker“ bezeichnet wurde, bin ich im Prozess keineswegs als Schriftsteller behandelt worden. Da charakterisierte mich der Staatsanwalt unwidersprochen als einen „Schriftsetzer, der sich als Schriftsteller ausgegeben hat“. Offiziell wurde ich aufgrund mündlicher „hetzerischer Äußerungen“ verurteilt, nicht wegen meiner Gedichte. Eine schmerzhafte Demütigung. Die Anklage eines Schriftstellers hätte vermutlich zu ein paar Protesten geführt, die die Stasi vermeiden wollte. Oder eben auch nicht. Zumindest hätte sie wieder an meine bloße Existenz erinnert, die nach eineinhalb Jahren Verwahrung hinter Gefängnismauern vielen meiner Bekannten vielleicht bereits aus dem Sinn geraten war. Angelastet wurden mir vor Gericht vor allem meine verzweifelt-wütenden Äußerungen gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag. Ich hatte den Einmarsch offen als Verbrechen bezeichnet. Aber all die über Jahre mit pingeligem Spitzel-Eifer zusammengehamsterten und in den Bänden des „OV Autor“ gehorteten Erkenntnisse blieben im Prozess unerwähnt. Das dürfte auch einige meiner Vernehmer geärgert haben, die sich fünfzehn Jahre früher am gleichen Ort mit dem Fall meines Vaters herumschlagen mussten. Und einer von ihnen, der sich aus taktischen Gründen auch über meinen Großvater Hans Reimann und damit dessen Wirken als Kabarettist informiert hatte, fragte mich eines Tages gereizt, ob „das Hetzen in (meiner) Familie vielleicht erblich“ sei? Ich hätte diese Frage mit einem deutlichen „Ja!“ beantworten können, das vieldeutiger gewesen wäre, als es der Fragende vermutete: Es war nämlich Hans Reimann dereinst wegen „Majestätsbeleidigung“ zu einer Gefängnis-Strafe verurteilt worden. Es saß nämlich mein Vater unter den Nazis ein paar Wochen in der gleichen Haftanstalt wie ich. Ihn hatte man wegen „defätistischer Äußerungen“ im „verschärften Arrest“ eingesperrt. Und ich war für den Vernehmer nun offenbar das dritte Großmaul in Folge innerhalb dieser Familie. Ein „Schreibverbrecher“, wie er mich nannte, der allerdings ein bisschen länger als seine Vorfahren im Knast würde ausharren müssen. Da man aber meine literarischen Verbrechen nicht an den Pranger stellen wollte – man hätte die Texte öffentlich machen müssen – versuchte das MfS, meine Zeichnungen als „Hetze“ zu deuten. „Das sind Darstellungen von Traum-Motiven, man nennt die ganze Kunstrichtung Surrealismus.“, versuchte ich den Vernehmern einzureden. „Ein Psychiater“, sagte ich noch, „könnte Ihnen meine Behauptung gewiss bestätigen.“ Ich fand mich wieder im Haftkrankenhaus für Psychiatrie Waldheim. Ein Vierteljahr lang zur Beobachtung. Allerdings half man mir, dem Alkoholiker, in Waldheim auch, mit den immer noch verwirrenden Entzugsproblemen fertig zu werden – und zwar erstmals hier in Waldheim. Außerdem traf ich in der Anstalt etliche Genossen, die in der Partei-Hierarchie längst nicht mehr auf der untersten Stufe standen, aber plötzlich graduelle Bedenken am politischen Kurs angemeldet hatten. In der „Klapsmühle“ waren sie gelandet, weil ihre verständnislosen, aber hilfsbereiten Mitstreiter ob ihres strafbaren Abweichens „von der Linie“ zu der Schlussfolgerung gekommen waren: „Wahrscheinlich haben die Ärmsten vor lauter Arbeit Tumore in den Köppen gekriegt!“ – Wieso bin ich in dem Dreivierteljahr, das ich als Untersuchungsgefangener in Einzelhaft verbringen musste, nicht durchgedreht? Ich bekam als „Schreibverbrecher“ wie selbstverständlich weder Papier noch Stifte, um irgendetwas aufzuschreiben. Eine Tortur für einen, bei dem das Schreiben bereits zum Stoffwechsel gehört. Aber glücklicherweise konnte ich mit Heine frohlocken:
Die Konterbande, die mit mir reist,
die hab im Kopf ich stecken.
Ich kannte damals etwa 300 Gedichte anderer Poeten auswendig. Mit denen konnte man sich sehr gut die Zeit vertreiben. Zum Beispiel daraus nach Belieben ein Goethe- oder Hölderlin- oder Benn-Programm, eine Brecht- oder Wedekind-Liederfolge zusammenstellen. Und man konnte zumindest gemäßigt laut unkritisiert Eisler- und Kurt-Weill-Songs singen. Es war wesentlich angenehmer, mit diesen zahlreichen Versen allein zu sein, als mit einem anderen Gefangenen acht Quadratmeter Zelle teilen zu müssen, diesen durchfallgrün gestrichenen Raum, in dem neben der Tür das Klobecken stinkt und dessen Fensterluke mit Glasziegeln zugemauert ist.
