MONOLOG DES JAHRHUNDERTS
Dem Ausgang zu geht mein Jahrhundert –
das eurige, meine Verneiner.
Die Karten deckt auf diese Runde!
Ein anderes hat von euch keiner.
Noch während der Zeuge sich fragt:
es anerkennen?, bestreiten?,
verwirklicht es sich, steht kompakt
als Ziegel im Bauwerk der Zeiten.
Und nennt ihr’s auch „Kiste verfahrne“,
zerjammert dem Schöpfer die Ohrn –
im Hof stehn die zwanziger Jahre,
von hinten gerechnet, nicht vorn.
Geschichtssymmetrie: Zukunftslicht
im Aufgang und Untergangsschnee!
Des Menschen Los, demütig schlicht,
heißt – wie das Jahrhundert zu gehen.
Aus Wladimirs Goldenem Tor,
ich weiß noch, als Flugenten schrien,
ging ein Ingenieurssohn hervor.
Was – fragt, Russen – wurde aus ihm?
Der Schund des Jahrhunderts ist – meiner!
Schlagt mich!, wie die Wilden für Übel
und Mißgeschick Gott, das heißt einen,
geschaffen speziell für den Prügel.
Mein Zeitalter ist weder älter
noch neuer als Puschkins und Bachs.
Doch schluchzt nicht durch Kampuchea
noch bittrer die Nachtigall nachts?
Im Kampf mit dem Dunkel bewährte
es sich – oder nicht – wie der Dichter.
Kein andres Jahrhundert bescherte
euch, Freunde, nun mal die Geschichte…
Man wird es studieren – falls die Erde
ein Boden bleibt irdischen Seins.
Ich weiß nicht, wie lange, doch werde
stets wissen – es ist nun mal meins.
Begabungen entstehen in Plejaden. Die Astrophysiker der Tschishewski-Schule erklären ihre Gemeinsamkeit mit der Einwirkung der Sonnenaktivität auf die Biomasse, die Soziologen mit gesellschaftlichen Umbrüchen, die Philosophen mit dem geistigen Rhythmus. Es könnte scheinen, als wäre die Poesie der zwanziger Jahre vorstellbar als ein phantastischer Organismus, der – eine heidnische Gottheit – über Majakowskis Potenz, Jessenins Herz, Pasternaks Intellekt, Sabolozkis Auge und Chlebnikows Unterbewußtsein verfügt. Glücklicherweise geht das nur auf den Kollagen von Rodtschenko und Salvador Dali. Die wichtigste Gemeinsamkeit der Dichter besteht in ihrer Unterschiedlichkeit. Die Poesie ist eine Einmannkunst, in der das Schicksal, die Individualität manchmal bis zum äußersten getrieben ist.
Diese Sätze Andrej Wosnessenskis, 1976 in einer Betrachtung über junge russische Poesie geschrieben, sind auch des Dichters Blick auf das eigene Werden in und mit der „Vierten Generation“ (in der Geschichte der sowjetischen Lyrik). Lange schien diese Plejade – Dichterjugend im Jahrzehnt nach 1954 – eine verschworene Truppe, angeführt von Jewgeni Jewtuschenko, Bella Achmadulina, Bulat Okudshawa, Robert Roshdastwenski und Wosnessenski, von ihnen angestiftet zu geschlossener Aktion mit dem poetischen Wort auf Bühnen und Plätzen, in den größten Konzertsälen und Stadien Moskaus. Siegessicher, locker war ihre Tonart, frappierend frisch ihre Sprache, kompromißlos scharf ihr Blick. Sie sahen sich als Leader einer Nationalkultur im Aufbruch.
Wie aus einem phantastischen Munde schien eine neuartig entfesselte Jugend zu sprechen, die mit gesteigerter Sensibilität die kritische Bilanz ihrer Gesellschaft registrierte, rigoros urteilte und verurteilte, euphorisch ihr Bild einer nahen brüderlichen Zukunft aufbaute, Gegensätze einer gespaltenen Welt drastisch herausstellte und Einendes aufspürte.
Die Jahrzehnte seither haben gezeigt, wie unterschiedlich ihrer aller Wege von Anfang an waren, die Schwierigkeiten, Desillusionierungen. Wosnessenski bestätigt es 1987.
Entgegen der Legende sind wir nicht so häufig miteinander aufgetreten… Ein jeder hatte sein Publikum… die Gegner haben uns geeint. Geeint haben uns die landweite Leidenschaft, die Atmosphäre der Hoffnung, Menschen, die an uns glaubten.
Eine Einteilung der Poesie nach Generationen sei ohnehin mechanisch. Nicht der „horizontalen“ Generation (nach Alter) fühle er sich verbunden, sondern der „vertikalen“ – nach Gewissen und Talent. Wichtige Generationsgefährten Wosnessenskis sind eingangs genannt.
