Andrej Wosnessenskij: Dreieckige Birne Dreißig lyrische Abschweifungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andrej Wosnessenskij: Dreieckige Birne Dreißig lyrische Abschweifungen

Wosnessenskij-Dreieckige Birne Dreißig lyrische Abschweifungen

IRONISCH-PHILOSOPHISCHE ABSCHWEIFUNG
ANTIWELTEN

Herr Würmeling, mein Nachbar, ist
Ein löschblattfarbener Kontorist.
Doch über seinem Haupte wälzen,
Wie Luftballons, sich Antiwelten.
In ihnen, als verruchter Geist,
Regiert das Weltall kühn und rittlings
Herr Antiwürmeling, der Rüttings
Und Lollobrigidas verspeist.

Jedoch in Antiwürmeling wohnen
Löschblattfarbene Traumvisionen.

So lebet hoch, ihr Antiwelten!
Nur zu, ihr dürft die Dummheit melken.
Was sind Oasen ohne Öden?
Was sind die Klugen ohne die Blöden?
Die Frau ist bloß ein Antimann.
Im Stall wiehert die Antibahn.
Es gibt das Salz. Es gibt den Staub.
Doch die Sonne dorrt ohne Erde aus.

Ihr Kritiker, ich liebe euch!
Auf euerem Hals prangt fahl und feucht
Mit Wohlgerüchen vollgestopft
Ein Antikopf.

Ich schlafe. Alle Fenster offen.
Da draußen gehen Sterne ab.
Die steilen Wolkenkratzer tropfen
Vom Kugelbauch der Welt herab.
Und unter mir, wie eine Gabel,
Verbohrt im Erdball bis zum Nabel,
Ein Falter, sorglos, lieb und klein,
Lebst du, mein Antiweltelein.

Was hat wohl zu der halben Nacht
Die Antiwelten scharf gemacht?

Was wollen sie zu zweit am Bett?
Was soll der Blick ins T-Gerät?

Kein Sterbenswort wird ihnen klar.
Ihr erstes ist ihr letztes Mal.

Jetzt lassen sie’s an Abstand fehlen,
Post festum werden sie sich quälen.

Und ihre roten Öhrchen glimmen,
Als wären es zwei Schmetterlinge.

Mein Redakteur hat schief geschaut:
„Was? Antiwelten? Hör’n Sie auf!“
Ich schlafe schlecht. Ich kralle mich
An meiner Wohnungswabe fest.

Mein Kater ist ein Radiolicht
Und fängt mit grünem Blick die Welt.

 

 

 