Helbig: Nach der Verurteilung waren Sie im Strafvollzug Cottbus. Waren Sie dort zusammen mit kriminellen Gefangenen untergebracht?
Reimann: Nein, in Cottbus gab es damals nur politische Gefangene. Sie arbeiten für Pentacon [Fotoapparate] und für Scharfenstein [kältetechnische Anlagen], und man musste schon ranklotzen, um die vorgegebenen Normen zu erfüllen. Davon hing es ab, wieviel Geld man für den Einkauf von z.B. Zigaretten und Toilettenartikeln zur Verfügung hatte. Auch war ein Arbeitstag in Cottbus zehn Stunden lang. Trotzdem ist es leichtfertig, die Arbeit im Knast als „Zwangsarbeit“ zu bezeichnen: Ohne Arbeit wäre man im Strafvollzug aggressiv und letztlich verrückt geworden.
Helbig: Die Haftstrafe war zunächst gleichbedeutend mit einem Publikationsverbot?
Reimann: DDR-logischerweise bestimmt. Zum Beispiel sollte zur Frühjahrsmesse 1969 mein Band Kontradiktionen in einer (mit meinem Einverständnis!) bis zur Unkenntlichkeit veränderten und abgeschwächten Variante unter dem staubigen Titel „Straßenkreuzung“ erscheinen. Dazu war es nach meiner Verhaftung nicht mehr gekommen. Und heute bin ich froh darüber, dass diese Zusammenstopplung nie erschienen ist. Aber nach dem Knast wäre ich gewiss damit einverstanden gewesen, wenigstens mit solch einer gerupften Sammlung wieder präsent zu sein. Es hat freilich keiner mehr mit dem Aussätzigen reden wollen. Doch der ursprünglich von mir konzipierte Band Kontradiktionen, ergänzt um weitere Texte, wird noch in diesem Jahr endlich, endlich als erster Band meiner Werkausgabe in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig erscheinen. Genau ein halbes Jahrhundert nach dem ursprünglich geplanten Erscheinungstermin. Und rechtzeitig zu meinem siebzigsten Geburtstag.
Helbig: Nach der Haftentlassung hatte man Ihnen angeboten, bei der Leipziger Volkszeitung zu arbeiten.
Reimann: Ich hatte das abgelehnt mit der Begründung: „Ich habe gerade zwei Jahre wegen Eurer Phrasen im Gefängnis gesessen, ich werde jetzt nicht helfen, sie zu verbreiten.“ Ich habe dann in einer kleinen Firma in Leipzig als Transportarbeiter angefangen und später in einer Brauerei Bierflaschen gespült, abgefüllt und etikettiert. Da hatte ich ihn, den ich doch gewollt hatte: den Kontakt zur den Leuten, für die ich zu schreiben glaubte, der laut Propaganda „führenden Klasse“. Ich habe auch als Lohnbuchhalter in einer Firma für Kinderoberbekleidung gearbeitet, einem reinen Frauenbetrieb. Und ich, nur durch eine nachträglich eingezogene Trennwand von den Produktionsräumen getrennt, „durfte“ mit anhören, was sich die Näherinnen von früh bis abends so zu erzählen hatten: Sie übertrafen einen Stammtisch besoffener Männer in drastischer Ausdrucksweise und abwertenden Sexualphantasien in einem Maße, dass ich mir mit deren auch nur vage angedeuteten Wiedergabe den empörten Vorwurf „frauenfeindlicher Erfindungen“ einhandeln würde.
Helbig: Institutsdirektor am Leipziger Literaturinstitut war zum Zeitpunkt Ihrer Exmatrikulation Max Walter Schulz gewesen. Er war es, der die Begründungen liefern musste. Später hatte es ihn gereut, oder wie ist die spätere Promotion durch ihn zu verstehen?
