ZWISCHEN POETISCHER INTERAKTION UND KONVENTIONALISIERUNG: ZUR THEORIE DER LYRIKÜBERSETZUNG NACH 1945
Im 20. Jahrhundert bildet sich in Theorie und Praxis eine neue Auffassung der Lyrikübersetzung als literarischer Text heraus. Der neue Status der Übersetzung als eigenständiges, wenn auch in vielfältiger Weise auf den Ausgangstext bezogenes Kunstwerk eröffnet eine veränderte, von der historisch geprägten Dichotomie zwischen Treue oder Freiheit losgelöste Perspektive, die im folgenden Kapitel nachvollzogen werden soll. Die Absage an tradierte Übersetzungsideale wird durch die Erkenntnis motiviert, dass die normativen, am Primat von Ausgangs- oder Zielsprache ausgerichteten Konzepte epochengeschichtlich gebunden sind (Kap. 1.4.1). In diesem Sinne charakterisiert der französische Lyriker, Linguist und Übersetzer Henri Meschonnic das neue Übersetzungsverständnis:
Au XXe siècle, la traduction se transforme. Elle passe peu à peu de la langue au discours, au texte comme unité. […] Elle découvre qu’une traduction d’un texte littéraire doit fonctionner comme un texte littéraire, par sa prosodie, son rythme, sa signifiance, comme une des formes de l’individuation, comme un forme-sujet. Ce qui déplace radicalement les préceptes de transparence et de fidelité.1
Von normativen Zwängen befreit, rückt der produktive Eigenanteil des Übersetzers mit seiner jeweiligen sprachlich-kulturellen Prägung in den Blick. In diesem Zusammenhang ist die Praxis der poètes traducteurs von besonderem Interesse, da diese ihre eigenen ästhetischen Affinitäten und individuellen Schreibstrategien beim Übersetzen fruchtbar machen. Das übersetzte Gedicht wird dabei als individuelle Lesart des Ausgangstexts verstanden und damit als eine spezifische Antwort auf das Original. In der Übersetzung manifestiert sich demnach nicht nur eine Wechselwirkung zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen, sondern auch zwischen Autor- und Übersetzerpoetik. In diesem Sinne lässt sich in der Übersetzung eine interlinguale Relation zwischen Ausgangs- und Zielsprache erkennen, aber auch eine intertextuelle Relation zwischen Original und Übersetzung (Kap. 1.4.2).
Das Phänomen der produktiven Wechselwirkung zwischen Ausgangs- und Zieltext bezeichnet Henri Meschonnic als „interaction poétique“, ein Begriff, den er in Abgrenzung vom Übersetzungsideal der Transparenz wie folgt definiert:
On lui [i.e. la notion de transparence] oppose la traduction comme réénonciation specifique d’un sujet historique, interaction de deux poètiques, décentrement, le dedans-dehors d’une langue et des textualisations dans cette langue.2
Im Anschluss an Meschonnics Konzept wird im Folgenden der Begriff „poetische Interaktion“ verwendet.3 Um sich diesem Phänomen anzunähern, kombiniert das vorliegende Kapitel eine historische und eine methodologische Perspektive. Zum einen wird die schrittweise Abkehr von tradierten Übersetzungsnormen in den sechziger Jahren erläutert. Dabei steht die zeitliche Koinzidenz zwischen der Neuorientierung der Übersetzungstheorie und der dialogisch ausgerichteten Praxis von poètes traducteurs wie Paul Celan oder Ludwig Harig im Vordergrund. Anschließend werden verschiedene Positionen der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert, die die Lyrikübersetzung als dialogisch konzipiertes Medium einstufen. Damit soll das methodische Instrumentarium bereitgelegt werden, das in den textspezifischen Analysen der französisch-deutschen Lyrikübersetzungen in den Kapiteln 3 bis 5 der vorliegenden Studie zur Anwendung kommt. Im Zentrum dieser Analysen stehen Beispiele aus den Übersetzungen, die Kemp, Celan, Harig und Braun aus dem Werk von Lyrikern wie Supervielle, Char, Michaux, Bonnefoy, Queneau und Lance angefertigt haben.
Die Abkehr von normativen Übersetzungsidealen seit den sechziger Jahren
Der erste Schritt zu einer Neubewertung des Übersetzungsvorgangs besteht in der Reflexion der Kontextgebundenheit der tradierten Normen, die sich in der Praxis der Belles Infidèles einerseits und im Konzept der Sprachverfremdung um 1800 andererseits idealtypisch herausgebildet haben. Die von Schleiermacher formulierte Grundopposition, nach der entweder der Schriftsteller dem Leser oder der Leser dem Schriftsteller angenähert werden solle, verliert in dem Maß an Relevanz, in dem das kreative Potential des Übersetzers in den Blick rückt und das Streben nach Normierung einer als Kunstform erkannten Tätigkeit abnimmt.4 Diese Neuperspektivierung vollzieht sich jedoch nicht linear. Noch 1965 behauptet der Romanist Hugo Friedrich in seiner Schrift Zur Frage der Übersetzungskunst, in der er sich kritisch mit Rainer Maria Rilkes Übersetzung des „Sonnet IV“ von Louise Labé auseinandersetzt, eine ungebrochene Gültigkeit der um 1800 entstandenen Übersetzungskonzepte. Gleichzeitig konstatiert er, dass sich die zeitgenössischen Übersetzer offensichtlich nicht mehr an diesem Ideal orientieren:
Forderungen wie diejenigen Schleiermachers und Humboldts werden nun aus keiner neueren und neuesten Theorie der Übersetzungskunst mehr weichen. Freilich, die Praxis des neueren und neuesten Übersetzens befolgt sie nur selten, selten auch dann, wenn die Übersetzer bedeutende Dichter sind.5
Friedrich stellt sich hier gegen die Praxis der poètes traducteurs und damit auch gegen Rilkes Verfahren, ohne auf dessen Übersetzungspoetik einzugehen.6 In diesem Zusammenhang fordert Friedrich sogar, der „Begriff der Übersetzungskunst [müsse] literarästhetisch geschützt“7 werden, um Übersetzungen, die den tradierten Anforderungen nicht entsprechen, aus dem Forschungsfeld auszuschließen. Dagegen hat Dieter Lamping zu Recht eingewandt,8 „Kunst, auch Übersetzungskunst, [lasse] sich nicht ,literarästhetisch‘ schützen […]. Denn das wäre vermutlich das Ende poetischer Freiheit und ästhetischer Vielfalt.“9 Um sich den vielgestaltigen Strategien der Lyrikübersetzung im 20. Jahrhundert anzunähern, reicht es Lamping zufolge nicht aus, auf programmatischen Forderungen zu insistieren, die [von Friedrich aus gesehen, A. S.] in einem spezifischen, 150 Jahre zurückliegenden literar- und sprachhistorischen Kontext entstanden sind. In Bezug auf Friedrichs Kritik an Rilkes Übersetzungen betont er:
Die Berufung auf [Schleiermachers und Humboldts] Entwürfe hat die Entwicklung anderer Blickwinkel verhindert, die auch und gerade für moderne Übertragungen und für die Rilkes fruchtbar sein könnten.10
Tatsächlich hatte zum Zeitpunkt von Friedrichs Forderung bereits ein Umdenken eingesetzt. Schon 1963 charakterisiert Fritz Güttinger die literarische Übersetzung als eine individuelle „geistige Auseinandersetzung“11 des Übersetzers mit dem Ausgangstext. Dabei lenkt er den Blick vom Sprachtransfer hin auf das Gestaltungspotential des Übersetzers:
Die Übersetzungen sind verschieden, weil die Übersetzer es sind. Übersetzen heißt sich mit einem Text auseinandersetzen, und das Ergebnis […] ist nicht mehr das Werk, sondern das Werk in einer bestimmten Sicht. Es kann deshalb etwas wie eine Einfürallemal-Übersetzung gar nicht geben […]. Das Übersetzen ist nicht die rein sprachliche Angelegenheit, als die es gemeinhin […] angesehen wird.12
Auch in den Reflexionen der Übersetzer wird der Übersetzungsvorgang nicht allein als Transfer zwischen Ausgangs- und Zielsprache begriffen. So heißt es in einem Brief von Paul Celan an Adolph Hofmann vom 18. Mai 1960:
Uebersetzen – das bedeutet einen langen Umgang mit dem zu Uebersetzenden, mit dessen Sprache überhaupt und mit dessen Sprache im besonderen, d.h. im Gedicht.13
Celan grenzt hier zwei konstitutive Dimensionen des poetischen Ausdrucks voneinander ab: Auf der einen Seite wurzelt der Ausgangstext in einem bestimmten sprachlichen System; auf der anderen Seite wird er von den individuellen poetischen Strategien des Verfassers geprägt. Die Aufmerksamkeit des Übersetzers darf sich Celan zufolge nicht allein auf das Verhältnis zwischen den Sprachen richten, sondern muss sich auch gegenüber dem individuellen poetischen Duktus des Ausgangstexts positionieren. Die Umsetzung dieser doppelten Perspektive kann, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, nur eine einzelfallspezifische sein.