Andrej Wosnessenskij – Herkunft und Ansatz

Andrej Wosnessenskij, Jahrgang 1933, ist heute der begabteste junge Lyriker Rußlands. Während sein Freund und Altersgenosse Jewtuschenko in die Breite stößt, steigt Wosnessenskij in die Tiefe hinab: in die Tiefe des Worts, des Gegenstands und der poetischen Tradition, die unter Stalin abgerissen war. Diese Tradition stellt Wosnessenskij wieder her. Wosnessenskij, Diplomarchitekt und gebürtiger Moskauer, publiziert seit 1958 in Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1960 erschien, in zweifacher Redaktion, sein erster Lyrikband: unter dem Titel Parabel in Moskau, unter dem Titel Mosaik in der Provinzstadt Wladimir. Aber erst in dem nächsten Opus, das die Zeitschrift Snamja vorabdruckte, beginnt die Bildung einer eigenen poetischen Sprache. Um früher oder später entstandene Texte ergänzt, bildet dieses Werk den Kern des im Herbst 1962 erschienenen Buches Vierzig Abschweifungen vom Poem Dreieckige Birne, Snamja brachte dreißig Abschweifungen; das behauptet zumindest der Titel. In Wirklichkeit ist die Urfassung noch kürzer. Wosnessenskij betreibt darin nämlich Zahlenmystifikation. Auch in der Buchausgabe kommt man nur dann auf die Zahl 40, wenn man jeden Partialtext mitzählt.
Von welcher dreieckigen Birne wird abgeschweift? Der Dichter reiste 1961 in die USA. Die neuen Erfahrungen regten ihn zu einem größeren Werk an; seinen Titel verdankt es den Beleuchtungskörpern in den Schächten der New Yorker U-Bahn. Während der Arbeit fielen die Abschweifungen an, vielfach in heimatlicher Richtung, einmal sogar in die russische Geschichte. Das Hauptwerk steht bislang noch aus. Die Abschweifungen wiegen indessen schwer genug, verraten zudem die Sorge um das fehlende Herzstück. Unsere deutsche Fassung geht auf die Zahl 30 zurück, die hier aber echt ist. 9 Texte der russischen Buchausgabe wurden weggelassen. An ihre Stelle traten, nach Wosnessenskijs eigener Auffüllmethode, 5 wichtigere Texte aus Periodicia; sie waren zu spät entstanden, als daß der Autor selber sie noch in sein Buch hätte aufnehmen können.
Die in den russischen Buchtext eingeblendeten Prosastücke – Reportagefetzen, Kunsturteile – fielen fort. Sie bleiben unter dem Niveau der Verse. Infolge des Avantgarde-Gefälles würden sie ihre für Rußland heute noch schockierende Funktion im Westen verfehlen. Überdies entstünde sonst leicht der Eindruck einer Nachäffung abendländischer Muster durch den Dichter, der irreführend wäre. Wosnessenskijs dezidierte Zeitnähe darf nicht als ,Verwestlichung‘ mißverstanden werden. Sofern es z.B. um die poetische Form geht, bleibt der junge Russe ein Schüler heimatlicher Meister, allerdings der fortgeschrittensten. Aber selbst die Werke der russischen Lyrikmoderne um 1920 wirken, gemessen an westlichen Parallel-Erscheinungen, eher konservativ. Und wenn damals dennoch experimentiert wurde, so geschah das zumeist in einer den westlichen Versuchen entgegengesetzten Richtung.
Ein wichtiges Kriterium ist dabei der Klang. Während ihn die westliche Lyrik mit der Moderne aufgibt, wird er in der russischen nicht nur beibehalten, sondern geradezu zum Vehikel der Formsprengung. Der Modernisierung als Entklanglichung im Westen entspricht in Rußland, am sonst häufig gleichartigen Objekt, die Modernisierung als Verklanglichung. Freilich: Verklanglichung kann verschiedenerlei bedeuten.
Wird eine Zeile, eventuell eine Strophe, von einem Klang (oder einer Gruppe von Klängen) geprägt, spricht der fachgerechte Kritiker von Alliteration, der musikalisch veranlagte von Instrumentierung – aus welchem eigentlich sachfremden Terminus immerhin erhellt, daß Alliteration auf Nuancen, nicht aufs Wesentliche geht. Alliterationen gibt es bei Pasternak sogar schon bei Tiutschew. Sie bleiben lokalisiert, bestimmen nicht die Gesamtstruktur. Aber manchmal zerbrechen die Klänge den Zeilenkäfig, lassen sogar die Strophik bersten. Um 1920 geschieht das bisweilen bei Chlebnikow, häufiger bei Marina Zwetajewa, später immer wieder bei Martynow. Es entstehen klangmotorische Gebilde, in der Regel ohne Verluste an Sinngehalt.