Reimann: Er hatte wahrscheinlich gedacht, dass ich aufgrund seines Gutachtens lediglich „in die Produktion geschickt“ werden würde. Das war ja die in seinem akademischen Wahrnehmungsbereich damals meist angewandte „Strafe“ für aufsässige Intellektuelle. Gewiss hat er sich nicht vorstellen können, dass solch eine Beurteilung noch Ende der sechziger Jahre dazu dienen könnte, den Betroffenen ins Gefängnis zu bringen. Auch nach meiner Verurteilung hat er sich weiter an die Vorstellung geklammert, dass „R. seine Begabung seinem Trotz geopfert“ habe, seiner „Uneinsichtigkeit“ Ende 1972, als er mich wieder einmal des „subjektiven Talentverschleißes“ bezichtigte, habe ich ihm dann meine neuesten Gedichte gesandt, mit der Frage, ob er das „subjektiven Talentverschleiß“ nenne. Von da an hatte er versucht, mich wieder als Dichter ins Gespräch zu bringen. Stephan Hermlin hatte einige Jahre vorher in der Akademie der Künste in Berlin junge Lyriker vorgestellt, u.a. auch Wolf Biermann, der erst dadurch bekannt geworden war. Nun sollte Anfang 1973 also Max Walter Schulz auf einer ähnlichen Akademietagung einen jungen Lyriker vorstellen. So kam es zu „meiner“ Akademielesung. Das war für einen Autor in der DDR durchaus von Bedeutung, da dies ein Signal nach außen war, an die Verlage und Zeitschriften. Deshalb hatte die Stasi intensiv versucht, Max Walter Schulz von seinem Vorhaben abzubringen. Er hatte sich aber nicht beirren lassen. Während der Lesung saß er blass wie ein unausgereifter Käse auf seinem Sessel neben mir. Später konnte ich den Akten entnehmen, dass die Leipziger Stasi extra eine sechsköpfige „Einsatzgruppe“ nach Berlin geschickt hatte.
Max Walter Schulz hatte dann mein Manuskript „Die Weisheit des Fleischs“ an Gerhard Wolf beim Mitteldeutschen Verlag Halle gegeben. Diese beiden haben sich auch gegenüber der Staatssicherheit stark gemacht, die den Druck des Buches verhindern wollte. Dabei ging es diesen Leuten wahrscheinlich weniger um die Gedichte, sondern vorrangig um die Person des Autors, den man zur Un-Person machen wollte, wohl hauptsächlich weil er sie „geärgert“ hatte. Das Bändchen ist dann 1975 erschienen. Übrigens insgesamt in drei Auflagen. Man mag ältere Kollegen und Lyrik-Leser fragen, welche Wirkung die Verse damals auf sie ausübten. Von der Literaturwissenschaft war das Buch offiziell allerdings nicht zur Kenntnis genommen worden. Bis heute nicht. Sein Erfolg basierte freilich zum Teil auch auf der Neugier jener zahllosen Autoren, die seit 1970 unter dem Sammelbegriff „Poetenbewegung“ firmierten. Ich hatte in der Zeitschrift Sinn und Form einen polemischen Essay veröffentlicht unter dem Titel „Die neuen Leiden der jungen Lyrik“, und darin hauptsächlich das fehlende Form-Bewusstsein der pubertären Autoren beklagt und damit eine lang anhaltende Leser-Diskussion provoziert. Als es der Redaktion nach einem Jahr reichte, gab sie mir die Möglichkeit, abschließend auf die abgedruckten Leserbriefe publizistisch zu reagieren. Im Kontradiktionen-Band meiner Werkausgabe wird auch dieses durchaus aktuelle Material enthalten sein.
Helbig: Weder der Essay noch der Band Die Weisheit des Fleischs waren also wirkliche Türöffner. Das Publizieren in Zeitschriften und Zeitungen war nach wie vor nicht möglich. Wovon haben Sie gelebt?
Reimann: Der Versuch, mich aus der Literaturgeschichte auszubürgern, schien zwar erfolgreich. So war ich aber auch nicht gezwungen, einen Kotau vor den Mächtigen zu machen. Ich verdiente manchmal was mit Nachdichtungen – bei Reclam, Volk und Welt, beim Eulenspiegelverlag. Es gab so etwas wie eine Solidarität unter den Lektoren. Die sagten: Den haben sie versucht kleinzukriegen – um den müssen wir uns kümmern. Das hat man ihnen durchgehen lassen, denn die Namen der Nachdichter werden ohnehin nur von wenigen Lesern zur Kenntnis genommen. Im Laufe der Jahre durfte ich also für Reclam Rimbaud und einige Surrealisten nachdichten und habe für die Weiße Reihe von Volk und Welt Sabolotzki und Dratsch übersetzt. Mein größter Auftrag war ein Bändchen Gedichte aus Mocambique, den ich vom Reclam-Verlag erhalten hatte. Vereinbart war, dass ich die Verse mit Unterstützung des mosambikanischen Herausgebers Raul Bernardo Peres da Silva allein nachdichten sollte. Nachdem die FRELIMO [die kommunistische Bruderpartei der SED] die Textauswahl kritisiert hatte, wurden da Silva ausgebootet, ein neuer Herausgeber eingesetzt und meine weitere Arbeit von ein paar anderen Nachdichtern übernommen.
