Andrej Belyj: Im Zeichen der Morgenröte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andrej Belyj: Im Zeichen der Morgenröte

Belyj-Im Zeichen der Morgenröte

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Die Zeit vor der persönlichen Begegnung

Das erste Zeichen

Die Erinnerungen an Aleksandr Aleksandrovitsch Blok gehen weit, weit zurück, kreuzen die Gewitterjahre Rußlands und reichen bis in die Zeit der leuchtenden Morgenröten, über die wir beide gesonnen haben.
Ich kannte Blok, ehe wir uns persönlich kennenlernten; das erste Mal hörte ich von ihm durch Sergej Solovjov im Jahre 1898, vielleicht auch 1897; schon damals erfuhr ich: ein Verwandter von Solovjov, damals noch „Sascha“ Blok, schreibe, wie wir alle, Gedichte; und hänge, wie wir alle, mit ganzer Seele am Theater Shakespeares; ich wußte, er ist – wie auch ich – Gymnasiast, und er verehrt das Haus Solovjov, in dem ich viel verkehrte. Michail Sergejevitsch Solovjov, ein Bruder des Philosophen, und seine Gattin förderten meine Ausflüge ins Reich des Gedankens; ungewöhnliche Beziehungen bahnten sich zwischen uns an; ich, ein Jüngling von sechzehn oder siebzehn Jahren, freundete mich mit dem kleinen Solovjov an (er war elf oder zwölf); und eine ganz besondere Nähe entstand zwischen mir und Olga Michajlovna Solovjova, Malerin und Übersetzerin von Ruskin, Oscar Wilde, Alfred de Vigny; in der Seele von Olga Michajlovna lebte das Interesse für die Kunst und ein tiefes Bedürfnis nach Religion und Mystik. Sie liebte die Präraffaeliten (Rossetti, Burne-Jones), einige Symbolisten; sie vertiefte sich in die Gedichte von Verlaine, Maeterlinck und Mallarmé; als erste erschloß sie mir die Welten von Maeterlinck, der damals noch von allen angegriffen wurde; sie abonnierte die Kunstzeitschriften Jugend und Studium, später Mir iskusstva; sie schärfte und destillierte meinen Geschmack; ihr verdanke ich viele Stunden herrlicher geistiger Feste.
Michail Sergejevitsch Solovjov war ein bemerkenswerter Mensch: bescheiden und gesammelt, trug er in sich tiefe Besonnenheit, Scharfsinn, Weisheit; er vereinigte die Verwegenheit des Revolutionärs mit einer dorischen Beharrlichkeit des Geschmacks. Er war – so scheint es – der einzige in der Familie Solovjov, der gegen die Versuchung eines literarischen oder gesellschaftlichen Ruhmes gefeit blieb. Und nur bei ihm suchte Vladimir Solovjov Zuflucht in allen kritischen Situationen seines Lebens oder seines Denkens: Michail Solovjov war eine echte Inspirationsquelle für seinen Bruder; er allein durchschaute die Wichtigkeit der theosophischen Strömungen in dessen Werk; nicht weniger bedeutend, wenn nicht bedeutender als sein berühmter Bruder, wies er doch in seiner inneren und äußeren Erscheinung einen deutlichen Gegensatz zu Vladimir Solovjov auf: still, ruhig, ausgeglichen, im äußeren Lebensablauf in keiner Weise auffallend, glich er seinem überschäumenden und stets auffallenden Bruder in keiner Weise: klein gewachsen, blauäugig, blond, mit einem ganz hellen Schnurrbart über dem kleinen weichen Mund und einem lockigen Bart, der das blasse Gesicht umrahmte, mit einem klaren, aber nie funkelnden Blick, schien er das frappierende Gegenbild des riesigen, dunkelhaarigen Vladimir Solovjov zu sein, dessen graue, schwarzumränderte Augen immer fiebrig glänzten. Ein Blick auf diese beiden Brüder, wenn sie mit ihren Teetassen an einem kleinen Tisch zum Damespiel sich niederließen, genügte, um ihre Gegensätzlichkeit, zugleich aber eine unbeschreibliche geistige Nähe wahrzunehmen.
Michail Solovjov liebte die Klassiker; extremen Richtungen begegnete er mit einer gewissen Zurückhaltung, mit Aufmerksamkeit beobachtete er das wahrhaft Neue; niemals beteiligte er sich an den Spötteleien über die Dekadenten und Symbolisten; als erster erkannte er in Valerij Brjusov den Dichter, schon zu der Zeit der „Chef d’œuvres“; er war der erste, der meine poetischen Experimente unterstützte; er war es, der darauf bestanden hatte, meine „Symphonie“ erscheinen zu lassen, die mir um die Jahrhundertwende den Fluch seiner Altersgenossen einbrachte; ich weiß, daß ich allein dank der Ratschläge von Michail Solovjov das wurde, was ich bin. Er war mein Taufpate: mein Pseudonym „Andrej Belyj“ ist seine Idee. Ich erinnere mich, wie plastisch er aus dem „Frithjof“ Tegners vorgelesen, und ich erinnere mich, wie tief er Shakespeare ausgelotet hatte. Die Verse von Fet, Vladimir Solovjov und Tjutschev hätten sich mir nie erschlossen ohne ihn. Michail Solovjov vermochte die Welt von Puschkin und Gogol bis in ihre Urtiefe zu empfinden; Dostojevskij – ohne seine Bedeutung zu übersehen – liebte er nicht. Noch weniger mochte er die Werke Rozanovs, obwohl er die Größe seiner Grundidee durchaus anerkannte. Er brachte als erster in Moskau Mereshkovskij zur Geltung: dessen Werk Tolstoj und Dostojevskij wurde damals in Mir iskusstva in Fortsetzungen gedruckt, wir besprachen es in den Jahren 1901 und 1902; er wußte den Fürsten S.N. Trubeckoj dafür zu interessieren, der daraufhin Mereshkovskij zu einem Vortrag in der Moskauer Psychologischen Gesellschaft eingeladen hatte. Das war im Dezember 1901.
In den Jahren 1898 und 1899 schwärmten Serjosha und ich für das Theater; wir vergriffen uns (mit unzulänglichen Mitteln) an Shakespeare, indem wir im engen Korridor der Wohnung Solovjovs Theaterabende arrangierten; wir brachten Szenen aus Macbeth, Godunov und aus der Braut von Messina zur Aufführung, unter tätiger Mitwirkung von M.S. Solovjov, der zuweilen bei uns Regie führte (ich übernahm die Kostüme); V.M. Lopatin war auch einmal unter unseren Zuschauern, und einmal führte er Regie.
In jenen Jahren hörte ich zum ersten Mal von Blok: er, ein Gymnasiast, sei von Shakespeare begeistert, genau wie wir, er habe ganze Monologe aus Hamlet vorgetragen. Die Mutter von A.A. Blok, A.A. Kublitckaja-Piottuch (in zweiter Ehe), eine Cousine von O.M. Solovjova und eine geborene Beketova, stand in regem Briefwechsel mit O.M. Solovjova; den Winter verbrachte sie mit ihrem Sohn in Petersburg, den Sommer auf dem Gut Schachmatovo, achtzehn Werst von der Bahnstation Podsolnjetschnaja; acht Werst weiter lag das mütterliche Gut von O.M. Solovjova, wo die Familie Solovjov die Sommermonate zu verbringen pflegte; hier hatte auch Vladimir Solovjov geweilt; als Knabe tauchte hier „Sascha“ Blok auf, und später verbrachte ich hier mit M.S. Solovjov den ganzen Sommer.
Bei meinem Besuch in Djedovo hörte ich viele begeisterte Erzählungen über „Sascha“ Blok. So hat sich meinem Gedächtnis die erste Kunde von Blok eingeprägt; später erlebte ich die Worte „Aleksandr Blok“ auf eine ganz neue Weise, es war im August 1901.

 

„Und – Morgenröte, Morgenröte, Morgenröte“

Um den Grundton meiner Begegnung mit A.A. Blok zu erfassen, ist es unumgänglich, jene Stürme von neuem sich zu vergegenwärtigen, die in jenen Jahren über uns hinweggebraust sind.
Für viele von uns unterschied sich der Stil des neuen Jahrhunderts von dem des vorhergehenden auf das Entschiedenste; in den Jahren 1898 und 1899 horchte man nach neuen Strömungen in der psychischen Atmosphäre; bis 1898 wehte ein nördlicher Wind unter dem blaßgrauen Himmel. Unter nördlichem Himmel hieß ein Buch von Balmont; dieser Titel spiegelt das sterbende neunzehnte Jahrhundert; 1898 erhob sich ein neuer Wind; man empfand: die Winde, Nord und Süd, trafen aufeinander, durchdrangen sich, und es entstand Nebel: der Nebel des Bewußtseins.
In den Jahren 1900 und 1901 reinigte sich die Atmosphäre; unter dem freundlichen südlichen Himmel des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts sahen wir alle Dinge verwandelt; und schon sang Balmont:

Wir werden wie die Sonne.

Blok, der später die Zeile „Und – Morgenröten, Morgenröten, Morgenröten“ jenen Jahren zudachte, charakterisierte die Stimmung, die sich unserer bemächtigte; die „Morgenröten“, die auf der Ebene literarischer Strömungen (Projektionen des Bewußtseinsraumes) erlebt wurden, waren die Morgenröte des Symbolismus, die nach der Nacht des Pessimismus, nach der Dämmerung, durch die sich die Wege der Dekadenten wanden, aufleuchtete; die Jahre um 1900 bedeuteten die erste Abgrenzung gegen die Philosophie Schopenhauers; man fand keinen Gefallen mehr am skeptischen Illusionismus Baudelaires; und selbst Maeterlinck schien nicht mehr der berufene Sprecher der Ideale und des Geschmacks zu sein.
Bis dahin wirkten Schopenhauer, Ibsen und Tschechov; „Gespenster“ schwebten über uns: Vererbung, Fatum; als „Blinde“ irrten wir in den von Kant geprägten Formen des Erkennens; als Herold dieses Weltempfindens gedieh nur Brjusov, der später sagte:

Ein Wanderer inmitten einer Wiese
Steht stets im Mittelpunkt eines Kreises,
Wohin er sich auch wenden mag,
Und sein Blickfeld bleibt stets durch ihn selbst begrenzt.

Vorher erwuchsen die Werke Tschechovs; Nina Zaretschnaja deklamierte Unverständliches; und Onkel Vanja verzagte zusammen mit Balmont, der sich im Dickicht der Wasserrosen und im Geflüster des Schilfrohrs verloren hatte; Möwen flogen empor:

Eine Möwe, eine graue Möwe schwebt klagend
über der Ebene, die in Trauer gehüllt ist.

Böses Gelichter spukte in den kleinen Dramen Maeterlincks; „Hannele“ starb fiebernd in unfruchtbaren Visionen. Selbst in seriösen Zeitschriften erschienen Artikel in der Art wie „Frankreich in Agonie“; und Andrijevskij orakelte, daß das Leben der russischen Lyrik ebenfalls abgelaufen sei, daß das russische Gedicht den Tod der Erschöpfung sterbe. In den Ausstellungen traten die Launen der untendenziösen Landschaft an die Stelle des Genres; graublaue Winterdämmerungen, vereiste Flüsse und Wolkenballungen über dem Wald wurden das häufigste Sujet in den Jahren 1897 und 1898; blasse Jungfrauen mit Wasserlilien hinter den Ohren kündeten Seltsames, traumhaft Verschwommenes, schattengleich Wucherndes aus nächtlichen Winkeln. Die Phantasie wurde erlebt als Verdichtung von seelischem Dunst über dem kosmischen Abgrund des Nicht-Seins; an diesen Abgrund erinnerte man sich plötzlich; man sprach über den Abgrund, und Minskij besang ihn. Ich empfand mich als Jünger Schopenhauers; während ich die Ästhetik von Ruskin gelten ließ, verehrte ich Burne-Jones und Rossetti; östliche Ruhe sollte den Müßiggang des Schullebens ausfüllen. So ergab sich: der Ästhetizismus wurde für mich eine Form der Befreiung vom Wollen – eine Form für das Zweckungebundene des Lebens; die Fragmente des Vedanta tönten mir entgegen wie eine Musik; alle Folgen des dahinsiechenden Jahrhunderts erlebte ich als Folgen des eigenen Lebens; ein Sechzehnjähriger, fühlte ich mich schon als ein Greis; meine erste Predigt (ich predigte Buddhismus und Askese) hielt ich vor den Schülerinnen des Arsenjev-Gymnasiums; sie lauschten mir voller Ehrfurcht; die Altersgenossen zuckten mit den Schultern, weil sie mir den Erfolg bei den jungen Mädchen übelnahmen; aber ich gestehe aufrichtig: trotz aller dicken Zeitungen, die uns für den Dienst an der Öffentlichkeit aufzurufen suchten, ließ sich die Stimme des Nirwana nicht übertönen; und auch die Stimme von Fet, der das Vedanta in der heimatlichen Natur wiedergefunden und von neuem ausgesprochen hatte; in seiner Dichtung tönte die Landschaft Rußlands in vertrauten und weisheitsvollen Klängen; hier sprachen die Abendröten nicht nur von Rußland allein, auch von Indien sprachen sie. Man ahnte darin die Fülle, die aus dem völligen Sichaufgeben erwächst: nach der sehnten wir uns; sie suchten wir zu erlangen wie Yoga, wobei wir uns über die erwähnten Zeitungen lustig machten und uns „Eingeweihte“ nannten; jedoch wuchs in der Lehre von der Zweckfreiheit die Entschlossenheit zu – wozu? Sehr bald stellte sich diese Entschlossenheit als ein Wille heraus, die Kriterien des vergehenden Jahrhunderts zu stürzen, und diejenigen, die erst vor kurzem Kontemplation erstrebt hatten, entpuppten sich als Anarchisten und Bilderstürmer; schon in den Jahren 1897 und 1898 dröhnte in unseren Ohren das dumpfe Grollen jener Ereignisse, die später in Gewittern sich entluden; wir meinten, das Donnern einer Lawine im fernen Norden zu vernehmen; dort stürzten die Dramen von Ibsen; Dostojevskij rückte heran – immer näher und näher; die lallenden Verse von Verlaine, die Lyrik von Balmont blätterten in unseren Seelen ab wie welkende Blumen.
Uferloses strömte in die Ufer des alten Lebens; und Ewiges zeigte sich in der Zeit; den Einbruch des Ewigen fühlten wir in den Jahren 1898 und 1899 als Erschütterung des gesamten Lebens. Als einen Überfall der Ewigkeit erlebten wir die Grenze der Zeit: als eine Wandlung des Bewußtseins im Grenzland zwischen Ästhetizismus und Symbolismus. Mit Getöse hielt Einzug das gewaltige Buch: Die Geburt der Tragödie von Nietzsche.
Und das Alte schied sich von dem Neuen: mit völlig anderen Augen betrachtete man die Welt in den Jahren 1900 und 1901; der Pessimismus wurde zur tragischen Haltung; unser Bewußtsein erlebte eine Katharsis angesichts des Kreuzes, das von sich überquerenden Linien gebildet wurde; an der Grenze zweier Jahrhunderte lebten wir in einer Zeit, die mit dem Urchristentum zu vergleichen ist: die Antike, die ins nächtliche Dunkel sich zurückzog, wurde beschienen von dem Licht eines neuen Bewußtseins; Nächte füllten sich mit Licht; und Morgenröte beschien die Seelen unter dem „nördlichen Himmel“. Dieser Vorgang wurde von jedem auf seine eigene Weise erlebt: für den einen leuchtete die Morgenröte als ein Purpurmantel des Leidens; der andere jubelte der Morgenröte entgegen als dem Feuer, das Altes verzehrt. Balmont schleuderte uns sein „Brennende Häuser“ entgegen, nach der Kälte der „Stille“ und der Verzagtheit des „Im unendlichen Raum“ … Und in den gleichen Jahren drang der Landstreicher, der Brandstifter in die Herzen der Russen ein und wirkte dort stärker als der räsonierende Neurastheniker Tschechovs; überall bekannten sich Jünger zur Philosophie Nietzsches; die Losung „Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber“ wurde von uns allen aufgegriffen; Solovjovs gesammelte Werke deuteten uns auf eine neue Weise den Himmel. Als Morgenröte einer Renaissance erhebt sich Solovjov an der Grenze zweier Jahrhunderte.

Das Böse wird gesühnt
Durch die Kräfte des Blutes.
Es steigt empor die reine
Sonne der Liebe.

Jetzt erschien das hellsichtige Werk von Mereshkovskij, in dem der Gedanke sich manifestierte: die Konstitution des Menschen ist im Wandel begriffen; unsere Generation steht vor der Wahl: Wiedergeburt oder Tod. Die Losung „Entweder wir oder niemand“ wurde zum Wahlspruch für die früheren Verfechter der Kontemplation im eben vergangenen Jahrhundert; sie hoben das neue Jahrhundert aus der Taufe, indem sie die Losungen ihrer Zeit mit den Prophetien des Magiers aus Nettesheim, Ibsen und Vladimir Solovjov verwoben, aus der Erkenntnis heraus: die dritte Offenbarung ist die Offenbarung des Geistes.
Das Symptom jener Zeit war: die allumfassende Intensität, mit der das Phänomen der Morgenröte aufgenommen wurde; die Tatsache der Erleuchtung, das Überraschende dieser Tatsache und die Unfähigkeit, diese Bewußtseinstatsache zu begründen, das Suchen nach weltanschaulichen Erklärungen des Gegebenen, welches innen und außen wahrgenommen wird – das ist im wesentlichen die Linie, hinter der die Bewußtseinswandlung der Symbolisten anhob. Sie erwiesen sich als Empiriker, indem es ihnen um reale Ereignisse des Bewußtseins ging; die damaligen Realisten hatten die Ereignisse im eigenen Innern verschlafen; und der Naturalismus war bloß eine Abstraktion der vergangenen Bewußtseinsinhalte; den Blick auf die konkrete Ganzheit hatten die Symbolisten, die Sänger der Morgenröte künftiger fruchtbarer Jahre; ja, sie erwiesen sich sogar als Propheten (auch Blok war ein Prophet); sie registrierten völlig richtig: in der seelisch-geistigen Atmosphäre erhob sich plötzlich ein anderer Wind; der Zeiger des Barometers, bislang wie eingefroren, sprang im Zickzack von „Hoch“ auf „Sehr tief“ und wieder zurück zu „Hoch“.
In diesen Jahren erwies sich die Mystik der Symbolisten als Aufmerksamkeit in der Beobachtung; die Naturalisten schlossen die Natur des Bewußtseins aus ihren Beobachtungen aus.
In den Jahren 1900 bis 1901 erlebten die Symbolisten die Morgenröte; die logischen Erklärungen der Tatsache der Morgenröte, die sie zu geben wußten, waren lediglich Hypothesen, die den Gegebenheiten eine Form zu verleihen suchten; die Theorien des Symbolismus sind die Hypothesen; die Hypothesen wandelten sich, die Tatsache blieb: die Morgenröte leuchtete auf und blendete den Menschen; im Jubel der Sehenden tönte immer stärkere Gewißheit. Die Theorien der Symbolisten trafen auf Widerstand, den Widerstand der „Sokratiker“ nahm man in den Kreisen der Symbolisten sehr ernst; man spöttelte über den Symbolismus und hörte ihm insgeheim zu: seine Wirkung war unmittelbar.
Plötzlich begegnete man „Sehenden“ unter den „Blinden“; und jene erkannten sich gegenseitig; das unverstandene Wissen drängte nach brüderlicher Mitteilung; und sie strebten aufeinander zu und bildeten auf natürliche Weise eine Bruderschaft der Morgenröte, indem sie eine völlig eigene Beziehung zur Kultur zeigten: angefangen von gewichtigen Ereignissen bis zu alltäglichen Zeitungsnotizen; in ihnen glühte das Interesse an allem Wahrnehmbaren; alles schien ihnen neu zu sein, eingetaucht in ein Morgenrot kosmischer und historischer Bedeutsamkeit, das bei dem Kampf des Lichtes mit der Finsternis aufleuchtete, welcher damals in der Region seelischer Ereignisse ausgetragen wurde und noch nicht zu einem geschichtlichen Ereignis geronnen, erst seine Vorbereitung war. Was jene seelischen Ereignisse im Konkreten waren, das ist schwer zu sagen: in ihren Ahnungen bewegten sich die „Sehenden“ auf verschiedenen Wegen: dieser war Atheist, jener Theosoph; dieser suchte die Kirche, jener lehnte die Kirche ab; man stimmte überein in der Erfahrung der Morgenröte: Jenes, was leuchtet, ist ein „Etwas“; aus diesem „Etwas“ wird die Zukunft die Schicksale entfalten.