Wosnessenskij alliteriert gern. Er denkt in Klängen, assoziiert sich solcherart die ausgefallensten Dinge herbei. Häufig benützt er auch Binnenreime, die manchmal zu Querreimen auswuchern. Das alles spielt sich jedoch auf dem engen Raum weniger Zeilen ab, bricht dann ab, beginnt ein Stück weiter mittels neuer Klänge. Ein streng klangmotorischer, zwei Reimreihen synkopierender Text kommt bei Wosnessenskij nur einmal vor. Es ist das „Lied der Ophelia“ – ein gediegenes, kein originelles Gedicht. Es könnte, samt Thema, samt Titel sogar, von Marina Zwetajewa sein. Allerdings sind auch bei Marina Zwetajewa und bei Martynow die klangmotorischen Texte seltener als die traditionalistischen. Betrachtet man die gesamte russische Lyrik dieser Epoche, schrumpft der Anteil der Klangmotorik noch mehr zusammen. Die Verstechnik der meisten modernen russischen Lyriker wird von der Assonanz bestimmt.
Eine Assonanz ist ein Halbreim. Vom Vollreim zum Halbreim führt kein sehr weiter Weg. Trotzdem war die Einführung der Assonanz weitaus einschneidender als das Geklimper mit Alliterationen; sie hatte große syntaktische Folgen, weil die neuen Reimwörter ja auch neue grammatische Funktionen übernahmen. Jene Dichter, die methodisch und mit Erfolg die Assonanz verwendeten: Majakowskij und Pasternak, betrieben die Zerstörung der Satzclichés im Vers. Da das immerhin die zwei größten russischen Lyriker des 20. Jahrhunderts sind, und da etliche geringere Autoren gleichfalls auf die Assonanz schworen, kann man diese Entwicklung nicht hoch genug einschätzen.
Das Stadium Majakowskij-Pasternak ist die Klassik der modernen russischen Poesie. Bei den hypermodernen und zugleich unmittelbar nachklassischen Klangmotorikern bildet sich die Assonanz, die im Gedränge der Reimreihe ja doch unterginge, meistens auf den Vollreim zurück. Klangmotorik bleibt aber eben die Ausnahme, setzt sich nicht durch, nur Leonid Martynow führt sie, inmitten einer längst rückläufigen Bewegung, zu geheimen Siegen. Genauso bezeichnend ist es jedoch, daß die sich in den dreißiger Jahren beschleunigende, in den Vierzigern überschlagende Regression die Bedeutung der Assonanz nicht zu tilgen vermochte. Hinter den wie immer abgeplatteten Halbreim geht selbst der biederste Stalingeburtstagslyriker nicht zurück. Die Assonanz gehört zum Handwerkszeug der sowjetischen Gebrauchspoesie, neulich gab ihr Jewtuschenko wieder Schmiß.
Wer genauer hinhört, entdeckt freilich, daß seine Halbreime, statt die Strophe umzukrempeln, bloß nach Effekt haschen. Bezeichnet man die Assonanz Majakowskijs und Pasternaks als strukturell (oder als funktionell), so muß man die Assonanz Jewtuschenkos, die derjenigen der Epigonen nur äußerlich überlegen ist, dekorativ nennen.
Und Wosnessenskij? Von ihm stammt das Wort, der Reim sei heute überholt; jeder Schüler verstünde es, wirkungsvoll zu reimen. Für den Kenner der russischen Situation besteht kein Zweifel, daß Wosnessenskij nicht nur des Vollreims, sondern gerade auch des wohlfeil gewordenen Halbreims überdrüssig ist. Jedoch – und das ist höchst bemerkenswert –, er denkt nicht daran, die Konsequenz aus seinem Unbehagen zu ziehen. Er reimt und assoniert aus voller Kraft, er übernimmt sich sogar beim Reimen. Die Herrschaft des Klangs dauert an, gerade bei den jungen russischen Lyrikern.
Wosnessenskij ist heute der wachste Erbe der Poeten von 1920. In der Klangmotorik hat er sich freilich selten versucht, und nur einmal, im „Lied der Ophelia“, mit Erfolg. Meistens ist der Klanggrad seiner Gedichte derjenige von Pasternak und Majakowskij: ein wenig verwässert, wenn auch viel dichter als bei den Regressisten. Seine Assonanzen sind weder gewollt plakativ wie die Jewtuschenkoschen, noch so tief in den Versleib eingelassen wie die Pasternakschen. Auch dort, wo er mit Klängen assoziiert, reicht Wosnessenskij nicht an Pasternak heran, der nur das sich als sinnvoll Bewährende stehenließ, während sein junger Bewunderer weniger dem Intellekt als dem Gehör folgt. Das so lange vergrabene Szepter der russischen Poesie ist schwer; Wosnessenskij führt es mit wechselndem Geschick, aber meistens mit Noblesse.