Ich hatte damals noch keine eigene Wohnung. Nach dem Knast hatte ich zunächst einmal anderthalb Jahre lang bei der sehr gutmütigen Mutter eines Freundes schmarotzt. Danach hatte ich mich nacheinander bei verschiedenen Freunden eingenistet, und auch bei denen standen mir die Kühlschränke offen. Ja, ich gebe schamlos zu, dass ich mein ganzes Leben lang nicht von der „reinen Poesie“ allein leben konnte, hoffe allerdings, mich nicht nur damit unter die ernstzunehmenden deutschen Dichter einzureihen. – Zu meinem zweiten Gedichtband, der Texte aus den Jahren 1973–1976 enthielt und drei Jahre nach dem Abschluss des Manuskripts erschienen ist, an dieser Stelle nur der Hinweis, dass seine wiederum drei Auflagen wiederum von den Feuilleton-Schreibern unbeachtet blieben, aber schnell vergriffen waren. Und als sich dann abzeichnete, dass meine neueren Gedichte nicht mehr erscheinen würden und bei meinen Lesungen die Zahl jener Zuhörer, die sich lächerlich geheimniskrämerisch ihre Notizen machten, aufs Neue sichtlich angewachsen war, begann ich, mich auf meine Arbeit mit Chanson-Interpreten zu konzentrieren.
Helbig: Wie kann man sich die Chanson-Szene in der DDR vorstellen, für die Sie dann mehr und mehr Texte schrieben? War das eine autarke Szene, die sich der Reglementierung durch den Staat besser entziehen konnte?
Reimann: Es gab die offiziellen „Tage des Chansons“ in Frankfurt an der Oder, unter der Leitung von Gisela Steineckert. In Frankfurt wurde kaum reglementiert. Mich erinnerte der Zirkus immer ein wenig an das Institut für Literatur mit seiner Vielzahl von „draußen“ verbotenen Büchern in der Bibliothek und den deutlichen Hinweisen darauf, dass man bestimmte unorthodoxe Diskussions-Beiträge innerhalb der Lehranstalt nicht in die Öffentlichkeit zu tragen habe. Es war nach den anregenden Tagen in Frankfurt/Oder nämlich keineswegs sicher, dass die Interpreten – auch die Preisträger des Sängerkrieges – außerhalb des Festivals irgendwelche Auftrittsmöglichkeiten bekamen. Es führt zu weit, mich hier genauer auf Ihre Frage einzulassen. Nur so viel: Mit meinen Chanson-Texten konnte ich endlich mal genug Geld für meinen Lebensunterhalt verdienen. Genug Geld für täglich sechzig Zigaretten und ein paar Liter alkoholischer Getränke. Dabei gelang es mir nur deshalb, so viele Chanson-Texte an die unterschiedlichsten Interpreten zu verkaufen, weil die sich allesamt öffentlich als „Liedermacher“ ausgaben; das klang doch so, als hätten sie ihre Verlautbarungen selber erschrieben. – Es gab auch die gerade noch geduldeten „Tage des Chansons im Kloster Michaelstein“. Dort trafen sich all jene, die aus verschiedensten, nicht in jedem Fall politischen Gründen, keinen Berufsausweis bekamen. Oder denen man die „Pappe“ entzogen hatte. Bei dieser recht lebendigen Veranstaltung waren die zornigsten der Barden quasi unter sich. Es gibt sehr denunziatorische Spitzel-Berichte darüber. Aus taktischen Gründen wurde die „Zusammenrottung“ dennoch nicht verboten. Und, wie gesagt, die Barden waren sowieso unter sich.
Helbig: Berühmt geworden sind Sie mit den Texten für die sehr bekannte Rockgruppe Lift. Insbesondere das auf der Amiga-Platte Spiegelbild enthaltene „Liebeslied“ [„Will an Deinen Leib mich fügen“] war jedem in der DDR bekannt. Ist dieser Text ursprünglich als Liebesgedicht geschrieben und erst später vertont worden?
Reimann: „Berühmt geworden“ bin ich damit nicht, weil wie bei den Chansons oder den Nachdichtungen in solchen Fällen niemand nach dem Wort-Geber fragt. „Berühmt“ war ich zu DDR-Zeiten in andeutungsweise oppositionellen Kreisen nach Erscheinen meines ersten Gedichtbandes. Im zweiten gibt es eine Ode darüber, die da heißt: „Der frühe Ruhm“. – Aber zurück zu „Will an deinen Leib mich fügen“: Oder auch dem Lift-Titel „Der Frieden“. Beides sind ursprünglich „Lese“-Gedichte, die sich allerdings in ihrer strophischen, klaren Struktur zur Vertonung anbieten. Absichtsvoll einen Lied-Text schreiben, heißt zunächst einmal, sich klar zu machen: Ein Lied ist an die zeitliche Spanne seines Vortrags gebunden. Und dem Hörer ist keine andere Frist gegeben, sich den Inhalt des Gesanges zu erschließen. Es ist ja zumindest im Konzert schier unmöglich, einen Sänger zurückzuspulen, Aber es ist einem Menschen wohl zuzumuten, ein Gedicht eben nochmals zu lesen, lesen zu müssen, wenn er’s beim ersten Mal nicht ganz begriffen hat. Es gibt freilich sehr viele Gedichte, die sich gegen eine Vertonung sperren. Die meisten ordentlichen Rocktexte hingegen sind losgelöst von der Musik sprachliche Scherbenhaufen. Ich selber habe für Lift auch solche Texte geschrieben – „Große Landschaft“ beispielsweise. Oder „Sindbad“, beides unlesbare Sachen! Überhaupt habe ich wenig Talent, nach vorgegebener Musik Texte zu entwerfen.