 

Der Kreis im Hause Solovjov

In jenen Jahren entstand in Moskau ein Kreis, der eng mit dem gastfreundlichen Hause von M.S. und O.S. Solovjov verbunden war; zu diesem Kreis gehörten nach meiner Erinnerung (außer den Gastgebern und dem kleinen Serjosha) D. Novskij (der später katholisch wurde), A. Unkovskaja, A. G. Kovalenskaja, A.S. Petrovskij, die Brüder L.L. und S.L. Kobylinskij, Ratschinskij; später begegnete ich hier Kljutschevskij und S. N. Trubeckoj; hier lernte ich Brjusov, Mereshkovskij, Hippius und die Dichterin Allegro kennen (Vladimir Solovjov war ich hier schon früher begegnet). Alle Mitglieder dieses Kreises hörten in gleicher Weise und eindeutig den Akkord ihrer Zeit, das vereinte sie, obgleich jeder ihn auf seine Art empfunden hatte: es war ein tema con variazioni; in den Variationen trennten sich die Menschen wieder, die aus den verschiedenen Sphären kamen und von verschiedenem Alter waren: Pjotr Ivanovitsch d’Alheim verkündete einen neuen Moses, der die Kultur aus Ägypten hinausführen würde; Serjosha Solovjov und ich berauschten uns an der Poesie von Vladimir Solovjov und träumten von der künftigen Theokratie; A.S. Petrovskij erwartete das Licht von den Sarov’schen Kiefern; L.L. Kobylinskij, der spätere Ellis, verzweigte sich zwischen Baudelaire, Marx und Dante.
Aber auch außerhalb des Kreises von Solovjov knüpften sich Bekanntschaften und Beziehungen: man traf sich stets auf der Linie der unbestimmten Ahnungen der Morgenröte; das Alte wurde überwunden im Namen irgendwelcher noch nicht bewußt zu erfassender, jedoch greifbarer Werte; in der Umwertung der Werte trafen sich der Goetheanist E.K. Medtner ( der spätere „Wolfing“), ein Bewunderer von V. Rozanov und K. Leontjev, A.S. Petrovskij und der Marxist Kobylinskij.
Es gibt eine Notiz von Aleksandr Aleksandrovitsch Blok, die man nach seinem Tode gefunden hat; sie enthält eine charakteristische Stelle; Blok schreibt:

Im Januar 1918 hatte ich mich zum letzten Mal dem Element hingegeben, nicht weniger blind als im Januar 1907 oder im März 1914. Ich schwöre dem damals Geschriebenen nicht ab, denn es wurde geschrieben im Einklang mit dem Element: zum Beispiel, während und nach der Beendigung der „Zwölf“ konnte ich einige Tage lang physisch, akustisch, ein gewaltiges Dröhnen ringsumher hören – anhaltendes Dröhnen, vermutlich das Dröhnen der zusammenstürzenden alten Welt.

In den Jahren 1900/1901 hatte die Jugend etwas gehört, was wie ein Dröhnen, und etwas gesehen, was wie Licht war; wir gaben uns alle dem Element des Künftigen hin; wir hörten alle deutlich den Schritt des neuen Jahrhunderts.
Für mich wich im Jahre 1900 der kontemplative Zustand einem fiebrigen Suchen; Schopenhauer war überwunden, über Nietzsche stieß ich dicht zu mir selbst vor. Hartmann und Vladimir Solovjov stellten mich direkt vor das Problem des Geistigen; ich mühte mich, zwei Pole in meinem Herzen zu vereinen (Solovjov und Nietzsche); damals begegnete ich dem Philosophen, der um diese Zeit selbst eine Krise durchmachte: von der „Rechtfertigung des Guten“ zu den prophetischen „Drei Gesprächen“; im Frühjahr hatte ich ein bedeutungsvolles Gespräch mit Solovjov und bereits im Juli war er tot: ich vertiefte mich in das Studium seiner Werke.
Das Symbol des „Weiblichen“, verwoben mit der gnostischen Lehre von der Konkreten Weisheit, wurde uns zu der Morgenröte (Vermählung des Himmels und der Erde), einer neuen Muse, die Mystik und Leben vereinte.
Viele lauschten den Morgenröten: E.K. Medtner folgte dem Thema Morgenröte im Musikalischen: von Beethoven zu Schumann; von da zu seinem genialen Bruder N. Medtner, der den Ton der Morgenröte in seiner ersten Sonate in c-moll (komponiert in den Jahren 1901–1902) beschworen hatte. Zinaida Hippius schrieb zur selben Zeit ihre Erzählung, in der das Farbenspiel der Morgenröten vor uns sich entfaltete; und wir, die Jugend, wir erlebten unsere Morgenröte als die Aurora in der Dichtung Solovjovs: unsere Devise war sein Vierzeiler:

Ich künde Euch: das Ewige Weibliche
Naht der Erde in reiner Gestalt.
Im unauslöschlichen Licht der Neuen Göttin
Vereint sich der Himmel mit dem Ozean.

„Sie“ – die Weltenseele, vermählt mit dem Wort Christi.
Das Werk Solovjovs Über den Sinn der Liebe erklärte am deutlichsten das Streben, seine Lehre in einem Lebensweg konkret zu verwirklichen, das weibliche Prinzip der Göttlichkeit zu erfassen und im Menschen das Gottmenschentum zu erlangen. Wir, die Jugend aus der Nachfolge Solovjovs, waren nur ein kleines Häuflein, das die Morgenröte der neuen Aera wahrnahm. Die Nachfolge Solovjovs war für uns eine Hypothese und kein Dogma; das Zentrum aller Gespräche an langen Winterabenden war der Teetisch im Hause Solovjov. Hier versammelte man sich fast täglich; hier gab es angeregte Debatten über den letzten Artikel von Mereshkovskij oder Rozanov; hier suchte man ein Detail aus diesem oder jenem Artikel von Solovjov auszulegen; M.S. Solovjov entwickelte hier seine Pläne für die Gesamtausgabe der Werke seines verstorbenen Bruders; er brachte Material mit: Manuskriptblätter, deren Ränder übersät waren mit Zeichen, die uns besonders beschäftigten: es waren Aufzeichnungen von der Hand Vladimir Solovjovs (in etwas veränderter Handschrift), Briefe, die als Unterschrift ein lateinisches „S“ oder – auch in lateinischer Schrift – den Namen „Sophia“ trugen; an einigen Stellen war die Abhandlung durch Eintragungen seltsamster Art unterbrochen: das Manuskript wurde von einem mediumistischen Brief mit den gleichen Unterschriften „S“ und „Sophia“ begleitet, eine Erscheinung, die sich in sämtlichen Manuskripten Solovjovs wiederholte; das Ganze machte den Eindruck von Liebesbriefen; wir standen vor der Frage: war Solovjovs Umgang mit „Sophia“ ein mediumistischer Umgang mit einer realen Frau oder ein Roman, in dem sich das Unbegreifliche der geistigen Welt niederschlug, aus deren Höhen „Sophia“ dem Philosophen sich offenbarte? Wir wandten uns daraufhin den Gedichten von Solovjov zu und gingen der Abhängigkeit seiner erotischen Lyrik von den Dogmen der Theosophie und seinen eigenen Anschauungen von Sinn und Bedeutung der Liebe nach; dieser seltsame Briefwechsel zwischen der „S“ und dem Philosophen auf den Rändern seiner Manuskripte brachte uns in Verlegenheit, da er uns zu wesentlich anderen Auslegungen führte als den Auslegungen der ehrenwerten Philosophie-Professoren. Das Transzendente lag immanent in dem Bewußtsein Solovjovs und inspirierte dieses Bewußtsein. In der Auslegung seiner Lehre waren wir selbstverständlich Realisten; wir sahen in Solovjovs Lyrik eine Verkündigung der Wiedergeburt des Menschen und der Verwandlung der Wahrnehmungsorgane für die Welt. Auch Mereshkovskij sprach davon, aber er deutete diese Wiedergeburt auf eine andere Weise; für uns aber hieß es: tatkräftiges Anti-Christentum. A. Petrovskij behauptete fest: die Zeit sei nahe; der Antichrist würde geboren, und die Lehre Solovjovs sei unter Umständen eine Häresie; Olga Solovjova hörte ihm aufmerksam zu; ich und Serjosha widerlegten Petrovskij, und M.S. Solovjov lächelte über seinem Tee. Vor dem Fenster tobte der Schneesturm; wir glaubten in seinem Heulen die Stimmen des Letzten Gerichts zu vernehmen. Verständlicherweise waren für uns die Begegnungen mit echten Nachfolgern Solovjovs, die in der Lage waren, seine Symbole gültig auszulegen, wirkliche Ereignisse; denn diese Begegnungen waren ja so selten; „Vom Sinn der Liebe“ oder „Drei Gespräche“ waren in ihrer vollen Bedeutung noch nicht erkannt; ja, der Kreis im Hause Solovjov war in der Tat die erste Stätte der Verwirklichung seiner Lehre; Philosophen, welche sich mit Solovjov befaßten (sowohl Radlov als auch Certelev, sowohl Lopatin und Lukjanov als auch Fürst Trubeckoj), haben recht wenig Verständnis aufbringen können für die umwälzende Bedeutung, die das Erscheinen Solovjovs in der Welt darstellte. Ich entsinne mich: im Herbst 1901 erschien Anna Nikolajevna Schmidt aus Novgorod: sie zeigte M.S. Solovjov den Kreis der Ideen, die im „Dritten Testament“ und in der „Beichte“ zum Ausdruck kommen; ich hatte sie damals kennengelernt, und wir schrieben uns (inzwischen ist sie gestorben).
Mit einem Wort: in jener Zeit wurden alle extremen Konsequenzen der Idee Solovjovs durchlebt; das Jahr 1901 verstrich für mich und Serjosha unter dem kündenden Stern der Dichtung Solovjovs; sie fand ihren Niederschlag in meiner „Symphonie“; und bei S.M. Solovjov (der später ein bedeutender Dichter wurde) in seinen Jugendgedichten; er und ich pilgerten häufig zu dem Grab des Philosophen, um hier die Verbindung mit der Welt seiner Ideen zu erleben; und später erinnerten wir uns der wunderbaren Zeilen aus seinem Gedicht „Les revenants“:

Auf einem heimlichen Pfad, liebevoll und traurig
Naht Ihr meiner Seele … Und ich danke Euch.
Es ist mir eine Lust, mich erinnernd zu nähern
Den stillen Ufern, vor die der Tod seine Schleier gehängt hat.
Das Vergangene tritt lautlos heran
Und schlägt den Schleier vor den Augen zurück.
Du siehst Ewiges, Unvermeidliches.
Und die Vergangenheit ist wie eine einzige Stunde.

Und der Schleier fiel; als ein „geheimer Pfad“ zu den Welten der Inspirationen erschien uns der Fußpfad zu dem Grabhügel des Philosophen; er schien selbst den Schleier zu lüften, der die Geheimnisse der Welt vor uns verhüllte; auch im Traum begegnete ich dem Verstorbenen und unterhielt mich mit ihm.
Sehr oft sind wir nachts durch die stillen Straßen im Arbat gegangen; im Schneesturm ahnten wir die weißen Strudel der Zukunft; der weiße Schatten Solovjovs erhob sich vor uns. Sowohl ich als auch Serjosha Solovjov haben uns in diesem weißen schneereichen Winter zum ersten Mal verliebt; an unseren Geliebten sahen wir den Widerschein der geheimnisvollen „S“, die für Solovjov das Geständnis aufschrieb:

Schenke dem Augenblick keinen Gedanken: liebe – und vergiß mich nie.

Wir haben es nicht gewußt, nein, nein, daß um die gleiche Zeit der Student Blok, wie wir von der Mystik Solovjovs begeistert, emporgetragen von seiner jungen Liebe, mitten im Schneesturm des unvergleichlichen Winters die Verse dichtete:

Meine Feuer leuchten auf den Gipfeln der Berge.
Sie leuchten weit in die Nacht hinaus.
Noch leuchtender ist Dein Blick –
Noch leuchtender bist Du, die Du in der Ferne bist…
Bist Du es?
Ich hoffe auf Rettung.

Wir haben in Moskau mit gespannter Aufmerksamkeit nach den Vorläufern der Dichtung Solovjovs gesucht; und haben die Empfindung der Neuen Liebe, die in die Welt kommt, bei Fet und Lermontov gefunden, ohne zu ahnen, daß diese Empfindung, frei von den Krusten des Spießertums, Gestalt gewann bei Blok, einem Dichter, den noch keiner kannte, dem einzigen Sprecher unserer Gedanken, der Gedanken der heiligen Jahre.
Der Mai 1901 schien uns bedeutungsvoll: Offenbarung durchwehte ihn, er raunte mir die Zeilen der Moskauer „Symphonie“ zu, in den Pausen zwischen den Prüfungen in Anatomie, Physik und Botanik; unter dem Mäntelchen eines Schabernacks bemühte ich mich, in der „Symphonie“ die äußersten Positionen unserer mystischen Bestrebungen aufzuzeigen, auf die gleiche Weise, wie Solovjov in seinem burlesken Mysteriendrama „Die weiße Lilie“ die Geheimnisse seiner Wege nachzeichnete; das Paradox der „Symphonie“ liegt in der Umsetzung geistiger Bestrebungen in derbe Dogmen und im Einverleiben von Ahnungen, die ihrer Natur nach allein als Musik zu erleben waren, in den Moskauer Alltag. Ich erinnere mich: nach einem Examen in Physik skizzierte ich den zweiten Teil dieser „Symphonie“ in ein oder zwei Tagen, jenen Teil, der Moskau unter dem Pfingsthimmel gewidmet war – Moskau, erstrahlend im Licht apokalyptischer Ahnungen; das war am Vorabend des Pfingsttages und am Pfingstsonntag. Am Pfingstmontag – ich weiß es noch – kam aus Djedovo S.M. Solovjov; ich las ihm den am Vorabend aufgeschriebenen Teil der „Symphonie“ vor; durch die Fenster schien der goldene Abend herein – derselbe wie in der „Symphonie“: der goldene Pfingstabend; Solovjov war bestürzt von der Beschreibung des Novodevitschij-Klosters; er bat mich, das Kloster sofort aufzusuchen: wir machten uns auf den Weg: der goldene Pfingsttag verglühte genauso, wie ich es am Vorabend beschrieben hatte: das Kloster war genauso wie in der „Symphonie“, die Nonnen wandelten genau wie dort; schweigend standen wir am Grabe Vladimir Solovjovs; und es kam uns vor, als seien wir selbst ein Element der „Symphonie“; Altes, Ewiges, Liebgewonnenes, zu allen Zeiten Trauriges webte um uns; die „Symphonie“ ist unser Leben; damals schien sie vor uns zu liegen; bereits am nächsten Tag fuhren wir nach Djedovo; am ersten Abend las ich dort der Familie Solovjov beide Teile der „Symphonie“ vor; und M.S. Solovjov sagte mir damals:

Borja, das muß hinaus in die Welt: Sie sind die Literatur von heute. Das wird gedruckt werden.

So wurde in Djedovo mein Pseudonym „Andrej Belyj“ geboren; so wurde ein Naturwissenschaftler, Student im dritten Semester, der erst kürzlich von mikrobiologischen Untersuchungen geträumt hatte, zum Dichter, ohne es beabsichtigt zu haben.
Erinnerung an Djedovo: vier unvergeßliche Tage flogen vorbei, eine Pause zwischen zwei Examina; das Geheimnis der Ewigkeit, das Geheimnis des Grabes, schienen in jenen Tagen vor uns sich zu erhellen. Ich erinnere mich an die Nacht, die ich mit Solovjov in einem Boot verbracht habe, mitten auf einem stillen See – bei der Lektüre der Apokalypse, beim Licht einer im Winde flackernden Kerze; Morgenröte stieg herauf; im Dämmerschein kam M.S. Solovjov auf uns zu, der die ganze Nacht gewacht hatte; langsam gingen wir mit ihm durch das Gut; blieben lange vor dem Häuschen stehen, in dem Vladimir Solovjov gewohnt hatte, und sahen uns andächtig jene Stelle an, wo die weißen Glockenblumen wuchsen, die man aus Pustynka hierher umgepflanzt hatte. Und von denen der Philosoph schrieb:

Vor kurzem erst standen so viele von ihnen in voller Blüte,
Wie ein weißer See zwischen den Stämmen des Waldes.

Und später:

An gewittrigen, sengenden,
Schwülen Tagen –
Bleiben sie unberührt weiß, unberührt schlank.

Diese weißen Glockenblumen – später sah ich sie in voller Blüte – waren für uns das Symbol des weißen mystischen Strebens nach dem Künftigen. Pustynka, der Ort von Solovjovs geheimnisvollen Meditationen über die Glockenblumen, wiederholte sich hier, in Djedovo: in den Glockenblumen, die hierher umgepflanzt wurden (1905 brannte das Häuschen ab; und die „weißen Glockenblumen“ blühten in Djedovo nicht mehr); um diese Jahre schrieb ich ein Gedicht, dort stehen die Verse:

Weiße Blumen drücke ich
Von neuem an das Herz unwillkürlich.

Hier sind die geheimnisvollen Glockenblumen Solovjovs gemeint, die in Djedovo damals in voller Blüte standen: das weiße Geheimnis der Wege:

Kühne Ahnungen
Erfüllen das kranke Herz:
Weiße Engel
Haben sich um mich gestellt.

Die Welt der weißen Glockenblumen erschloß sich uns in jener hellen Mainacht, als wir auf dem See die Apokalypse gelesen haben. Am nächsten Morgen grollte im Osten eine schwere Gewitterwolke; wir waren traurig; am gleichen Tage fuhr ich nach Moskau zurück, das Examen in Botanik stand mir bevor. Nach einem Monat, sogar etwas früher, tauchte in Djedovo neuer Besuch auf: Aleksandr Aleksandrovitsch Blok; und damit ereignete sich die erste Begegnung der Moskauer „Solovjov-Jünger“ mit dem Dichter, dessen Bewußtsein dasselbe suchte wie wir auch.

 

Die ersten Gedichte von Blok

In jenem unvergleichlichen Frühjahr drängten unsere Probleme nach einer gesellschaftlichen Verwirklichung; man bereitete die ersten Tagungen der Petersburger Religionsphilosophischen Gesellschaft vor (vielleicht handelte es sich damals um die Konstituierung der Gesellschaft): ein Kreis ganz und gar weltlicher Schriftsteller (Rozanov, Mereshkovskij, Minskij, Uspenskij, A.V. Kartaschov und andere) traf sich mit Repräsentanten orthodoxer Tradition, mit den Bischöfen Sergius, Antonio und dem Vater Michail. Wir lehnten diesen Kreis ab. Um dieselbe Zeit bildeten sich in Moskau Zirkel, die eine Vertiefung der kirchlichen Tradition anstrebten; hier missionierte Novosjelov (vor kurzem noch ein Tolstoj-Jünger) und an seinen Kreis schlossen sich an: der hochverehrte Lev Tichomirov, der Priester J. Fudel, der Bischof Nikon, der bekannte V.M. Vasnjecov, Pogoshev und manche andere, die in einer regen Beziehung zu Ternavcev standen, einem Beamten der Hl. Synode und Ausleger der Apokalypse, ewig gespalten zwischen altem und neuem religiösen Bewußtsein; ich hatte einige Male die Sitzungen dieses Kreises besucht; dort herrschte eine durchweg reaktionäre Atmosphäre; diesen Kreis lehnten wir ebenso ab wie den Petersburger; ja, wir, die Nachfolger Solovjovs, fühlten uns fremd gegenüber den überall sich konstituierenden religiösen Zirkeln, ständig bemüht, die Reinheit des Weges Solovjovs zu bewahren:

Du Ärmste, zwischen zwei feindlichen Heeren eingeschlossen,
Bist Du verloren und ohne Rettung.