Die Rettung des Reims mittels der Assonanz ist freilich nicht die einzige Eigenart neuerer russischen Lyrik. Auch durch Metrum, Rhythmus und Akzentsetzung unterscheidet sie sich von der westlichen, zumal von der bundesdeutschen, und zwar so sehr, daß wir sie vielfach als konservativ empfinden. Die Bewahrung des Reims läßt vermuten, daß mit ihm in der russischen Lyrik die Strophe überlebt habe. So ist es in der Tat. Und gleichzeitig hat sich auch das Metrum besser erhalten als im Westen.
Gleichzeitig heißt aber nicht: im gleichen Text. Bei Marina Zwetajewa, bei Majakowskij, sogar bei der puschkintreuen Achmatowa ist die Hebungsfolge oft unregelmäßig (freilich fast immer notierbar), doch der Reim, ob voll, ob halb, wird von diesen Dichtern (wie von den meisten zeitgenössischen Lyrikern Rußlands) bewahrt. Majakowskijs Zeilen mögen noch so freirhythmisch sein (das Maß dieser Freiheit variiert sehr), stets laufen sie in Endreimen aus und lassen sich, trotz dem überbewerteten ,Leiterchen‘, meistens auf Vierzeiler zurückführen. Die gängige Verseinheit moderner russischer Lyriker bleibt, gerade dort, wo das Metrum schwankt, die gereimte oder assanierende Strophe von vier, manchmal von zwei oder acht Zeilen. Seltener geschieht es, daß der Klang als Strukturelement aufgegeben wird. Dafür bleibt dann das Metrum streng jambisch. Es entstehen Blankversgebilde von verschiedenen Maßen. Einige wenige, aber vielleicht die besten Gedichte von Anna Achmatowa sind in Blankversen geschrieben. Ungewöhnlich ist das stilistische Los von Wladimir Lugowskoj, der in den zwanziger Jahren, als Majakowskij-Eleve, den gereimten Akzentvers pflegte, später aber vorwiegend längere Texte in Blankversen verfaßte. Jewtuschenko hat eines seiner gelungensten Gedichte dem Andenken Lugowskojs gewidmet, doch dessen von einigen Kritikern gepriesener Spätstil läßt die jungen Dichter unbeeindruckt. – Übrigens gab es auch zahlreiche Entwürfe eines gereimten Versepos, von Majakowskijs „Lenin“ und Pasternaks „Hoher Krankheit“ bis Jewtuschenkos „Bahnstation Sima“, Wosnessenskijs bislang ausgespartes Poem „Dreieckige Birne“ wird, wenn überhaupt, wahrscheinlich, auf diesem Felde gedeihen.
Daß Metrum oder notierbarer Rhythmus auf der einen, Reim und Strophe auf der anderen Seite gleichzeitig wegfallen, kommt in der neueren russischen Dichtung so gut wie nie vor. Eine der ganz wenigen Ausnahmen ist das großartige Gedicht „Kunst“ von Nikolaj Sabolotzkij (das in einer Übersetzung von Eckhart Schmidt und mir am 15.2.63 in der Zeit abgedruckt war); es stammt aus dem Jahre 1932, wurde aber erst 1961 aus dem Nachlaß veröffentlicht und konnte den lyrischen Prozeß schon deshalb nicht beeinflussen. Sabolotzkij hat, soweit bekannt, nie wieder so geschrieben. Sein Spätwerk ist konventionell.
Wahrscheinlich schwenkt Rußland eines nicht mehr allzu fernen Tages in die verstechnische Generallinie der Weltlyrik ein; schon deshalb, weil sich das Spielen mit Klängen nicht unbegrenzt fortsetzen läßt. Bisher aber deutet kaum etwas auf eine solche Wendung hin, es sei denn die Bekehrung des Bauerndichters Wladimir Solouchin zur reimlosen Freirhythmik. Solouchin bleibt jedoch in jeder anderen Hinsicht altmodischer als Wosnessenskij.