Helbig: Die Wende war in jedweder Hinsicht eine Zäsur. Eine Publikation Ihrer Texte war wieder möglich.
Reimann: Erst 1995 sind mit dem Band Sonettarium [Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig] wieder gesammelte Gedichte von mir erschienen. Ich hatte es nach der Wende damit nicht sonderlich eilig gehabt, denn durch die lange Publikationssperre war ich es gewohnt, Texte zu machen, von deren langwährender Haltbarkeit ich überzeugt war. Wissend, dass es nicht allzu bald gedruckt werden würde, hatte ich es mir abgewöhnt, etwas vom Zeitgeist Abhängiges zu verfassen. Ich bin gezwungen worden, für die Ewigkeit zu schreiben. [lacht]
Ich habe auch beides beibehalten, die Gelassenheit, was den Erscheinungstermin neuer Publikationen betrifft, und das Bemühen, der Sprache über meine Zeit zu helfen. So ist mein letzter größerer Gedichtband Gräber und drüber [Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig) bereits vor nunmehr sechs Jahren erschienen. Und die jüngste Sammlung mit dem Titel grüner winter (Literarisches Dresden e.V., 2015) ist so angelegt, dass man sie wahrscheinlich ohne schmerzhafte Brüche auch noch in zehn Jahren erweitern könnte.
Helbig: In Ihrem Gedicht „Schöne neue Welt“ aus dem Jahr 1992 steht: „Nicht ich bin, meine zwei Länder sind heimatlos.“ Das Angebot, aus der DDR auszureisen, hatten Sie stets abgelehnt.
Reimann: Ich bin nicht aus der DDR fortgegangen, weil ich mir sicher war, in dem von innen heraus gefährdeten Ländchen gebraucht zu werden. Nun, meinen Lebenspartner hätte ich ja mitnehmen können. Aber die Leser, die eine Haltung vor Ort erwarteten? Und ich bin geblieben, weil ich mir nach Gesprächen mit Leuten aus der BRD völlig sicher war: Ich käme von einem Absurdikum ins andere. Wie ja dann auch geschehen. Solange sich die zwei Himmelsrichtungen nicht zu einer gemeinsamen Geschichte bekennen, sondern sich gegenseitig in Permanenz rechthaberisch ihre Teil-Vergangenheit vorhalten, haben sie, ich sag’s mal so pathetisch, den Sinn ihrer Wiedervereinigung noch nicht gefunden. Mir selber geht’s da besser, denn wenn überhaupt etwas, dann ist die Sprache meine Heimat. Und diese Sprache war für mich immer unteilbar. Freilich meine ich nicht die Gegenwartssprache. Bei diesem Statement geht es um die klassisch klare Sprache der besten deutschsprachigen Dichter seit Walther von der Vogelweide. Also auch um Gegenwartssprache.
Helbig: Auf die Behauptung, die DDR-Dichter hätten sich einer speziellen „Sklavensprache“ bedient, haben Sie einmal geantwortet: „Der Begriff Sklavensprache bezeichnet eine Methode, an die wir uns derart gewöhnt hatten, dass es uns heute schwerfällt, Klartext zu reden.“ Ein kryptischer Satz, der für die Nachgeborenen der Erklärung bedarf.
Reimann: Der Satz ist nicht „kryptisch“, sondern ungenau. Ich wollte erklären: Viele DDR-Dichter und Song-Texter hatten über Jahrzehnte eine feinsinnige Methode entwickelt, ihre Meinungen mit abgerissenen Metaphern zu tarnen. Oft haben sie sich (wir uns!) z.B. hinter Mythologischem versteckt, um unangreifbar zu bleiben. Freilich, wem dieses Wandeln auf dem Grat zwischen List und Feigheit fremd ist, der mag das für ihn Unverständliche als „Sklavensprache“ deuten. Aber es war eine Sprache, die von den Zensoren ganz genau verstanden wurde. Sie bot ihnen allerdings keine konkreten Angriffspunkte. Wenn der Staatsanwalt auch kochte, er konnte doch keinem eine drüberbraten. Eine Anklage gegen Prometheus wäre eventuell schwierig gewesen. Denn wenn einer goetheisch formuliert, keine Götter mehr annehmen zu wollen, ist dies unangreifbar, auch wenn jeder weiß, dass das Zentralkomitee gemeint ist.
Helbig: Spielt der zweite Teil des zitierten Satzes darauf an, dass man als Dichter nach der Wende erst einmal eine neue Sprache für sich finden musste?