Andrej Wosnessenski ist der „eine Mann“, der die Individualität seiner Kunst „bis zum äußersten getrieben“ hat. Sein Wort drängte von Anfang an stärker als das der anderen jungen zu Geste und Aktion. Allein der virtuose Vortrag seines Schöpfers – war zuwenig. „Antiwelten“, das Gedicht, gab einem der legendären Poesieabende der 60er Jahre im Theater an der Taganka mit Rezitation, Tanz und Song den Namen. Improvisatorisch ist Wosnessenski selbst in Rodion Stschedrins „Poetorio“ eingesetzt – dem „Konzert für einen Dichter – mit Frauenstimme, gemischtem Chor und Sinfonieorchester“ sowie mit Lichtprojektionen und (nie realisierten) Ballettszenen. 1982 schuf Alexej Rybnikow nach einem Poem des Dichters Moskaus erste Rock-Oper „Juno und Awos“, Love-Story des Initiators der Russisch-Amerikanischen Kommerzgesellschaft, des Wirklichen Kammerherrn Nikolai Resanow in Kalifornien 1806; im Komsomoltheater wurde es ein attraktives Show-Stück mit anhaltendem sensationellem Erfolg. Für das gleiche Haus entsteht Der Sucharjewturm, ein neues Libretto.
Die Grenzen des Gedichtes wurden dem Lyriker schon früh zu eng – einfallsreich konstruierte er Poeme und Bücher, gewann seine Dichtung Stofflichkeit und Tiefe. Montage von Lyrik und Prosa bietet er seit 1964; in Der Graben von 1986 braucht er die protokollarische „Prosa der Sache“, weil sie alle Phantasie übertrifft. Daneben hat Wosnessenski immer Prosastücke geschrieben: poetische Porträts, Reiseimpressionen, Essayistisches und Autobiographisches, in „O“ das Epochenbild. Wosnessenskis Studium der Architektur und Kunstgeschichte prägt andere Arbeitsfelder: Bildgedichte (einige Blätter entstanden gemeinsam mit Bob Rauschenberg in Long Island), Lithografien und Zeichnungen, Entwürfe für ein Erdbebendenkmal in Taschkent, für Vitragen Moskauer Olympiabauten. Michelangelo, Studiengegenstand Wosnessenskis seit seiner Institutszeit, wird für ihn immer mehr als Dichter wichtig. Auf Schostakowitschs Anregung übersetzte er ihn neu, ursprünglich für die „Suite für Baß und Klavier auf Gedichte Michelangelos. op. No. 145“ (1974) gedacht. Immer sei Michelangelo Beispiel für die Übersetzung einer Kunst in die andere gewesen, notierte Wosnessenski bei dieser Gelegenheit. Er selbst ist… erfindungsreichster Übersetzer der „sieben, acht“ (vielleicht auch neun) Ichs des Dichters Wosnessenski. Das in einer Zusammenschau der Ideen, Motive und Metaphern zu präsentieren wird Anliegen eines Lese- und Bilder-Buches von Fritz Mierau sein, das im Aufbau-Verlag vorbereitet wird. Allein die Lyrik, „lebendiges Ur-Ei“ im Schaffen Wosnessenskis, verdient diese Ausgabe. Drei Bändchen in deutscher Sprache, deren letztes 1976 erschien, präsentieren Dichtungen bis Anfang der 70er Jahre. Dieses Buch will Neues hinzufügen und versuchen, wichtige Denkrichtungen und Arbeitslinien des Dichters zu verdeutlichen, Konturen des „Spektrums Wosnessenski“ zu ertasten.
Bunt, großzügig, ursprünglich war es von Anfang an. Wosnessenskis gedichtete Welt kennt keine Grenzen. Kornblumen, Biber, Eichen, Motorräder, Flughafen, Zyklotrone und das Schwarze Loch, Baumeister, Erfinder, Maler, Physiker und Lyriker, Schönheit überall in der Welt, Schrecken der Geschichte und Gegenwart sind hier versammelt… Ein Spielmeister war angetreten, der das alles mit „Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung“ durcheinanderwirbelte. Er begriff sich als Kind einer wissenschaftlich-technischen Ära. Das 20. Jahrhundert sei ein Jahrhundert der Verwandlungen, Metamorphosen. „Eine Kiefer heute? Perlon? Mein flauschiger Pullover phantasiert nachts von Fichten. Ihm träumt das nadelige Rauschen seiner pelzigen Vorfahren“, schrieb er 1961.
Im Prolog zum Amerika-Poem „Die dreieckige Birne“ mit der lange attackierten Titelmetapher für die kantigen Leuchten der Untergrundbahn von New York hat er seine poetischen Erkundungen als einen „Aufbruch des Kolumbus“ beschrieben:
Ich reiße die Kruste vom Planeten,
aaaaaaaaaaaaaaafeg Moder und Staub beiseit,
stürz in die Schlünde der Realitäten,
aaaaaaaaaaaaaaawie ich in Metroschächte steig.
Ich such in den Birnen mit drei Ecken,
aaaaaaaaaaaaaaadie nackten Seelen, die sich verstecken,
ich will die trapezgebauten Früchte
aaaaaaaaaaaaaaawahrhaftig nicht zum Abendmahl –
sie sollen in gläsernem Lichte
aaaaaaaaaaaaaaaerstrahlen als Altar!
Forscht und hantiert mit der Methode
aaaaaaaaaaaaaaaund ärgert euch nicht, wenn die Mode
leichtfertig lügt, sie sei grün wie Smaragde,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarot ist eure Melone!
Vor dem Hintergrund liedhaft deklamatorischer, hymnisch verklärender (offizieller) Nachkriegsdichtung mußte dieser Ton außerordentlich modern erscheinen. Die Deformation gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in den dreißiger bis fünfziger Jahren hatte eine umfassende Aufnahme russischer Kunstleistungen der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts verhindert. Ganze Strecken dieses Traditionsfeldes hatten „nicht existiert“ und kamen nun nach und nicht ins Bewußtsein der Leser und Kritiker. Wosnessenskis Lyrik provozierte eine Neusicht auf dieses Erbe, das ihm durchaus bekannt war: aus „erster Hand“ weitergereicht von seinem Lehrer Boris Pasternak.