Ansonsten ist das Maß rhythmischer Freiheit in der neueren russischen Dichtung recht variabel. Auch bei Wosnessenskij schwankt es, allerdings nicht so heftig, wie jener bundesrepublikanische Ostexperte zu vermuten scheint, der Wosnessenskijs Werk in eine vom Reim her gelenkte kleinere und eine vom Akzent her bestimmte größere Gruppe zweiteilte. Hier liegt ein grobes Mißverständnis vor. Akzent und Reim sind – man denke zum Beispiel an Majakowskij – sehr wohl vereinbar. Auch Wosnessenskij versöhnt diese angeblichen Gegenpole. Sein Rhythmus glättet sich manchmal zum Metrum, wird dann wieder unsanft, vermag sogar ins nicht mehr Notierbare zu entweichen. Meistens hebt und senkt sich bei ihm die Zeile jedoch in ungleichmäßigen, aber nachweisbaren Abständen. Und fast immer steht am Ende der gleitenden oder zuckenden Zeile ein Reim, manchmal auch an deren Anfang. Nach Binnenreimen, seltener an lyrischen Akzentstellen, setzt Wosnessenskij die Zeile ab – und fördert dadurch ein weiteres Mißverständnis. Das Erscheinungsbild vieler seiner Texte scheint auf einen Abbau der Strophik hinzudeuten. Aber der Schein trügt. Die Strophik bleibt bestehen, mögen ihre Umrisse auch verrutschen.
Welchen Sinn hätte es, statt des ohnehin unübersetzbaren Binnenreims bloß den ihn im Original anzeigenden Zeilenbruch im Deutschen zu wiederholen? oder die Zäsur an Akzentstellen (obwohl der auf den russischen Lyrikhörer geeichte Akzent dem deutschen Lyrikleser überhaupt nichts sagt)? Freilich gibt es bei Wosnessenskij Texte, die man sowohl als Vierzeiler wie auch als Zweizeiler auffassen kann. Welche Auffassung die zweckmäßigere ist, muß von Fall zu Fall, durch eine genaue Analyse des Originals, ermittelt werden.
Ich habe mich bemüht, die deutsche Fassung möglichst übersichtlich zu setzen, und nur diejenigen Formsprünge belassen, die echt und gültig sind, die nicht mit der Faktur des Originals sterben – wenn nicht gar bloß mit seinem Flitter. Dort wo die Zeile wirklich aufbricht, wurde sie auch im Deutschen abgestuft: beispielsweise im ersten (an Majakowskij geschulten) Teil der „Abschweifung im Rock’n Roll-Rhythmus“.
Fragen der graphischen Gliederung eines Textes gehören bereits zu den Problemen der Übersetzung. Es gilt nun, deren Gesetzmäßigkeiten zu erörtern.
Grundsätzlich sei bemerkt: Die Klassiker der modernen russischen Poesie sind ohne radikale Veränderungen übertragbar, genauer: die poetische Struktur ihrer Gedichte läßt sich bewahren, sofern die syntaktische deformiert werden darf. Wobei unter poetischer Struktur nicht nur die Sphäre der Bilder verstanden wird, sondern vor allem auch: der Klang, der Rhythmus, das Metrum, die Strophik.
Der fruchtbarste deutsche Übersetzer moderner russischer Lyrik, Paul Celan, pflegt bei seiner Arbeit an Block, Jessenin und Mandelstam so zu verfahren, obwohl der Dichter Celan in einer ganz anderen Formenwelt lebt. (Das einzige Gegenbeispiel einer „celanisierten“ Übersetzung ist Jewtuschenkos „Babij Jar“.) Auch unsere Majakowskij-Übersetzer Dedecius, Huppert und Thoß haben die poetische Struktur der Originale stets respektiert. Darin zeigt sich eine Grundregel des Übersetzens. Ihr entgegengesetzt sind die Versuche, russischen Zeitgenossen eine westliche, eine modernere Form zu geben; was bisher freilich fast immer auf eine bloße Auflösung der vorliegenden Form hinauslief. (Es gibt auch das andere Extrem: Die Treue zum Original wird sklavisch und bewirkt dessen Verfälschung. Beispiel: Leschnitzers unfreiwillig parodistische Jewtuschenko-Übersetzungen.)
Die Klangmotorik à la Zwetajewa ist dagegen nicht adäquat ins Deutsche übertragbar. Bei der Übersetzung des „Liedes der Ophelia“ benützten Eckhart Schmidt und ich deshalb westliche Formen. Grundsätzlich lehnen wir aber eine derartige Assimilation ab. Erst wenn sich die Russen selber westlicher Lyrikformen bedienen werden, wird man sie so übersetzen dürfen. Wie sehr sich jedoch die russische Poesie vorerst dagegen noch sträubt, läßt sich gerade an Wosnessenskijs Lyrik ablesen. Die „Abschweifung für Stimme und Tamtam“ setzt freirhythmisch und reimlos ein, aber der Autor vermag das nicht durchzuhalten. Der Text verklanglicht sich fortschreitend immer mehr, sein Rhythmus wird metrisch. Schließlich mündet er in einen liedhaften Vierzeiler.