Lyrikübersetzung als poetische Interaktion
Die Auffassung von der literarischen Übersetzung als einer poetischen Interaktion zwischen Ausgangs- und Zieltext bildet sich im Rahmen der Kontroverse zur Übersetzbarkeit von Lyrik heraus. So begründet Roman Jakobson in seinen Essais de linguistique générale (1963), warum er lyrische Texte prinzipiell für unübersetzbar hält:
En poésie, les équations verbales sont promues au rang de principe constructif du texte. [La] paronomase règne sur l’art poétique, que cette domination soit absolue ou limitée, la poésie par définition, est intraduisible. Seule est possible la transposition créatrice.14
Stuft Jakobson Wortspiele und Gleichklänge als textkonstitutive Elemente der Lyrik ein, so hält er ihre Übersetzung für unmöglich und erkennt allein in der „transposition créatrice“ ein legitimes Medium der Vermittlung.
Um die von Jakobson thematisierte ,kreative Transposition‘ nicht ins Belieben des jeweiligen Übersetzers zu stellen, fordert Henri Meschonnic eine ,Poetik der Lyrikübersetzung‘:
Cette transposition est laissée à la mythologie de la création subjective. C’est elle justement qu’il s’impose de théoriser et questionner en retour cette définition de la traduction qui laisserait tout ce qui est ,poésie‘ hors de son champ.15
Ein erster Schritt in Meschonnics Konzeption besteht in der Suspension der tradierten Normen von Treue und Freiheit sowie in der Abkehr von der interlingualen Sichtweise auf den Übersetzungsvorgang. Sein eigenes Übersetzungsverständnis liegt weniger in einer interlingual als in einer intertextuell ausgerichteten Perspektive begründet.16 Mit dieser Statusbestimmung der Übersetzung schärft Meschonnic den Blick für die je individuelle Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik und ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext. Entsprechend erkennt er in der Übersetzung eine „réénonciation spécifique d’un sujet historique“,17 deren Voraussetzung in der Reflexion der sprachlichen und kulturellen Distanz zwischen Original und Übersetzung besteht. In Abgrenzung von „ethnozentrischen“18 Betrachtungsweisen, die den zielsprachlichen Kontext zum gültigen Maßstab nehmen, favorisiert Meschonnic eine dezentrierte Perspektive, in der weder dem heimischen noch dem fremden kulturellen Horizont ein Primat zugestanden wird. Vielmehr geht es ihm um die Markierung der Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext:
Le décentrement est un rapport textuel entre deux textes dans deux languescultures jusque dans la structure linguistique de la langue, cette structure linguistique étant valeur dans le système du texte. L’annexion est l’effacement de ce rapport, l’illusion du naturel, le comme-si, comme si un texte en langue de départ était écrit en langue d’arrivée, abstraction faite des différences de culture, d’époque, de structure linguistique. Un texte est à distance: on la montre, ou on la cache. Ni importer, ni exporter.19
Eine gelungene Übersetzung versteht Meschonnic demzufolge als eine „contradiction tenue“,20 d.h. als unaufgelösten, ausgehaltenen Widerspruch zwischen den spezifischen kulturellen Kontexten, zwischen Ausgangs- und Zielsprache sowie zwischen Autor- und Übersetzerpoetik. Die poetische Interaktion, so Meschonnic, soll den spezifischen Status der Übersetzung ins Bewusstsein bringen, anstatt ihn zu verschleiern.
Meschonnics Konzept, das die Übersetzung als Relation zwischen zwei literarischen Texten fokussiert, ist seit den achtziger Jahren von zahlreichen Übersetzungswissenschaftlern und Komparatisten im frankophonen und im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und weitergeführt worden. Während Meschonnic selbst den von Julia Kristeva geprägten Terminus „intertextualité“ im Rahmen seiner Übersetzungstheorie vermeidet,21 wird er von anderen Forschern explizit auf das Phänomen Übersetzung angewandt. So begreift Werner von Koppenfels das ebenso konflikthafte wie produktive Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext als „Spielform von Intertextualität“,22 die sich in einem sprachliche und kulturelle Grenzen reflektierenden literarischen Prozess manifestiert:
Die ästhetisch fruchtbare Spannung zur Fremdvorlage, die als Charakteristikum von Intertextualität schlechthin zu gelten hat, ist im janushaften Status der literarischen Übersetzung exemplarisch ausgebildet: Sie ist Reproduktion und Produktion zugleich, kritische Analyse und poetische Synthese, orientiert sich am fremden wie am eigenen Sprachsystem, an fremder und eigener Zeit und Gesellschaft, am übersetzten und am übersetzenden Autor.23
Peter V. Zima wiederum versteht Übersetzungen nicht als mehr oder weniger treue Widerspiegelungen des Originals, sondern als Manifestationen einer „inneren“ bzw. „äußeren Intertextualität“.24 Mit dem Begriff der „inneren Intertextualität“ bezieht sich Zima auf die Übersetzung als literaturimmanenten Prozess, der von literarischen und stilistischen Normen beeinflusst wird. Der Begriff der „äußeren Intertextualität“ verweist hingegen auf die Auseinandersetzung mit den ideologischen, moralischen und politischen Diskursen einer sprachlichen Situation.
Als grundsätzliche Prämisse einer intertextuellen Betrachtungsweise der Übersetzung lässt sich die Absage an jede Form von Hierarchisierung zwischen Ausgangs- und Zieltext begreifen. Die Übersetzung versteht sich weder als defizitäre Kopie noch als Nobilitierung des Originals, sie ist „dem Original nicht untergeordnet und daher auch nicht nur daraufhin zu betrachten, ob sie – gemessen am Original – gut oder schlecht ist. Sie ist anders. Sie ist dasselbe anders.“25 Die hier konstatierte Differenz zwischen Originaltext und Übersetzung schlägt sich beim Übersetzen sowohl in Form von Bedeutungsverlusten als auch in Form von Bedeutungszugewinnen nieder, wie Barbara Folkart betont:
[La traduction] ajoute toujours de la valeur, crée inévitablement des distorsions […], des décalages ou des sollicitations […] qui permettent de toucher du doigt à la ré-énonciation, de mesurer le décalage énonciatif qui se creuse entre la voix de l’instance dé réénonciation et celle de l’instance d’énonciation, d’appréhender le dire du traducteur en flagrant délit de conflit avec celui de l’auteur.26
Das Verständnis der in der Übersetzung stattfindenden intertextuellen Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik, die Barbara Folkart hier beschreibt, muss hinsichtlich der Referenzen auf Dritt-Texte erweitert werden. Die Frage nach intertextuellen Bezügen stellt sich sowohl für das Original als auch für die Übersetzung. Denn nicht nur der Autor kann mit intertextuellen Referenzen arbeiten, die in die Zielsprache übernommen oder durch andere ersetzt werden. Auch der Übersetzer selbst kann seiner zielsprachlichen Gedichtfassung neue Referenzen hinzufügen und damit die intertextuelle Vernetzung auf andere Werke ausweiten.