Herausfordernd wie die jungen Futuristen hatte Wosnessenski dem Erbe abgeschworen:
Ich glaube nicht, daß für den Schriftsteller ein nahes Verhältnis zu den literarischen Vorgängern von Nutzen wäre… Mehr als Byron geben mir Rubljow, Joan Miró, der späte Corbusier.
Die hier deklarierte Distanz zur literarischen Tradition verriet Wosnessenskis Tradition: die Schwesterkünste, vor allem die Malerei, und die Technik waren die Quellen einer neuen Sprache der Kultur der Epoche, um die die russische Literatur der Moderne und der Avantgarde gerungen hatte. Unverkennbar ihre Mittel – Sprengung der herkömmlichen Lexik und Metaphorik, des poetischen Kontextes. Majakowskis „Sprache der Straße“ – das Antlitz der modernen Stadt und Zivilisation – wird lebendig. An der extravaganten (auch paradoxen) Metapher vor allem entfaltete sich Wosnessenskis Werk. Dem frühen Sabolozki, Olescha, García Lorca und Pasternak folgend, erklärt er sie zum „Motor der Form“. In einer Bilanz seines Schaffens aus dem Jahre 1974 macht er die Metapher zum Medium des Erkennens und beruft sich dabei auf Mandelstam:
„Ich vergleiche, also bin ich“, hätte Dante sagen können. Er war der Descartes der Metapher. Denn für unser Bewußtsein (und woher ein andres nehmen?) offenbart sich die Materie nur durch die Metapher, denn es gibt kein anderes Sein außerhalb des Vergleiches…
In Wosnessenskis Metaphernarbeit lebt die Assoziationstechnik der avantgardistischen Lyriker weiter: Vermischung unterschiedlicher thematischer und semantischer Reihen, Verbindung des scheinbar Unvereinbaren, Zitat und Andeutung von Hintergrund fordern den Leser mit all seinem modernen Wissen und seiner Phantasie zum steten Dialog heraus. So nimmt beispielsweise das Gedicht „Hast du auch gebetet, Birke, zur Nacht?“ Othellos tragischen Schlußmonolog auf. Die fulminante und lakonisch vorgetragene Dramatik ersteht in der Assoziation „Desdemona“ – „Berjosa“ (Birke), Menschenmord – Natur- und Kulturmord, hier wie da ungewollt verhängnisvoll geschehen. Am konsequentesten ist nach diesem Prinzip das „Goya“-Gedicht aufgebaut. Es erschließt sich demjenigen am gründlichsten, der „Les desastres de la guerra“ des Spaniers parat hat und um Wosnessenskis Kriegskindheit weiß. „Goya“, gestützt durch die sich wiederholende, variierende Lautfolge von g und o, klang für Wosnessenski wie „Woina“ (Krieg). Der Text ist unübertroffenes Muster für Wosnessenskis „Kunst der Improvisation“.
Diese neue Vergegenwärtigung der Welt des Krieges lebt auch von onomapoetischen Erfahrungen des Futurismus, vom Klangbild, das die „taubstummen Schichten“ der Sprache wiederbeleben wollte. Mit Alliteration, Wortspiel, Anagramm, Binnenreim, Assonanz, Dissonanz vertieft Wosnessenski diese Erkundungen einfallsreich und scheint den jugendlichen Affront zu bestätigen:
Der Reim ödet an. Alle Schüler der 10. Klasse reimen großartig.
Und doch hat Wosnessenski die souveräne Beherrschung des Endreims immer wieder bewiesen (wie er auch die traditionelle liedhafte Gedichtform nicht schlechter beherrscht als den modernen rhetorischen Typ). Inspiriert von Chlebnikows Suche nach Lautmaterial „jenseits der Grenzen des Verstands“ forscht Wosnessenski nach Wurzeln der poetischen Sprache in uralter Folklore Sibiriens oder Australiens. Im „Skrymtymnym“ („Sibirisches Lied“) eines sibirischen Zauberspruchs findet er die suggestive Wirkung der Kunst überhaupt formuliert. Auch die Basilius-Kathedrale fasziniere durch ihre heidnische Sprache – ihre Beschwörung in „Skrymtymnym“. Wosnessenski kostet Spiele mit Laut und Wort genüßlich aus, und der deutsche Nachdichter steht einigermaßen ratlos da – vor dem Jonglieren mit den Silben Tsche – lo – wek im Gedicht „Der Mensch“ etwa, vor dem Heraufbeschwören von „Geistesvorarbeitern“ mit der Formel Pro – ra – by, einem konkreten Skrymtymnym, und ähnlichem.
