Peter Goßens (Hrsg.): Angefügt, nahtlos, ans Heute

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Goßens (Hrsg.): Angefügt, nahtlos, ans Heute

Goßens (Hrsg.)-Angefügt, nahtlos, ans Heute

VARIATIONEN ÜBER NICHTS

Dies Nichts an Sand, das die stumme
Sanduhr durchrinnt und hingeht und sich setzt,
und jene Spuren, flüchtig, auf dem Inkarnat,
die Spuren einer Wolke auf dem Inkarnat, das
aaaaahinstirbt…

Dann eine Hand, die kehrt die Sanduhr um,
des Sandes Rückkehr zur Bewegung,
das Sich-zu-Silber-Fügen, stumm, der einen Wolke
beim ersten fahlen Aufzucken des Tags…

Die Hand im Schatten kippt’ die Sanduhr um,
und jenes Nichts an Sand, das still
hindurchrinnt, es ist alles, was man fortan hört,
und, da’s gehört wird, geht es nicht ins Dunkel ein.

Giuseppe Ungaretti übersetzt von Paul Celan

 

 

 

Nachwort

Auf dem Titelbild der Übersetzung von Giuseppe Ungarettis späten Gedichtzyklen La terra promessa (1950) und Il taccuino del vecchio (1960) durch Paul Celan sind die beiden Dichter in zwei Photographien nebeneinander abgebildet. Sie scheinen, aus dem Dunkel kommend, den Blick auf den Leser zu richten: Ungaretti hat den Kopf leicht nach rechts gewandt und schaut den Leser von der Seite an. Paul Celan dagegen schenkt dem Betrachter mit eindringlichem, aber freundlichem Blick seine Aufmerksamkeit. Über diesen beiden Portraits findet sich der vollständige Titel der Übersetzung:

Giuseppe Ungaretti
Das verheißene Land
Das Merkbuch des Alten
Zweisprachige Ausgabe
Deutsch von Paul Celan
Insel Verlag

Mit den beiden Portraits und der Betonung der Zweisprachigkeit im Titel wird dem Leser nahegelegt, die Übersetzungen auf den folgenden Seiten auch als Dokument der Begegnung zweier Dichter, als Zeugnis ihrer sprachlichen wie poetologischen Gemeinsamkeiten und Differenzen zu lesen. Celans übersetzerische Auseinandersetzung mit Ungaretti ist ein ‚Gespräch‘, das der gleichen „im Geheimnis der Begegnung“ stehenden Offenheit und Aufmerksamkeit unterliegt, die auch der Ausgangspunkt seiner eigenen Lyrik ist. Doch trotz dieser Nähe zur eigenen Dichtung nimmt die Übersetzung der Ungaretti-Gedichte im Gesamtwerk Paul Celans einen besonderen Platz ein. Das Zusammentreffen dieser beiden Lyriker ist ein außergewöhnliches Ereignis, denn Ungaretti wie Celan galten der zeitgenössischen Kritik als wichtigste lebende Vertreter einer hermetischen, dunklen und damit vorgeblich unverständlichen Lyrik. Allerdings haben beide die Verstehbarkeit und luzide Klarheit ihres Dichtens immer betont und dies in ihren Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre mit wachsender Radikalität unter Beweis gestellt. Zugleich hatten beide Lyriker einen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung des modernen lyrischen Sprechens in ihren Muttersprachen.

Peter Goßens, Aus dem Nachwort

 