Wir hofften auf ein Drittes, auf „unser Heer“, das die neue Offenbarung Solovjovs, seine Offenbarung der Sophia, durchfechten und jede Spur von Orgiasmus niederkämpfen würde. Wer war: „Wir“? Nur wenige Menschen: die beiden Solovjovs, deren Sohn, Novskij, ich, Petrovskij, später Ratschinskij und wenige andere, darunter die Mutter von A.A. Blok, eine eifrige Briefpartnerin von O.M. Solovjova. O.M. Solovjova korrespondierte auch mit Zinaida Hippius; der Inhalt der Briefe wurde beim Tee wiedererzählt; dabei kam mir ein recht verwegener Gedanke: einen Brief an Mereshkovskij zu schreiben; ich richtete an ihn eine Frage und unterschrieb mit: „Student der Naturwissenschaften“; als Folge ergab sich meine Bekanntschaft mit den beiden Mereshkovskijs, der Briefwechsel zwischen Mereshkovskij, Hippius und mir hielt das ganze folgende Jahr an.
März, April, Mai, Juni 1901 – das ist die hohe Zeit der Idee des Symbolismus: das Interesse für die Philosophie Vladimir Solovjovs war erwacht; Anna Schmidt entwickelte ihre paradoxen Ideen zu seinem „Testament“; D. Mereshkovskij und Rozanov waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens angelangt; Berdjaev rief nach der Persönlichkeit, seine „Probleme des Idealismus“ reiften heran; die Wirkung des Moskauer und des Petersburger Kreises für Religion machte sich bemerkbar; die Studenten-Revolutionäre (später Männer des politischen Lebens) – Florenskij, Sventickij und Ern – grübelten über religiösen Fragen; V. Ivanov, ein Einzelgänger, schrieb im Ausland die Untersuchung: „Die Religion der leidenden Gottheit“. N.K. Medtner (später Komponist), ein Jüngling noch, holte aus der durchwärmten Atmosphäre der Morgenröten sein gewaltiges Sonatenthema, welches – wollte man es in Sprache fassen – unmittelbar dasselbe ausdrücken würde, wie ein Gedicht vom 4. Juni, das Blok in der Stille von Schachmatovo geschrieben hatte; und in den gleichen Tagen (zwischen dem 3. und 6. Juni) beschrieb ich in der ländlichen Freiheit des Serebrjanyj Kolodec, wie der Maler und Mystiker Sergej Musatov „Ihrer“ ansichtig wurde, von der Blok sagte, er sehe „Sie“ und empfinde „Sie“ mit Frohlocken.
Die von mir erwähnten Personen waren sich bis dahin nie begegnet; ihre Ideen reiften in der Abgeschiedenheit, unter Schmerzen: Blok war noch ein Unbekannter; Schmidt und Medtner genauso unbekannt wie Blok; Ern und Florenskij hätten sich dagegen verwahrt, in irgendeinem Zusammenhang genannt zu werden, und Ratschinskij kannten wir noch nicht.
Aber die künftigen Begegnungen reiften bereits in der von romantischer Sehnsucht erfüllten Atmosphäre der Morgenröte; so wurde die Bewegung geboren, die später als die Schule des russischen Symbolismus bezeichnet wurde; diese Schule wollte gar keine Schule sein; diese Schule war Empfänglichkeit für die Unaussprechliche Morgenröte, eine ganz konkrete Morgenröte; zu den „Symbolisten“ gehörten Menschen, die später unter anderen Fahnen kämpften und schrieben (S.M. Solovjov, Wolfing, Schmidt) und andere, die nie eine Zeile zum Thema „Symbolismus“ erfaßt hatten (E.P. Ivanov, N.P. Kiseljov, Ratschinskij, A.S. Petrovskij); aber sie alle waren ein Teil jener Atmosphäre, die als Ganzes den Symbolismus verkörperte.
Ich erinnere mich, wie ich einst im Juli einen Brief von S.M. Solovjov bekam; dieser Brief überraschte mich; er enthielt eine Beschreibung des Besuchs von A.A. Blok in Djedovo, gemeinsamer Streifzüge durch die Felder, endloser Gespräche über Dichtung, Mystik und die Philosophie Vladimir Solovjovs; S.M. Solovjov schrieb mir voll Staunen, daß die Gestalt Sophias für Blok absolut konkret sei, ebenso wie für uns; er sähe eine Verbindung zwischen der Lehre von der Sophia und ihrer Offenbarung in der Lyrik von Solovjov; aus dem Brief ergab sich mit aller Eindeutigkeit: unabhängig von uns kam Blok zu den gleichen Folgerungen über die Krisis der zeitgenössischen Kultur und über die aufkommende Morgenröte; seine Folgerungen vollzog er mit einer gewissen Schärfe und Entschlossenheit in der ihm eigenen Radikalität; danach galt, daß die neue Aera bereits angebrochen und die alte Welt im Verfall begriffen sei; die Revolution des Geistes, von Solovjov verkündet, habe begonnen; wir aber, Revolutionäre auf dem Plan des Bewußtseins, seien aufgerufen, die Revolution voranzutreiben. Der Brief von Solovjov zeigte eindeutig: der Besuch von Blok hatte auf S.M. Solovjov wie eine starke elektrische Aufladung gewirkt, die er später auf mich übertrug. Aus diesem Brief sprach die Bewunderung vor den kühnen Schlüssen des Vetters. Solovjov erwähnte auch Gedichte, die Blok geschrieben haben sollte. Der Brief bedeutete mir sehr viel; der Acker war bereitet: den ganzen Sommer über hatte ich mich ausschließlich der Mystik Solovjovs gewidmet, „Vom Sinn der Liebe“ wieder gelesen und den Unterströmungen der Dichtung Solovjovs, Lermontovs und Fets nachgespürt. Solovjovs Brief über Blok war ein Ereignis; ich hatte verstanden: wir trafen einen Wegbruder.
Versuche ich, an das ganz genaue Datum dieses Besuches mich zu erinnern, so finde ich die Zeitspanne zwischen Mitte Juni und Mitte Juli (weder früher noch später); in dieser Zeit entstanden Bloks Gedichte: „Ich ahne Dich“, „Verzeih und zürne nicht“, „Du blühst in Einsamkeit“ (mit einem Epigraph von Vladimir Solovjov). Es wurden geschrieben „Historia“, „Sie wuchs auf hinter fernen Bergen“ (S.M. Solovjov gewidmet), ein Gedicht, das wahrscheinlich in Djedovo entstand, jedenfalls unter dem unmittelbaren Eindruck von Solovjovs Gut; es ist die Landschaft, die zu Djedovo gehört, während das nächste Gedicht aus Schachmatovo ist. Im Laufe des gleichen Sommers schrieb Blok Gedichte, die dem Ehepaar Solovjov gewidmet sind; das alles spricht eindringlich von dem bedeutenden Einfluß, den unser Ideenkreis auf die Vorstellungswelt des Dichters ausgeübt hatte. Gespräche die zwischen den Solovjovs und Blok geführt wurden, bildeten eine organische Fortsetzung der Gesprächszyklen, die kürzlich zwischen uns stattgefunden hatten: im Mai des gleichen Jahres war ich in Djedovo – im August 1901 nahmen unsere „Gespräche“ ihren Fortgang, als wir (d.h. die Familie Solovjov und ich) in Moskau uns wiedersahen. Nach meinem ersten Besuch bei Solovjov vertiefte ich mich in die Gedichte A.A. Bloks: „Ich ahne Dich“, „Du strahlst über dem hohen Berg“, „Dämmerlicht in Himmelshöhen“, „Ich warte auf eine Stimme“, „Sie wuchs auf hinter den fernen Bergen“, „Verzeih und zürne nicht“, „Ich komme einsam zu Dir hin“, „Um düstere Mitternacht Geborene“, „Ich warte auf Rettung“.
Um den Eindruck dieser Gedichte ermessen zu können, muß man versuchen, jene Zeit möglichst deutlich sich zu vergegenwärtigen: für uns, die wir das Zeichen der Morgenröte wahrgenommen hatten, tönte die ganze Atmosphäre wie Verse von Blok; es schien uns, als habe Blok das niedergeschrieben, was die Atmosphäre dem Bewußtsein zu sagen hatte; er bannte tatsächlich die Atmosphäre der Zeit, energiegeladen und rosa-golden, in seine Gedichte. Später erst ging uns die Schönheit dieser Zeilen auf; und noch viel später erkannte man ihre technische Vollendung; der erste Eindruck von dieser Dichtung: Mystik – und nicht Ästhetik, ein „aus Flamme und Licht geborenes Wort“. Diese Worte Lermontovs drücken für mich am besten die Wirkung von Bloks Versen aus; sie waren für mich der schärfste, geladenste Ausdruck der Philosophie Solovjovs, am Leben abgelesen. Ich habe bereits oben von der Verwirrung gesprochen, die in uns die Episteln der „S“ an Vladimir Solovjov ausgelöst hatten; wir suchten diese „S“ zu enträtseln. Wer war sie? War sie eine Frau? War sie Sofia Petrovna, mit der Solovjov auf freundschaftlichem Fuße stand? War es ein Wesen aus der geistigen Welt, das ihm das Geheimnis der Neuen Offenbarung zuraunte? Wie hieß es dann? War es „Sophia, die Weisheit Gottes“? War ihre Spiegelung in der von Leidenschaften getrübten Seele, oder war es Achamot, die in das Chaos hineingeopfert wurde, um in dem Licht des göttlichen Wortes aufzuerstehen?

Dein Auge lächelt, aber zugleich
Ist es dunkel, wie ein drohendes Gewitter.

In ihrer Hingabe an die träge Materie hält sie sich unbefleckt:

Unbefleckt bist Du, wie der Schnee auf den Höhen,
Gedankenvoll bist Du, wie eine winterliche Nacht.
Flamme bist Du, wie das Nordlicht,
Du lichte Tochter des dunklen Chaos.

Während sie in der Welt ihr Antlitz immer mehr entschleiert, wirkt sie auf uns wie der Blick einer liebenden Frau; die Beziehungen zwischen Mann und Weib sind Symbol einer anderen Beziehung: zwischen Christus und Sophia. Die logische Kraft des Mannes befreit das sündige Prinzip der Sophia-Achamot aus der Verzauberung dunkler Abgründe; alles an „Ihr“ verweigert sich dem Licht; Gegensätzliches lebt in „Ihr“, wie Astarte (die Umrisse der Achamot, die sich im Chaos der Welt spiegelten, nannte Blok Astarte):

Dein Auge lächelt, aber zugleich
Ist es dunkel, wie ein drohendes Gewitter.

Vertiefen wir uns in das Zentrum der mystischen Philosophie Solovjovs, so finden wir darin das Thema der „Halbmaske“ von Lermontov; der Impuls der Liebe bei Lermontov ist gleichbedeutend mit dem Suchen nach der ewigen Freundin.

Ich triumphiere über den Tod
Und überwinde die Kette der Zeit durch die Liebe.
Ewig junge Freundin, Deinen Namen will ich v
erschweigen,
Doch mein flüchtiges Lied sollst Du hören:

Die Unnennbare, Namenlose setzt über den Abgründen himmlische Zeichen. Hier hatte schon Lermontov sie gesucht, sie erwartet:

Nein, Du bist es nicht, die ich so innig liebe.

Die Maske, die „Kruste des Erdenstoffes“, ist bei Lermontov die „Halbmaske“; unter der „Halbmaske“ ist bei Solovjov der Ursprung der Liebe.

Unter der geheimnisvoll abweisenden Halbmaske
Erklang mir Deine Stimme, verheißungsvoll wie immer.

Die Dichtung von Solovjov bedeutet, indem sie die Liebe aus ihren Fesseln befreit, einen religiös-schöpferischen Akt; die Muse dieses schöpferischen Vorgangs ist jene Namenlose, die ihre Zeilen an Solovjov mit dem Pseudonym „S“ unterzeichnet.
In jenen bedeutungsvollen Jahren lebten wir angesichts der Erkenntnis: es wandelt sich der Sinn menschlicher Beziehungen: es wandelt sich das Weib im Weibe und der Mann im Manne.

Fürchterlich, unbeschreiblich
Werden die unirdischen Masken erscheinen.
Ich werde zu Dir empor „Osianna“ rufen
Und – ein Tor – Dir zu Füßen stürzen.

Diese „heilige Torheit“ ist eine Ankündigung der herannahenden Revolution des Geistes. Sobald man unseren Standpunkt und seine konkrete Verbindlichkeit für uns begriffen hatte (Ihr Lächeln leuchtete uns in jedem Morgenrot entgegen), mußte man einsehen, welche Bedeutung Blok von uns zugemessen wurde; und was seine Verse über das Geheimnis der Liebe uns zu sagen hatten: alles darin war klar für uns; und alles war begreiflich; aber dieses Begreifliche war „Torheit“ für die Welt: sowohl für Juden, als auch für Hellenen: der Jude jener Zeit war der orthodoxe Russe, und der Hellene – der liberale Freidenker; unter den einen wie unter den anderen fühlten wir uns als Katakombenchristen; jeder trug seine eigene Maske: ich, der Sohn des Dekans der Naturwissenschaftlichen Fakultät, galt als fleißiger Student, dem das Schicksal einen Weg zum Katheder vorgezeichnet hatte; M.S. Solovjov galt als ehrwürdiger Gesetzgeber in allen Fragen des guten Tones, dessen Rat gesucht und geschätzt wurde, sogar von dem Fürsten S. Trubeckoj, dem berühmten Historiker Kljutschevskij und Professor Lev Lopatin (der von uns Levuschka genannt wurde). S.M. Solovjov, der Enkel des Historikers und Neffe des Philosophen, galt als Thronfolger, dessen Bestimmung die Erhaltung der Tradition des Hauses Solovjov und die Fortführung dessen Ruhmes zu sein hatte.
Aber wir enttäuschten die Hoffnungen der Moskauer Gesellschaft:. ich, der Sohn eines Mathematikers, künftiger Professor der Naturwissenschaften, schlug mich auf die Seite der „Dekadenten“, indem ich meine „Symphonie“ geschrieben hatte, und M.S. Solovjov stürzte von seinem Postament, indem er mich wohlwollend protegierte; sein Haus erwies sich als Sammelpunkt der Katakombenchristen, gerade hier wurde eine Geistesrichtung ausgebrütet, welcher beschieden war, die Traditionen der Moskauer akademischen Gesellschaft zum Einstürzen zu bringen.
Von hier, aus dem Hause Solovjov, verbreiteten sich die Verse Bloks über ganz Moskau.
Der erste Blick auf die ersten Zeilen dieses Dichters zeigte mir, daß spätestens in zwanzig Jahren jeder Russe erkennen würde: Blok ist ein nationaler Dichter, in der Tradition von Lermontov, Fet und Vladimir Solovjov stehend; es war mir klar, daß dieser hervorragende Künstler ohne Einschränkung „zu uns“ gehörte; ich stand vor der Frage: wie ist das Sein, wie ist das Leben zu bestehen, wenn in der Welt Verse erklingen, so göttlich wie diese?
Den Herbst und den Winter 1901 verbrachten wir über den Gedichten von Aleksandr Blok, warteten ungeduldig auf jede Post, die uns neue Gedichte bringen könnte; unsere Meinungen gingen damals auseinander; nur in einem Punkt waren wir uns einig: die Bedeutsamkeit, Aktualität und Wirksamkeit dieser Dichtung waren unumstritten. S.M. Solovjov und ich nahmen sie mit ungeteilter Bewunderung auf; wir ahnten hier eine „Verkündigung“, eine „Verheißung“. Olga Solovjova erlebte das Entgleitende und Wandelbare in den Zeilen:

Ich fürchte mich, Dein Antlitz wird sich wandeln.

Diese Zeile behielt für Olga Solovjova ihre Gültigkeit für viele Gedichte Bloks; trotzdem empfand sie für seine Dichtungen aufrichtige Begeisterung; S.M. Solovjov verhielt sich zurückhaltender, er goß über unsere Verzückungen das kalte Wasser seines klugen Lächelns; und dennoch: er schätzte Blok; der Mystiker Blok weckte seinen Argwohn, weil er befürchtete, er propagiere einen Trancezustand statt der Klarheit der Offenbarung; M.S. Solovjov ahnte bereits zur Zeit von Bloks Jugendgedichten den Zyklus „Unverhoffte Freude“. Ich erinnere mich, wie er mich einmal fragte, wobei er den Kopf zur Seite neigte und mich aus seinen großen Augen angestrengt anblinzelte:

Ist das nicht etwas zwiespältig?

Wir wußten alle mit Gewißheit, daß Blok ein Inspirierter war. Aber  was stand dahinter? Das war die entscheidende Frage.
A.A. Blok hatte als erster Russe die Lyrik Solovjovs zu seinem Ausgangspunkt gewählt, weil er von der umfassenden Bedeutung ihres philosophischen Gehaltes überzeugt war; zugleich trieb er die „Nachfolge Solovjovs“ bis zum Extrem, beinahe zum „Sektierertum“; mag auch später behauptet worden sein: hier scheitern die Ideen Vladimir Solovjovs, hier wird deren krankhafte erotische Wurzel bloßgelegt (das ist die Meinung der Religionsphilosophen S.N. Bulgakov, Fürst Trubeckoj, G.A. Ratschinskij und anderer) – dennoch: Blok spiegelte sich in Solovjov, und ohne diese Spiegelung wäre vieles an Solovjov unverständlich geblieben, so z.B. die Themen des „Dritten Testaments“ und der „Beichte“ von Anna Schmidt, die sich naturgemäß zu der Dichtung Bloks stark hingezogen fühlte und ihn später auf seinem Gut besuchte.
Im Dezember 1901 fand mein erstes Zusammentreffen mit Mereshkovskij und Zinaida Hippius statt; wenn ich mich nicht täusche, habe ich mit ihr über die Gedichte Bloks gesprochen. Seit 1902 standen wir in eifrigem Briefwechsel; in einem ihrer Briefe erzählt mir Zinaida Hippius von ihrer ersten Begegnung mit Aleksandr Blok, beschrieb seine Erscheinung und teilte mir den Eindruck mit, den seine Gedichte in ihr hinterlassen hatten; seine Verse erschienen ihr fremd, ein Überbleibsel längst vergangener Epochen; erst 1904 änderte sie ihre Meinung. Unterdessen bildete sich in Moskau bereits im Jahre 1902 ein kleiner Kreis begeisterter Blok-Kenner; sämtliche Gedichte, die die Familie Solovjov vom Dichter bekam, schrieb ich sorgfältig ab und trug sie meinen Freunden und den Studienkollegen vor; diese Gedichte kursierten an der Universität; der Ruhm der Verse Bloks eilte dem Erscheinen seiner Gedichte im Druck voraus; zu den ersten Kennern seiner Gedichte gehörten außer mir und der Familie Solovjov: A.S. Petrovskij, V.V. Vladimirov, P.N. Batjuschkov, M.A. Ertel, G.S. Ratschinskij, D. Novskij, A.S. Tschelistschev, D.S. Jantschin, E.P. Bezobrazova, meine Mutter und meine seither verstorbene Tante. Die offiziellen Vertreter der damaligen Décadence nahmen Blok gegenüber eine völlig andere Haltung ein: Zinaida Hippius und Mereshkovskij lehnten ihn entschieden ab. Brjusov sah in Blok eine Begabung, deren Kapazität er nicht richtig einschätzte, indem er mich, Konevskij und Gofman vorzog; ich erinnere mich, wie Brjusov in einem Brief an M.S. Solovjov den Unterschied zwischen mir und Blok charakterisierte: ich sei überdeutlich und das stünde mir gut, Blok dagegen sei undeutlich; für Brjusov galt Blok damals lediglich als ein guter Dichter; erst nach dem Erscheinen der „Unverhofften Freude“ wuchs seine Anerkennung. Aber jene Zeichen, die Brjusovs Anerkennung der Muse Bloks bestärkten, weckten in uns, den ursprünglichen Bewunderern dieser Muse, einen ungerechtfertigten Argwohn ihr gegenüber.