Der ausgebildete Architekt hatte sich auch im analytisch-konstruktiven Prinzip der Avantgardedichter wiederfinden müssen. (Mandelstam hatte als erster die Poesie mit der Baukunst verglichen, als er seine Aufmerksamkeit auf die Struktur seiner poetischen Gegenstände richtete.) Das Gedicht „Nächtlicher Flughafen in New York“ von 1961, als Selbstbildnis empfunden, ist mit den Abschnitten Fassade, Flugfeld, Interieur, Konstruktionen auch strukturelle Beschreibung des Bauwerks. Der Entwurf der humanisierten Welt in „Der Poetarch“ (1984) ist von oben, aus den Wolken gesehen – Draufsicht auf das Projekt. Die Räume Wosnessenskis hat Fritz Mierau genau beschrieben:
… der Anstrengung seiner Jugend verdankt Wosnessenski die Variabilität und Fassungskraft seiner szenischen Strukturen… Die Aktionsräume, die der Dichter erfindet, variieren von Mal zu Mal, und man sieht nun auch deutlich, wie sie konstruiert sind: von innen, von der geistigen Energie her, die hier freigesetzt wird.
Architektur blieb für Wosnessenski immer „eine Art zu denken, künstlerisch und konstruktiv“. Die Nähe des Wortes zu Musik und Plastik sieht er genetisch. Der Werkstattbericht „Archiverse“ gibt Einblicke in diese Überlegungen. Das poetische Bild erhält eine Figur. Auch dies – Aufnahme von Anregungen der Avantgarde für eine Monumentalpropaganda, bezogen auf die Medien unserer Zeit:
Film und Fernsehen vermehren den Informationsstrom, den Strom der visuellen Erkenntnis. Der Mensch empfängt heute nicht weniger Informationen über Bilder und optische Figuren als über Buchstaben. Das Bild wird Wort, Mitteilung.
1974 verwies Wossessenski auf ein Gedicht Sabolozkis und forderte für Literatur-Institute Mal- und Zeichenklassen:
Poeten, „entwickelt das Auge“, befaßt euch mit Malerei, wenn ihr könnt, natürlich.
Solchermaßen gestaltet sich die Arbeit des „Letzten der russischen Avantgarde“ (Bori Sluzki) zu einer unverwechselbaren eigenen „Poetik der Verwandlungen“. Diese ist auf nichts weniger aus als darauf, die hier angedeutete Veränderung der Wahrnehmung zu bewirken. Kunst beginne immer bei der Überwindung des althergebrachten Ausdrucks, schreibt Wosnessenski in seinem Porträt der Maja Plissezkaja.
Alle gehen aufrecht, aber nein, der Mensch strebt nach dem horizontalen Flug. Der Saal stöhnt auf, wenn ein Körper in dreißiggradigem Winkel fliegt… Strawinsky blendet das Auge durch Farbenpracht. Skrjabin prüfte die Farben auf ihren Klang hin. Wie ein Blinder, die Augen zugekniffen und tief Luft holend, ertastet Richter Farben auf der Klaviatur. Das Ohr wird zum Sehorgan. Die Malerei sucht Dreidimensionalität und Bewegung auf der statischen Leinwand… Der geistige Weg des Menschen ist die Erarbeitung, die Herausbildung eines neuen Gefühlsorgans… des Gefühls für ein Wunder. Das bedeutet Kunst.
Den Ursprung aller Poesie sieht Wosnessenski im Leben. Das Gedicht „Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit“ (1975), dessen Originaltitel „Nostalgija po nastojastschemu“ vom Doppelsinn „Wahrhaftigkeitsnostalgie“ – „Gegenwartsnostalgie“ lebt, spricht das programmatisch aus. „Nie hat er Poesie und Leben voneinander getrennt“, sagt Wosnessenski von Pasternak und zugleich von sich selbst.
„Poesie wird immer jene höher als alle Alpen gerühmte Höhe bleiben, die sich im Grase wälzt, unter den Füßen, so daß man sich nur bücken muß, um sie zu sehen und von der Erde aufzuheben“, erklärte Pasternak. Das Lebendige „unter den Füßen“ ist für Wosnessenski die Poesie, der er sich nicht entziehen kann:
Ein Vers wird nicht geschrieben. Er geschieht
wie ein Gefühl, ein Sonnenuntergang.
Die Seele geht blind als Komplizin mit.
Ich schrieb das nicht! Es kam hier lang.
Wosnessenskis erstes poetisches Erleben waren das Bild, das Leben, die Höfe, die gewürzte Rede des Samoskworetschje, des alten Stadtviertels in Moskau, das sich „jenseits des Flusses“ vom Kreml aus nach Süden hinzieht, wo Jahrhunderte und Kulturen zusammentreffen: in dieser Vorstadt wohnten und handelten im 14. Jahrhundert Tataren und von ihnen beherrschte Russen miteinander, koloritreich ist das Nebeneinander der Architektur-Epochen: Kirchen und Wohnsitze des 17. Jahrhunderts in byzantinischer Bauart, italienisch inspirierte Barockbauten, sakral, aber allesamt weltzugewandt – dekorativ in Linie und Farbe, und Klassizismus-Villen der berühmten Baumeister Kasakow und Bauvais; komponiert das Ganze – so Wosnessenski – wie Moskau an sich: weniger nach den Regeln des guten Geschmacks als nach Intuition… Kauf- und Handelsleute wohnten hier – Sammler, Stifter, Förderer und Bewahrer russischer Kultur wie der Galeriegründer Tretjakow, die Musikerbrüder Rubinstein, der Dramatiker Alexander Ostrowski, der in 29 seiner 47 Stücke moskowitischen Alltag, auch hier im Saretschje, beleuchtete. Hier wuchs Wosnessenski auf. Die Basilius-Kathedrale am anderen Ufer auf dem Kreml-Hügel mußte ihm der „Magnetpunkt“ des Samoskworetschje sein… Die Galerie mit der Fassade im Style russe und das achtstöckige Schriftstellerhaus Lawruschinski-Gasse aus den 30er Jahren, das Pasternak beherbergte, waren ihm die „allerheiligsten Ecken“ – und auch die Filiale des Maly, des traditionellen Ostrowski-Theaters, eine „Tretjakowka der russischen Rede“.