„Die Fragilität der Dinge,

die Bedrohtheit der Existenz und, als ihr Begrenzendes, das Unermeßliche, aus dem Alles aufsteigt, flüchtig aufglänzt, in dem es wieder versinkt – das ist die Erfahrung, aus der heraus Ungaretti nach dem Ersten Weltkrieg zu dichten begonnen hat. Sie ist der Grundriß seines Dichtens geblieben.“ Mit dieser Ankündigung erschien 1968 Paul Celans Übersetzung von Giuseppe Ungarettis La terra promessa (1950) und Il taccuino del vecchio (1960) in einer zweisprachigen Ausgabe im Insel Verlag.
Nach Ingeborg Bachmanns nur wenige Jahre älterer Übersetzung (1961) trug Paul Celans Engagement entscheidend zur besonderen Stellung Giuseppe Ungarettis in Deutschland bei. Celans Übertragung ist in Ungarettis Werk auf besondere Weise eingegangen. In die Originalausgaben der Zyklen hat er, mit Ausnahme weniger eigenständiger Seiten, seine Übersetzung hineingeschrieben, den gedruckten Text mit seiner handschriftlichen Arbeit unmittelbar konfrontiert.
Die Entstehung der Übertragung, die „tangentiale“ Berührung von Übersetzung und Original, wird in der neuen Ausgabe vollständig als Faksimile abgebildet. Den Faksimiles folgen Celans Übertragung nach dem Text der Erstausgabe, sein Briefwechsel mit der Lektorin des Insel Verlages, Anneliese Botond, die ganz unterschiedlich akzentuierten Pressestimmen und ein Nachwort, in dem die Geschichte der Übertragung dokumentiert und Celans Übersetzungskonzept analysiert und bewertet wird.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2006

 