Respekt vor der Struktur bedeutet nicht, daß jedes Textstück an seinem Platz bleiben muß. übersetzt wird vielmehr aus dem Ganzen: nicht nur des Gedichts, auch des Gesamtwerks. Es ist erlaubt, Textstellen zu transplantieren. In den zerlegten Text wandert, bevor er sich wieder schließt, die ihn erst vollendende Wendung eines Vorläufers ein: als Ersatzteil, als Lösewort. Das der Original-Fassung oft eher aufgesetzte oder unterschobene als einverleibte Modell verhilft dem etwas zerstreuten Meisterschüler mittels des Übersetzers in der fremden Sprache zu größerer Straffheit. Manchmal steht ein bestimmtes Gedicht eines Lehrers Pate, im Russischen zögernd, im Deutschen resolut; an den undichten Stellen des Duplikats schimmert es durch; der Übersetzer schließt sie, indem er es durchpaust und ins Duplikat einwirkt. Pasternaks Moskaugedicht aus der „Zweiten Geburt“ ist solcherart das Patengedicht des „Neujahrsbriefs nach Warschau“.
Es muß aber nicht immer ein Einzeltext sein, auch nicht ein Zyklus, wie bei Opheliens Wanderung von Marina Zwetajewa zu Wosnessenskji. Selbst ganze Gattungen vermögen sich, vom Nachfahren aufgenommen, neu zu beleben. Wosnessenskijs „Ironisch-philosophische Abschweifung“ über Antiwelten reaktiviert die Versgroteske des jungen Sabolotzkij, die „Abschweifung in das Jahr 1719“ die Ballade des frühen Tidionow. Fast gegen den Willen des Übersetzers, und womöglich ohne Wissen des Autors, der andere Inspirationsquellen nennt, stellt sich dieses Gedicht auf jenen konvulsivischen Rhythmus ein, der, von geringeren Poeten zum Atem der Epoche typisiert, die sowjetischen „Twenties“ wohl noch bezwingender charakterisiert als Majakowskijs Rednerbaß, Jessenins Kantilene oder Pasternaks orphischer Kontrapunkt.
Nicht minder aufmerksam ist auf die Eigenarten der Sprache des Gastlandes zu achten. Respekt vor der poetischen Struktur des Originals bedeutet nicht, daß der Übersetzer den Bildungsstand, das Assoziations-Gefälle, die Metaphernwelt seiner Sprachheimat hintanstellen muß – von der Syntax ganz zu schweigen, die den deutschen Leser durch Wendigkeit mit der für sein Empfinden starren Versform versöhnen soll.
Der Grad der Einbürgerung variiert je nach Vorlage. Das Gedicht über die Antiwelten beispielsweise ist eine Satire – aber nicht auf spezifisch russische Zustände. Deshalb geht hier die Rettung der Tendenz vor der Bewahrung des Wortlauts. Buchhalter Bukaschkin könnte auch mit Engerling oder Käfermann übersetzt werden, doch der Name Würmeling ist für uns satirisch fündiger. – Als Russe verspeist der Buchhalter bloß Lollobrigidas. Da wir aber in Barbara Rütting eine deutsche Lollo besitzen, und auch deshalb, weil unsere Sexual-Renommisten nie im Singular lügen, erschien es angemessen, den in die volkskapitalistische Konsumsphäre versetzten Spießerdämon von beiden Damen zugleich tagträumen zu lassen. – In „Abschied vom Polytechnischen Museum“ wurde dagegen ein Eigenname aufgegeben: derjenige des sowjetischen Schriftstellers Lew Oschanin. Wosnessenskij setzt ihn in die kleingeschriebene Mehrzahl, behandelt ihn also als einen lästigen Typus, nicht als Person. Da ohnehin kein Mensch in Deutschland weiß, wer Oschanin ist, und da ihm erst recht niemand etwas nachträgt, hielten sich die Übersetzer für berechtigt, die Oschanins durch „Sonntagsdichter“ zu ersetzen. – In der „Ironisch-philosophischen Abschweifung“ lockte auch der Reim rittlings-Rüttings angesichts des deutschen Assonanzenmangels, der den Übersetzer vielfach zum Zurückgehen auf den veralteten und syntaktisch unergiebigen Vollreim nötigt. Der Reim verdirbt aber nicht nur, er kann auch heilen. In „Brand im Architektur-Institut“ braucht und gebraucht Wosnessenskij das Rokoko als Reimwort, zum Schaden der Genauigkeit, denn der ihm als einem Architekten so verhaßte stalinistische Tortenstil verkitscht weniger das Rokoko als das in Rußland stärker verbreitete Empire. Der deutsche Gleichklang Papier-Empire stellt diesen Sachverhalt wieder her. Die Übersetzung entdeckt nicht nur personale Ähnlichkeiten, sie ist auch imstande, gesellschaftliche Zusammenhänge bloßzulegen. Der große alte Dichter Nikolaj Assejew lobt in seiner Verteidigung Wosnessenskijs gegen konservative Mäkler (Literaturnaja Gaseta vom 3.8.1962) die rhythmische Phantasie von „Striptease“. Durch die Unterlegung eines Kaschemmentanzes von Anno dazumal werde, meint Assejew, die Wesensnähe des altrussischen und des neuamerikanischen Schaulasters deutlich gemacht und angeprangert. Der Übersetzer horcht hin und hört im Stakkato noch einen Marsch. Er begreift und entschlüsselt einen zweiten Zusammenhang: den von Kaschemme und Kaserne.