„La relation intertextuelle“, so betont Freddie Plassard, „ne se restreint pas à la relation au texte original, mais englobe les emprunts sous toutes leurs formes que fait le traducteur aux différentes sources qu’il est amené à consulter.“27 Wird eine Übersetzung durch (markierte oder unmarkierte) Zitate angereichert oder mit versteckten Allusionen auf Dritt-Texte ausgestattet, so lässt sich von einer „Universalisierung des Dialogs“28 zwischen Ausgangs- und Zieltext sprechen. Im Fall der poètes traducteurs können die intertextuellen Anleihen nicht nur Dritt-Texten entstammen, sondern auch dem eigenen Werk entnommen sein. Diese Anleihen beschränken sich nicht ausschließlich auf den Einsatz bestimmter Motive. Auch komplexe Schreibstrategien, die für das eigene schriftstellerische Werk des übersetzenden Autors charakteristisch sind, kommen in den Übertragungen der poètes traducteurs zum Einsatz. Literarische Übersetzungen, so lässt sich festhalten, weisen eine „doppelt intertextuelle Struktur“29 auf: Diese schlägt sich zum einen im Verhältnis zwischen Ausgangstext und Übersetzung nieder, zum anderen im Verhältnis von Original und Übersetzung zu Dritt-Texten.
Wie der Übersetzer die „ästhetisch fruchtbare Spannung“30 zwischen Ausgangstext und Übersetzung gestalten kann und welche Rolle dabei Veränderungen und Bedeutungsverschiebungen im Dienst einer gesteigerten Form der Treue spielen, wird im Folgenden diskutiert.
„Treue durch Veränderung“? Übersetzung zwischen Autonomie und Orthonymie
Zielt das Streben vieler poètes traducteurs im 20. Jahrhundert auf eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Original und dessen spezifischen sprachlichen und kulturellen Elementen, so erhebt die Übersetzung als Resultat dieser Wechselwirkung keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit, sondern versteht sich als Manifestation einer spezifischen Lesart des Ausgangstexts. Anstatt als unsichtbarer Vermittler in der Übersetzung zu verschwinden, agiert der Übersetzer als Ko-Autor, der das Original interpretiert und aus seiner Sicht konkretisiert. Yves Bonnefoy spricht in diesem Zusammenhang von der „forme particulière de lecture qu’est l’entreprise du traducteur“,31 die sich in der Übersetzung als einer individuell nuancierten Lesart niederschlägt:
Une tâche, bien claire: que le traducteur lise, librement, qu’il suive librement, hardiment, sa voie dans le texte. Et ce lui sera donc produire un texte lui-même, un texte qui, rapporté à l’original, pourra certes paraître lacunaire ou s’en écarter, dangereusement: puisqu’il aura absolutisé un aspect de l’œuvre, celui qu’a privilégié sa lecture, alors que cet écrit tient assurément en réserve une multitude de dimensions.32
Motiviert durch thematische oder stilistische Affinitäten, kann der Übersetzer einzelne Bedeutungsschichten des Ausgangstexts hervorheben und zuspitzen, während andere Dimensionen in den Hintergrund treten. Gerade bei der Übersetzung von Gedichten, in denen die unauflösliche Synthese zwischen Inhalt und Form in Elementen wie Metaphern, Wort- und Klangspielen, Reimschemata und Metrum gegeben ist, entsteht oft überhaupt erst dann eine Form der Äquivalenz, wenn in signifikanter Weise Veränderungen vorgenommen werden: Daher rührt der in Auseinandersetzung mit dem Übersetzungskonzept von Novalis geprägte Begriff der „Treue durch Veränderung“.33 Armin Paul Frank spricht in diesem Zusammenhang von dem „Zwang zur übersetzerischen Freiheit“.34 Eine Wort-für-Wort-Übersetzung, die die jeweilige Funktion der im Ausgangstext angewandten Stilmittel vernachlässigt, führt hingegen zu „leere[r] Korrektheit“.35 Bei Meschonnic heißt es über die spezifischen Anforderungen der Lyrikübersetzung:
Parce que ce n’est pas de la langue qu’il y a à traduire, mais ce qu’un poème a fait à sa langue, donc il y a à inventer dans la langue d’arrivée des équivalences de discours: prosodie pour prosodie, métaphore pour métaphore, calembour pour calembour, rythme pour rythme.36
Sieht sich der Übersetzer bei der Übertragung lyrischer Texte zur Freiheit gezwungen, wenn er Wort- oder Klangspiele mit dem Material der Zielsprache neu erfindet, so kann er sich eines nahezu unbegrenzten Repertoires an Übersetzungsstrategien bedienen, die, historisch reflektiert, seine je individuelle Lesart des Ausgangstextes konturieren.37 Auf diese Weise aktualisieren die poètes traducteurs Übersetzungsverfahren der Intensivierung, der kontextuellen Transposition oder der Transformation. Das angestrebte Ziel besteht in der Gestaltung eines literarischen Texts, der als solcher interpretiert werden kann. In diesem Zusammenhang spricht Barbara Folkart von dem Streben nach „[p]oetically viable translations – those that actually succeed in being poems“.38
Um den Begriff der übersetzerischen Freiheit von willkürlichen Eingriffen in den Ausgangstext abzugrenzen, unterscheidet Dieter Lamping zwischen den auf mangelndem Sprach- oder Textverständnis beruhenden „defizienten“ Abweichungen und den motivierten „poetischen“39 Abweichungen, die sich z.B. auf thematische Affinitäten zurückführen lassen.
Im Rahmen der als defizient einzustufenden Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zieltext ist die Problematik konventionalisierender Verfahren von besonderem Interesse. Das Phänomen der Konventionalisierung besteht darin, dass charakteristische Elemente des Originals wie etwa bildliche Ausdrücke und ungewöhnliche Wendungen in der Übersetzung abgeschwächt oder durch idiomatische Formulierungen ersetzt werden, ohne dass durch diese Veränderungen eine konsistente neue Lesart des Originals entstünde. Ein solcher Rückgriff auf das in der Zielsprache bereits etablierte Stil- und Formenrepertoire vollzieht sich oft gerade dann, wenn die fremdsprachliche Gestaltung des Ausgangstexts eigentlich eine individuelle Eigenleistung des Übersetzers verlangen würde. Die Gründe für konventionalisierende Tendenzen, die das Verständnis des Originaltexts zunächst scheinbar erleichtern, lassen sich in vielen Fällen nicht mit mangelnder Sprachkenntnis vonseiten des Übersetzers erklären. Da zudem das Ideal der „clarté“, das in der Praxis der Belles Infidèles Nivellierungen und Anpassungen an den zielsprachlichen Kontext ausdrücklich legitimiert hatte, seit langem überholt ist, stellt sich die Frage nach der Motivation glättender Eingriffe in der Übersetzungspraxis des 20. Jahrhunderts ganz neu.