Härten und Spannungen

– Lyrik mit Kultwert: Paul Celan übersetzt Giuseppe Ungaretti. –

Die deutsche Literatur ist reich an Übersetzungen, die um der sprachschöpferischen und dichterischen Leistung des Übersetzers und nicht primär um des übersetzten Werkes willen gelesen werden. Wer Goethes Benvenuto Cellini, Humboldts Aischylos, Georges Baudelaire oder Borchardts Dante liest, tut dies nicht, um Cellini, Aischylos, Baudelaire oder Dante, sondern um ein Werk Goethes, Humboldts, Georges oder Borchardts kennenzulernen, das jenseits aller Fragen nach der übersetzerischen Zuverlässigkeit oder Überholtheit als Werk der Poesie Bestand hat.
In die Reihe dieser Übersetzungen gehört auch Paul Celans Ungaretti. Es ist dies tatsächlich Celans Ungaretti: ein Werk, in dem der Übersetzer dem Dichter auf Augenhöhe begegnen will. Auf den Schutzumschlag der 1968 erschienenen zweisprachigen Erstausgabe von Celans Ungaretti-Übersetzungen ließ der Insel Verlag die Porträts von Dichter und Übersetzer in gleicher Größe und deren Namen in gleicher Typographie drucken. Wem es darum zu tun ist, das Werk Giuseppe Ungarettis (1888 bis 1970), des wohl größten italienischen Lyrikers im zwanzigsten Jahrhundert, kennenzulernen, der ist deshalb gut beraten, Celans Übertragungen erst einmal für geraume Zeit beiseite zu legen und auf andere Übersetzungen zurückzugreifen.
Celan entschloß sich im August 1967 erst nach langem Zögern dazu, die ihm von Anneliese Botond, der Lektorin des Insel Verlages, angetragene Übersetzung von Ungarettis schmalen späten Gedichtbänden La terra promessa (Das verheißene Land, 1950) und Il taccuino del vecchio (Das Notizbuch des Alten, 1960; bei Celan Das Merkbuch des Alten) zu übernehmen: kristallklaren poetischen Konzentraten der Erinnerung, in denen das verheißene Land – das Land des Dichters: Vergil, der klagenden Dido, der der Dichter einen bewegenden Zyklus von neunzehn Chören widmet, des Äneas, der seine geschichtliche Bestimmung zu erfüllen hat – in seiner Unerreichbarkeit nur im Medium der Erinnerung als der poetischen Einbildungskraft des „Alten“ vergegenwärtigt werden kann.
Ungarettis Meisterschaft zeigt sich in seinen späten Gedichten darin, wie sich äußerste Verdichtung der Aussage – der letzte von Didos Chören umfaßt nur zwei Verse – mit einer Klarheit und Transparenz der Sprache verbindet, die jeden Leser daran zweifeln lassen, es habe das Werk dieses Dichters jemals als der Inbegriff hermetischer Poesie gegolten. Vielleicht war es dies, was Celan, der sich selbst gegen den Hermetismusvorwurf zur Wehr zu setzen hatte, dazu bewog, diese späten Gedichte zu übersetzen, während Ingeborg Bachmann 1961 noch Ungarettis lyrisches Frühwerk übertragen hatte. Zu den großen Überraschungen dieser späten Lyrik gehört überdies, wie Ungaretti, der einst die Erneuerung der italienischen Dichtersprache durch den Bruch mit der rhetorischen Tradition und die Konzentration auf das dichterische Wort eingeleitet hatte, zu überlieferten Formen wie der Canzone und selbst der Sestine (mit dem „Rezitativ des Palinurus“, das in Celans Übersetzung freilich nur von ferne noch an eine Sestine erinnert) zurückfand.
Es ist also begreiflich, daß Celan gezögert hat, sich dieser übersetzerischen Herausforderung zu stellen – zumal er sich mit italienischer Literatur allenfalls am Rande beschäftigt hat und „des Italienischen nur begrenzt mächtig war“ (wie es 1997 in dem Katalog zu der richtungweisenden Marbacher Ausstellung über Celan als Übersetzer heißt). Es ist deshalb auch nicht ganz einfach, den Ort der Ungaretti-Übertragung in Celans übersetzerischem Werk zu bestimmen; um es im Deutsch der Celan-Philologie zu sagen: „Auf merkwürdige Weise bleibt die topographische Lage der Übersetzung auf dem Meridian des Gesamtwerkes indifferent.“ So Peter Goßens, der sicher beste Kenner von Celans Ungaretti-Übersetzungen, im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen aufwendigen Neuausgabe der Übertragungen.
Deren Herzstück bildet das Faksimile von Celans Handexemplaren der beiden Bücher Ungarettis, in denen Celan unter den gedruckten Text jeweils seine Übersetzungen geschrieben hat, und weiterer Manuskriptblätter der Übertragung. Man betrachtet diese Zeugnisse für Celans Arbeitsweise, von denen mehrere – dort freilich besser lesbar – bereits im Marbacher Katalog abgebildet waren, mit Ehrfurcht, aber doch auch ein wenig ratlos, weil Celans Handschrift, ihrer prinzipiell guten Lesbarkeit zum Trotz, im Einheitsgrau der Reproduktionen so verschwimmt, daß der Kultwert dieser fotografischen Nachbildungen ihren philologischen Wert beträchtlich übersteigt. Immerhin gewinnt der Leser einen guten Eindruck von Celans übersetzerischem Arbeitsverfahren und hat im übrigen Gelegenheit, sich an der wunderbaren Typographie der italienischen Originalausgaben von Ungarettis Gedichten zu erfreuen, in denen die Gedichte auf großzügig eingerichteten Seiten sich frei entfalten und atmen können, während Celans Übertragung der beiden Zyklen in diesem Neudruck auf 32 Seiten brutal zusammengestopft wird. Es ist ein Graus.
In dem schmalen Briefwechsel Celans mit Anneliese Botond über die Übertragung, der hier zum ersten Mal erscheint, findet sich die einzige wichtige Äußerung Celans zu seiner übersetzerischen Intention im Falle Ungarettis: „Ich habe mich vor allem darum bemüht, die Härten und Spannungen zu wahren, aus denen das Original lebt.“ Faktisch hat er diese Härten und Spannungen im Sinne seiner eigenen Poetik verstärkt. Die Reaktion der Kritik war denn auch, bei aller Anerkennung von Celans Versuch, „etwas Poetisch-Adäquates schaffen“ zu wollen (so Horst Bienek am 22. März 1969 in dieser Zeitung), vorwiegend negativ, zum Teil sogar, wie im Falle Alice Vollenweiders, heftig ablehnend: „falsches Pathos“, „Manierismen“, „stilistische Mätzchen“, „stilistische Marotte“, „stilistischer Tick“, „preziös“, „monströs“, „pathetisch aufgeputzt“, um nur eine Auswahl aus Vollenweiders kritischem Repertoire zu geben. Es können nicht die schlechtesten Zeiten gewesen sein, in denen so erbittert um die Übersetzung großer Poesie gestritten wurde.
Es war eine kluge Entscheidung des Herausgebers, die zeitgenössischen Rezensionen vollständig abzudrucken. Man liest sie heute mit Respekt vor der Genauigkeit der übersetzungskritischen Lektüre und dem poetischen Sachverstand der Kritiker und stimmt im übrigen dem souveränen Urteil von Werner Ross zu, der zwar einerseits angesichts von Celans „hingeworfenen Rätselwendungen“ konstatieren muß: „Da hilft auch das heftigste Nachdenken nichts“, andererseits aber doch auch mit Bewunderung den hohen poetischen Gewinn bilanziert, der aus dem Kräftemessen zweier großer Dichter erwuchs: „Stücke, die Ungaretti nicht verraten und doch Celan geworden sind.“
Diese Rezensionen gewähren auch eine angenehme Erinnerung daran, mit welcher Entspanntheit sich über das dichterische und übersetzerische Werk Celans in den Zeiten vor dessen Kanonisierung urteilen ließ, mit der in die Celan-Philologie der hohe Ton einzog. Von dem ist auch das Nachwort des gescheiten Herausgebers nicht frei, der eine große Vorliebe für den Begriff des Existentiellen hat: „Während es Ungaretti in erster Linie um eine Aktualisierung mythisch-topischer Darstellungsformen geht, transformiert Celan das Gedicht in eine existentielle Ebene und macht es mit sich selbst identisch.“ Das ist der affirmative Ton, der an der Celan-Philologie so oft irritiert. Denn will Peter Goßens im Ernste damit sagen, Ungarettis Gedicht sei vor seiner Übertragung durch Celan nicht „mit sich selbst identisch“ gewesen? Vermutlich aber will er gar nichts anderes ausdrücken als das, was er am Ende seines langen Nachworts so formuliert: Paul Celan habe, indem er „die Strukturen seines Sprechens auch in der Übersetzung geltend“ machte, das „Original“ „in eine andere Existenz übertragen“ – in seine eigene nämlich. Das freilich hatten, auf erfrischend unwirsche Weise allerdings, bereits Celans zeitgenössische Kritiker konstatiert.