Die Übersetzung kann sich von der Vorlage distanzieren, sie durch einen Hinweis auf deren Abstammung verfremden. In Jewtuschenkos „Die Stadt besann sich vor den Feiertagen“ hat Eckhart Schmidt eine Parodie auf Goethe, den Stürmer, den Dränger, den Humanisten hineinmontiert, So fällt ein Blitzlicht beifälliger Ironie auf die Ahnentafel der Sowjetliteratur und ihres zweitjüngsten Wunderkinds. In den „Ersten Beatnikmonolog“ von Wosnessenskij sickerte ein Quentchen Eichendorff ein: als Firmazeichen des Helden. Der Beatnik entpuppt sich als Vulgärromantiker.
Wird hier ausgelegt – oder hineingelegt? Wo ist die Grenze der erlaubten Deutung? Wann wird Verfremdung zur Verfälschung, Änderung zur gutgemeinten Lüge?
Solche Zweifel sind besonders dann berechtigt, wenn es um direkte Aussagen, womöglich von politischer Relevanz, geht. Wie schnell ist die Anspielung zu einem Bekenntnis, das Bekenntnis zu einer Kriegserklärung aufgebauscht! Es liegt so nahe, bei den jungen Russen mehr als nur ästhetische Affinitäten zu suchen. Wosnessenskij – der ,Modernist‘, der ,Individualist‘, der ,Antikommunist‘ gar: welch steilansteigende Tugendkurve! Manche unserer Meinungsmacher gefallen sich darin, fremde Jungvögel mit ihren eigenen als kleidsam empfundenen Federn zu schmücken. Dieser Versuchung muß widerstanden werden. Nicht nur, weil der zum Regimefeind Zurechtgestutzte drüben Schaden nehmen könnte. Sondern auch, weil Selbstgefälligkeit nie aus der Enge heraus und höchstens in die Irre führt. Statt jeden Fremdling immer nur als Spiegel für die eigene Visage zu mißbrauchen, sollte man lieber in sein Gesicht blicken – und vielleicht auch ein wenig hindurch. Zwischen den Lidern gilt es zu lesen – nicht zwischen den Zeilen. Vielleicht steht dort etwas Neues geschrieben.
Das Amerikaerlebnis sollte man, so wichtig es war, nicht überschätzen. Zwar wurden Wosnessenskijs bisher reifsten Texte von der Reise durch die USA angeregt, zwar hat ihn dort Vieles fasziniert und Alles beeindruckt. Aber dieses Alles wird nicht vorbehaltlos akzeptiert. Einige der Abschweifungen sind sehr polemisch. Die „Unfreiwillige Abschweifung“ geißelt den Geheimdienst, „Striptease“ das Schaulaster, die „Abschweifung, in der man eine Frau schlägt“ die Zuhälterei. Auch unsere Konsumideale überzeugten den Dichter nicht.
Es wäre nicht nobel, Wosnessenskij zu unterstellen, diese polemischen Texte seien Dreingaben, um die ketzerischen auszubalancieren. Das Gleichgewicht ist aufrichtig – und exemplarisch. Wosnessenskij gehört zu der von unseren Ostexperten so genannten „legalen Opposition“. Er kämpft vorwiegend um die Freiheit des Ausdrucks. Jewtuschenko ist aggressiver – ganz zu schweigen von der „illegalen Opposition“ à la Phönix. In der „Abschweifung über Fußball“ brüstet und verulkt er sich zwar als Linksaußen. Aber der schießt zu übler Letzt ein Eigentor. Und in einem anderen, sonst nicht gerade zahmen Gedicht assoziiert er: Jugend-Phönix-Dummerchen.
Es geht eben nicht nur um Politik. Zuweilen schlummern die „Regierungen“ in „sorglosen Pärchen“ – wie in der „Architektonischen Abschweifung“ zu lesen steht. In der „Italienischen Garage“ blüht James Dean’sche Romantik auf. Die Vespajugend fährt auch durch Rußland – nicht in den Tod, aber in einen dekorativen Herbst hinein. Und hätte Wosnessenskij den Beatnik so sicher durchschaut, wenn es nicht auch in Moskau Beatniks gäbe?
Ost und West sind keine reinen Gegensätze mehr. Wosnessenskij spricht das nicht aus, aber er mischt die Mythen und die Bilder.