 

Bloks Briefe an mich

Jeder Brief von Aleksandr Blok an S.M. Solovjov wurde mehrfach gelesen und kommentiert; er war richtunggebend für viele Gespräche; Abschnitte aus diesen Briefen bekam auch ich vorgelesen; und es war, als seien wir bekannt, um so mehr, als er meine „Symphonie“, die im Frühjahr 1902 erschienen war, bereits gelesen hatte; in der „Symphonie“ erklang das Thema seiner Dichtung, aber es wurde als Satire angelegt, als Witz und vorsätzliches Paradox. Bei Blok erklang das Thema als feierliche Herausforderung an die Welt; er legte die „Maske“ ab, ich ging in einer „Halbmaske“; Blok sah vermutlich mit Unbehagen auf meine Behandlung dieses Themas; er war ein Maximalist und ich ein Minimalist; der Unterschied in der Behandlung eines Themas, das uns gemeinsam war, wurde zum Gegenstand unseres Briefwechsels.
Ich erinnere mich, wie ich in den ersten Tagen des Januar 1903 an Blok einen beredten Brief verfaßte, vielmehr eine philosophische Abhandlung, die mit der Entschuldigung begann, daß ich ihn überhaupt anspreche; das war ein Brief von der, wie man zu sagen pflegt, „zugeknöpften“ Art: in der Annahme, daß wir künftig auf das gemeinsame Einzelne eingehen würden, verhielt ich mich so, wie man unter „anständigen Menschen“ seine Aufwartungen zu machen pflegt und tat den offiziellen Weltanschauungsrock um, verbrämt mit unzähligen Hinweisen auf klassische Philosophen. Zu meinem Erstaunen hielt ich bereits am nächsten Tage den wohlbekannten blauen Briefumschlag in der Hand, von Blok adressiert und mit dem Stempel „Petersburg“ versehen. Nun stellte sich heraus: Blok wünschte, genau wie ich, einen Briefwechsel; sein Brief begann, wie auch meiner, mit einem Kratzfuß: ohne mich persönlich zu kennen, empfinde er den Wunsch nach einer Aussprache… Zu gleicher Zeit bewegte uns der gleiche Wunsch: der eine gab dem anderen ein Zeichen. Diese Briefe hatten sich zwischen Moskau und Petersburg in Bologoje getroffen und gekreuzt; und dieses Wegkreuz blieb ein Symbol unserer Beziehung: einer schmerzlichen und zugleich freudvollen Nähe: ja, unsere Lebenswege kreuzten sich in der Zukunft in mannigfacher Weise; das Kreuz, das so entstand, konnte ein Kreuz der Bruderschaft sein, aber auch zwei duellierende Klingen bedeuten: wir kämpften mehr als einmal, und mehr als einmal fielen wir uns in die Arme.
Das Zusammentreffen der Briefe und das Zusammentreffen der Wünsche, die gleiche Gebärde, die Spiegelung – das alles bestürzte mich.
Als Anlaß für den Brief diente Blok ein Aufsatz von mir, der eben in Mir iskusstva („Von den Formen der Kunst“) erschienen war. Dieser Artikel war eine Zusammenfassung zweier Vorträge, die ich im Studentenkreis um S.N. Trubeckoj gehalten hatte. Sein Grundgedanke: jeder schöpferische Vorgang ist ein musikalischer Prozeß; die äußere Erscheinung der Musik ist Rhythmus; eine Form des Rhythmus ist die Zeit; der Wandel in der Verwirklichung der Form verläuft parallel zu dem Ablauf der Zeit: von der zeitlosen Verwirklichung im Raum bis zu der Dynamik der inhaltlosen Welt einer Symphonie; die äußersten Punkte dieses Wandels sind Architektur und Musik; die Geschichte der Welt der Kunst ist gleichbedeutend mit der Metamorphose der Entschleierung der stofflichen Welt: des festen Stoffes, der Farbe, des Wortes; in der Musik vernehmen wir den Generalbaß aller Kultur; in ihr ist der Samen kommender Künste verborgen, die den Schwerpunkt aus dem Bereich der Form in das Leben selbst übertragen werden.
In seinem ersten ausführlichen Brief untersucht Blok die Ausgangsposition meines Autoreferates: hellhörig spürt er meinen schwachen Punkt auf; seiner Meinung nach hätte ich in diesem Aufsatz eigentlich mich nicht ausgesprochen; seiner Hauptgebärde nach sei er ein Entgleiten in Akademismus und Routine; er sei eine Halbmaske, eine Selbstverurteilung zu einer lästigen Doppel-Existenz: das Wort „Musik“ würde in zweierlei Bedeutungen gebraucht; „Musik“ im gewöhnlichen Sinn kann unter keinen Umständen als „Sphärenmusik“ gelten, als Symbol des Unaussprechlichen, als Symbol aller Symbole, als einziges Ziel der Kulturentwicklung, als Symbol Jener, welche in allen Musen als die Einzige erscheint. Nur diese Muse ist „Musik“: sie ist die Sophia, die sich in der Dichtung Solovjovs offenbart; ich hätte mich in der „Symphonie“ zentral geäußert; im Artikel aber, wieder unsicher, hatte ich mich selber verraten, indem ich Sie zweideutig „Musik“ nannte: die dabei aufkommende Zweideutigkeit sei von der gleichen Art wie in dem Wort „Influenza“; ich wiche von dem Realen ins Zweideutige aus, ins Rhetorische, und verwendete die Wegzeichen meiner Worte wie Mereshkovskij seine Allegorien, die für Blok gotteslästerlich und tot waren wie die erstarrte Grimasse eines Harlekins, eines Erlkönigs, starr wie aus Stein, wie ein Götze mit weit aufgerissenem lachenden Maul über der trunkenen Brandung phallischer Kulte; ich, der dazu berufen sei, die Unantastbarkeit des Einzigen Namens zu vertreten, hätte Den Namen auf meinem Panier zu tragen, ohne ihn zu verdecken; meine „Musik“ sei „eine kalte Halbmaske“. Ich sei aus einem unverständlichen Grund auf halbem Wege stehengeblieben.
Das ist im großen ganzen der Inhalt der Antwort Bloks auf meinen Artikel; der Brief war eine erstaunliche Mischung von tiefen Gedanken, Humor, Mystik und polemischem Feuer. Ein scharfer Glanz lag über den gedankenvollen Sätzen, die ich bedauerlicherweise hier nicht zitieren kann. Hier spricht sich Blok als entschiedener Maximalist aus, der jeglichen Kompromiß in der Terminologie der überlebten sokratischen Welt tief verachtet, einer Terminologie, mit der ich immer noch gerne kokettierte; die Sprache meiner Gedanken war tatsächlich ein Kompromiß, und der Revolutionär Blok hatte mich überführt.
Der Brief bestürzte und entzückte mich in gleichem Maße: ich trug ein anderes Bild von Blok in mir, ich stellte ihn mir beschaulich, still und versonnen vor, geschlossener vielleicht aber nicht zu Humor, Polemik oder zu flotten, extravaganten Übertreibungen aufgelegt; dieser Humor, verbunden mit einem skeptischen und scharfen Verstand, überraschte mich; die reichliche Nüchternheit des Maximalisten Blok überraschte mich vermutlich ebenfalls, und – vor allem – seine hervorragende dialektische Begabung (denn die Dichter gelten als schwache Denker); ich muß gestehen: die Briefe Bloks sind gehaltvoller, feiner und origineller als seine Aufsätze.
Ich erinnere mich, daß ich Blok einen Antwortbrief geschrieben habe, dessen Inhalt ich nicht mehr weiß; die Tragödie, die jene Tage mit Leid durchtränkte, stellt sich vor alle anderen Erinnerungen und deckt für einige Zeit den Briefwechsel mit Blok zu: Krankheit und Tod von Michail Solovjov, das tragische Ende von Olga Solovjova (in derselben schrecklichen Nacht), die Gemütsverfassung von Sergej Solovjov, der plötzlich beide Eltern verloren hatte, das Begräbnis und die Abreise Solovjovs nach Kiev (wo er sich mit der Familie des Fürsten E.N. Trubeckoj, eines Professors der Kiever Universität, anfreundete). Alle diese Ereignisse brachen wie ein Gewitter über uns herein; der Kreis des Hauses Solovjov war plötzlich verschwunden; mit Solovjovs Tod zerriß die Verbindung zwischen Menschen, die durch die Liebe zu dem Verstorbenen zustande gekommen war. Allerdings lebte dieser Kreis in der sehr engen Freundschaft zwischen Sergej Solovjov, Blok und mir weiter; sein Abglanz lag auf meinen „Sonntagen“ in den Jahren 1903 und 1904, und auf der Wohnung von Sergej Solovjov. Der Tod der beiden Solovjovs blieb selbstverständlich nicht ohne Wirkung auch für Blok und seine Mutter, die in stetem Briefwechsel mit den Solovjovs gestanden hatte. Ich bekam in diesen Tagen von Blok einige Zeilen voll behutsamer Zärtlichkeit und mitfühlender Trauer; diese wenigen Worte nach unserer Polemik waren die erste herzliche Begegnung mit Blok wie mit einem nahestehenden Menschen.
Bei der Beerdigung der beiden Solovjovs (11. Januar 1903) begegnete ich P.S. Solovjova (die Dichterin Allegro) und Manaseina, die aus Petersburg angereist kamen; ich versuchte sie über Blok auszufragen, habe aber nicht viel erfahren können: jedes Mal ging das Gespräch auf die Zeitschrift Novyj putj über, deren erste Nummer, soweit ich mich erinnern kann, eben erschienen war; Hippius war für beide interessanter als Blok. Kurz danach belebte sich der Briefwechsel mit Blok von neuem und dauerte das ganze Jahr bis zur ersten Begegnung in Moskau (im Januar 1904).
Ein Teil der Briefe Bloks, die er an mich gerichtet hatte, könnte veröffentlicht werden, da sie wenig Persönliches enthalten; ihr Inhalt sind Philosophie, Literatur und Mystik unter dem Blickwinkel unserer „Ahnungen“; häufig sind sie ein glänzendes literarisches Tagebuch, das sich mit Kultur, mit verschiedenen Schriftstellern und mit uns selbst befaßt; die Gedanken Bloks bilden hauchzarte Spitzengewebe, aus Analogien, Charakteristiken und Sarkasmen, durchwirkt von Wirbeln der revolutionären Romantik, die uns eigen war; Bloks Briefe an mich sind interessanter als viele seiner Aufsätze; in seinen Briefen offenbart er sein innerstes Streben: den Namen seiner Muse zu entziffern; diese Briefe sind das „Tagebuch“, von dem Blok so oft träumte, von dem er zu mir und zu Vjatscheslav Ivanov sprach und uns vorschlug, ein fortlaufendes „Tagebuch der drei Schriftsteller“ erscheinen zu lassen. Dieser Vorschlag wurde später verwirklicht in den „Aufzeichnungen der Träumer“, denen es beschieden war, viele Schwierigkeiten durchzustehen; der Kern in Bloks Briefen ist schwer zugänglich, sowohl dem Thema als auch der Methode nach, die dem Thema adäquat ist; das Thema der Briefe ist die Philosophie Vladimir Solovjovs, in die Atmosphäre der Jahre 1900 bis 1904 ungestüm eingetaucht: das heißt das Thema der Sophia, die sich aufs neue dem Menschen vermählt, zugänglich dem hellhörigen, individuellen Bewußtsein: dieses Thema ist ein anthroposophisches Thema; ich zögere, dieses Thema ein anthroposophisches zu nennen; denn die Anthroposophie Steiners war für Blok etwas Fremdes in den Jahren 1912 bis 1920; in dieser Zeit war er weit entfernt von dem Blok des Jahres 1903 und ging auf Steiner nicht ein, er wich ihm sogar aus. Hier möchte ich anmerken: die Grundlinien der Weltanschauung Solovjovs stimmen ihrer Natur nach mit der Anthroposophie überein, wie sie von Steiner im Jahre 1912 aufgefaßt wurde.
Nach Solovjov und Blok (in den Jahren 1901 bis 1903 wohlgemerkt) ist die abstrakte Philosophie tot; aber die Sophia, die Allweisheit Gottes, die im Denken der alten Philosophen noch lebte, nähert sich von neuem dem Menschen: sie vermählt sich ihm und begründet den Neuen Bund; dieser Bund fällt mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts zusammen. Wir finden den Hinweis darauf bei Blok, der geschrieben hatte: „Ich ahne Dich“, und bei Solovjov:

Ich künde Euch: das Ewig-Weibliche…
Naht der Erde in seiner reinen Gestalt.
Im unauslöschlichen Licht der Neuen Göttin
Vereint sich der Himmel mit dem Ozean.

Diese Worte sind gleichlautend mit den Worten Steiners bei der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft; die Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Leben des Menschen zum Einklang mit der Sophia führen möchte.
Sowohl vom Gesichtspunkt der Anthroposophie aus als – auch aus der Vertiefung in die Briefe von Blok kann ich behaupten: diese Briefe enthalten die Probleme der Anthroposophie.
In einem jener Briefe zeichnet sich die damalige Weltanschauung des Dichters besonders deutlich ab; diesem Brief war ein Brief von mir vorausgegangen, in dem ich, erschreckt durch den Maximalismus Bloks, ihn auf das eingehendste nach seinem Verhältnis zu den Gedichten Vladimir Solovjovs ausfrage; ich entwickle eine Stufenfolge meiner Ansatzpunkte, setze eine Vielzahl von Wegen voraus und entfalte diesen Fächer von Möglichkeiten in einer Reihe von Fragen; Blok durchschaut sofort meine Absicht, ihm ein Bekenntnis zu Sophia abzufordern.
Blok beginnt seinen Brief mit dem Ausdruck des Staunens vor meinem „psychologischen Fragebuch“; er setzt bei mir reale Gründe voraus: abstrakte oder erkenntnistheoretische Behandlung solcher Probleme interessiert ihn nicht – nur die reale „Gnosis“; eine abstrakte Spekulation über die Sophia artet immer in Skepsis aus; der einzige Weg, der sich bewährt, ist der mystische, das Aufnehmen der Sophia mit dem Herzen. Blok deutet eine mögliche Vereinigung von zwei Wegen an: des Weges über das Denken und des Weges über das Herz in der mystischen Vernunft; diese Vernunft ist noch nicht gereift; jedes andere Denken, das sich mit Ihr befaßt, ist bloße Spekulation.
Weiter bekennt Blok: am häufigsten erlebt er Sie als ein Wehen; das Siegel Ihres Antlitzes vermag jeden Gegenstand zu verwandeln; für Vladimir Solowjov war der finnische See Sajma eine Quelle der Inspirationen, die von Ihr kamen, für ihn zeigte sich Ihr Antlitz im Element des Wassers. In Bloks Beziehung zu Sophia scheint ihm folgendes wichtig: Sie offenbart sich dem Individuum und dem kollektiven Bewußtsein… Sie ist unberührbar, das Individuum schaut Sie als Herrscherin der Welt; für die mystische Erfahrung ist Sie die Seele der Welt; Sie zeigt sich aber auch als die Seele der Menschheit, so erlebte Sie der frühere Mystiker; wenn Ihre Offenbarung einzelnen Völkern zuteil wird, dann erscheint Sie als Volksseele; für den Russen z.B. ist Sie die innerste Wesenheit Rußlands (hatte nicht Gogol diese Empfindung Rußland gegenüber gehabt?); jener, der Ihren Hauch konkret empfunden hat, verfügt noch nicht über die ausreichende Möglichkeit, die Offenbarung an die Menge weiterzugeben; dafür müßten wir, nach Bloks eigenem Ausspruch, entweder Titanen werden oder bewußt auf die Wiedergabe Ihrer Worte verzichten und das eigene Wissen in die Form metaphysischer Spekulationen bannen; aber Blok hält uns weder des einen noch des anderen für fähig; unser Los heißt: Ihre Stimme in lyrischen, subjektiven und intimen Mitteilungen wiederzugeben. Daraus folgt: Sie offenbart sich dem poetischen Bewußtsein, und die Dichter erleben Sie als ihre Muse; Fet sprach Sie an; Baudelaire kennt Sie ebenfalls; am tiefsten drang Goethe in Ihr Geheimnis ein; keiner hat mehr über Sie sagen können als er in seinem Faust. Und in dem gleichen Sinn zeigte Sie sich auch Dante. Aber was hat sich heute an unserem Verhältnis zu Ihren Sphären gewandelt? Unsere Beziehungen haben sich insofern gewandelt, als diese Sphären sich geweitet und sich verlagert haben; Ihre Sphären wurden als ein „Dort“ (in der Transzendenz) angenommen; nun sind sie in die Sphären unseres Bewußtseins gerückt; und Sie ist hier (in der Immanenz). Und in der auf- und abwallenden Verwandlung unseres Bewußtseins durch Ihr Bewußtsein besteht das Wesen des kosmischen Umbruchs.
Blok unterstreicht, daß die Dogmen des Christentums: Trinität und Unbefleckte Empfängnis, einen unmittelbaren Bezug zu Ihr haben; das weibliche Prinzip erscheint vor uns einmal im Symbol der Sophia, ein anderes Mal im Symbol der Muttergottes. Daran erkennen wir, daß im Lichte Ihres Wehens die Dogmen des Christentums ihre alte, abgeschlossene, starre Bedeutung verlieren; sie erweisen sich als einzelne Phasen, einzelne Spiegelungen Ihrer Wesenheit in unserem Bewußtsein. Und heute wächst das Verlangen: Ihre Beziehungen zu den Erscheinungsformen der „Sophia“ und der „Maria“ aufzudecken und die Korrelation der Symbole festzustellen.
Schließlich gibt Blok einen wichtigen Unterschied in seinem Verhältnis gegenüber Ihr und gegenüber Christus zu. Christus ist das Gute; und Er ist für alle da. Sie dagegen ist „letztlich“ weder böse noch gut: letztlich ist Sie der Grund. Sie ist für Blok fundamentaler als Christus; Sie ist ihm auch näher. Indem Blok die Idee der Sophia Christus voranstellt, engt er die Idee von der kosmischen Bedeutung des Christentums ein. Er erkennt das Christentum allein als eine geschichtliche Tatsache an; sein Christus ist der Christus Petri und nicht der Logos des Johannes: daraus ergibt sich die Hypertrophie des Prinzips „Jesus“ und die Atrophie des Prinzips „Christus“. Die Christosophie, die Sophia als das Gewand Christi, wird von Blok abgelehnt; seine Christosophie ist die Sophia selbst: Christus ist von Ihrer Idee eingeschlossen, Er ist nur Jesus, eingeschränkt als Person und in der Zeit. Da er den kosmischen Christus nicht kennt, schreibt Blok den Logos (Urbeginn) der Sophia zu; seine Sophia rückt unausweichlich in die Nähe der „Metis“ der Orphiker. Hier lauert die Möglichkeit eines Irrtums und der Wandlung Ihres Antlitzes:

Ich fürchte mich, Dein Antlitz wird sich wandeln.