Ostrowskis Theater setzte sich außerhalb der Theatermauern fort – die Enkel und Kinder seiner Gestalten, seiner elementaren Sprachkraft schlenderten durch die Straßen, füllten Bäckerläden und Straßenbahnen… Das Samoskworetschje ist mehr als der Arbat – das Innere Moskaus. Großzügig, farbig und ursprünglich, eine Mischung aus Asien und Europa – strahlt es auf andere Moskauer Viertel aus, vermittelt ihnen Moskauer Geist.
Großzügig, farbig und ursprünglich – so tritt uns denn im Samoskworetschje das Urbild der Kunst Wosnessenskis entgegen. Wie Pasternak fühlt sich Wosnessenski als ein „durch und durch Moskauer Dichter“; die Moskauer Kultur und Lebensart sei im Unterschied zur Petersburger immer „spontaner, schwungvoller“ gewesen.
Aus dem „Moskauer Geist“ ist für Wosnessenski auch jener Maximalismus (der Form wie des Gehalts) geboren, mit dem er Mitlebende und -denkende aktivieren will, sein Wort zum literarischen Zündstoff macht. Darin begreift er sich nicht nur als ein Erbe der Avantgarde. Die russische Muse sei immer gesellschaftlich, offenbarend, Gewissen gewesen, wolle immer mahnender Glockenton sein.
Als Dichter hineingeboren in eine Atmosphäre (um den XX. Parteitag der KPdSU), da Lyrik und Öffentlichkeit („Glasnost“) zusammengehörten, ist Wosnessenski ein Gesprächspartner seiner Lesergemeinde geblieben. Er ist angetreten, das Kreative im Menschen zu entfesseln und dessen sittliche (und zugleich soziale) Regungen zu forcieren. Er ist seiner Zeit auf der Spur geblieben – in seinem Lande und überall auf der Welt; er hat alle Kontinente bereist und hat überall seine „Generationsgefährten“, wie er sie auch in der nationalen Literaturgeschichte hat. Puschkin, Lermontow und Pasternak hatte er als junger Mann in einem Interview in Polen dazugezählt. Das veranlaßte Nikita Chrustschow, auf einem Treffen mit Künstlern 1963 den Dichter der Verleumdung zu beschuldigen und ihm die Ausreise anzubieten. Jahre der Ächtung waren gefolgt.
Wosnessenskis Denken ist ebenso national wie universal. Immer offenkundiger wird seine Neigung zu Künstlern, die Rußlands Wesen und Wege durchlitten – Gogol, Nekrassow, Dostojewski, Block, Marina Zwetajewa, Majakowski, Pasternak – und die alle menschheitliche Dimensionen fühlten (außer Nekrassow vielleicht). Wosnessenski führt vieles zusammen: intime Kenntnis der russischen Sprache, der Kunst, Geschichte und Folklore, die westeuropäische Renaissance und die Moderne, Goethe, Naturwissenschaften, Literatur Lateinamerikas, die Zivilisation der Vereinigten Staaten und ursprachliche Phänomene, soweit im 20. Jahrhundert auffindbar…
Vielschichtig hat Wosnessenski Fragen unserer modernen Existenzweise gestaltet. Zentrum seiner Überlegungen dabei ist das Verhältnis von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und menschlichem (natürlichem) Dasein. Eine Debatte um die Dominanz von Physikern oder Lyrikern im Atomzeitalter freilich, wie sie gegen 1960 geführt worden ist, war für Wosnessenski gegenstandslos. Das Zurückbleiben der Lyriker hinter dem Anspruch der Zeit hatte nicht ohne Resignation Boris Sluzki in dem bekannten Gedicht „Physiker und Lyriker“ konstatiert. Wosnessenski steuerte rasch die Aufhebung des Gegeneinander an. Der kurze Technik-Rausch, dem er offenbar erlegen war, hatte Motive der Verinnerlichung in seiner Lyrik nicht verdrängt und die Idee einer vernünftigen Herrschaft des Menschen über Technik und Natur immer mehr Gestalt annehmen lassen. Deutlich rückt Wosnessenski die Gegensätze ins Bild (den tränenreichen Aufstand der Biber gegen den ihre Burg bedrohenden Bagger, die mögliche Perspektive: „Wird man noch Ranunkeln zum Fortschrittsjahrhundertfest sehn?“). Kürzlich nach Wichtigem aus seinem Frühwerk befragt, nannte Wosnessenski „immer wieder“ eine Zeile von 1964: „Aller Fortschritt ist reaktionär, wenn der Mensch daran zugrunde geht.“ Die Mahnung freilich war immer an den einzelnen Menschen gerichtet. Seine „Antiwelten“ sind Alternativen in der Lebenshaltung. Stets faszinierten Wosnessenski Menschen, die das Unerhörte wagen. Mit jugendlicher Verwegenheit war das programmatisch in einem Gedicht für seine Dichterkollegin, die verwegene Autofahrerin Bella Achmadulina formuliert:
Sie sind unsterblich –
aaaaaaaaaadie blindlings zersplittern!