Ein Erklärungsversuch stammt von den Linguisten Jean-Claude Chevalier und Marie-France Delport, die sich mit den für den Übersetzungsvorgang virulenten Wahrnehmungsmechanismen beschäftigen. Ignoriert ein Übersetzer die sprachlich-stilistischen Besonderheiten des Originals, so die Annahme von Chevalier/Delport, geschieht dies oft weniger aus Unaufmerksamkeit oder mangelnder Sprachkenntnis, sondern vielmehr aus einer unreflektierten Abhängigkeit von kulturell und sprachlich tradierten Benennungsstereotypen. Diese vorgeprägten Denkbilder werden mit Bezug auf den von Bernard Pottier geprägten Terminus als „Orthonyme“40 bezeichnet. Dessen Definition lautet:
Pour tous les référents usuels d’une culture, la langue dispose d’une appellation qui vient immédiatement à l’esprit de la communauté. Cette dénomination immediaté sera dite l’orthonyme. La couleur de cette page ➤ blanc. Le fait de mettre des mots les uns à la suite des autres sur un papier ➤ écrire. […] L’orthonyme est donc la lexie (mot ou toute séquence mémorisée) la plus adéquate, sans aucune recherche connotative, pour désigner le référent.41
Steigert sich die Verwendung von Orthonymen im übersetzten Text zu einem identifizierbaren Charakteristikum, das mit einem erhöhten Maß an unmittelbarer Verständlichkeit einhergeht, lässt sich von „Orthonymie“ sprechen.42 Diese versteht sich als eine „représentation spontanée, simplifiée, habituelle de ,la réalité‘ évoquée“, als „l’ordinaire formulation des choses […], celle qui invariablement appelle la même appréciation: ,C’est comme ça que ça se dit‘“.43
In welchem Maße der Rückgriff auf Orthonyme die charakteristischen Nuancen des Ausgangstexts nivellieren kann, illustrieren Chevalier/Delport anhand von Gustave Flauberts Roman Bouvard et Pécuchet. Dort heißt es in einem Satz:
On avait en face de soi les champs, à droite une grange, avec le clocher de l’église, et à gauche un rideau de peupliers.44
Die deutsche Fassung von Erich Marx ignoriert die spezifische Sprecherperspektive, in der sich die Motive von Kirchturm und Scheune gegenseitig überlagern, und stellt mit Hilfe der Konjunktion „und“ eine neutrale Anordnung der Gebäude her:
Gegenüber sah man die Felder vor sich, rechts eine Scheune und den Kirchturm, links eine Wand von Pappeln.45
Rekurriert der deutsche Flaubert-Übersetzer auf eine geläufige Repräsentation von Realität, in der Kirchturm und Scheune unabhängig voneinander existieren, so opfert er – ob bewusst oder unbewusst – die individuelle Ausdrucksweise des Sprechers.46 Nicht nur im Bereich der Übersetzung narrativer Texte, sondern auch und gerade in der Praxis der Lyrikübersetzung finden sich vergleichbare Glättungen.
Neben den Abweichungen, die das komplexe ästhetische Gefüge des Ausgangstexts konventionalisieren, rücken im Folgenden die poetisch motivierten Modifizierungen in den Vordergrund, für die Lamping das Beispiel von Rilkes Übersetzung des „Sonnet IV“ von Louise Labé anführt. Die Autonomie des Übersetzers zeigt sich Lamping zufolge gerade darin, dass er den eigenen ästhetischen Affinitäten folgt und seinen Übersetzungen eine individuelle Signatur verleiht. Wo andere Übersetzungskritiker in Rilkes Labé-Übertragungen vor allem ungerechtfertigte Freiheiten gegenüber dem Original erkennen,47 fördert Lamping Spuren von Rilkes individueller Auseinandersetzung mit Werk und Leben von Louise Labé zutage. Er stößt in Rilkes Gedichtfassungen zwar ebenfalls auf problematische Abweichungen, konturiert aber gleichzeitig individuelle Umakzentuierungen, die den persönlichen Zugang des Übersetzers zum Ausgangstext dokumentieren. Das übersetzte „Sonett IV“ versteht Lamping als Produkt einer poetischen Interaktion zwischen Labés Gedicht und Rilkes eigenem schriftstellerischen Werk wie etwa dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.48 Dementsprechend bezeichnet er einzelne Verse aus Rilkes Labé-Übersetzung als „,Variationen‘ Rilkescher Gedanken“.49 Ähnliche dialogische Verfahren beobachtet Lamping auch bei anderen Lyrikübersetzern im 20. Jahrhundert, die den Übertragungsvorgang nicht als reinen Sprachtransfer, sondern als vielschichtigen Transformationsprozess begreifen:
Übertragungen wie die Rilkes (oder Benjamins oder Celans) legen, übersetzend, einen Text aus, und sie setzen diese Auslegung poetisch um. Sie transponieren den Text nicht einfach in eine andere Sprache, sie formulieren und sie formen ihn auch um. So schaffen sie einen zumindest teilweise neuen Text, der dem alten – sei es vom Wortlaut, sei es vom Sinn, sei es vom Stil, sei es von der Form her – nie ganz entspricht. Sie sind mit einem Wort als Übersetzungen zugleich Umsetzungen von Interpretationen und Reflexionen des übersetzten Textes. [Hervorhebung original]50
Lamping präzisiert seinen Begriff der interpretatorischen „Umsetzung“, wenn er die Übersetzung als Resultat einer „Textverarbeitung“ bzw. als Produkt von Interferenz von eigenem und fremdem Wort“ bezeichnet.51 In historischer Perspektive bezieht sich Lamping auf Novalis’ Konzept der ,verändernden Übersetzung‘, die dem Übersetzer die Rolle vom „Dichter des Dichters“ zuweist:52 Novalis geht davon aus, dass in dieser Übersetzungsform nicht nur die Stimme des Autors, sondern auch die Stimme des Übersetzers präsent ist. Die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit der Stimmen findet sich auch bei Lamping, dessen historisch reflektierte Analogie zu Novalis sich bis in die Wortwahl hinein verfolgen lässt, wenn er eine Übersetzung wie die von Rilke als „,hybrid‘“ und „,zweistimmig‘“ bezeichnet.53 In der von Lamping diskutierten, dialogisch-widerstreitenden Überlagerung von Autor- und Übersetzerstimme im übertragenen Text erkennt Christine Lombez ein Charakteristikum der Übersetzung als spezifischer Form der „réécriture“, die für sich den Status eines literarischen Texts beansprucht. Dazu heißt es:
N’est-ce pas dans ce conflit (ou ce dialogue?) des énonciations que la notion de réécriture revêt son plein sens, dans le subtil feuilleté de voix et d’écritures […] qui la constitue, et dont le flux savamment orchestré fait, précisément, ,œuvre‘?54
Der vorliegenden Studie liegt im Anschluss an Christine Lombez, Dieter Lamping und Henri Meschonnic ein normativitätskritisches Übersetzungsverständnis zugrunde, das der Zweistimmigkeit übersetzter Texte Rechnung trägt. Dabei wird jeweils nach der inneren Kohärenz der in den Übersetzungen gestalteten Lesarten zu fragen sein sowie nach der Art und Weise, wie die sprachlich-kulturelle Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext reflektiert wird. Über Lampings methodischen Ansatz hinaus, der vor allem thematische Überschneidungen zwischen Rilkes Labé-Übersetzung und Rilkes eigenem Werk fokussiert, gilt es, in den Analysen der vorliegenden Studie auch Parallelen zwischen den Schreib- und den Übersetzungsstrategien der poètes traducteurs zu untersuchen, die über gemeinsame Motivfelder hinausgehen. Entsprechend zielt das leitende Interesse der Untersuchung in einem umfassenderen Sinne auf die Verbindungslinien zwischen den Verfahren der vier ausgewählten Lyrikübersetzer und den jeweiligen historisch-politischen bzw. poetologischen Prämissen ihrer Tätigkeit. Dabei wird zu zeigen sein, dass sich das neue Übersetzungsparadigma der poetischen Interaktion in einem – impliziten oder expliziten – Bekenntnis zur individuellen poetischen Auseinandersetzung mit dem Original niederschlägt. Das mit der poetischen Interaktion verbundene Prinzip der „Treue durch Veränderung“55 spielt in der Übersetzungspraxis der hier diskutierten Lyrikübersetzer und poètes traducteurs nach 1945 eine zentrale Rolle, wenn auch mit je unterschiedlicher Akzentuierung. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, die aus der Konfrontation verschiedener sprachlich-kultureller Kontexte resultierende Spannung im Übersetzungsvorgang produktiv zu gestalten, anstatt sie zugunsten der Ausgangs- oder Zielsprache aufzulösen.