Nebenbei sei bemerkt, daß das Antlitz der Sophia auf zwei Ebenen sich gewandelt hat: auf der Ebene der mystischen und auf der Ebene der individuellen Erfahrung. Dem individuellen Bewußtsein Bloks entzog Sie sich bereits im Jahre 1906, zu dem Zeitpunkt, als Sie zu einer kosmischen Erscheinung wurde („Du bist in den Feldern verschwunden, geheiligt werde Dein Name“). Dafür erscheint Sie Blok als eine nähere, von ihm nicht erkannte Gestalt: als Rußland, als die russische Volksseele. In dem von mir besprochenen Brief scheint Blok sich geirrt zu haben in seiner Behauptung, es sei unmöglich, Ihre Offenbarung der Menge zu vermitteln: gerade die Menge, das Volk, nahm Ihre Botschaft auf, die Botschaft Rußlands; und Blok, der Barde Rußlands, der Blok des dritten Gedichtbandes, verschmolz mit dem Bewußtsein der Menge; seine erste Erfahrungsebene dagegen (die eines kosmischen Mystikers) ist ein unter sieben Siegeln liegendes Geheimnis.
In seinem so bedeutungsvollen und ausführlichen Brief verweilt Blok lange bei der Beschreibung der Zeichen Ihres Wehens im Unterschied zu den Trugbildern Ihres Antlitzes. Unwandelbar und unbeweglich, ist Sie die Ruhe; die Zeiten schließen sich in Ihr; Bewegung und Metamorphose zeigen an, daß das geschaute Antlitz trügt: dann ist es Maja, die Blok Astarte nennt; Astarte – oder Luna – ist ewig bestrebt, Sie zu verdecken. Das ist begreiflich, möchte ich von mir aus hinzufügen; die tote Mondsichel, die Ihr zu Füßen liegt, schiebt sich vor das Antlitz der Sophia; der Mondschatten der Maja fällt auf Ihr Antlitz und teilt es in eine abstrakte und eine sinnliche Hälfte; leblose Scholastik und Sinnentaumel bietet Astarte den gespalteten Hälften unseres Wesens, die aus der konkreten Ganzheit der Sophia herausfallen. Als spekulierende Philo-Sophia und als nächtliche Unbekannte entführt uns Astarte in die Mondensphäre.
Das war der Inhalt des Briefes von Blok an mich. Soweit ich mich erinnern kann, stammt dieser Brief aus dem Mai oder Juni des Jahres 1903.
Ich referiere seinen Inhalt und bespreche ihn so ausführlich, um an einem Beispiel zu zeigen, welche Aufgabe es bedeuten würde, unseren Briefwechsel im ganzen zu charakterisieren. Wir schrieben in einem besonderen Jargon von höchstem Schwierigkeitsgrad, den wir, junge Symbolisten, uns angeeignet hatten; zu Anfang war dieser Jargon für das breite Leserpublikum unzugänglich, wir wußten das und pflegten eine gewisse Esoterik, um vor den Außenstehenden die wahre Absicht unserer Bestrebungen zu verschleiern; alle Briefe waren durchsetzt von Termini und in einer Bildersprache gehalten, die nicht allen verständlich sein konnte. Nimmt man das „Dritte Testament“ von Anna Schmidt in die Hand, so findet man dort sofort den Schlüssel zu manchen Fragen, die Blok damals bewegten. Dieser Schlüssel ist bis auf den heutigen Tag nur für wenige verständlich; er ist verständlich für S.N. Bulgakov, V.I. Ivanov, N.A. Berdjaev, Vater P.A. Florenskij: er blieb unverständlich für viele der Dichterkollegen von Blok. Mit ihnen allerdings hatte er die Sphären der gnostischen Themen auch nicht erörtert.
Den Mystiker Blok kennt man nicht; ich möchte das für alle verborgene Antlitz des Dichters von damals nachzeichnen: das Antlitz eines tiefen Mystikers; kennt man diesen Blok nicht, klingt vieles in seiner Dichtung befremdlich. Den Dichtern, die unsere Nachfolge angetreten haben, wäre die Sprache unserer Briefe völlig unverständlich; nach uns wurde die „schöne Klarheit“ bevorzugt; wir hatten uns darum nicht gekümmert; und wenn wir daran dachten, so dachten wir stets, daß es vor unserer Zeit genügend Klarheit gegeben habe, bei den „Sokratikern“ der rücklings stürzenden Kultur; die Nebel des „Symbolismus“ hielten nicht lange an: nur ein Jahrzehnt; mit dem Jahre 1910 begann der unaufhaltsame Rückfall in die achtziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts, in die „Klarheit“, am „Kern“ des Symbolismus vorbei: aber die dunklen Kerne blieben zurück; die „Klarheit“ rief als Antwort Explosionen futuristischer Glossen hervor.
Die undurchdringlich dunklen Kerne der tiefsten Überlegungen von Blok hätte ich ohne sonderliche Mühe auf die Metaphysik von Vladimir Solovjov zurückführen und das Skelett der Widersprüche bloßlegen können, die Blok und ich uns entgegenhielten: wer ist die „Schöne Dame“? In welcher Beziehung steht sie zu der Theokratie Vladimir Solovjovs? Unter welchem Aspekt ist sie – Kirche? Wie läßt sich ihr Sein erfassen? Mit Hilfe der Metaphysik, Gnosis, mit Hilfe von Comte oder von Kants Erkenntnistheorie? Dient ihr ein Rittertum oder ein Priestertum? Was haben Plato, Dante, Goethe von ihr ausgesagt? An welchen Punkten der Biographie von Vladimir Solovjov leuchtet ihr Antlitz auf? Wie man sieht: Themen von ungeheurer Bedeutung, unlösbar für zwei junge Symbolisten, den Philologen Blok und den Naturwissenschaftler Bugajev; diese Themen türmten sich vor uns hoch und blieben unverrückt bis auf den heutigen Tag; ihnen wird man sich wieder zuwenden, wenn man in aller Sachlichkeit darangehen wird, die Kultur Europas aus der Sackgasse, in der sie steckengeblieben ist, hinauszuführen. Weder ein Plato noch ein Kant noch ein Dante hatten sich je der Weltprobleme geschämt; die Generation der achtziger Jahre schämte sich ihrer; die „schöne Klarheit“ schämte sich ihrer ebenfalls und zog ihren Horizont immer enger, um schließlich die „Krisis der Kultur“ festzustellen, einen Zustand, den die Symbolisten schon längst als notwendig erkannt und sich dazu entscheidend ausgesprochen hatten.
In jenen Jahren sah Blok mit äußerster Nüchternheit: die Fragen, die in uns aufgestanden waren, kreisten alle um die schicksalshafte Entscheidung: Sein oder Nichtsein für die neue Phase der Entwicklung menschlicher Beziehungen und der Wahrnehmungsmöglichkeiten der Welt; Abstürzen oder Nichtabstürzen 1n den Abwassergraben des faulenden Positivismus.
In der Menschheit erschafft sich der Mensch sein neues Antlitz: das kosmische Antlitz; die kosmische Verbindung von Logos und Chaos, ihr erneuerter Bund, ist der Beginn einer kosmosophischen Wiedergeburt des Bewußtseins in der anthroposophischen Praxis: sonst wandelt sich die Logik zu Loki; Loki ist Lüge; so würde unsere „Sophia“ zu einer einzigen Sophistik, einer Equilibristik, vorgeführt von Taschenspielern, deren Körper im gleichgültigen Chaos stecken und deren Köpfe in die Toricelli-Leere des kopernikanischen Himmels ragen. Der Mensch zerbricht, denn seine Seele vertrocknet zu einem Reisigbündel dürrer Begriffe, und sein Leib wird starrer als jeder feste Körper; jede dieser beiden Hälften geht ihren eigenen Weg, das Wesen des Menschen entleibend bis zum Zustand eines Ich-losen „Subjekts“ und einer sinnlosen Anhäufung von Molekülen – mit dem letzten Ziel, die Menschheit vom Winde der Zeit wie eine Handvoll Staub verwehen zu lassen. Der Geist war für uns damals eine konkrete Ganzheit, die den Widerspruch von Innen und Außen aufhob. Für Blok war die Ganzheit das Symbol der Welt – Sophia: Sie war die uns zuteil gewordene Offenbarung des Geistes als seiner selbst, ohne die Maske der Materie und ohne die Maske der Psyche; diese Zeit, die unaufhaltsam heranrückte, nannte Blok die Aera des Heiligen Geistes oder der „Dritten Offenbarung“; daher wird seine in dem von mir angeführten Brief gestellte Frage verständlich: ist Sie – der Heilige Geist?
Ist Sophia ein Kleid – ist Sie dann das Kleid des Heiligen Geistes? Es ist wohl eindeutig klar, weshalb die Frage nach der Sophia bei Blok mit dem Dogma der Trinität zusammenhängt. Hinter den Fragen, die wir uns in den Briefen zugeworfen hatten, stand ein noch ungeschriebenes System: der „Konkrete Idealismus“; gemessen an diesem System ist selbst Hegel ein abstrakter Vorläufer; unser Suchen schuf den Stil dieses Systems; wir träumten davon, denn es schien uns nahe zu sein; im Jahre 1912 war die Anthroposophie für mich ein Schritt zu diesem System; ihren Geist empfand ich als verwandt. Dieser Geist diktiert die besten Verse in Bloks „Gedichten von der Schönen Dame“, die noch von niemandem philosophisch erschlossen werden konnten: diese Zeilen atmen anthroposophische Kultur.
Aber anstatt unsere Themen bewußt ins Leben zu führen, anstatt einer bewußten Umsetzung der Impulse, die wir von unserem Denken und unserem Fühlen empfangen hatten, sind wir dem Bann oberflächlicher Ästhetik erlegen; wir haben uns von der Stimme der Wildnis zurückrufen lassen und das Thema der Morgenröte verraten: alle unsere Themen gingen in dem Moder der bloßen Literatur unter, die jede Frage in einem Glas Wein zu ersäufen versteht, und wir sind nicht zu Goethe und Dante in die Schule gegangen; dafür hatten wir das Rezept „Marke Brjusov“ vorgezogen: selbstisch wuchernd, erstickten wir die entscheidenden Themen.

Schweigt, verfluchte Bücher,
Ich habe euch nie geschrieben.
(A. Blok)

Die Briefe von Blok sind Ausdruck einer seltenen seelischen Kultur; einst werden sie als vierter Gedichtband gelten; hier lüftet der Dichter die Maske des „Singvogels“; der hellsichtige Gedanke erleuchtet das Bewußtsein; hier ist Blok ein absolut konkreter Philosoph, der dem musikalischen Thema „Kultur“ nachgeht, das Ethik, Soziologie und Ästhetik zu einem Ganzen verschmilzt. In jenen Briefen, in den darauffolgenden Gesprächen und Begegnungen lebte etwas, das an den Kreis um Stankevitsch erinnerte; aber ein wesentlicher Unterschied war bei allen zu bedenken: Hegel stand im Rücken der Teilnehmer jenes Kreises; unser Hegel stand vor uns: er war für uns ein Geahnter; wir waren uns dessen bewußt, daß Solovjov nicht unser Hegel war; er war nur ein Signal für unseren Start; Vladimir Solovjov schnitt uns von der Vergangenheit ab; wir erkannten bereits, daß seine Philosophie in der Verneinung und Absetzung begründet ist. Die Verkündigung der neuen Epoche vernahmen wir in seiner Metaphysik; noch mehr in seiner Lyrik: hier zeichnete sich unser unsichtbarer Weg ab: die Fahrt der Argonauten zu dem Goldenen Vlies.
In meinem Briefwechsel mit Blok zeigte sich deutlich unser verschiedenartiges Verhalten dem gemeinsamen Thema gegenüber: ich, der Vorsichtigere, versuche, eine Form des Prinzipiellen zu prägen; der Maximalist Blok dagegen macht mir dies zum Vorwurf und reißt mutwillig den Schleier der Wirklichkeit mit dem Paradox auf: weilt Sie unter uns? Was folgt daraus? Etwa: noch einen Schritt weiter – sind wir dann eine Sekte?
Die Annäherung Bloks an S.M. Solovjov, damals noch Schüler am Polivanov-Gymnasium, blieb nicht ohne Einfluß; der Tod der Eltern wirkte sich bei S.M. Solovjov in einem Mystizismus besonderer Art aus; diese Atmosphäre beeinflußte auch Blok; das zeigte sich in einer ganz besonderen Zärtlichkeit, mit der Blok in seinen Briefen Sergej Solovjov erwähnte, der erst kürzlich aus Kiev zurückgekehrt und in einer kleinen Wohnung auf der Povarskaja eingezogen war. In dieser kleinen Wohnung verbrachte ich Abend für Abend; Solovjov und ich sprachen von Blok; und Solovjov ließ mich wissen, daß einige der Verse Bloks von seiner jungen Braut inspiriert waren, einer Tochter des bekannten Chemikers Mendelejev, der von mir so warm verehrt wurde; seine Bücher besaßen für mich einst die Bedeutung der Bibel; wieviel Zeit habe ich nicht über seinen Grundlagen der Chemie verbracht. An unseren abendlichen Zusammenkünften nahm zuweilen die Großmutter von Solovjov, Aleksandra Grigorjevna Kovalenskaja, meine aufrichtige Freundin, teil (ungeachtet ihres Alters war sie meiner „Symphonie“ sehr wohlgewogen), die Blok ironische Zurückhaltung entgegenbrachte; zuweilen tauchte Ratschinskij auf, der damals Vormund von Sergej Solovjov war; ich erinnere mich: der Frühling kam, ich bereitete mich auf das Staatsexamen vor.
Zu Ostern erschienen erstmalig Gedichte von mir und von Blok im Almanach Severnyje cvety und im Almanach Grif; um diese Zeit führte ich ein recht flatterhaftes Leben, indem ich fast täglich bei Sokolov (Redakteur des Grif), bei Brjusov oder bei Balmont war, den ich kürzlich kennengelernt hatte; mein Pseudonym war bereits dechiffriert und ich eine Berühmtheit, aber von ganz besonderer Art: die Professoren sahen in mir einen Renegaten; in den Kreisen der „Dekadenten“ wurde ich hofiert; jeder widmete mir ein Gedicht; aus Petersburg schrieb das Ehepaar Mereshkovskij von meiner Mission, in der Zusammenarbeit mit ihnen eine Erneuerung der religiösen Wege zu finden; der Kopf schwindelte mir; aus einem zurückhaltenden Jüngling verwandelte ich mich in einen Führer der Jugend; Boris Bugajev war verschwunden, statt dessen gab es nur noch Andrej Belyj; die Zeitungen schrieben über ihn; mein „Offener Brief an Liberale und Konservative“ und ein öffentlicher Vortrag riefen einen Skandal hervor; bald darauf gab sich einer der Dozenten eine nicht unerhebliche Mühe, mich beim Examen in vergleichender Anatomie durchfallen zu lassen, weniger wegen mangelnder Kenntnisse als „seines Abscheus dem dekadenten Dichterling gegenüber“; das wäre ihm beinahe gelungen, als er sich überzeugen konnte, daß ich mir über die embryonale Entwicklung der Nasenlöcher bei Kaulquappen nicht im klaren war, weil ich die bedeutungsschwere Tatsache übersehen hatte, daß von den angelegten vier Nasenlöchern nur zwei Nasenlöcher bleiben; dies hätte genügt, um mich durchfallen zu lassen; ich habe es noch rechtzeitig auffangen können: in der entscheidenden Frage über die Wechselbeziehung zwischen dem Blutkreislauf eines Embryos und dem der Mutter ist es dem Dozenten nicht gelungen, mich aus dem Konzept zu bringen: ich bekam eine „Drei“; meine Lage war um so prekärer, da ich nicht an die Prüfungskommission appellieren konnte: der Vorsitzende der Prüfungskommission, mein eigener Vater, anderen Studenten gegenüber sehr hilfsbereit, war selbstverständlich nicht in der Lage, für seinen Sohn eintreten zu können; mein Dozent wußte das und hatte darauf gebaut: auf die vier Nasenlöcher einer Kaulquappe.
So erging es mir an der Universität, und das alles wegen der „Symphonie“; sehr bald sollte es noch ärger kommen: ein namhafter Professor, der mich von Kindesbeinen an kannte, weigerte sich, am Grabe meines Vaters mir die Hand zu reichen. Blok erging es nicht viel anders; er, ein Enkel von Beketov, galt ebenso wie ich als Renegat.
Ende März 1903 erhielt ich eine liebenswürdige Einladung von Blok, als Brautführer an seiner Hochzeit teilzunehmen, die im Juli oder August in Schachmatovo stattfinden sollte; den gleichen Brief bekam auch Sergej Solovjov. Wir sagten beide zu. Aber im Frühjahr brach der Briefwechsel ab: vor der Hochzeit reiste Blok mit seiner Mutter nach Bad Nauheim; meine Zeit verschlang das Staatsexamen; endlich war es vorbei, mein Vater und ich planten eine Reise ans Schwarze Meer. Der Vater starb plötzlich an Angina pectoris: Übermüdung, Schmerz über den plötzlichen Verlust warfen mich nieder; man beschloß, ich sollte mich erholen; ich fuhr aufs Land und sagte Blok ab. Aber die erste Junihälfte war von neuem seinen Dichtungen gewidmet; ich erinnere mich, daß an dem Tage, an dem wir meinen Vater beerdigt hatten, ein Petersburger Bekannter von Mereshkovskij angekommen war, der Student L.D. Semjonov, ein Demagoge mit reaktionären Neigungen, aber durch und durch von Bloks Melodien erfüllt; wir begegneten uns darin, sahen uns täglich und kehrten immer von neuem zu religiösen Problemen und zu den Problemen meines Briefwechsels mit Blok zurück, indem wir sie mit den Thesen der „Petersburger Religionsphilosophischen Gesellschaft“ verglichen; gegen Abend gingen wir spazieren und irrten lange durch das staubige Moskau; das Novodevitschij-Kloster war das Ziel unserer Wege; immer wieder pilgerten wir dorthin und besuchten die Gräber meines Vaters, Polivanovs, Vladimir Solovjovs, M.S. Solovjovs und seiner Frau, die noch ganz frisch waren; hier blieben wir, ermüdet durch den langen Weg, und saßen lange auf den schimmligen Holzbänken, umgeben von Flieder, flackernden Lichtchen und schimmernden Blumen, die über den vertrauten Gräbern aufblühten; wir verstummten mitten in einem Gespräch über Tod und Unendlichkeit und schauten zu dem stillen türkisfarbenen Himmel hinauf; im Westen schimmerte er in leichtem Rosa; Schwalben durchschnitten ihn mit ihrem Schrei; die Luft tönte leise – Stimmen kamen aus einem mit dichtem Grün umrankten Fenster: eine Nonne spielte allabendlich geistliche Lieder auf ihrem Harmonium; Semjonov und ich schwiegen; wir lauschten; Bloks Verse wehten durch die Luft:

Über den vergessenen Grabhügeln sprießt das Gras.
Wir vergaßen das Gestern, wir vergaßen die Worte,
Stille umgibt uns.
Dieses Leben Entschwundener, von der Flamme Verzehrter –
Macht es Dich nicht lebensvoll, macht es Dich nicht reich,
Läßt es nicht Frühling in Deinem Herzen werden?

Nach einer Weile lockten wir behutsam Worte aus dem Schweigen hervor: Worte vom Letzten, Stillen, Unsrigen, Innigsten. Und wieder Verse von Blok.
Tiefer Dank verbindet mich mit L.D. Semjonov für diese Wochen, die sich durch seine Anwesenheit so wohltuend gestaltet haben: mit behutsamer Hand vermochte er den scharfen Schmerz über den plötzlichen Tod meines Vaters zu lindern; er brachte mich zu den Gräbern und zeigte mir das sprießende Gras.