Wir sind nicht auf der Welt, um zu leben,
sondern – zornzitternd Gas zu geben!
Die Emphase ist tieferem Ernst gewichen. Der Phantastischste der „Unsterblichen“ ist die Gestalt des Letten „Doktor Herbst“ (Dr. Manfred Essen, der Name wurde zu „Osen“, russ. „Herbst“), der das Alleräußerste wagt: er rettete als Lagerarzt Tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen das Leben durch künstliches Provozieren von Krankheitssymptomen, ermöglichte ihnen die Flucht zu den Partisanen, bewahrte sie vor dem Weg ins faschistische Deutschland. Unsterblich sind die „Geistesvorarbeiter“, die Streiter und Initiatoren Zwetajew und Tretjakow, der Belorusse Bjadulja, der – pensionierter Lehrer – in einem abgelegenen Dorf eine Farm mit Weltniveau aufbaut, der Arbeiter „aus alter Dynastie“, alle bekannten und unbekannten Erhalter und Bewahrer der Kultur – und die Retter von Tschernobyl, „Antibild“ einer Bande, die 1984 und 1986 in einem jüdischen Massengrab bei Simferopol nach Wertgegenständen grub und damit handelte… „Der Graben“ präsentiert diese Antiwelten phantasmagorisch – beklemmend-logische Konsequenzen des Grotesken, das Wosnessenski in seinem Werk zum Genre macht. Sein Theatertalent gaukelt uns eine Schaubude vor: eine verkehrte Welt, karnevalisiertes, dem Menschen wesensfremdes Leben wird gezeigt wie in „Antiwelten“, „Einrichtung“, „Besondere Diebstähle“, auch „Rock ’n’ Roll“. Letzteres – keinesfalls ein Anti-Rock-Gedicht – meint eine rockende Jugend, die ihre Extase zum Tanz auf dem Vulkan macht:
… Und über der Welt
aaaaa(genau wie ein Parapluie mit Fisch)
tanzt
aaaaader Fallschirm mit der Bombe!
Dieses Bild zeigt sich im Gedicht-Kontext wie Peter Gosse einmal schrieb, als ein „Verdrängungsbeleg“, „als ein SOS… die Angst vorm Eingeständnis sich selber gegenüber, Angst zu haben. Wosnessenski setzt sich deutlich von solcherart Verdrängung ab und schafft dadurch Distanz.“ Als USA-Reise-Eindruck 1961 entstanden, liest sich dieses Gedicht heute aktuell groß verallgemeinert.
In Wosnessenskis „Schaubudenprogramm“ gehört die lyrische Abschweifung „Der Mensch“, der als „Ersatzteilansammlung“ am Ende in der Hölle unbrauchbar ankommt. Höhepunkt des Programms – die makabre Szene „Nach dem letzten Krieg“: der Mensch und sein schöpferisches Wesen könnte im Bewußtsein der Nachfahren ausgelöscht sein. Solcherart ist in jüngster Zeit Wosnessenskis Blick auf die paradox sich gestaltende Welt am Ausgang des Jahrhunderts nüchterner geworden. Sarkasmus und schwarzer Humor scheinen ihm der gemäße Stil unserer Tage zu werden. Die Zeit harre ihres Talentes, sagt er im Gedicht „Besondere Diebstähle“, eines neuen… Dante (der Russe Wosnessenski hat seinen prägnanten Reim „Talent“ – „Dant“ von 1961 erneuert). Um 1981 etwa wurde deutlich, daß Wosnessenski immer mehr nach der Haltung des Künstlers in der Zeit, nach der Haltung der Zeit zum Künstler fragt. In den Widmungen zum Poem „Die Meister“ (die Erbauer der Basilius-Kathedrale) von 1959 ehrt er die Künstler, Rebellen und Tribunen und Streiter aller Zeiten und verflucht er die Tyrannen aller Zeiten. Diese Texte scheinen heute wie ein Vorspruch zum gesamten Werk. Aus den Epitaph-Gedichten für Gogol, Filonow, Pasternak, Neruda, Schukschin, Wyssozki ist Wosnessenskis Credo zu lesen: der Künstler habe „dem heutigen Tag ein Doppelgänger“, „aktives Gewissen seines Landes“ zu sein und kühner Schöpfer bleibender Schönheit. 1959 war das als triumphale Vision entworfen:
Funkelnd auf den Hängen
Siebenstirnig glühen,
Nicht nur sieben Städte,
Sondern siebenmal sieben!
In Weltallweiten,
In Golddickichten
Werd ich,
Wosnessenski,
Sie baun und errichten!
1970 spricht Wosnessenski distanzierter, in dritter Person:
Schönheit reinigt die Welt… Schönheit rettet die Welt. Ein Künstler, der Schönes schafft, verwandelt die Welt.