Alexander Kaempfe, Nachwort

 

Andrej Wosnessenskij,

geboren am 12. Mai 1933 in Moskau, ist Diplomarchitekt. 1958 erste Veröffentlichungen in Zeitschriften und Zeitungen. 1960 erschien, in zweifacher Redaktion, sein erster Gedichtband: unter dem Titel Parabel in Moskau, unter dem Titel Mosaik in der Provinzstadt Wladimir. 1962 folgten die Vierzig Abschweifungen vom Poem Dreieckige Birne, die Wosnessenskijs Ruhm begründeten.
Dieser Band, der Wosnessenskij zum ersten Mal dem deutschen Leser vorstellt, enthält eine Auswahl aus den bislang publizierten Gedichten des Autors; im Mittelpunkt stehen Verse aus den Vierzig Abschweifungen vom Poem Dreieckige Birne, aus jenem Buch also, das als die vorläufig wichtigste und bedeutendste Arbeit des Dichters gelten darf und seit der Veröffentlichung beträchtlichen Einfluß auf die jüngeren russischen Leser ausübt. Wosnessenskij gilt heute als der begabteste junge Lyriker Rußlands.

„Wosnessenskij liebt Rußland, aber er ist eigenwillig, zuweilen rebellisch. Seine Gedichte sind reich an überraschenden Bildern und Klängen, ihre Rhythmen gleichen denen von Jazzmelodien. Dichtung, so sagt er, bedeutet Aufbruch, Experiment.“
The Times Literary Supplement, 18.1.1963

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1963

 

Léon Robel im Gespräch mit Andrej Wosnessenski, Sinn und Form, Heft 6, 1972

 

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