Reimann: Man musste sich zunächst einmal klar machen, dass man es mit anderen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat. Allerdings bekam die plötzliche Freiheit einigen DDR-Literaten nicht besonders gut, denn sobald man (fast) alles sagen darf, zeigt sich ja auch deutlich, ob man überhaupt etwas zu sagen hat. Unter meinungsfreiheitlichen Bedingungen braucht die Metapher nicht mehr zur Bemäntelung der eigentlichen Aussage herhalten. Ihr kommt wieder ihre eigentliche Funktion zu: Das Wesen des beschriebenen Gegenstandes deutlicher erkennbar zu machen. Aber ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, so er denn ein Dichter war, eine neue Sprache finden musste. Wenn im Alltag doch nachhaltig eine andere „innerbetriebliche Verständigungs-Schwierigkeit“ verstört. Die Tatsache nämlich, dass man in ausgereiftem Alter häufig erst einmal die Bedeutung einzelner, bislang durchaus vertrauter Vokabeln im Sprachgebrauch des Gesprächspartners hinterfragen muss. Im Alltag existieren also vermeintlich zwei deutsche Sprachen nebeneinander, obwohl sich die Leute der gleichen Wörter bedienen. Da ist es tröstlich zu wissen: Da ist, wie bereits angedeutet, auch noch eine dritte Sprache, die Sprache der Dichter. Die haben sie freilich auch nicht selber erfunden. Sie kommt aus einer sehr langen Tradition und schöpft ihre vereinende Kraft aus ihrer Genauigkeit. So kommt der Poesie in diesen Zeiten der Sprachvermanschung durch Anglizismen, dümmliche Werbe-Sprüche, SMS-Formulierungen, glitschiges Politiker-Idiom und Volkes verbale Fäkal-Orgien im Netz stärker denn je die Aufgabe zu, Sprache zu bewahren.
Helbig: Die Chanson-Szene, für die Sie Texte geschrieben hatten, war nach der Wende praktisch nicht mehr existent. Auch die Übersetzungsaufträge von DDR-Verlagen gab es nicht mehr. Sie hatten dann zunächst für Zeitungen geschrieben.
Reimann: Zu mir war ein ehemaliger Journalist der Leipziger Volkszeitung gekommen, der 1990 von einem westdeutschen Zeitungsverleger die Chance eingeräumt bekommen hatte, eine Wochenzeitung zu machen, den Leipziger Sonntagskurier. Die Zeitung hat etwa zwei Jahre existiert. Dieser Journalist hatte mir im ersten Gespräch offenbart, dass er IM [informeller Mitarbeiter der Stasi] gewesen sei. Da habe ich erst mal geschluckt, mich dann aber doch für eine Mitarbeit entschieden. Denn wenn einer, noch bevor die ganzen Stasi-Geschichten aufgedeckt worden waren, den Mut hatte, das zu sagen, dann hat er wohl ehrlich versucht, einen Neuanfang zu machen. Andererseits ist von denen, die mich bespitzelt hatten, bis heute nicht einer gekommen, um wenigstens mal ein bescheidenes „Tut mir leid!“ zu murmeln.
Ich habe auch weiter Liedtexte geschrieben. Hubertus Schmidt, Jens-Uwe Günther, Walter Thomas Heyn und andere hatten nach der Wende wieder Fuß gefasst. Gemeinsam mit dem Komponisten Walter Thomas Heyn – der bereits 1984 meine Choraltexte für die Leipziger Friedensgebete vertont hatte – brachte ich eine Kantate zur Aufführung, ein öffentlicher Auftrag. Mit dem gleichen Komponisten hatte ich ein Singspiel Der Plunderhund im Lande Wunderbunt verfasst, das in der letzten Minute vorm Mauerfall uraufgeführt worden war. Zwei Tage später war’s also thematisch nicht mehr aktuell. Kurz: im Wesentlichen lebte ich auch in der BRD vom Einkommen meines Lebensgefährten Dieter Ramke, der sich als Kellner krummlief.