Ernst Osterkamp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.2006

Über die Abgründe der Sprachen hinweg

– Paul Celans Ungaretti-Übersetzungen. –

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hat Paul Celan mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das Gedicht im „Geheimnis der Begegnung“ steht. Dies galt nicht allein für seine eigene Lyrik, sondern in besonderem Maße für die von ihm übertragene. Spätestens seit der großen Marbacher Ausstellung Fremde Nähe im Jahr 1997 ist es kein Geheimnis mehr, dass Celan zugleich auch ein bedeutender Übersetzer war. In seinem Gesamtwerk nehmen die Übertragungen aus sieben Sprachen fast ebenso viel Raum ein wie seine eigenen Dichtungen. Vor allem aus dem Französischen hat der in Paris lebende Dichter viel übersetzt, nicht nur zeitgenössische Autoren wie René Char und Henri Michaux, sondern auch moderne Klassiker wie Arthur Rimbauds „Trunkenes Schiff“ und Paul Valérys Die junge Parze. Von besonderer Bedeutung für Celan selbst, waren seine Übertragungen aus dem Russischen (Block, Mandelstamm, Jessenin), die zwischen 1958 und 1961 im S. Fischer Verlag erschienen. In seinen Übersetzungen stellte er das Dialogische seines Dichtens unter Beweis.
Celans Verhältnis zur italienischen Literatur war dagegen nicht besonders intensiv. In seinem Nachlass finden sich kaum Hinweise auf Italien und die italienische Literatur. Dennoch äußerte er im Herbst 1967 den Wunsch, die zwei späten Gedichtzyklen La terra promessa / Das verheißene Land und Il taccuino del vecchio/ Das Merkbuch des Alten des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti für den Insel Verlag zu übersetzen. Eine ungewöhnliche Entscheidung für einen Dichter, dessen Italienischkenntnisse bei aller Sprachkompetenz alles andere als perfekt waren. Seine Lektorin Anneliese Botond bat er jedenfalls vor Beginn der Übertragung, ihm „für die Dauer der Übersetzung ein gutes italienisch-deutsches Wörterbuch und, wenn möglich, eine italienische Grammatik in deutscher Sprache“ zu besorgen.