 

Die Zeit bis zu der ersten Begegnung

Im August kam ein Brief von Sergej Solovjov, der aus Schachmatovo, von der Hochzeit Bloks, zurückgekehrt war: der Brief eines tief erschütterten Menschen; den Grund dieser Erschütterung konnte ich lange nicht begreifen.
Im Oktober kehrte ich nach Moskau zurück und erfuhr von Sergej Solovjov die Einzelheiten dieser Hochzeit; jede Episode schilderte er anschaulich und sehr farbig; ich begriff: Sergej Solovjov war erschüttert von der Atmosphäre dieser Hochzeit, die die Gäste an den Festtagen zu einer Gemeinschaft verschmolzen hatte; ich glaubte seiner Feinfühligkeit und konnte dennoch nicht begreifen, was sich dort eigentlich ereignet hatte, was die Ursache seiner Erschütterung gewesen ist, die sich im Aufblitzen des geweiteten Auges und in der Intonation bemerkbar machte; Mysterien werden so erlebt, nicht aber Hochzeiten; ich versenkte mich in seine Erzählung; aus der Schilderung von Solovjov ließ sich erahnen, daß sich über Boblovo, über Schachmatovo (die Güter der Braut und des Bräutigams) eine Stille herabgesenkt hatte, die ein tiefes Miterleben der Trauungszeremonie ermöglichte; auch das Essen nach der Trauung war von ganz besonderer Art; die Natur strahlte in niegesehenem Glanz, die Hochzeitsgäste auch; die Wahl der Gäste und ihre Beziehung untereinander schienen ebenfalls den Motiven der Dichtung Bloks zu entsprechen, den Motiven künftiger Zeiten. „Voila: eine epochale Hochzeit!“ – dachte ich halb im Spaß und halb im Ernst, während ich Solovjov zuhörte; ich bemühte mich zu begreifen, was ihn eigentlich dabei so betroffen hatte; und schließlich verstand ich: die Hochzeit Bloks, des „in die Ewigkeit Verliebten“, mit einem „empirischen“ Mädchen warf die Frage auf: was bedeutete für Blok seine Braut? War sie eine Beatrice – eine Beatrice wird nicht geheiratet; war sie einfach ein junges Mädchen, so war die Hochzeit mit einem „einfach“ jungen Mädchen – ein Verrat am eigenen Weg; die Dichtung Bloks stellte das Rätsel: welche geistigen Wege beschritt der Dichter selber? Für uns war es natürlich, ihn als Mönch zu sehen, gefeit gegen irdische Versuchungen; plötzlich – diese Hochzeit. Andererseits – das wußten wir ja schon – lebten wir in der Erwartung, daß „im Lichte der neuen Göttin“ die Abgründe der Welt sich verwandeln würden, aber wie, auf welche Weise? Diese Verwandlung sehnten wir herbei; nur davon sprachen wir; deshalb die Frage: war das eine Hochzeit oder ein Mysterium? Nach der Beschreibung von Solovjov hatte ich verstanden: „Ein Mysterium“ (etwas Unbeschreibliches); so sollte es auch sein; die Braut, eine geborene Mendelejev, war nach den Schilderungen Solovjovs ein außergewöhnliches Wesen; sie erkannte das Besondere, Doppelschichtige ihrer Lage: als der Braut Bloks, auserwählt, neue lichtspendende Wege zu betreten; Blok selber und manche der Festgäste begriffen die Bedeutsamkeit dieser Hochzeit; ich erinnere mich, daß einer der Gäste, ein Brautführer, auf Solovjov einen besonders nachhaltigen Eindruck gemacht hatte; er war einer der „Unseren“, d.h., er lebte in Erwartung des neuen „Sterns“; er hatte seine Universitätsstudien bereits abgeschlossen, er war Mystiker und war glücklich verlobt; nun war er auf dem Wege nach Galizien, um dort zu konvertieren und in einen katholischen Orden einzutreten; der Name dieses Brautführers war Graf Razvadovskij; er hatte nach den Erzählungen Solovjovs eine eigene mystische Praxis entwickelt, nach deren Ausübung er den „Stern“ schauen konnte; und diesem Stern folgte er in das Kloster.
Es ist bezeichnend: nur ein einziges Mal ist dieser Name zwischen Blok und mir erwähnt worden: bei unserem letzten Wiedersehen im Frühjahr 1921, kurz vor der letzten Moskauer Reise Bloks, die einen so tragischen Ausgang genommen hat; lächelnd zeigte mir Blok die Zeitschrift Russkaja mysl mit den abscheulichen Ausfällen von Hippius, die sich gegen den Senator Koni und einige unserer Schriftsteller richteten; mit einer gewissen hochmütigen Gelassenheit schlug er mir Seite um Seite auf, und wir erfuhren zum ersten Male, daß wir Kommunisten seien, daß Koni sich verkauft habe: weder für Mehl oder Zucker, noch für Tee oder Streichhölzer, sondern für Graupen; des weiteren erfuhren wir, daß einer der weiblichen Kommissare auf eine besonders kokette Weise ihre Schuhe anzuziehen pflegte; aber etwas wirklich Neues hat dieses Geschwätz uns nicht gebracht: seit einer Reihe von Jahren übte sich Zinaida Hippius in der selbstlosesten Weise im Verfertigen von Mythen; auffallend war für uns nur die allgemeine Färbung dieses Geschwätzes: es sah nach Verleumdung aus. Ober diese Zeitschrift kamen wir auf die Situation der Russen im Westen zu sprechen; und weiter auf die polnische und die slavische Frage im allgemeinen; Blok wandte sich zu mir und sagte, daß in Galizien (wenn ich mich recht erinnere) der Name eines Bischofs genannt würde, und daß dieser Bischof der Graf Razvadovskij sei. „Du weißt, das ist wahrscheinlich jener Razvadovskij“ – sagte Blok lächelnd, und aus diesem Lächeln sprach die Erinnerung an die fernen Zeiten, als die jungen Brautführer der Ljubov Blok auf die neue Morgenröte gewartet hatten; der eine sah das Mysterium in einer Hochzeit, der andere zog unmittelbar nach der Trauung seinem „Stern“ nach, der ihm einen Bischofshut gebracht hatte.
Die Erlebnisse Solovjovs während der Trauungszeremonie beeindruckten mich, obwohl ich sehr zerstreut zuhörte (andere Dinge bewegten mich); Sergej Solovjov entwarf vor mir ein sehr überzeugendes Bild des Vaters von Ljubov Blok – des alten Mendelejev, der Personifikation des Chaos, der seiner lichten Tochter, der Muse Bloks, das Geleit gab. „Das dunkle Chaos“, „der Alte“, der die Rhythmen der Materie belauscht und vor der ganzen Welt die Symphonie der Atomgewichte aufgezeichnet hatte, war eine Erscheinung, die bei der Trauung Bloks nicht fehlen durfte: der alte Mendelejev weinte, als er seiner Tochter den Segen gab.
Die Erzählungen Sergej Solovjovs von dieser Hochzeit blieben mir im Gedächtnis. Von diesem Herbst bis zum Jahresende ist der Briefwechsel mit Blok nicht recht gediehen, wir kamen auf unsere Themen nicht zu sprechen; ich ging ganz im quirlenden Leben der verschiedenen literarischen Kreise auf; alles, was einst im „Kellerloch“ sich staute, trat dort ans Tageslicht: es gab den Kreis der jungen Literaten um die Zeitschrift Grif, den Kreis um den Skorpion; es bildete sich der Kreis für Theosophie und der Kreis der Argonauten (das waren meine „Sonntage“): unsere Argo stand zur Fahrt bereit und schlug mit den goldenen Flügeln der Herzen; der neue Kreis war der Kreis der Symbolisten – der Symbolisten par exellence (zu seinen Zusammenkünften erschienen auch Dichter aus dem Skorpion und aus dem Grif ebenso wie die Theosophen). Der Kern des Argonautenkreises, der sich kein Sprachrohr zulegte, teilte sich auf zwischen den Redaktionen des Skorpion, Grif, Svobodnaja sovestj, Teosofitscheskij vestnik, später zwischen Pereval und Zolotoje runo (den Namen Zolotoje runo – das goldene Vlies – schlug Sokolov der Argonauten gedenkend, Rjabuschinskij vor); noch später nahmen die Argonauten an den Sitzungen der Svobodnaja estetika teil, an dem Kreis um Kracht und im Dom pesni von d’Alheim; schließlich trafen sie sich noch einmal alle bei Musaget, um sich 1910 endgültig zu zerstreuen; die Wirkung der Argonauten hielt ein ganzes Jahrsiebt an – sie bestimmten den Symbolismus in Moskau; noch mehr: die Argonauten waren möglicherweise die einzigen Vertreter des Symbolismus innerhalb der Moskauer décadence. Die Seele des Kreises, der Agitator, Propagandist und Verfechter war Ellis; und ich war der Ideologe.
An den Sonntagen versammelten sich die Argonauten in meiner Wohnung; man blieb die ganze Nacht zusammen; der Kreis hatte weder ein Statut noch irgendwelche exakten verbindlichen Konturen; man schloß sich ihm an, man trennte sich wieder von ihm, ganz zwanglos; aus ihm sprach ein Impuls, die Seele einer Gemeinschaft, nicht einzelne Menschen; von 1903 bis 1907 zählten sich zu den Argonauten: L.L. Kobylinskij („Ellis“), S.L. Kobylinskij, der Philosoph, S.M. Solovjov, M.A. Ertel, der Historiker, G.A. Ratschinskij, V.V. Vladimirov, der Maler, A.S. Tschelistschev, A.S. Petrovskij, V.P. Polivanov, N.I. Petrovskaja, Batjuschkov, P.I. Astrov, N.P. Kisiljov, M.I. Sizov, V.O. Nilender, S.J. Rubanovitsch, K.F. Kracht und andere. Die Aufgabe der Arge sahen wir in der Durchwärmung der geistigen Atmosphäre durch die Idee des Symbolismus, in der Dynamisierung unserer Bewegung und in der Ausarbeitung eines Programms. Selbstverständlich reifte die Idee des Moskauer Symbolismus nicht in der Dekadentenzeitschrift Vesy, sondern in dem Mythos der Arge, die nirgends beheimatet und doch überall gegenwärtig war: in Vesy, in Pereval, in Zolotoje runo, in den Mittwoch-Versammlungen bei Astrov, auf den Sitzungen der Estetika, bei dem jungen Muzaget, im Orfej und selbst in den Bestrebungen des Duchovnoje znanije. Ich erinnere mich, wie im Jahre 1918 der Geist der Argo uns entgegenwehte – und schon sprachen wir über eine zu gründende Zeitschrift Evoe. Noch ein Mal spürte man das Wehen des uns vertrauten Geistes, als wir – S.M. Solovjov, Nilender und ich – alteingesessene Argonauten – die Moskauer Sektion der Volfila gründeten.
Meine „Sonntage“ in den Jahren 1903 bis 1905 sind erfüllt von argonautischen Stimmungen; wir kamen bis zum Jahre 1910 zusammen; außer den Freunden und den Dichtern des Grif und des Skorpion trafen sich hier: K.D. Balmont, V.J. Brjusov, J.K. Baltruschajtis, S.A. Sokolov, der Schriftsteller Pojarkov, die Maler Lipkin, Borisov-Musatov, Rossinskij, Schestjorkin, Feofilaktov und Perepljotschikov; die Musiker: S.I. Tanejev, Bujucli, Medtner; die Philosophen: G.G. Schpett, B.A. Fogt, M.O. Gerschenzon, N.A. Berdjaev, S.N. Bulgakov, V.F. Ern, G.S. Ratschinskij; zu unseren Gästen zählten: V.I. Ivanov, D.S. Mereshkovskij, D.V. Filosofov, P.I. Astrov, Professor Pavlov, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und dessen Frau, der Paläontologe Prof. I.A. Kablukov, M.K. Morozova und I.A. Kistjakovskij.
Zuweilen waren wir fünfundzwanzig Menschen um einen Tisch: man musizierte, diskutierte, man sang und vor allem: man las Gedichte; auf die Initiative des stets begeisterten Ellis rückte man die Tische an die Wand und begann mit Tanzen, Theaterspielen und Improvisieren.
Die Argonauten begeisterten sich für die Dichtung Bloks und hielten ihn für einen ihresgleichen, für einen Argonauten. Später besuchte er meine „Sonntage“ (während seiner Moskauer Zeit). Nach Petersburg zurückgekehrt, schickte er mir ein Gedicht, das der Arge gewidmet ist und als Überschrift die ersten Worte aus meinem Argonauten-Gedicht trägt, dem Hymnus der Argonauten.

Unsere Argo, unsere Argo
Schlägt mit den goldenen Flügeln,
Zum Fluge bereit.

Die Argonauten hatten auch ein Siegel – verzückt drückte es Ellis überall drauf, wo er es für angebracht hielt: über Gedichte, auf Buchrücken und Manuskripte.
Hier ist das Gedicht Bloks:

„UNSERE ARGO“
für Andrej Belyj

Wache halten wir am Tor,
Treue Sklaven.
Wir glauben innig, wir spähen nach den Himmeln
Und warten auf den Ruf der Trompeten.
Ewig ist – morgen. Und vor dem Gitter
Täglich, zu jeder Stunde
Rühmt Deine reine Stimme
Einen von uns.
Sehnsucht durchweht die Luft
Und gewitterträchtige Hoffnung.
Die Höhen glimmen –
Aufgerissenes, überwaches Auge.
Ein rosenfarbiger Engel wird uns führen.
Er wird uns zeigen: da – Sie.
Perlen fädelt sie auf, reiht sie zu Ketten,
Ewiger Frühling.
In einer lichten Stunde werden wir
Das Grollen des sich verziehenden Gewitters vernehmen,
Schweigend werden wir unsere Hände zusammenflechten
Und in den Azur emporschweben.

Dieses Gedicht ist von der Stimmung der Arge durchtränkt; es spiegelt wie kein anderes die Erlebnisse der Argonauten; die letzten Zeilen sind ein unvergleichlicher Ausdruck für die Idee der konkreten Brüderlichkeit, die wir zu verwirklichen trachteten.
In diesem Herbst trafen wir uns häufig, fast täglich: die Sonntage verbrachten wir bei mir, am Dienstag trafen sich viele von uns bei Balmont, Mittwochs bei Brjusov, am Donnerstag in der Redaktion des Skorpion; und einen Abend wöchentlich traf man sich in der Redaktion des Grif. Völlig überraschend stellte die Redaktion des Skorpion ihre Mitarbeiter vor das Ultimatum: ihre Mitwirkung an der Zeitschrift Grif sofort einzustellen; Balmont und ich lehnten dieses Ultimatum ab; seitdem schielte Brjusov unfreundlich hinter uns her; man erzählte sich, daß Zinaida Hippius dahinterstecke; Blok fragte mich in seinen Briefen, was er tun solle; als er erfuhr, daß ich bei Grif geblieben sei, stellte er sich sofort auf die Seite der Abtrünnigen und legte seinem Brief ein Gedicht über die Entlarvung der Hippius-Intrige bei.
Die Gemeinschaft der Argonauten gedieh; sie quirlte von Leben; mir aber war traurig zumute; das hektische literarische Treiben ermüdete mich, und in meiner Seele empfand ich das Versiegen des inneren Lebens; als wenn die Exklamation des Lebens, der Versuch, den Rhythmus der Bruderschaft in der Außenwelt durchzuhalten, eine tödliche Wirkung auf die Seele ausüben würde; ich spürte die Anfechtungen des Wortteufels; Worte belasteten; immer deutlicher zeichnete sich der Konflikt ab, der in dem Bewußtsein aufbrach, das dem Geheimnis der Morgenröte nicht nachgegangen war, zwischen sich und der Morgenröte einen Dunstschleier des seelischen Kollektivismus hatte aufsteigen lassen; ich suchte Harmonie. In meiner Phantasie entstanden die schönsten Formen künftiger Gemeinschaft: wir sitzen um eine Tafel; unsere Stirnen sind bekränzt; Früchte liegen auf dem Tisch – in ihrer Mitte eine Schale und ein Kreuz; wir schweigen, wir lauschen dem Unaussprechlichen; und eine Stimme ertönt:

Die Zeit ist nah.

Ähnliche Bilder zogen an mir vorbei; ich fühlte mich von der Frage bedrängt: Wie läßt sich der von uns empfangene religiöse Impuls verwirklichen? Kann eine ihm adäquate Ausdrucksform geschaffen werden? Der Versuch, ein Kollektiv in ein harmonisches Ganzes zu verwandeln, erlitt ein Fiasko; es war auch unsinnig, einem Menschen wie Ellis eine Toga umhängen zu wollen; ich suchte Trost bei N. Petrovskaja und A.S. Petrovskij; die erste fühlte meinen Schmerz, ohne mir helfen zu können; der andere brachte mich zu dem hellsichtigen Bischof Antonius, einer ungewöhnlichen Persönlichkeit. Antonius fixierte mich mit seinem blauen Blick und überschüttete mich mit funkelnden Worten, wobei er sich über den makellos weißen seidigen Bart strich; Unausgesprochenes leuchtete hell; alles, dem das Herz nachweinte, wurde Gegenwart; aber in diesem Leuchten gab es keine Kränze; genau so wenig wie Argonauten; die Kiefern von Sarov flüsterten unablässig über der ewigen Ruhe. Nach einem Besuch bei Antonius klangen unsere Reden von einem Mysterium der All-Einheit und Brüderlichkeit aufdringlich, offenkundig un-rhythmisch; ich biß die Zähne zusammen und mühte mich, den Argonauten auf einen anderen, leiseren Rhythmus umzustellen; die Argonauten lärmten weiter; die innere Welt besaß die frühere Harmonie nicht mehr; Winde durchpeitschten sie; sie trugen mich davon, brachten mich in den Herbst 1903 hinüber, ließen mich auf das herbstkalte Pflaster Moskaus fallen und verwehten für immer; sie trieben den Schneestaub vor das erblindete Auge und ließen ihn im Kreise tanzen.
Die Morgenröte verglomm: das war bereits eine Tatsache – die Morgenröte war schon verglommen. Es war das ausgehende Jahre 1902; das Jahr 1903 war nur noch ein Jahr der Nachtrauer.
Ich kam von der Vergangenheit nicht los: ich widmete mich geistiger Forschung und erreichte dabei manchen Augenblick der Ruhe; in einem solchen Augenblick sah ich, wie am strahlenden Himmel der Zeiten Wolken sich zusammenballten; und hörte eine Stimme:

Siehe, der Himmel bezieht sich; er wird dich für Jahre verlassen.

Im Herbst stand ich im Geiste häufig über dem Leichentuch, das sich über unsere Zeit gelegt hatte. Aber sich einzugestehen, daß wir alle unter diesem Leichentuch waren, daß das „Mysterium“ der Empfindungen die selige Zeit nicht mehr zu beschwören vermochte – nein, und abermals nein! Ich belog mich selbst; belog ich vielleicht auch die anderen? Die Argonauten glaubten mir; und in meiner Verwirrung verfing ich mich immer mehr in mir selber.
Das Abtasten der halbbewußten Lüge weckte einen Schmerz, den ich in vagen Träumen von einem Mysterium mit Petrovskaja, in den Gesprächen mit Antonius und in den Briefen an Blok zu lindern suchte.
An Blok schrieb ich behutsam: ich suchte einen Bruder im Geiste, war mir aber bewußt, daß er jetzt selber in einer schwierigen und verantwortungsvollen Situation stand: es waren die ersten Monate nach seiner Hochzeit; und ich glaubte, mein Schwerstes vor ihm verbergen zu müssen.
Die Briefe von Blok waren genauso vielseitig wie früher; aber über die Freundin schrieb er nichts mehr; Trauer und Hilflosigkeit sprachen aus seinen Zeilen. Einmal erwähnte Blok das Gerede, das anläßlich seiner Heirat verbreitet wurde; und beteuerte, er lebe jetzt leichter und einfacher. In einem anderen Brief erwähnte er die Angst: die Angst vor der Angst sei die eigentliche Angst; als ein Opfer der Angst vor der Angst nennt er den Philosophen Kant; und immerfort kehrte Blok zu Kant zurück als zu dem in alle Ewigkeit Erschrockenen; das Thema „Angst“ und das Thema „Kant“ wiederholten sich häufig; sei es bei Gelegenheit der hundertsten Wiederkehr des Todestages des Philosophen, sei es, weil die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis zum ersten Mal vor Blok mit aller Entschiedenheit sich abzeichnete; die Verflechtung von „Kant“ und „Angst“ ist sehr bezeichnend; der Gedanke der Grenze, der Linie ist ein Produkt einer Erschütterung, der Angst; die Grenzen des Bewußtseins sind die Umrisse des eigenen Schattens; Blok widmete Kant ein Gedicht: er sah ihn im Schatten, die kleinen Hände und Füße gefaltet; diese Chimäre verfolgte Blok; das nächste Gedicht: über die Kanäle von Petersburg rudern Leute in einem Boot, in diesem Boot steht ein Kasten, darin ist Kant; man schleppt ihn zur Jubiläumsfeier in sein geliebtes Königsberg; diese „Groteske“ zwinkerte halb spöttisch, halb unheimlich aus den ernsten, sogar traurigen Seiten eines umfangreichen Briefes von Blok. Die Gedichte dieser Zeit waren alle so traurig wie das folgende:

Ich zog mich aus dem Tag zur Ruhe zurück,
Vertreibe den Schlaf, um das Schweigen zu wahren…
Am Tage hat niemand Mitleid mit mir.
Und nachts habe ich Mitleid mit meinem Leid.