Mit dem folgenden Kapitel rücken zunächst der Lyrikübersetzer Friedhelm Kemp und die historische Kontextualisierung seiner Übersetzertätigkeit vor und nach 1945 in den Vordergrund. Der Fokus der Übersetzungsanalysen zielt auf die sich wandelnden Charakteristika seiner Vermittlungspraxis, deren unterschiedliche Etappen anhand seiner Übertragungen von Charles Baudelaire, Jules Supervielle und Yves Bonnefoy dargestellt und problematisiert werden.
Die vorliegende Studie widmet sich den Lyrikübersetzungen von Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun und lenkt damit den Blick auf einen äußerst fruchtbaren, in weiten Teilen allerdings noch unerschlossenen Bereich französisch-deutscher Lyrikvermittlung seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem gewählten Korpus soll das Phänomen des poète traducteur56 in den Vordergrund rücken, also des übersetzenden Lyrikers, der seine Übertragungen als individuelle Lesarten der Originaltexte konzipiert.57 Wie es zu zeigen gilt, repräsentieren die genannten Übersetzer diesen Übertragungsmodus in je unterschiedlicher Weise.
Für die vierziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die den zeitlichen Fokus der folgenden Untersuchungen bilden, herrscht in der komparatistischen Forschung bislang die Annahme einer Dominanz von „schnellen, versierten, glatten Übersetzer[n]“58 und „literarischen Importeuren“59 vor. Als einziges Gegenbeispiel im französisch-deutschen Sprachbereich gilt bisher das übersetzerische Werk von Paul Celan (1920–1970), das entsprechend intensiv erforscht ist.60 Die hier vorgelegte Studie möchte aufzeigen, dass nicht nur Paul Celan, dessen herausragende Rolle als Übersetzer außer Frage steht, das Übersetzen als „Arbeit an der Sprache“61 verstanden hat, sondern auch so unterschiedliche Übersetzer wie Friedhelm Kemp (1914–2011), Ludwig Harig (*1927) und Volker Braun (*1939) nach einer poetologisch reflektierten Auseinandersetzung mit den Originaltexten strebten und in ihren Übersetzungen individuelle Lesarten der Ausgangstexte vorgelegt haben.
Insgesamt repräsentieren die vier ausgewählten Übersetzer die vielgestaltige Praxis einer bedeutsamen Phase französisch-deutscher Lyrikvermittlung, die mit der historischen Zäsur von 1945 einsetzt.62 Wurde die französische Lyrik im deutschsprachigen Raum während des NS-Regimes marginalisiert bzw. propagandistisch instrumentalisiert, hat sie nach dem Ende des Krieges bis in die siebziger Jahre hinein weite Verbreitung gefunden. In dieser Hochphase französisch-deutscher Lyrikübersetzung kommt den in der vorliegenden Studie behandelten Übersetzern eine besondere Bedeutung zu. Während Celan, Harig und Braun als poètes traducteurs beim Übersetzen ihre eigene Poetik geltend gemacht haben, lässt sich Friedhelm Kemp, einer der ersten französisch-deutschen Lyrikvermittler nach 1945, als typologische Scharnierfigur begreifen: Er situiert sich zwischen Übersetzern mit vorwiegend dienendem Vermittlungsverständnis auf der einen Seite und den poètes traducteurs auf der anderen. Begleitet und beeinflusst wurde die Praxis der vier Übersetzer von ihrem intensiven persönlichen Austausch mit den französischen Lyrikern, deren Gedichte sie ins Deutsche übertragen haben. Dieser je individuelle kommunikative Rahmen figuriert im Folgenden unter dem Begriff fraternité poétique. René Char hat diese Bezeichnung in einem Brief an Paul Celan vom 23. November 1954 geprägt, um die Intensität ihres literarischen Austauschs und vor allem um Celans Engagement bei der Vermittlung seiner, Chars, Texte an das deutschsprachige Publikum hervorzuheben. In dem Brief heißt es:
[…] de votre part, cette fraternité poétique me touche infiniment, veuillez le croire. L’allègement, c’est de vous dire MERCI.63
Die persönliche und geistige Verbundenheit, die sich in den fraternités poétiques zwischen Autoren und poètes traducteurs niederschlägt, ist selten frei von Spannungen. Es wird zu zeigen sein, dass die poetologischen Affinitäten, die den französisch-deutschen Lyrikaustausch ermöglicht haben – wie bei Char und Celan –, in Distanznahmen umschlagen können, wodurch im Extremfall bereits begonnene Übersetzungsprojekte in Frage gestellt werden.
Im Verlauf der Studie soll deutlich werden, dass der dezidiert dialogische Impetus der fraternités poétiques mit dem Selbstverständnis der vier Übersetzer korrespondiert, das sich an ihren Übertragungsstrategien ablesen lässt. Über biographische Konstellationen hinaus werden sowohl die theoretischen als auch die historischen Kontexte ihrer Vermittlungspraxis zu untersuchen sein. Relevant sind dabei zum einen die theoretischen Paradigmen, zum anderen die je spezifischen Publikationsbedingungen für Übersetzungen französischer Lyrik in den Besatzungszonen, in der Bundesrepublik sowie in der DDR.
Erstmals wird damit der Versuch unternommen, die Praxis einzelner Lyrikübersetzer auf breiter Ebene an die historisch-poetologischen Koordinaten der französisch-deutschen Literaturvermittlung zwischen den vierziger und siebziger Jahren rückzubinden. Denn obwohl die Problematik der Lyrikübersetzung und insbesondere die Praxis der poètes traducteurs in den letzten Jahren einen regelrechten Forschungsboom ausgelöst haben,64 steht eine vergleichende Überblicksdarstellung zur französisch-deutschen Lyrikübersetzung im gewählten Zeitraum noch aus. Auch hinsichtlich der Spezialforschung zu einzelnen Übersetzern besteht ein Ungleichgewicht: Existiert eine große Anzahl von Monographien zur Übersetzungspoetik und -praxis von Paul Celan, fehlen bislang Einzeluntersuchungen zur Übersetzertätigkeit von Kemp, Harig und Braun.