1982 steigert sich in „O“ dieser Gedanke zur Botschaft der Rettung der Welt und Schönheit: adressiert an eine universale Gemeinschaft der „Schöpfermenschen“, die „mit dem Preis des Lebens“ ihre Idee verwirklichen. Das Konzept des Schöpfermenschen geht ebenso auf Blocks Entwurf des „Künstlermenschen“ zurück wie auf Chlebnikows Schöpfermenschen-Bild. Chlebnikow leitete aus dem Wortspiel „Dworjane“ – „Tworjane“ (Aristokraten-Schöpfer) 1921 seine Gestalter der Zukunft Rußlands her. Wosnessenski spricht der Schöpfermenschengemeinschaft alle Verantwortung für eine „Koalition der Vernunft“ zu:
Wer wird die Erde vor der Verwüstung retten? Wer pflanzt Wälder, gibt jedem ein Dach, Schönheit, Lebensmittel? Damit die Menschen erträglich leben und schön singen. Nur die Schöpfermenschen. Zum erstenmal auf Erden sind alle von der einen, alle Fragen, die die Menschheit je quälten, in sich sammelnden Frage gequält: leben oder nicht leben? Wird das Leben weiterbestehen – nicht nur des einzelnen, nicht nur das einer Stadt, eines Landes, sondern das des ganzen Menschengeschlechts? Wer kann es retten? Nur die, in denen der Schöpfergeist lebt.
Die „Koalition des Schöpfergeistes“ ist die Kraft des Widerstandes gegen alle zerstörerischen Mächte – angeklagt schon 1959 in „Die Meister“ –, gegen „Vampire“:
Die Vampire folgen den Schöpfermenschen mit stierem, neidischem Blick. In „Guernica“ markierte Picasso die Reißzähne des Weltvampirismus.
In „Der Poetarch“, dem gleichzeitig entstandenen lyrischen Pendant zu „O“, ist die Rettung der Welt auf die Formel gebracht:
Bekanntlich rettet die Schönheit die Welt,
wenn wir die Schönheit retten…
Dostojewskis Bekenntnis (aus dem Munde des Fürsten Myschkin), die Welt werde „durch die Schönheit“ – den sittlich schönen Menschen – „erlöst“ werden, ist hier für unser Jahrhundert weitergedacht. Schönheit schließt auch die schön gestaltete materielle Welt und die bewahrte Natur ein. Sie bedarf des „schönen Menschen“ – bei Wosnessenski des „Poeten“ – Metapher für den dringend erforderlichen Zeitgenossen, der fähig ist zur Humanisierung der Welt, zu ihrer Bewahrung und zur Errichtung des Poetarchats „nach all den Matri- und Patriarchaten“.
Banner dieser besseren Welt könnte der „Poetarch“, die auf Luftkissen „schwebende Krone“ sein, das in „O“ entworfene Denkmal für die Sprache der Poesie-Vision weltweiter vernünftiger Kommunikation per Poesie:
Vielleicht wird die schwebende Krone einst dort erschaffen werden – die Wolke der Kultur, wo sich die Zweige Lermontows, Rustawelis und Shelleys verflechten? Und diese Wolke der Sprache wird vielleicht einst von Stadt zu Stadt ziehen, wie ein gastierendes Monument; und wieviel besser, wenn die Völker solche Wolken austauschen statt atomarer.
Der „Poetarch“, Modell des Erdballes von 25,433 m Durchmesser, fungiert als Denkmal und als Konzertsaal für Literatur und Musik, und das Poem erzählt vom Entwurf und der ersten Probefahrt.
Rastlos ist Wosnessenski in den Debatten um die Kultur (im weitesten Sinne) in seiner Heimat präsent. Gefährdet sieht er nicht nur die Umwelt, gefährlicher sei das ökologische Verlöschen der inneren, „geistigen Umwelt“:
Wir messen mit dem Geigerzähler die Radioaktivität, bestimmen Verschmutzung der Luft und Verschlammung der Seen – aber womit ist geistige Verschlammung derer zu messen, die Caligula oder Mozart nur von Videokassetten kennen, in krimineller Weise den ganzen Krieg und Frieden nicht mehr lesen?
Daher immer wieder der Ruf nach „Schöpfenmenschen“, den Streitern, Bewahrern, „Geistesvorarbeitern“, die „ein Kraftfeld von Initiativen“ um sich aufbauen. Das gelte nicht nur für die Kunst. „In der unumgänglichen Umgestaltung (,Perestroika‘) der Wirtschaft auf sachlichen Grundlagen zeichnen sich die eigenwilligen Charaktere tatkräftiger Streiter ab. Sie ringen, sie beenden den Winterschlaf. Streiter werden gesucht. Gesucht werden Monteure, Ärzte, Taxifahrer – vor allem aber Streiter! Die Idee des Lebens selbst, des alleinigen in den toten Abgründen des Kosmos, bedeutet Streiten“, schrieb Wosnessenski im März 1984. Neues Denken hat Andrej Wosnessenski wie viele seiner Künstlerkollegen mit vorbereitet, unermüdlich ist er beteiligt an dessen Formung und Vertiefung. „Geistesvorarbeiter“, radikal-publizistisches Gedicht von 1984, ist für die „Perestroika“ geschrieben. Kein Zufall für Wosnessenski: das Erinnern der Moskworetzker Kunstmäzene. Aus dem Samoskworetschje komme auch jener Geist des „Moskauer Maximalismus“, aus dem heraus sich Rußland im Verlauf seiner Geschichte immer wieder erneuert habe. In der Wiedergeburt dieses Geistes liegt Wosnessenskis Hoffnung. Auch sie – der Impuls für seinen immensen praktischen Einsatz im Sinne des Sowjetischen Kulturfonds, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört. Der noch 1982 nicht ohne tieferen Gedanken an Rußland schrieb:
Es lebe die Kultur des 20. Jahrhunderts, die nicht niederzubrennen, nicht niederzuschießen ist, die existiert!