Im November 1903 bekam ich von Blok die Nachricht, daß er und seine Frau eine Reise nach Moskau planten; ich, Solovjov und die Argonauten hatten längst auf ihn gewartet; aber der Besuch verzögerte sich.
Um diese Zeit erschien in dem Verlag Skorpion ein Buch nach dem anderen; Gedichte von Sologub, Brjusov und Hippius; Brjusovs „Urbi et orbi“ lag auf allen Tischen; in diesem Buch stehen Gedichte, die den jungen Symbolisten gewidmet sind; das eine davon, mir zugeeignet, schließt mit den Zeilen:

Vielem hatte ich vertraut, viele habe ich verflucht
Und habe an vielen mit meinem Dolch Rache genommen.

Später versuchte Brjusov, sich an mir zu rächen.
Das Gedicht „Den Jüngeren“ (mit einem Epigraph von Blok: „Dort erwarte ich die Schöne Dame“) enthält die Beschreibung, wie der Poet Valerij Brjusov an ein eisernes Gitter sich klammert, um wenigstens mit einem Blick etwas von dem Mysterium zu erhaschen, das im Tempel vollzogen wird, und das für ihn unerreichbar bleibt; er ruft:

Die eisernen Riegel möchte ich herausreißen, zerbrechen,
Aber die Hände sind kraftlos und meine Stimme ist leise.

Ja, hier finden wir ein Gemisch aus Argwohn, Mißtrauen und Angst gegenüber unserer Richtung, die für Brjusov so fremd war; auf seine Verdächtigungen antwortet Blok mit den Versen an die Muse:

Vor Dir, deren Schatten
Auf den abendlichen Staubwolken zittert,
Knirscht mit den Zähnen in ohnmächtigem Zorn
Der große Magier meiner Erde.

Hier wird Brjusov der „große Magier“ genannt, später wird das Beiwort durch ein anderes ersetzt: „strenge“.
Brjusov wurde von Blok nicht in einem rhetorischen, sondern in einem ganz konkreten Sinne „Magier“ genannt: um diese Zeit bekundete Brjusov ein ganz besonderes Interesse für den Spiritismus und alle möglichen Arten von Occulta (bis zu den zweifelhaftesten), wobei seine besondere Vorliebe den magischen Exzessen galt und den „dossiers“ über okkulte Tatsachen – alles für seinen heranreifenden „Feurigen Engel“; Blok war über Brjusovs Interessen unterrichtet und nannte ihn deshalb „Magier“. Und weshalb „zähneknirschender Magier“? Das Zähnefletschen Brjusovs hinter Blok und mir hatte ebenfalls einen konkreten Anlaß: wir beide zogen Grif seinem Skorpion vor. Um diese Zeit verhandelte Blok mit S.A. Sokolov wegen der Edition seiner Gedichte im Verlag Grif. Der Band kam tatsächlich zustande, den Einband entwarf Vladimirov, ein Argonaut wie wir.
Das neue Jahr stand vor der Tür.

 

 

 

Vorwort

Aleksandr Aleksandrovitsch Blok ist gestorben, der erste Dichter unserer Zeit, die Erste Stimme ist verstummt, das Lied der Lieder jäh unterbrochen worden: in dem Sternbild (Puschkin, Nekrasov, Fet, Baratynskij, Tjutschev, Shukovskij, Dershavin und Lermontov) leuchtet: Aleksandr Blok.
Aleksandr Aleksandrovitsch ist der einzige „ewige“ unter den russischen Dichtern dieses Jahrhunderts. Er brachte das poetische Element unseres Heute mit einer Weltepoche, die sublime, bis jetzt noch unbesungene, grenzenlos vertiefte Themen erschließt, in einen für Rußland vernehmbaren, wie der Wind freien Zusammenklang, der auf eine neue Weise die Seele Rußlands offenbart. … Undeutlich in ihrer Deutlichkeit, deutlich in ihrer Undeutlichkeit sind seine „Unbekannte“, die „Schöne Dame“, „Rußland“, das „Neue Amerika“, die „Skythen“ und die „Zwölf“ – real in ihrer Symbolik, universell in ihrem Subjektivismus; alle diese Themen sind nur einzelne Noten des Hauptthemas seiner Themen, in dem sich Mystik, Philosophie, feuriges staatsbürgerliches Bewußtsein mit Methapher, Mythos und Rhythmus verflechten; er spricht den Spezialisten, den Stilisten, die studierende Jugend, die Arbeiter, alle Russen, Franzosen und Deutsche an… Er ist der wahrhafte Dichter Urbi et orbi, er ist unser, eine außerordentliche Erscheinung, gemeinsames Gut, der Liebste, der für Jeden, für den Einzelnen gesungen hat; deshalb ist er innerhalb der Plejade außerordentlicher und vielbeachteter Talente etwas ganz Besonderes; wir bringen ihm unsere Liebe entgegen, wir, die Söhne furchtbarer Jahre, wir erblicken unser eigenes, bis dahin noch nicht erkanntes Antlitz in seiner Muse, in ihrer Ganzheit, welchen Namen wir ihr auch geben mögen (die Seele Rußlands, die Seele der Menschheit oder der Welt…); als die Schöne Dame, als die Unbekannte, als Mary oder als Katjka, in verschiedener Gestalt durchdringt uns die Ganzheit seiner Dichtung, verwurzelt in den unberührbaren Schichten seiner nicht zu enträtselnden außerordentlichen Persönlichkeit.
Wie ein wunderbares Rätsel stand er vor uns, die wir ihn nahe kannten. Einmal nahe, einmal fern, immer aber – herrlich. Wir wußten nicht, wer in ihm größer war – der nationale Dichter oder der sensible einzigartige Mensch, der im Schatten seines eigenen dichterischen Ruhmes stand, wie unter einem königlichen Mantel, unter dessen Falten die Züge eines edlen, verständnisvollen, schönen, neuen Menschen erkennbar waren: kalos k’agathos – so möchte man die Verbindung von Güte, Schönheit und Wahrheitsliebe bezeichnen, einer Wahrheitsliebe, die keinerlei Rethorik, Affektation, Pose, „Poesie“, Falschheit und ähnliches für Prediger, poetische „Maitres“ und andere „Größen“ charakteristisches „Tamtam“ vertrug und die auf dem Bild seiner weichen Seele manchen harten Strich hinterließ; sein allmenschliches, hellhöriges und tiefes Herz spiegelte eine Epoche wieder, die er in sich trug und die unmöglich in „Soziologie“, „Mystik“, „Philosophie“ oder „Stilistik“ zerpflückt werden kann; dieses Herz, das, während es Rußland zur Erscheinung brachte, in einem künftigen, allmenschlichen Rhythmus schlug, bleibt unergründlich; außerstande, mit dem Surrogat des wahrhaft Neuen oder mit dem Surrogat des Ewigseienden im Gegebenen sich zu begnügen, zerbrach dieses Herz: Aleksandr Aleksandrovitsch erstickte, da er dem Surrogat jeder Art sein „So ist es!“ verweigerte; die „Tragödie des Schöpfertums“ blieb ihm nicht erspart; wir haben ihn unter den gleichen Umständen verloren wie… Puschkin; wie Puschkin suchte er den Tod, wir aber haben es nicht fertig gebracht, dieses Herz zu retten; und wir hüten wie immer bloß die Erinnerung und nicht das lebendige, sprudelnde und schöpferisch überkochende Leben.

Lichtes, leichtes Azur.
Dunkel und bodenlos.

Das Azur seiner Zeilen, das unsere ganze Generation wie mit einem Flügelschlag überflutete, gewinnt, sobald man sich ihm zuwendet, an Tiefe und wird dunkel – bis in den schwarzen Abgrund des letzten, dritten Bandes hinein, bis zu den „Zwölf“. Unter allen russischen Dichtern hat Blok die ausgeprägteste Beziehung zur Tiefe und ist doch der Dichter für alle geworden; die Strömungen unserer Zeit erfahren in ihm eine Vertiefung, und das wahrhaft neue menschliche Antlitz spricht wortlos, schweigend einen jeden von uns an; unter dem Schleier der Erscheinungen liegt das Schweigen Tjutschevs; unter dem Schleier dieses Schweigens – das neue, noch ungelenke Wort des in Blok wohnenden wahrhaft neuen Menschen, dem der Dichter, Herr über die magische Verknüpfung von Tönen, noch keinen Namen und keine Gestalt gegeben hat. In dieser Berührung des „Dichters“ mit der „Stirn“ der aufgehenden „Epoche“ liegt die Tragödie Bloks. 

Schweigt, verfluchte Bücher:
Ich habe euch nie geschrieben… 

Den „Menschen“ in ihm verstehen wir wohl: das Buch der Bücher über ihn ist noch nicht geschrieben, das „Tauben“-, das „Tiefenbuch“; aber als Fragmente eines ungeschriebenen Buches erschien uns zuweilen seine Persönlichkeit und verdeckte uns den Dichter; dieses Buch wird von einer künftigen Aera geschrieben werden, die im „Dichter“ in den (wie es manchmal schien) unvereinbaren Strömungen und Stimmungen sich manifestierte, die Harmonie der Morgenröten, der Blauen Blume einer in ihm wohnenden Romantik zerstörte und in den Lichtbrechungen der gnostischen Philosophie Vladimir Solovjovs lebte, in der Üppigkeit der Fet’schen Lyrik, in der Qual des Menschen-Dämon (Vrubel und Lermontov), in der Breite des russischen „staatsbürgerlichen“ sozialen Gedankens (der den wortgewandten Dichtern üblicherweise völlig fremd ist); Blok hat mehr als Andere gesagt; aber er hat noch mehr verschwiegen; er schwieg und nahm es mit; unter der stillen glatten lichten See dieser weiten Seele, die die umliegenden Ufer des russischen Lebens spiegelt – welch ein brodelnder Geist! Das Glockengeläut der versunkenen Stadt Kitesh und das Brodeln der Lavaströme bewegter seelisch-geistiger Welten; unter der ruhigen Oberfläche nicht ein schlagendes Herz, sondern rote, sich wälzende Lava; und dann brach der Vulkan auf und ein großer Mensch zog sich zurück.
Wir wollen ihm antworten und ihm entgegengehen; wir wollen versuchen, unsere Erinnerung an ihn zu entsiegeln und ihm ein Ewiges Andenken schaffen!

Andrej Belyj, Vorwort

Nachwort

Vor den Toren des anbrechenden 20. Jahrhunderts, im Jahre 1900, starb der große russische Dichter, Philosoph und Mystiker Vladimir Solovjov. In seinem weiten Bewußtsein konzentrieren und brechen sich alle bedeutenden Strömungen des politischen und geistigen Lebens Rußlands um diese Zeit. Als engagierter Beobachter und Handelnder steht er an einem Punkte der Geschichte, an dem der Kampf zwischen alten und neuen Kräften einem Höhepunkt zutreibt, der Ausgang aber noch gänzlich unentschieden scheint. Während die auf gesellschaftlichen Umsturz drängenden Kräfte unter der Fahne des historischen Materialismus nach Solovjovs Tode einen neuen Aufschwung erlebten (1902 war Lenins berühmte Schrift Was tun? erschienen), begann in der schöpferischen Auseinandersetzung mit dem gewaltigen geistigen Erbe Vladimir Solovjovs ein neuer Aufbruch in Philosophie und Dichtung. Die Kritik Solovjovs am institutionalisierten Christentum, die Erkenntnis der ungeheuren Kluft zwischen theologischem Dogmatismus und Intelligencija, zwischen Offenbarung und Erkenntnis, zwischen der Kirche und den sozialen Fragen der Zeit, sowie die Abwehr von Positivismus und Materialismus führte zu einer Erneuerung des religiösen Denkens. So wandten sich N.A. Berdjaev, S.N. Bulgakov, S.L. Frank, P.B. Struve unter dem Eindruck der Solovjovschen Ideen vom Marxismus ab. Ein Zentrum der neuen idealistischen Bewegung waren die von Mereshkovskij initiierten Gespräche im Rahmen der Religionsphilosophischen Gesellschaften. In einer Vielzahl von Zeitschriften, Sammelbänden und Einzelveröffentlichungen wurden die neuen Ideen verkündet.
Noch zu Lebzeiten Solovjovs hatte sich auch in der Literatur eine neue Entwicklung angebahnt. Sie war charakterisiert durch die Auflehnung gegen die Verpflichtung der Kunst zu sozialem und politischem Engagement, wie sie in der russischen Literatur und Kritik gleichsam zum Gesetz geworden zu sein schien. So schüttelte einer der ersten Vertreter der neuen Kunst, N.M. Minskij, allen Zwang dieser Doktrin ab und verkündete nach französischem Vorbild das Prinzip der „reinen Kunst“, der poésie pure, des „l’art pour l’art“, Die Wendung der Philosophie gegen den Materialismus und platten Positivismus, gegen die Ode einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“, fand in der Wendung der neuen Kunstrichtung gegen den Realismus ihre Entsprechung.
Schon zu Beginn dieser Bewegung wurde aber ihre Doppelpoligkeit deutlich: einerseits stand unter dem Einfluß der französischen Symbolisten die Verfeinerung der künstlerischen Form im Vordergrund (Balmont, Brjusov); Elemente der „décadencé“ wurden aufgegriffen. Sie gaben der neuen Richtung ihren Namen (dekadenstvo) bis sich die Bezeichnung „Symbolismus“ durchsetzte (1893 war Mereshkovskijs Gedichtband Symbole erschienen, 1894 der Band Russische Symbolisten, herausgegeben von Valerij Brjusov und A.L. Miropolskij).
Zum anderen hatte sich schon in den Werken Mereshkovskijs eine Richtung angedeutet, deren Merkmal ein starker religiös-mystischer Einschlag war. Diese Richtung empfing ihre Anregungen durch die englischen und deutschen Romantiker, durch die deutsche Mystik und romantische Philosophie, ferner durch den deutschen Idealismus, durch Nietzsche. Der große Anreger aber war Vladimir Solovjov. Unter dem Eindruck seines endzeitlichen Geschichtsbewußtseins, seiner Ahnung, daß der Anbruch des neuen Jahrhunderts die Züge eines gewaltigen Umbruchs tragen werde, entwickelte sich ein spezifisches Lebensgefühl der neuen Bewegung des russischen Symbolismus. Die Bilder der Apokalypse wurden Inspirationsquelle vornehmlich seiner jüngeren Vertreter. Die Gegenwart erschien als Zeit einer gewaltigen Krise aller Lebensbereiche. In visionären Erlebnissen tauchen Ahnungen kommender Umstürze auf, Vorahnungen der Revolutionen und Kriege. Das alte Gefüge war brüchig geworden; die ersten inneren Verschiebungen riefen Erschütterungen hervor, die als Vorboten vulkanischer Eruptionen empfunden wurden. Verstandestätigkeit als Analyse, Abgrenzung, Definition, führt zur Spaltung, Dekomposition, zum Chaos. Die Instrumente der menschlichen Ratio schienen nicht geeignet, die Krise zu bemeistern, ja sie schienen vielmehr selbst deren Ursache zu sein. Das gewöhnliche Leben des Bürgers erschien als Traum über dem Abgrund.
Die Erneuerung der Kultur wurde zum Programm des Symbolismus. Auch hier wies Solovjov die Wege. In seiner Lyrik und Philosophie spielt die Gestalt der Sophia eine bedeutende Rolle. In Anlehnung an die Anschauungen des Neuplatonismus und der deutschen Mystik erblickt er in ihr die aus dem Göttlichen entsprungene Seele aller Kreatur. Ein Streben nach der Wiedervereinigung mit dem göttlichen Ursprung lebt verborgen in allem irdischen Sein. Es ist zugleich das Streben nach Überwindung der Trennung zwischen den in ihrem Sondersein gefangenen Dingen und Menschen. Die Liebe wird als jene Kraft erkannt, die diese Einheit schaffen kann, und die Sophia wird zur Verkörperung des Prinzips der Liebe.
Der Kult des „Ewig-Weiblichen“ bei Blok und Belyj geht auf die Sophiologie Solovjovs zurück. Symballein (griech.) bedeutet: zusammenfügen. Das Symbol ist das wiederhergestellte Ganze, der Schnittpunkt des „Endlichen und des Zeitlichen“ (Belyj). Damit ist der wahre Sinn des kulturellen Schaffens der symbolischen Erneuerungsbewegung, wie Belyj ihn sieht, gegeben: Überwindung der Spaltung.
Hier ist auch der Grund dafür zu finden, daß der Symbolismus die engen Grenzen einer auf bloße ästhetisch-technische Verfeinerung und Erneuerung ausgerichteten literarischen Bewegung sprengte. Kunst wird zum Mittel der Weltverwandlung (ähnliche Gedanken vertrat auch der Komponist Skrjabin). Der wahre Künstler vereinigt Idee und Materie. Er erkennt und schafft zugleich eine neue, höhere Wirklichkeit: er verwandelt sich selbst, sein Bewußtsein, indem er den Weg der „künstlerischen“, der „ganzheitlichen Erkenntnis“ geht (Solovjov). Symbolismus ist unter solchem Gesichtspunkt „konkrete Philosophie“ (Belyj), ein Weg. Hier wird die Gemeinsamkeit mit der philosophischen Bewegung des „Gottsuchertums“ (Mereshkovskij, Bulgakov, Berdjaev, S.L. Frank u.a.), mit den Gedanken Solovjovs vom „Gottmenschentum“ sichtbar. Kunst ist zugleich Erkenntnis des Geistig-Göttlichen, der Wahrheit, sie ist schöpferische Verwandlung des eigenen Ich und der Welt. So wird Ästhetik zu Ethik, die Grenzen der seither getrennten menschlichen Schaffensbereiche Kunst, Wissenschaft und Religion werden aufgehoben.
An diesem Punkt tritt ein Charakteristikum des russischen Denkens zutage. Es geht immer aus vom Menschen und kehrt zum Menschen zurück. Im Zentrum steht immer die Frage nach der Fruchtbarkeit des Denkens für das Leben. Deshalb konnte auch eine Philosophie als eine „abstrakte“ Wissenschaft auf russischem Boden keine besondere Geltung erlangen; deshalb konnte auch eine Kunst im Sinne des l’art pour l’art sich dort nicht halten. Die „Parteilichkeit“ der bolschewistischen Wissenschaft und Kunst ist nur ein extremer Ausdruck ihrer Tendenz, Lebensmacht zu sein, geworden.
Konsequenterweise standen in der hier gemeinten Zeit auch Ideen zu einem neuen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Mittelpunkt der Diskussionen. Um die symbolischen Verlage oder um einzelne Vertreter des Symbolismus gruppierten sich eine Anzahl loser oder fest organisierter Zirkel, deren Zusammenkünfte im Zeichen eines gemeinsamen Suchens standen. Hierzu gehörten der „Argonautenkreis“ in Moskau um Andrej Belyj und L.L. Kobylinskij (Ellis), die „Donnerstage“ im „Turm“ bei Vjatscheslav Ivanov in Petersburg, es gehörte dazu auch der Kreis um Mereshkovskij – ebenfalls in Petersburg –, dessen Ideen eines Gemeinwesens auf der Grundlage eines neuen christlichen Bewußtseins eine Vielzahl bedeutender Dichter und Philosophen sammelten.
Der russische Symbolismus als Bewegung zeichnet sich dadurch aus, daß er in besonderer Weise das Gespräch kultivierte. Jahrlang wurde in diesen Zirkeln Nächte hindurch rezitiert, Dramen inszeniert, und nicht zuletzt auch die schwierigsten philosophischen Diskussionen geführt. Das schriftliche Vermächtnis des Symbolismus ist daher nur die eine Hälfte des Ganzen; die andere bildete jene Gemeinsamkeit im Gespräch, die keineswegs nur auf literarische Kreise beschränkt geblieben war.
Andrej Belyj hat von dieser Gemeinsamkeit im Mit- und Gegeneinander des Gespräches in seinen „Erinnerungen an Blok“ manches festgehalten. Er beschreibt die „Symbolisten“ als eine Gruppe Suchender, die sich auf einem Berg im Anblick der „Morgenröte“ gefunden haben und nun auf dem Weg zu dem erschauten Ziel durch das Dickicht der Niederungen irren. Für Belyj und Blok war diese Schau der Morgenröte konkrete Vision: sie erlebten, nach ihrem eigenen Zeugnis, um die Jahrhundertwende deren Verwandlung und Intensivierung. Für sie erhielt der Begriff der Morgenröte die Bedeutung eines mystisch-realen Erlebnisses, eines Symbols für das Ziel ihres Strebens, dessen Inhalt zugleich durch einen Begriff der Morgenröte bestimmt war, wie ihn Jakob Böhme, Vladimir Solovjov und Nietzsche gefaßt hatten. „Morgenröte“ und „Sophia“ sind die Symbole des Unterwegsseins zu sich selbst, der Sehnsucht zugleich nach der Vereinigung mit einer realen geistigen Welt. Es geht um die Versetzung der Grenzpfähle des Bewußtseins.
Gleichnishaft wird das Schicksal dieser Bewegung in der Geschichte der Dichterfreund- und Feindschaft zwischen Aleksandr Blok und Andrej Belyj sichtbar.
Beide Dichter wurden in demselben Jahre geboren, beide in demselben Milieu: Boris Nikolajevitsch Bugajev, dessen späterer Künstlername Andrej Belyj war, wurde im Jahre 1880 als Sohn eines bedeutenden Mathematikers und Vertreters der Leibnizschen Monadologie, des Professors an der Moskauer Universität Nikolaj Vasiljevitsch Bugajev geboren; Aleksandr Aleksandrovitsch Blok war Sohn des Staatsrechtlers Aleksandr Lvovitsch Blok, von deutscher Abstammung, der Professor an der Warschauer Universität war. Wegen der früh erfolgten Trennung der Eltern wuchs Blok in Petersburg im Hause seines Großvaters, des Rektors der Petersburger Universität A.N. Beketov auf. Beide, Blok und Belyj beenden fast zur gleichen Zeit ihre Gymnasialzeit und beginnen zu studieren (1898 bzw. 1899). Blok schreibt sich in die juristische Fakultät ein (später wechselt er in die philologische über), Belyj in die naturwissenschaftliche (nach seinem Examen 1903 studiert er Philologie und Philosophie). Fast zur selben Zeit beginnen sie zu schreiben und zu veröffentlichen: Belyj im Jahre 1902, Blok 1903. Belyj tritt mit einem Roman an die Öffentlichkeit, dessen Wirkung wegen seines „dekadenstvo“ einem Skandal gleichkommt. Das Experiment mit musikalischen Kompositionselementen, wie Leitmotiv und Variation, die Eigenwilligkeit und Neuheit seiner rhythmischen Prosa zeigen Belyj schon hier als den Neuerer und Experimentator der Prosasprache und -form, als der er in die Geschichte der russischen Literatur eingehen sollte. Besonderes Aufsehen erregten seine Romane Die silberne Taube (1909) und Petersburg (1913/14). Die Vielseitigkeit Belyjs wird weiterhin dokumentiert durch seine revolutionierenden Beiträge zur formalen Untersuchung der Lyrik (Anwendung quantitativer Methoden), sowie durch seine theoretischen Arbeiten, die ihn neben Vjatscheslav Ivanov zum programmatischen Führer der Bewegung des russischen Symbolismus machten. Während Belyjs umfangreiches lyrisches Werk bis heute wenig beachtet wird, ist es Aleksandr Blok, welcher mit den Klängen seiner Lyrik im Urteil des russischen Publikums zum ersten Sänger des russischen Symbolismus wurde. Blok und Belyj sollten das Gesicht einer ganzen literarischen Epoche entscheidend prägen.
Durch gemeinsame Freunde hören Blok und Belyj schon 1897 voneinander. Beide befassen sich besonders eingehend mit Solovjovs Dichtung und Philosophie seit dem Jahre 1901. Beide erleben in mystischer Weise die Jahrhundertwende. Belyj beschreibt, wie er in der Zeit des zu Ende gehenden Jahrhunderts eine fortschreitende Verdunkelung in der Atmosphäre empfindet, dann aber mit einem Mal die Verwandlung und Intensivierung der Morgenröten gewahr wird. Blok schreibt einen Gedichtszyklus, den er „Ante Lucem“ nennt (Gedichte von 1898 bis 1900). Es folgen die „Verse von der Schönen Dame“.
Während die erste Zeit der Freundschaft Belyjs und Bloks ganz im Zeichen mystischer Ahnungen und Erwartungen, ganz im „Zeichen der Morgenröte“ stand – der glückliche Höhepunkt nicht nur in der Beziehung der beiden Dichter, sondern auch in ihrem Leben –, beginnt eine allmähliche Wandlung als Belyj die erste Hälfte des Juli 1904 zusammen mit Sergej Solovjov auf dem Gut der Familie Bloks in Schachmatovo verbringt. Nach der kurzen Zeit ungetrübter jugendlicher Freundschaft zeigen sich die Vorboten späterer tragischer Zerwürfnisse. Belyj berichtet, daß die „Morgentöten“ verblaßten. Sein eigenes Schicksal beginnt jene Züge anzunehmen, die sein späteres Leben kennzeichnen: Verwirrungen in persönlichen Verhältnissen verquicken sich mit lautstark ausgetragenen „ideologischen“ Differenzen.
Bloks Leben verläuft nicht minder dramatisch als das Belyjs, nur weniger laut. In ihm waren um 1903/04 tiefgreifende Wandlungen vor sich gegangen, die eine Abwendung von der mystischen Stimmung der vergangenen Jahre bewirkten: Bloks Weg führte von Solovjov zu Kant. Auf diesem Wege trug ihn keine Begeisterung, vielmehr bestimmte ihn Resignation angesichts der Unmöglichkeit, das visionär Erlebte auch mit den Mitteln der Ratio zu erfassen und zu sichern. Schon 1902 notiert Blok im Tagebuch:

Meine Skepsis ist der Kern meines Lebens (14. August).

Obwohl Blok aussprach „Ich bin überhaupt kein Mystiker“, verstanden Belyj und Sergej Solovjov dies Zeichen nicht. Aus diesem Mißverstehen erwuchsen die Schwierigkeiten der folgenden Jahre, in denen Belyj – im Verein mit Ellis, Sergej Solovjov und anderen – gegen den Apostaten Blok geradezu einen „heiligen Krieg“ führte.
Die Frage nach der Realität der Sophia – oder später der Realität und Erfahrbarkeit einer geistigen Welt – war und blieb für Belyj, auch im Verhältnis zu Blok, das Kernproblem. Der 1903 beginnende, fast zwanzig Jahre währende Briefwechsel zwischen Belyj und Blok, der zu einem bedeutenden menschlichen und zu einem nicht minder bedeutungsvollen Dokument für die Geschichte des russischen Symbolismus werden sollte, spiegelt die Wendungen der Beziehung beider Dichter wie auch ihr geistiges Ringen wider. In einem Brief an Blok aus dem Jahre 1903 (10. Juni) stellt Belyj die Gretchenfrage über dessen Beziehung zur Sophia:

… es ist wichtig, daß wir logisch denselben Weg beschreiten, den wir intuitiv gegangen sind. Deshalb wende ich mich, ohne Hintergedanken, mit der direkten Frage an Sie: sagen Sie, was Sie über Sie denken. Das ist mir sehr, sehr wichtig – wichtiger als Sie wissen können.

Die Antwort Bloks (18. Juni/1. Juli 1903) lautet:

Ich fühle Sie sehr oft, wie eine Stimmung, ich denke, man könnte Sie schauen, nicht aber verkörpert in einer Person… früher habe ich öfters über Sie nachgedacht als jetzt. Jetzt immer seltener und erfolgloser… Der Skeptizismus (eine Eigenschaft des Verstandes) liegt wie ein Stein auf dem Weg, den man nicht umgehen kann.

Die Jahre 1906/07 sind die finstersten Jahre in der Beziehung der beiden Dichter. Versöhnungen und tiefgehende Zerwürfnisse wechseln einander ab. Belyj geht in seinen „Erinnerungen an Aleksandr Blok“ auf eine wichtige Ursache für die Krise nicht ein: seine Beziehung zu der Frau Aleksandr Bloks, Ljubov Dmitrijevna. Belyj, Blok und Sergej Solovjov hatten sich zu einem gleichsam esoterischen Dreieck zusammengefunden, das sie als die irdische Entsprechung der Dreifaltigkeit, als die erste Verwirklichung der Theokratie Vladimir Solovjovs auf Erden begriffen. – Ljubov Dmitrijevna erschien ihnen als die Verkörperung des vierten Prinzips, des Ewig-Weiblichen oder Sophia, der Solovjovschen Idee der Liebe. Blok hat sich allerdings von der kultisch-mystischen Überhöhung der eigenen Person, die Sergej Solovjov und Belyj ekstatisch zelebrierten, innerlich distanziert. Aus der Verehrung der Inkarnation der Sophia war bei Belyj bald ein Werben um die Zuneigung Ljubovs geworden, welches Bloks Ehe ernstlich gefährdete.
Ein Auslandsaufenthalt Belyjs führt zu einer oberflächlichen Beruhigung in den persönlichen Beziehungen. Dafür beginnt die Zeit einer ausgedehnten literarischen Polemik zwischen Vertretern des Symbolismus in Moskau und Petersburg, in der sich auch die Differenzen zwischen Belyj und Blok auf anderer Ebene fortsetzten. über zwei Jahre lang, bis zum September 1910 ist der Briefwechsel zwischen beiden unterbrochen.
Diese für Belyj schwere Zeit war für ihn wie auch für Blok eine literarisch dennoch äußerst fruchtbare Periode. Noch keine dreißig Jahre alt waren sie schon Berühmtheiten, nicht nur in den literarisch interessierten Kreisen geworden. Valerij Brjusov notierte über den erst 22jährigen Belyj in seinem Tagebuch (Juli 1902):

Bugajev war dieser Tage bei mir, las seine Gedichte vor, sprach über Chemie. Vielleicht ist er der interessanteste Mensch in Rußland. Reife und Greisenhaftigkeit des Verstandes, gepaart mit einer merkwürdigen Jugendlichkeit.

Ende 1910 begegnen sich Belyj und Blok zum ersten Male wieder. Ihre Beziehungen haben sich, wie Belyj formuliert, nach der langen Zeit der Entfremdung und des Schweigens zu einer „Liebe aus der Ferne“ entwickelt. Die Jahre von 1912 bis 1916 verbringt Belyj hauptsächlich in der Schweiz und in Deutschland. Er hat sich der Anthroposophie Rudolf Steiners zugewandt und lebt in ihrer Gedankenwelt. Hiervon zeugen die Werke, die er während und seit dieser Zeit geschaffen hat, wie auch die Briefe an Blok aus jenen Jahren. Die Erkenntnisse Steiners erscheinen Belyj als die Antwort auf ihrer beider Fragen und Suchen.
Blok verhält sich zunächst reserviert, dann deutlich ablehnend gegenüber Belyjs „Steineriade“. In seinen Tagebüchern und Briefen äußert er sich schließlich gar besorgt über den Weg Belyjs. Hier offenbart sich das Grundmotiv ihrer Entfremdung der ersten Jahre auf eine neue Weise: Blok bleibt bei seinem „Ignorabimus“, Belyj glaubt, in der Anthroposophie die wahre Gnosis gefunden zu haben. Hier brechen die „Erinnerungen an Aleksandr Blok“ ab.
Ein engerer persönlicher Kontakt ergibt sich erst wieder unmittelbar nach der Oktoberrevolution. Belyj hatte 1916 den Gestellungsbefehl erhalten und war nach Rußland zurückgekehrt. Er brauchte aber ebenso wie Blok nicht Dienst zu tun. In den Wirren der Kriegs- und Revolutionszeit nehmen beide eine ähnliche Haltung ein: sie begrüßen die Revolution und arbeiten in den ersten kulturellen Institutionen des bolschewistischen Rußland mit. Viele der ehemaligen Freunde wenden sich daher von ihnen ab. Blok trifft die „Strafe der Gerechten“ wegen seines 1918 verfaßten, bald in der ganzen Welt berühmten Revolutionspoems „Die Zwölf“, eines schwer interpretierbaren Gedichtes, das, je nach politischem Standpunkt, zu den widersprüchlichsten Auslegungen verleitete. Blok verstummt nach diesem letzten gewaltigen Aufflammen seiner schöpferischen Kräfte.
Belyj wie Blok erlebten die Revolution als die Eruption eines mächtigen Vulkans, in dessen Innerem die schaffenden Kräfte der Geschichte, als chaotische Potenz zu glühendem Magma geschmolzen, danach drängen, ihre zugleich zerstörerische wie fruchtbare Flut über die Menschheit zu ergießen. Sie erfuhren die Revolution als ein gleichsam „künstlerisches“ Ereignis:

Der Dämon hieß Sokrates einstmals der Musik gehorchen. Mit ganzem Leib, mit ganzem Herzen, mit ganzem Sinn – lauschet der Revolution! (Aleksandr Blok).

Hier liegen die Wurzeln der tragischen Verkennung des wirklichen Charakters der bolschewistischen Revolution.
Zwei Jahre vor dem Tode Aleksandr Bloks schließt sich der Kreis seiner Freundschaft mit Andrej Belyj, indem sich beide an der Gründung einer kulturellen Institution, der Freien Philosophischen Assoziation (Volfila) beteiligen (Januar 1919), in deren Rahmen sich Vertreter des kulturellen Lebens mit neuen Ansätzen zur Lösung der sozialen Frage und kulturellen Problemen befaßten (u.a. Berdjaev, Gerschenson, Ivanov-Razumnik, Kandinskij, Stepun, Vyscheslavcev). Für Belyj war dies ein Forum, neben der Organisation des Proletkult, von dem aus er die Gedanken Steiners über eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vertreten konnte.
Die konkrete Wirklichkeit der Revolution zerstört die Illusionen und Hoffnungen, sie zerstört bald auch das Leben von Aleksandr Blok. Ein Jahr vor seinem Tode kehren noch einmal die Bilder aus der Zeit der jugendlichen Ahnungen und Erwartungen zurück, als Blok vor der Volfila eine Rede zum Gedenken des zwanzigsten Todestages von Vladimir Solovjov hält:

Ich erlaube mir heute, rein dogmatisch ohne jegliche kritische Analyse, einfach als ein lebendiger Zeuge, der fähig war zu hören und zu sehen, darauf hinzuweisen, daß schon der Januar 1901 unter einem gänzlich anderen Zeichen stand, als der Dezember des Jahres 1900, daß schon der Beginn des Jahrhunderts erfüllt war von wahrhaft neuen Vorzeichen und Vorgefühlen…

Als das alte Rom unter dem Ansturm der Germanen in der Agonie lag – so führte er weiter aus –, sei kaum vernehmlich im Waffenlärm ein neuer Ton erklungen, der Ton einer dritten, zukünftigen Weltenkraft: das Christentum. Die Bedeutung Solovjovs bestehe darin, daß er, in den Wirren und Kämpfen seiner Zeit ohne Heimat, „der Träger eines Teiles der dritten Kraft, der allem zum Trotz auf uns zukommenden neuen Welt war“.
Am 7. August 1921 starb Aleksandr Blok.
Als Belyj versuchte, diesem Leben, das mit dem seinen so eng und widersprüchlich verflochten war, noch einmal nachzugehen, schrieb er – gleichsam als Motto:

Blok hat mit einem Worte mehr als sie alle gesagt; mehr noch hat er nicht gesagt: er verschwieg es und nahm es mit sich.

Etwas von dem „Verschwiegenen“ hörbar zu machen – das war die Aufgabe, die Belyj sich gestellt haben mochte.
Auch hier, in dem Versuch über Bloks Leben, erweist sich Belyj als Symbolist. Die „Erinnerungen an Aleksandr Blok“ sind wohl einerseits Quelle für den Biographen Bloks und Belyjs, sowie für die Geschichte des russischen Symbolismus, wenn auch, wie alle Erinnerungswerke, durch die Persönlichkeit des Autors subjektiv geprägt; zugleich aber sind sie Interpretation in zweifachem Sinn. Die Daten in Bloks Leben und Schaffen werden Belyj zur Grundlage einer Deutung ihrer Existenz. Zugleich weist diese Deutung über sie hinaus, „deutet“ auf den größeren Zusammenhang des russischen Symbolismus hin. Das Schicksal Bloks wird zum Sinnbild, zum Symbol des Schicksals der ganzen Bewegung: auf verschiedenen Wegen hatten sie sich zu dem einen Ziel der „Morgenröte“ aufgemacht – es bleibt jedoch unerreichbar, sie finden keinen Weg. Blok lehnt die zur bloßen Erinnerung gewordene Vision der ersten Jahre schließlich ab. Gemeinsam war ihr Suchen, gemeinsam ihr Scheitern. Als Belyj selbst den Weg gefunden zu haben glaubt, ist die Zeit vorüber. Über dem frühen Tod Aleksandr Bloks, über dem zerfallenen Symbolismus steht als tragisches Signum ein „Zu spät“.
Endgültig zerschlug sich der russische Symbolismus in der Konfrontation mit der Wirklichkeit des bolschewistischen Regimes. Blok starb. Belyj versuchte, obgleich innerlich Rudolf Steiner nahestehend, sich äußerlich anzupassen. Brjusov wurde aktiver Kommunist. Ivanov ging nach Italien in die Emigration und wurde Katholik. Mereshkovskij, Hippius, Remizov, Medtner, Berdjaev, Bulgakov u.a. emigrierten; so auch Ellis, der nach seiner anthroposophischen Zeit Jesuit wurde. Ohne Einwirkungsmöglichkeit auf die künstlerischen und politischen Geschicke ihrer Heimat, hatten sich die Symbolisten innerlich voneinander entfernt; äußerlich waren sie in alle Welt zerstreut.
Die Größe der künstlerischen Leistungen, die Größe seines geistigen Ringens haben dennoch den russischen Symbolismus aus einer literarischen Episode zu einer Epoche der Geistesgeschichte Rußlands werden lassen. Aus dem Erlebnis der Spaltung erwuchs die existenzielle Aufgabe ihrer Überwindung, die Suche nach der Ganzheit. Von der Grenze zweier Jahrhunderte aufgebrochen, war das Streben der Symbolisten nach der Überwindung der Grenzen zu einem ewigen Unterwegs geworden. Ihre Zeit war eine Zeit der Übergänge. Auch in diesem Sinne waren sie, mit Belyj zu reden, „Kinder der Grenze“. 

Wenzel Michael Götte, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumKeystone-SDA

 

Fakten und Vermutungen zu Alexander Blok

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Museum – Gedenkwohnung von Andrej Belyj.

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