Wie die vorliegende Studie zeigen wird, vertreten die vier genannten Übersetzer trotz aller Unterschiede in der Praxis insofern einen gemeinsamen methodischen Ausgangspunkt, als sie das Lyrikübersetzen als je individuelle, nicht normierbare Auseinandersetzung mit dem Original begreifen. Ihre von spezifischen historischen und poetologischen Prämissen geprägte Herangehensweise besteht darin, beim Übersetzen durch Intensivierungen, Umakzentuierungen oder Tilgungen eine eigene Lesart des Ausgangstexts zu gestalten. Im Anschluss an Henri Meschonnic, der im Übersetzungsvorgang eine Wechselwirkung zwischen Autor- und Übersetzerpoetik, eine „interaction de deux poétiques“,65 erkennt, wird dieses ästhetische Programm im Folgenden als ,poetische Interaktion‘ bezeichnet. Der individuelle interpretative Zugriff des Übersetzers kennzeichnet die Übertragungen als Resultate eines vielschichtigen Sprach- und Texttransfers. Mit Hilfe ihrer dialogisch konzipierten Strategien streben die ausgewählten Übersetzer keine möglichst ,treue‘ Kopie des fremdsprachigen Werks an, sondern vielmehr eine ihrerseits interpretationsbedürftige Gedichtfassung. Diese bleibt zwar stets auf das Original bezogen, insistiert aber auf ihrer eigenen Literarizität. In dieser Hinsicht grenzen sich die genannten poetes traducteurs von einem auf die Unsichtbarkeit des Übersetzers zielenden Verfahren ab, das zeitgleich etwa die Übersetzungen von Karl Krolow66 und Stephan Hermlin67 repräsentieren. Während Krolow und Hermlin die Übersetzung als Vermittlungsmedium mit dienender Funktion begreifen, betonen Celan, Harig und Braun die Präsenz der eigenen Übersetzerstimme. Durch welche poetologischen bzw. politischen Implikationen die von ihnen übersetzten Gedichte zu Resonanzräumen werden, in denen sich semantische und klangliche Dimensionen des Originals vertiefen und vervielfachen, wird im Einzelnen herauszuarbeiten sein.
Friedhelm Kemp, der im gewählten Zeitraum kaum als Lyriker hervorgetreten ist,68 stellt innerhalb der Konstellation der vier ausgewählten Übersetzer einen Sonderfall dar, weil er auf der Schwelle zwischen dienender Literaturvermittlung und poetischer Interaktion steht. Aufgrund dieser Scharnierposition ist er für die zugrunde liegende Fragestellung von besonderem Interesse, weil an seiner Übersetzungspraxis die unterschiedlichen übersetzungspoetologischen Optionen besonders augenfällig werden. Kemps breitgefächertes, durchaus heterogenes Spektrum von Strategien, mit denen er seine Übersetzungen mal als Verständnishilfe, mal als individuelle Lesart gestaltet hat, spiegelt nicht nur sein unablässiges Ringen um ein dem Originaltext gemäßes Vorgehen, sondern zeugt darüber hinaus von dem mitunter widersprüchlichen Verhältnis zwischen seiner Übersetzungsreflexion und -praxis. Im kritischen Nachvollzug dieser methodischen Vielfalt sollen verschiedene Etappen von Kemps übersetzerischem Schaffen charakterisiert und von den Strategien einer nach künstlerischer Autonomie strebenden Übersetzung, wie sie bei Celan, Harig und Braun anzutreffen sind, abgegrenzt werden. Da sich allerdings auch Kemp, obgleich mit Vorbehalten, diesem Übersetzungsmodus angenähert hat, ermöglicht ein kontrastierender Vergleich seiner Praxis mit derjenigen der poètes traducteurs ein differenzierteres Verständnis des Paradigmas poetische Interaktion.
Wie in den einzelnen Untersuchungen außerdem deutlich werden soll, haben alle vier Übersetzer tradierte Ideale der literarischen Übersetzung implizit oder explizit mitreflektiert und diese Auseinandersetzung in ihre Praxis einfließen lassen. Deshalb widmet sich das erste Kapitel der vorliegenden Studie historischen Übersetzungskonzepten, in denen die grundlegende Dichotomie zwischen Ausgangs- und Zielsprache aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt wird. Zunächst rückt das im französischen Klassizismus idealtypisch herausgebildete Primat der Einbürgerung in den Blick, das dem Übersetzer bei der zielsprachlichen Textgestaltung eine nahezu unbegrenzte Freiheit einräumt. Wie zu zeigen sein wird, steht für die ,imitierenden‘, mit dem Ausgangstext konkurrierenden Übersetzungen, die auch als Belles Infidèles (dt. „Schöne Ungetreue“) bezeichnet werden, weniger der Vermittlungsgedanke im Vordergrund als das Streben nach literarischer Virtuosität – zumal in einer Epoche, die noch keinen gefestigten Original-Begriff und somit keine klare Abgrenzung zwischen Übersetzungs- und Schreibpraxis kannte (Kap. 1.1). Einen methodischen Gegenpol zum Primat der Einbürgerung bildet die vorwiegend deutschsprachige Praxis der Verfremdung um 1800, die eine Markierung der Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext anstrebt: Sprachliche und kulturelle Spezifika des Originals sollen gerade nicht eingebürgert werden, sondern in der Übersetzung als solche erkennbar sein, damit der fremdartige Charakter des Originals bestehen bleibt. Jenseits der Problematik von Einbürgerung und Verfremdung stellt Novalis den individuellen Eigenanteil des Übersetzers in den Vordergrund und formuliert mit seiner Vorstellung vom Übersetzer als „Dichter des Dichters“ ein Konzept, das in neuem Kontext und unter veränderten Vorzeichen für die Übertragungen der poètes traducteurs nach 1945 bedeutsam wurde (Kap. 1.2). Einflussreich und für die Übersetzungspraxis nach 1945 relevant sind auch die Konzepte von Walter Benjamin und Rudolf Borchardt, die beide in unterschiedlicher Weise die künstlerische Autonomie der Übersetzung neu zu bestimmen suchen: Benjamins sprachphilosophische Perspektive nobilitiert die Übersetzung als dasjenige Medium, mit dem sich der Mensch der „reinen Sprache“69 annähern könne. Dem steht Borchardts Konzept einer Neuerschaffung des Originals in der Zielsprache gegenüber, das zu Benjamins Position sowohl Konvergenzen als auch signifikante Unterschiede aufweist (Kap. 1.3). Zu den diskutierten Übersetzungsparadigmen steht die Tätigkeit von Kemp, Celan, Harig und Braun in einem spannungsreichen, von Anknüpfung und Widerspruch geprägten Verhältnis: Unter veränderten historischen Bedingungen nehmen die genannten Übersetzer die überlieferten Verfahren kritisch auf und überführen sie in eigene, individuell nuancierte Strategien jenseits normativer Ideale.