Helbig: Zu Ihren Gedichten befragt, sagten Sie einmal: „Ich bin nicht jemand, der Gedichte bastelt, Gedichte müssen passieren.“
Reimann: Es gibt gewiss zahlreiche Autoren, die in der Lage sind, auf Abruf Gedichte zu verfassen. Aber wenn sich unsereins den Leuten als Dichter vorstellt, reden die sofort von Hochstapelei, weil man nicht auf der Stelle mal ein paar Verse zusammenreimen kann. Ich probiere nicht einmal mehr, mir Verse abzuringen. Denn was spricht dagegen, darauf zu warten, dass das Gedicht mir passiert, also der emotionale Stau sich wie von selbst in Sprache auflöst? Nein, ich möchte am Anfang des Schreibprozesses gar nicht wissen, wie das Gedicht ausgehen wird. Wo sollte dann für mich der Spaß am Produzieren bleiben? Ich weiß nur: Ich werde nach der Arbeit auch etwas Neues über mich selber erfahren haben. Natürlich ist das Gedicht selten bereits fertig, wenn’s nackicht ins Leben gekommen ist. Im Kopf entstehen meist mehrere Fassungen, Umformungen, sprachliche Feinarbeiten. Früher, als man sich den ganztägigen Aufenthalt in der Kneipe finanziell noch leisten konnte, habe ich diese verschiedenen Fassungen in der Öffentlichkeit aufgeschrieben und galt als fleißig. Jetzt, wo ich nur noch erschöpft die letzte Fassung vor aller Augen zu Papier bringe, tuscheln die Leute in meinem Stammcafé: „Er ist schon ein bisschen faul geworden.“
Helbig: Peter Geist ist der Literaturwissenschaftler, der sich am verdienstvollsten und wirksamsten mit Ihrem Werk befasst hat. Er sagt: Reimann ist ein Dialektiker, spricht vom dialektischen Sprachwitz Brechts, den er bei Ihnen findet, benennt die Wahl großer Gegenstände, den unbedingten Formwillen und den hohen Ton als Markenzeichen Ihrer Dichtung.
Reimann: Dieser dialektische Sprachwitz kommt nicht unbedingt nur von Brecht. Er hat wahrscheinlich mehr mit Heinrich Heine zu tun. Der ist heute nur etwas aus dem Blickfeld geraten. Ist vielleicht für die Pädagogen verschiedenster Couleur zu aktuell. Und die „großen Gegenstände“, also Liebe und Krieg und Frieden: Man haust mittlerweile überall auf der Welt zu zentral, als dass man sich um sie herummogeln könnte. Diese Gegenstände wiederum verlangen den hohen Ton. Der wiederum ergibt sich u.a. aus der deutlich konturierten Form.
Helbig: Für andere waren Sie der neue Rimbaud.
Reimann: Nun, ich war wie Rimbaud sehr jung, als ich in die Literatur geriet. War wie Rimbaud keiner, der sich in seinen Kram reinreden ließ. Und ich brachte wohl einen neuen Ton in die DDR-Lyrik. Aber damals, als man mir den Vergleich mit einem der eigentlich Unnachahmlichen anhing, konnte in der DDR nahezu kein Mensch etwas mit dem Namen Rimbaud anfangen. Vielleicht war einem Lyrik-Leser ja mal des Dichters „Das trunkene Schiff“ unter die Augen gekommen, von dem es zahllose Nachdichtungs-Varianten gab. Auch zündete man ihm in Schwulen-Kreisen manch Kerzelein an – dem „Typen“, nicht dem Dichter, aber das betraf mich damals noch nicht. Und dass ich irgendwann mal das Angebot bekäme, ein paar Rimbaud-Gedichte zu übertragen, war auch noch nicht absehbar. Jahre später bot mir der Reclam-Verlag ebendiese Möglichkeit. Und so habe ich mich auch herangewagt an das sogenannte „Erste Stupra-Gedicht“ [„Les anciens animaux saillissaient…“ / „Die Tiere einst…“; aus „Les Stupra“, 1875], das bis dahin im deutschen Sprachraum noch nicht nachgedichtet worden war. Ein Sonett.
Helbig: Das Sonett ist eine Form, die Ihnen sehr entgegenkommt. Selbst als das Sonett verteufelt wurde, haben Sie an dieser Form festgehalten.
Reimann: Ich habe die Form des Sonetts schon früh für mich entdeckt. Etwa 1970. Als ich nach einer Möglichkeit suchte, die überbordende barocke Bilder-Fülle in den Griff zu bekommen. Meine Sammlung Das Sonettarium enthält ungefähr 70 Texte aus 25 Jahren und erschien 1995. Das Sonett zwingt mit seinem geregelten Aufbau den Autor dazu, diszipliniert zu denken und diszipliniert zu schreiben. Es ist mir ein Vergnügen, mein Anliegen in einer festgelegten Anzahl von Versen auf den Punkt zu bringen. Es ist spannend, spielerisch auszuprobieren, wieviel Gegenwärtiges man in der altbewährten Form transportieren kann. Goethe allerdings lehnte das Sonett ab, weil er befürchtete, er müsse „dabei allzuviel leimen“.
Helbig: Ihre Sonette wirken gerade nicht „geleimt“, sie wirken leicht. Ihre Sonette halten sich auch oft nicht an die übliche 4 : 4 : 3 : 3 -Form, mitunter ist es ein ungeteilter 14-Zeiler, der erst beim zweiten Lesen als Sonett erkannt wird.