– beweist nun, was ein Dichter vermag: er kann Nabokov und Chodassewitsch publizieren, für eine Chagall-Ehrung und ein Museum in Witebsk arbeiten, er kann die Rehabilitierung eines Boris Pasternak mit befördern, der lange „nicht zugelassenen“ Leningrader Rockgruppe Aquarium zu öffentlicher Anerkennung verhelfen; er kann nach wiederholten Schändungen des jüdischen Massengrabs bei Simferopol die Neuaufnahme des Prozesses und den Plan zur Errichtung einer Gedenkstätte erwirken, und er kann einen Unionswettbewerb um das „Denkmal des Sieges“ initiieren, dessen Ergebnisse öffentlich zur Diskussion bereitstanden. (Wosnessenski hatte auf dem Schriftstellerkongreß 1986 gegen das fertige Modell eines überdimensionalen Banners protestiert, dessen roter Granit im Gegenlicht ein bedrohlicher „düsterer Riesenvogel“ sein würde, ein „schwarzes Banner“ – Bild der für sein Land „verhängnisvollen Epoche mit Doppelmoral“.)
Wosnessenski zieht heute wie vor dreißig Jahren Tausende zu seinen Leseabenden. Wosnessenski liest Wosnessenski, ein Akteur höchster Güte, der alle Register seiner Stimme zieht. Der Klang wird zur Figur. Per Zettelpost, wie landesüblich, steuert der Saal mit seinen Wünschen das Programm – Wosnessenski hat sein lyrisches Repertoire aus drei Jahrzehnten parat, auswendig, versteht sich. Und das Publikum fordert Rede und Antwort. Wosnessenski steht sie. Steht zu allen, denen das Schicksal der „Perestroika“ am Herzen liegt. Sein Wort stiftet soziale Impulse. Ein Dichter hat öffentliche Sprechstunde. Gigantische Arbeit, fast drei Stunden. Unzählbar die Briefe, die er erhält.
Andrej Wosnessenski heute – ist selbst ein Kraftfeld von Initiativen.
Ingrid Schäfer, Nachwort, August 1987
Die sowjetischen Lyriker, die einst im Mitternachtstrolleybus – so der Titel einer Anthologie – durch das dunkle Moskau rollten, kommen in die Jahre: Jewtuschenko, der „Posaunist“ der Truppe, der gelegentlich auf die Pauke haute, ebenso wie der „Saxophonist“ Wosnessenski, der auch das Cembalo spielte.
Andrej Wosnessenski, ebenfalls einer vom Jahrgang 1933, der sich Pasternak zuwandte, als andere sich nicht einmal verschämt nach ihm umschauten, hat sich stets, gleich dem Bewunderten, von seiner lyrischen Empfindsamkeit, seinem Streben nach Schönem, seiner Sehnsucht nach einem makellos komponierten, melodischen Lebens-Rhyhtmus leiten lassen. Also hat der Titel Wenn wir die Schönheit retten seine volle Berechtigung, der für die Gedicht-Auswahl bestimmt wurde, die in der Weißen Reihe von Volk und Welt erschien. Die Andrej-Wosnessenski-Ausgabe war fällig! Nicht nur, weil er neben Jewtuschenko, Roshdestwenski und der Achmadulina zu den poetischen Potenzen gehört, die ihre Zuhörer in Sportarenen riefen und diese auch füllten. Wosnessenski hat die Stimme, in der ein Jessenin, ein Pasternak, eine Achmatowa, eine Zwetajewa den besten Nachhall haben.
Als der Lyriker die Zeile aufs Papier setzte: „Ein Vers wird nicht geschrieben. Er geschieht“, sprach er nicht nur über sich und sein Schreiben. Er äußerte sich stellvertretend für seine Zukunft. Für alle, die ihr angehören. Das Subjekt nicht lärmend herauszuschreien, um schließlich doch nur das Echo des Eigenen zu hören, bedeutet für Wosnessenski die persönlichen Schwingungen zu den Schwingungen aller zu machen. Um den Schlag des Herzens spürbar zu machen, schreibt Andrej Wosnessenski seine melodischen Gedichte. Ihre Melodik und Farbigkeit wird bestimmt von den Gesetzen, die den Dichter dirigieren und die Eigenmächtigkeit seiner Verse ausmachen.
Andrej Wosnessenski weiß um den Wert der Trauer, die in Bekräftigung und Forderung umgemünzt werden kann, wie in dem 1983 verfaßten, poemhaften Gedicht „Traum“, das mit den Zeilen endet:
Es gab keinen Weg zurück
Zornig, die Lippen zerbissen
habe ich diesen Knopf nicht gedrückt
sondern samt seinen Drähten herausgerissen.
Den Willen, die Zerstörung und Selbstzerstörung des Menschen und des Menschengeschlechts zu verhindern, ist aus der Lyrik des Andrej Wosnessenski immer wieder herauszulesen.
Ein Glaube, der selig macht? Gewiß nicht, denn der Dichter glaubt an das, was er sagt. Das bedeutet, er faltet nicht stumm die Hände und harrt der Dinge, die kommen sollen. Er regt die Hände und bewegt die Dinge.
Bernd Heimberger, Die Zeit, 25.9.1989
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Léon Robel im Gespräch mit Andrej Wosnessenski, Sinn und Form, Heft 6, 1972
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