Zeitlich parallel zu ihrer Übersetzungspraxis hat sich seit den sechziger Jahren auch in der Forschung eine Abkehr von normativen Konzepten vollzogen, die nun in ihrer epochengeschichtlichen Gebundenheit erkannt werden. An ihre Stelle treten zunehmend deskriptive Analysemodelle, die den interpretativen Zugriff des Übersetzers berücksichtigen. Diese Ansätze greift die vorliegende Studie auf, um ihre übersetzungstheoretischen Implikationen zu diskutieren. Von besonderem Interesse sind dabei Konzepte zur literarischen Übersetzung als einer Sonderform von Intertextualität, die Frage der Übersetzbarkeit lyrischer Texte insgesamt sowie die Mechanismen der Konventionalisierung poetischer Spezifika (Kap. 1.4). Diese Auseinandersetzung soll zugleich die den Analysen von Kemps, Celans, Harigs und Brauns Übersetzungen zugrunde liegende Methodik erläutern und begründen. Jedem der vier Übersetzer ist ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 2–5), wobei sich die Reihenfolge nach den Publikationsdaten ihrer jeweils ersten publizierten Gedichtübertragung richtet. Vor dem zeithistorischen sowie dem je spezifischen biographischen und poetologischen Hintergrund ihrer Übersetzungspraxis zielen die hier vorgelegten Beispielanalysen in Form von Einzeluntersuchungen und Mehrfachvergleichen auf die individuelle Funktion des übersetzten Gedichts in seinem Entstehungskontext. Ausgangspunkt ist dabei die von Harald Kittel formulierte Grundfrage:
Was wurde wann, warum, wie übersetzt, und warum wurde es so und nicht anders übersetzt?70
Der methodischen Verknüpfung von historischer Kontextualisierung und Übersetzungsanalyse liegt die Auffassung zugrunde, dass „das eigentliche Faszinosum der Übersetzungsforschung“ in der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen kulturellen Kontexten von Ausgangs- und Zieltext besteht.71 In den folgenden Untersuchungen geht es demnach nicht nur um die bloße Feststellung von Abweichungen zwischen Ausgangstext und Übersetzung – seien dies Zuspitzungen, Umdeutungen oder Auslassungen thematischer, stilistischer oder metrischer Elemente des Originals –, sondern vor allem um die Frage, ob die jeweiligen Verschiebungen im Gesamtkontext des übersetzten Gedichtes motiviert erscheinen, und wenn ja, wodurch. Für die Gestaltung einer individuellen Lesart des fremdsprachigen Originaltextes sind neben thematischen auch stilistische Affinitäten des Übersetzers entscheidend, die es im Detail herauszuarbeiten gilt. Darüber hinaus wird nach den Konsequenzen gefragt, die sich aus der Interaktion zwischen Autor- und Übersetzerpoetik für die Interpretation des Originals bzw. der Übersetzung ergeben. Auf diese Weise sollen charakteristische Übertragungsstrategien identifiziert und an das Werk des jeweiligen Übersetzers rückgekoppelt werden, und zwar sowohl an dessen poetologische Reflexionen als auch an die eigene literarische Schreibpraxis. Denn ein hervorstechendes Charakteristikum der Praxis von poètes traducteurs liegt, so die Ausgangsthese, gerade darin, dass Übersetzungen und eigene schriftstellerische Werke jeweils in einem komplexen Verweisungsverhältnis stehen. Diesem soll im Einzelnen nachgegangen werden.
Einer der ersten Übersetzer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publizistisch hervorgetreten sind, war Friedhelm Kemp, der bereits in seiner Zeit als Besatzungssoldat in Frankreich Übersetzungen französischer Lyrik angefertigt hatte. Als Vermittler französischer Literatur hat er in der literarischen Landschaft der Bundesrepublik über Jahrzehnte eine herausgehobene Rolle gespielt, die in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal eingehend untersucht werden soll. Dabei wird zunächst Kemps Übersetzertätigkeit vor 1945, mit der er sich von der ideologisch gesteuerten Literaturvermittlung durch den NS-Staat abgrenzt (vgl. Kap. 2.1.1), auf der Grundlage von unveröffentlichtem Archivmaterial zu untersuchen sein. Hier erweist sich sein Feldpostbriefwechsel mit dem französischen Lyriker Louis Ernie als aufschlussreiches Zeitdokument über die Bedingungen des Übersetzens in Kriegszeiten (Kap. 2.1.2): Ohne die von Ernie an der Zensur vorbeigeschleusten Büchersendungen, die Kemp mit modernen französischen Gedichten bekannt machten, hätte dieser nach Kriegsende nicht zu einem Protagonisten französisch-deutscher Lyrikvermittlung in den westlichen Besatzungszonen werden können. Der Einfluss dieser geheimen Korrespondenz auf Kemps Übersetzertätigkeit wird im Kontext der breitgefächerten Publikationslandschaft der Nachkriegszeit deutlich, aus der zentrale Zeitschriften und Anthologien exemplarisch vorgestellt werden (Kap. 2.1.3). Kemp hat bis zu seinem Tod im März 2011 nicht nur ein äußerst umfangreiches übersetzerisches Werk vorgelegt, sondern die Rezeption einzelner französischer Lyriker besonders nachhaltig geprägt, sei es durch Prosafassungen von Baudelaires Fleurs du mal oder durch Übersetzungen aus dem Werk von Yves Bonnefoy, mit dem ihn ebenfalls ein intensiver Austausch verband. Kapitel 2 der vorliegenden Studie versucht eine kritische Würdigung des Übersetzers Friedhelm Kemp, die neben seiner prominenten Vermittlerrolle auch die je nach Schaffensphase unterschiedlichen Prioritäten seiner Übersetzungspraxis thematisiert: Weisen seine frühen Übersetzungen poetisierende Tendenzen auf, so orientiert sich Kemp seit den sechziger Jahren an dem Primat der Anschaulichkeit, das jedoch immer wieder auch zu Konventionalisierungen führt. In Einzelfällen gestaltet Kemp beim Übersetzen eigene Lesarten und öffnet sich damit gegenüber Konzepten, die dem übersetzten Text literarischen Eigenwert verleihen. Anhand ausgewählter Beispiele seiner zwischen den vierziger und sechziger Jahren entstandenen Gedichtübersetzungen von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy wird das Spektrum von Kemps Strategien aufgezeigt und ihr oft konflikthaftes Verhältnis zu seinen übersetzungstheoretischen Reflexionen diskutiert.
Paul Celan, der seit 1948 in Paris gelebt hat, ist fraglos der bekannteste poète traducteur des hier untersuchten Korpus. Obwohl sein umfangreiches übersetzerisches Werk bereits seit den siebziger Jahren intensiv untersucht wird, standen seine Übersetzungen aus den Werken von René Char und Henri Michaux bislang nur selten im Fokus der Celan-Philologie. Dabei erweist sich ihre Untersuchung als besonders gewinnbringend für ein umfassendes Verständnis seiner komplexen Übersetzungspoetik, in der unterschiedlichste Verfahren wie Transformation, Umdeutung oder Wörtlichkeit nebeneinanderstehen. Unterscheidet die Celan-Forschung prinzipiell zwischen einer frühen und einer späten Phase seiner Übersetzungspraxis, so gelten die frühen Übersetzungen wie die von Rimbauds „Bateau Ivre“ oder Valérvs „La Jeune Parque“ als „Gegenübersetzungen“,72 die auf inhaltlicher und formaler Ebene in Opposition zum Ausgangstext treten; für die später entstandenen Übertragungen zeitgenössischer französischer Autoren wird hingegen eine Dominanz von Verfahren der Wörtlichkeit angenommen und mit einer Zurücknahme von Celans individueller Übersetzerstimme gleichgesetzt. Diese Forschungsmeinung soll im Folgenden differenziert und um neue Facetten angereichert werden: Zum einen wird an aussagekräftigen Übersetzungsbeispielen aufzuzeigen sein, dass sich Celan beim Übersetzen von Char und Michaux keineswegs auf eine „wörtliche Nachschrift“73 beschränkt. Zum anderen soll deutlich werden, dass Celan über verschiedene Strategien der „dichterische[n] Wörtlichkeit“74 verfügt, die nicht per se eine möglichst neutrale Wiedergabe anstreben, sondern gezielt zur Gestaltung einer individuellen Lesart des Originals beitragen. Von besonderem Interesse wird dabei die Genese einzelner Übersetzungen sein, da die verschiedenen, im Nachlass erhaltenen Textfassungen die Eingriffe Celans dokumentieren und Rückschlüsse auf sein Textverständnis bzw. auf seine Herangehensweise erlauben, auch und gerade im Vergleich mit anderen Übersetzern. Neben Celans Char- und Michaux-Übersetzungen sollen erstmals auch die unveröffentlichten, von der Forschung bislang unbeachtet gebliebenen Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy in den Fokus rücken.75 Trotz ihres fragmentarischen Charakters können in diesen Gedichtfassungen Strategien identifiziert werden, die sich an die Prämissen von Celans Übersetzungspoetik rückbinden lassen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Vergleich mit Friedhelm Kemps Bonnefoy-Übersetzungen, da er die divergierenden Strategien der Übersetzer augenfällig macht. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungsarbeiten und unter Berücksichtigung eines in Deutschland bislang unveröffentlichten Briefes von Celan an den Übersetzer Karl Dedecius aus dem Jahr 1960 soll das vorherrschende Bild von Celans Übersetzungsverständnis präzisiert und teilweise neu akzentuiert werden.