Dass es Celans einzige Übertragung aus dem Italienischen blieb, und dass er das Risiko nicht scheute, zeugt allerdings davon, wie wichtig es ihm war, gerade diesen Autor zu übersetzen, dessen Lyrik wie die seine als „hermetisch“ galt. Denn riskant war die im Oktober 1967 begonnene und im April 1968 abgeschlossene Übersetzungsarbeit für Celan allemal, weil er diesmal kein übersetzerisches Neuland betrat. Ungaretti galt als der bedeutendste italienische Lyriker der Gegenwart, und viele Übersetzer hatten sich schon vor Celan darum bemüht, Gedichte des als nobelpreiswürdig gehandelten Dichters ins Deutsche zu übertragen. Otto von Taube, Victor Wittkowsk und Michael Marschall von Bieberstein gehörten ebenso dazu wie Hilde Domin und Heinz Piontek. Vor allem aber Ingeborg Bachmann war es gewesen, die mit ihrer 1961 im Suhrkamp Verlag erschienenen Gedichtauswahl Pionierarbeit geleistet und entscheidenden Einfluss auf die Rezeption Ungarettis in Deutschland genommen hatte. In ihrer Auswahl wandte sie sich vor allem dem Frühwerk Ungarettis zu, übersetzte etwa den bedeutenden Gedichtzyklus L’Allegria, bemühte sich aber auch mit weiteren Gedichten aus dem mittleren und späten Werk des Italieners, die Entwicklung seiner Dichtung zu dokumentieren. Aus dem Spätwerk hatte sie lediglich drei Gedichte übersetzt, die dem Leser die poetische Wende des Dichters vor Augen führen und gleichzeitig einen visionären Ausblick ermöglichen sollten.
Es dürfte daher kein Zufall sein, dass Celan für seine Ungaretti-Übertragungen gerade zwei inhaltlich zusammenhängende Gedichtbände aus dem Spätwerk wählte, die er vollständig übersetzte. Er schloss damit an Bachmanns Auswahl an und verringerte so die Gefahr, dass sich die Rezensenten mehr für den Vergleich der Übertragungen als für die Dichtung Ungarettis interessierten.
Peter Goßens hat allerdings in seinem vorbildlichen Nachwort zeigen können, dass Celans Wahl vor allem poetische Gründe hatte, und er das Original „nicht nur in eine andere Sprache, eine andere Kultur, sondern vor allem in eine andere Gegenwart und in eine andere Existenz“ übertrug. Celans Begegnung mit Ungaretti findet im Text statt. Der Titel des Buches, Agglutinati all’oggi / Angefügt, nahtlos, ans Heute, ist daher trefflich gewählt, denn er beschreibt, was Celan mit seiner Übertragung zu leisten versuchte. „Denn die Sprachen, so sehr sie einander zu entsprechen scheinen, sind verschieden – geschieden durch Abgründe“, schreibt Celan in einem Brief an Werner Weber:

Ja, das Gedicht, das übertragene Gedicht muß, wenn es in der zweiten Sprache noch einmal dasein will, dieses Anders- und Verschiedenseins, dieses Geschiedenseins eingedenk bleiben.