Reimann: Ich halte mich dennoch ziemlich streng an die Vorgaben der Verslehre: Die Texte, die ich „Sonette“ nenne, bestehen prinzipiell aus 14 gereimten sogenannten Blankversen. Mit dialektischem Witz wird ihr Inhalt gemäß der Regel These-Antithese-Synthese bearbeitet. Und wenn es bei mir „leicht“ aussieht, kommt’s wohl davon: Ich habe lange genug das Tanzen geübt. Was natürlich auch nicht gelingt, wenn man zwei linke Füße hat. Doch ich möchte natürlich nicht, dass man meine intensiven Bemühungen um die strenge (oder sollte ich lieber sagen: als solche erkennbare?) Form auf das Sonett reduziert. Seit nunmehr vierzig Jahren veröffentliche ich – Hölderlin lässt grüßen! – in meinen Büchern z.B. Nachbildungen antiker Oden-Strophen. Aber wenn ich nicht irgendwann wie anno dazumal Herr Klopstock die entsprechenden metrischen Zeichen über die Gedichte drucken lasse, merkt das nicht einmal mehr ein Altphilologe! Ich habe Gedichte in Homer’schen Hexametern und Distiche verfasst, das Ritornell als Transportmittel für meine Inhalte genutzt usw. Das ist Handwerk, und der Leser muss darüber nicht unbedingt Bescheid wissen. Vielleicht hört man Musik ja eher schlechter, wenn man im Konzert die Partitur mitliest. Wesentlich ist einzig und allein, dass der Poet seinen eigenen Ton findet. Doch sobald seine Gedichte unverwechselbar zu werden beginnen, geraten hierzulande Germanisten und Rezensenten in helle Aufregung. Aus Freude? Nein. Sie suchen stattdessen verwirrt sofort danach, von welchem „berühmten“ Autor der Neue sich den Klang ausgeborgt hat.
Helbig: In dem frühen Buchenwald-Gedicht, 1966 veröffentlicht in dem vorhin bereits erwähnten Band Aussichten, ist bereits der Reimann-Ton unverwechselbar enthalten. Es ist das Gedicht eines 18-jährigen, das bereits alle Klischees der DDR beiseitelässt und ganz neu ansetzt.
Reimann: Ich habe noch vor der Pubertät begonnen, unglaublich viel Lyrik zu lesen. Völlig durcheinander. Sozusagen Hölderlin gegen Erich Weinert, die Menschheitsdämmerung und Platens gebastelte Verse. Dieses Konglomerat an Gedanken, sprachlicher und gedanklicher Vielfalt und Schönheit wurde mein Maßstab für alles, was sich außerhalb von ihr bewegte. Mein Maßstab für eine nachhaltig bösartige Wirklichkeit. Aus der ich mich so weit hinter Verse zurückzog, dass ich nach ziemlich kurzer Zeit ein nahezu heiles, also literarisch geschöntes Bild von „draußen“ hatte. Die Realität ließ sich nicht lange davon abhalten, mir wie ehedem frohgemut Fußtritte zu verpassen. Aber aus dem halbwegs ausgehaltenen Widerspruch zwischen chaos-ordnender Poesie und zerstörerischer, aber gleichzeitig doch nicht selten beglückender Wirklichkeit entwickelt sich bei manchen der eigene Stil. Wenn man Glück hat.
Helbig: Peter Geist sagt auch: „Reimann setzt auf Aufbruch, Bewegung, Widerstand gegen Verfestigungen.“ Das kann über Ihre Dichtung, aber auch zu Ihrem Leben gesagt werden?
Reimann: Ich wollte z.B. nie ein politischer Dichter werden. Aber ich musste mich wehren, wenn die Politik immerzu in meine Kreise – als Dichter und Mensch – einbrach. Und so ist mir nach der Wende auch nicht der Stoff ausgegangen. Leider. Aber die Ungerechtigkeit der Welt war nun mal nicht abgeschafft, bloß weil die DDR zugrunde gegangen war. Ich habe gar keine Zeit, mich ständig mit dem Unrecht zu DDR-Zeiten zu beschäftigen. Ich muss mich um die Gegenwart kümmern. Es ist keineswegs vergnüglich, wenn es mich die Verse schreiben lässt: „(…) Und es siehet das schöne / nur, der abwendet sich.“
Für mich stand die Frage, die ich in „Das ganze halbe Leben“ erstmals formuliert habe: „wie soll denn einer leben, wenn er stirbt?“ Diese Frage zieht sich durch meine ganze Dichtung. Aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit seine Kraft ziehen. Trotz alledem.
Helbig: Ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Ostragehege, Heft 81, 5.9.2016
Andreas Reimann: „Leipzig feiert pausenlos“
Peter Geist: „die ganzlust hab ich“ – zu den Gedichten von Andreas Reimann
Porträt des Lyrikers Andreas Reimann
Peter Geist: „Ich flagge die fahne protest!“
Ostragehege, Heft 87, 5.3.2018
Gespräch Alexander Mayer mit Andreas Reimann: Leipziger Lyriklegende Andreas Reimann: Schreiben aus Notwehr
mdr KULTUR, 11.11.2021
Michael Ernst gratuliert Andreas Reimann zum 75. Geburtstag
mdr.de, 8.11.2021
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