– Andrej Wosnessenskij und sein Gedicht „Goya“ aus Andrej Wosnessenskij: Achillesovo serdce. –1
ANDREJ WOSNESSENSKIJ2
Goya
Ich bin Goya!
Die Augenkrater hackte der Feind mir aus
aaaaaaaaaaaaaaaaim Sturz aufs nackte Feld.
Ich bin der Gram.
Ich bin die Stimme
des Krieges, der verkohlten Städte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf dem Schnee des Jahres Einundvierzig,
ich bin der Hunger,
die Gurgel
des aufgehängten Weibes, ihr Körper – eine Glocke,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie über den leeren Platz schlug…
Ich bin Goya!
O, die Früchte
des Zorns! Ich fuhr mit einer Salve gen Westen –
aaaaaaaaaich bin die Asche des ungeladenen Gastes.
In den Gedächtnishimmel schlug ich die starken Sterne
wie Nägel.
Es ist nicht leicht, in Prosa oder mit prosaischen Worten über Poesie zu sprechen. – Tolstoi sagte einmal, um die Idee der Anna Karenina zu erläutern, müßte man den Roman noch einmal schreiben. So, denke ich, ist es auch einfacher für den Lyriker, Gedichte zu schreiben, als über sie zu reden.
Dennoch ist es notwendig, sich darüber klar zu werden, was Poesie heute ist, wo ihr Standort ist, was sie bewirken kann oder soll, was sie sagen soll. – Wahrscheinlich ist Poesie in unserem Zeitalter das, was dem Standard, dem Fließband entgegensteht und was der menschlichen Seele in dieser Hinsicht ein Gegengewicht zu bieten vermag.
Ich denke, die Menschen fühlen sich heute zur Poesie hingezogen, so wie man bei Skorbut zu Vitaminen sich hingezogen fühlt. Es ist sicher kein Zufall, daß Ferlinghetti, Ginsberg in San Francisco zu Lesungen ihrer Gedichte auftreten, und große Scharen von Studenten, von jungen Menschen strömen zu ihrem Vortrag. Es ist genauso wenig ein Zufall, daß in der UdSSR Lyrikbände in einer Auflage von 100 oder 200 Tausend erscheinen und ihre Interessenten finden. Und dabei handelt es sich bei beiden Beispielen keineswegs um primitive Poesie, vielmehr um jene schwierige und zuweilen komplizierte Poesie, wie sie unser Zeitalter von uns fordert.
Aber vielleicht ist es heute gerade ein Paradoxon, daß die schwierigsten Dinge zu den allerbegreiflichsten werden. Der Bauer, der keine Ahnung von höherer Mathematik hat, begreift dennoch, was das Ding ist, das über seinem Kopf immer weiter in die Höhe steigt, das Raumschiff oder die Rakete. Und das Raumschiff oder die Rakete tritt in sein Leben ein, wie es etwa ein Paar Stiefel tun. Das Wesen der Dinge wird begriffen, die Poesie wird begriffen, und ich möchte jetzt sagen, wozu die Poesie heute gut ist.
Ich will es in einer einfachen und allgemeinen Formel sagen: Poesie steht heute dort, wo es schmerzt, wo schmerzhafte Empfindungen anklingen, die auf Veränderung deuten oder Veränderungen benötigen. Der Dichter sollte, wie der Arzt es tut, das Zentrum des Schmerzes aufspüren und seine Gründe diagnostizieren. Der Dichter sollte dort zu finden sein, wo es den Menschen schmerzt, wo es das Land oder das Volk schmerzt, beim Liebesschmerz wie beim Leiden durch den Krieg.
Majakowskij hat diese Aufgabe so für sich empfunden und sie auf sich genommen genau wie etwa Jessenin, Pasternak, García Lorca oder viele andere Künstler, deren Gedichte und deren Leben wir kennen.
Andrej Wosnessenskij, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
nennt eine Reihe seiner Gedichte „Abschweifungen“, rhythmische Monologe, die er mit Anmerkungen versieht: „Abschweifung für Stimme und Tamtam“, „Abschweifung in das Jahr 1719, Ballade vom Richtplatz“, „Architektonische Abschweifung: nächtlicher Flughafen in New York“: Entdeckung Amerikas durch Wosnessenskij, die dreieckige elektrische Birne der New Yorker Untergrundbahn gibt den Titel her für sein Abschweifungsbuch. Abschweifungen sind mit dem Thema des Ausgangsmotivs verbunden. Wosnessenskij arbeitet kompositorisch, er legt Wert auf die Musik des Gedichtes, auf eine besondere Art von Reim, von Binnenreim, von Assonanz, auf eine besondere Art von Rhythmus, z.B. Tanzrhythmen, Marschrhythmen, wie sie im Gedicht „Striptease“ zur lyrischen, zur gesellschaftlichen Kritik verwendet werden. Zornige Rhythmen: „Der schöpferische Künstler ist stets Tribun“ – so steht es in dem Gedicht „Die Meister“. Rhythmen gegen diejenigen, „die Pegasus als ein trojanisches Pferd heuern wollen“. – Mannigfache Fäden zu Majakowskij und zum Lyriker Pasternak.
Wosnissenskij, Diplomarchitekt, Autor, – er hat ein untrügliches Gefühl für Technik und eine ebenso sensible Scharfsicht für Wunder. In der Beobachtung der Gesellschaft bewährt sich beides: „Wer blüht denn sonst noch im dritten Gang?“, heißt es in seinem Gedicht „Moskau-Warschau. Das Gegenüber – und die eigene Person“. „Gegenschein der Augen“ nennt er eine Versfolge, und eine Selbstabschweifung beginnt:
Bin ein Spektrum, bin liiert,
Es hausen sieben Ichs in mir…
Überall dort, wo das Bewußtsein von den Trennungen, von den Umbrüchen, von den verletzten Verbindungen wach ist, setzt das Gedicht ein. Es zeigt auf die wunden Stellen, attackiert das Starre, nimmt Verletzliches in Schutz, – das Gedicht bleibt immer, wie magisch angezogen, in dieser Zone der Verletzungen.
Geographisch gesehen liegen San Francisco und Moskau fast genau antipodisch; poetisch, von Wosnessenskij und Ferlinghetti aus betrachtet, kaum. Sie beide gehören überdies zu der Gruppe von Poeten, Artisten, Wissenschaftlern, die gegenwärtig den nomadischen Austausch zwischen den Nationen befürworten und, soweit es an ihnen selbst liegt, ihn zustandebringen. Zugegeben, das ist zunächst, aufs Ganze gesehen, nur eine kleine Gruppe von Personen…
Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
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