Es gehört zu den Verdiensten der von Goßens herausgegebenen Ausgabe, dass sie dem Leser den Übersetzungsprozess Celans anschaulich vor Augen führt. Überhaupt merkt man der Publikation an, dass der Herausgeber in Sachen Celans Ungaretti-Übertragung aus dem vollen Schöpfen konnte. Schon in seiner Dissertation hatte Goßens vor einigen Jahren eine Modelledition für Celans Übertragungen im Allgemeinen und die Ungaretti-Texte im Besonderen vorgelegt. Dabei hatte er auch auf Dokumente und Faksimiles zurückgegriffen. Die vorliegende Ausgabe will und kann diesen philologischen Anspruch nicht erheben, was man allerdings gelegentlich bedauert. Am schmerzlichsten dort, wo der Leser zwar eine Besonderheit der Celan’schen Übersetzungstechnik gezeigt bekommt, indem ihm die Seiten der originalsprachlichen Ungaretti-Bände – die Celan benutzte, um seine erste Übersetzung einzutragen – als Faksimile geboten werden, er die Abbildungen mit Celans Handschrift aber teilweise schlecht lesen kann. Eine Transkription der Handschrift wird hier schmerzlich vermisst, gerade weil der Herausgeber zu Recht anmerkt, dass der Erstdruck der Übersetzung bei Celan nur den abschließenden Teil eines Prozesses bildet, „dessen wichtigste Stufen in der vorliegenden Faksimile-Ausgabe versammelt sind“. Vielleicht hätte man dafür auf einige Briefe der Korrespondenz zwischen Celan und seiner Lektorin Anneliese Botond verzichten und die Historie der Übersetzung mit wenigen Sätzen im Nachwort darstellen können. Denn der Briefwechsel enthält wenig Substantielles zu Celans Übertragung, weil sich die Lektorin – trotz Celans Nachfrage – um eine Stellungnahme drückt. Als Celan ihr im Februar 1968 schreibt: „Ich habe mich vor allem darum bemüht, die Härten und Spannungen zu wahren, aus denen das Original lebt. Hoffentlich habe ich Ihre Erwartungen nicht enttäuscht“, bleibt er ohne eindeutige Antwort.
Celans Theorie des Übersetzens, die Goßens in seinem Nachwort klar und präzise herausarbeitet, teilten nicht viele Zeitgenossen. Über das Übertragen von Gedichten notierte sich Celan einmal: „es geschieht über die Abgründe der Sprachen hinweg: das Einende ist der Sprung. – Solcher Sprung ist Glück und Gelingen“. Die Rezensenten seiner Ungaretti-Übertragung – neun Rezensionen sind dankenswerterweise in dem Band mit abgedruckt −, konnten zumeist den gelungenen „Sprung“ nicht entdecken. Horst Bienek etwa sah bei Celan die Intention, „die eigene Sprachwelt dem Original überzustülpen“. Auch Alice Vollenweider tadelte energisch, „daß Celan Ungaretti nicht verraten hat, um eigene Gedichte zu schreiben, sondern ihn so radikal mißverstand“. Moderatere Töne stimmte dagegen Karl Krolow an:

Allein das Aufeinandertreffen von Ungaretti und Celan ist ein Vorgang der erheblichen literarischen Genuß verschafft: der sprachliche Reiz ist so groß, daß es sekundär bleibt, über Grenzen der Übersetzung im einzelnen (die vorhanden sind) zu rechten.

Ungaretti jedenfalls bedankte sich im Februar 1969 sehr herzlich für die Übertragung. In Celans Handexemplar von Il taccuino del vecchio schrieb er die persönliche Widmung:

Lieber Celan, dieses Buch, das noch keine sehr lange Karriere hinter sich hat, hatte das Glück Ihrer überragenden Interpretation, die eine der größten und die ehrenvollste ist, auf die ich hoffen konnte.

Joachim Seng, literaturkritik.de, Juli 2006

 

 

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Theo Buck: Exkurs: Celan als Übersetzer

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Nachrufe auf Paul Celan: Neue Literatur ✝︎ NZN



Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.

 

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Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
Nachruf auf Giuseppe Ungaretti: Tat

 

Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.

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