Der Übersetzer, Lyriker und Romancier Ludwig Harig hat sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv mit französischer Literatur beschäftigt, genauer gesagt seitdem er im Rahmen seiner Lehrerausbildung von 1948 bis 1949 als „Assistant d’allemand“76 in Lyon tätig war und auf Anregung seines Bekannten Roland Cazet erste Übersetzungen aus dem Französischen anfertigte (Kap. 4). Im Jahr 1955 machte ihn sein literarischer Mentor Max Bense auf den französischen Schriftsteller Raymond Queneau aufmerksam, dessen lyrisches Werk fortan im Zentrum von Harigs Übersetzertätigkeit stand. Mit welchen Strategien Harig die angeblich unübersetzbaren sprachartistischen Gedichte Queneaus ins Deutsche übertragen hat und welche Verbindungslinien zwischen seiner Schreib- und Übersetzungspraxis bestehen, wird anhand seiner Übersetzungen des parodistischen Langgedichts „Petite cosmogonie portative“ bzw. der Queneau’schen Sonette aufgezeigt. Mit diesem Kapitel wird erstmals der Versuch unternommen, Harigs Übersetzungspraxis wissenschaftlich fundiert und im Rückgriff auf unveröffentlichtes Archivmaterial zu analysieren.
Als einziger Übersetzer des gewählten Korpus hat der in Dresden geborene Schriftsteller Volker Braun nicht direkt aus dem Französischen übersetzt, sondern seine Fassungen von Alain Lance’ Gedichten auf Basis von Interlinearübersetzungen (Kap. 5) angefertigt. Es wird zu zeigen sein, dass dieses Verfahren im Kontext der fraternité poétique zwischen Lance und Braun einen methodisch günstigen Ausgangspunkt für die Gestaltung individuell akzentuierter Übersetzungen darstellt. Die Praxis des „Nachdichtens“, bei der Lyriker philologisch genaue Rohfassungen in eine poetische Form bringen, war auch für die vom SED-Regime geförderten Anthologien ausländischer Lyrik von Bedeutung, wie im politischen Kontext der Literaturvermittlung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR dargelegt wird (Kap. 5.1.1). In Abgrenzung von dieser gesteuerten Literaturvermittlung wird aufgezeigt, unter welchen Bedingungen der literarische Austausch zwischen Lance und Braun stattfand (Kap. 5.1.2). Die leitenden Fragen der anschließenden Übersetzungsanalysen zielen zum einen auf die geschichtliche Signatur und die politische Stoßrichtung von Brauns Vermittlertätigkeit (Kap. 5.2), zum anderen auf die Verbindungslinien zwischen seinen Übersetzungsstrategien und seinem eigenen Werk.
Insgesamt widmet sich die vorliegende Studie vier zentralen Persönlichkeiten der deutsch-französischen Lyrikvermittlung nach 1945, die als Übersetzer und Übersetzungspoetologen agierten. Angesichts der historisch reflektierten Strategien, mit denen sie ihre je individuellen Lesarten der französischen Originaltexte gestalten, muss das Bild eines maßgeblich von „literarischen Importeuren“77 bestimmten Austauschs zwischen den vierziger und siebziger Jahren korrigiert werden. Mit der Kombination theoretischer, historischer und textanalytischer Ansätze möchte die Studie zeigen, dass sich in der dialogisch konzipierten Übersetzungspraxis bzw. in den begleitenden theoretischen Reflexionen der ausgewählten Übersetzer nach 1945 ein neues Paradigma der Lyrikübersetzung herausbildet, das sich im Anschluss an Henri Meschonnic als poetische Interaktion bezeichnen lässt. Bei der Untersuchung dieses Paradigmas wird auch das Selbstverständnis der Übersetzer zu konturieren sein, die für ihre Übertragungen literarischen Eigenwert beanspruchen.
Wege französisch-deutscher Lyrikvermittlung: Kemp, Celan, Harig, Braun
1 Einbürgerung, Sprachverfremdung und poetische Interaktion: Paradigmen der literarischen Übersetzung im Epochenkontext
1.1 Imitatio: Die Übersetzung als Aneignung antiker Vorbilder im Klassizismus
aaa1.1.1 Jacques Amyots Plutarch-Übersetzung
aaa1.1.2 Perrot d’Ablancourts ,französischer‘ Tacituc
aaa1.1.3 Jacques Delilles „Georgica“-Übersetzung
1.2 „Fremde Aehnlichkeit“ oder poetische Erweiterung: Übersetzungskonzepte um 1800
aaa1.2.1 Die Abkehr von den Belles Infidèles
aaa1.2.2 „Eine Farbe der Fremdheit“ – Strategien der Sprachverfremdung
aaa1.2.3 Die poetische Übersetzung als Erweiterung des Originals
1.3 „Es kommt auf den Sinn nicht an“ – oder doch? Übersetzung bei Rudolf Borchardt und Walter Benjamin
aaa1.3.1 Status und Funktion der Übersetzung
aaa1.3.2 „Widerhall“ und „Echo“: Übersetzungstheorie und -praxis
1.4 Zwischen poetischer Interaktion und Konventionalisierung: Zur Theorie der Lyrikübersetzung nach 1945
aaa1.4.1 Die Abkehr von normativen Übersetzungsidealen seit den sechziger Jahren
aaa1.4.2 Lyrikübersetzung als poetische Interaktion
aaa1.4.3 „Treue durch Veränderung“? Übersetzung zwischen Autonomie und Orthonymie
2 Vom Besatzungssoldaten zum Lyrikvermittler: Der Übersetzer Friedhelm Kemp
2.1 Kemp im Kontext der Literaturvermittlung vor und nach 1945
aaa2.1.1 Die Instrumentalisierung französischer Literatur durch den NS-Staat
aaa2.1.2 Jenseits der Propaganda: Kemps Feldpostbriefwechsel mit Louis Emié
aaa2.1.3 Lyrikvermittlung in Periodika und Anthologien nach 1945
2.2 Zwischen Poetisierung und Transformation: Kemp als Übersetzer von Jules Supervielle, Charles Baudelaire und Yves Bonnefoy
aaa2.2.1 Die Tendenz zur Poetisierung
aaa2.2.2 Das Streben nach Anschaulichkeit
aaa2.2.3 Die Mechanismen der Orthonymie
aaa2.2.4 Umdichtung und Transformation
3 „Ein Nachsprechen, ein zweites Sprechen“: Paul Celan als Übersetzer von René Char, Henri Michaux und Yves Bonnefoy
3.1 „Einmaligkeit“, „Anders sein“: Celans Übersetzungspoetik
3.2 Celan und Char: eine fraternité poétique?
aaa3.2.1 „Argumentum e silentio“: ein Gedicht für und gegen René Char
aaa3.2.2 Übersetzen in eine „,grauere‘ Sprache“
aaa3.2.3 „Wörtlichkeit“ und „Anderssein“
aaa3.2.4 „Demière marche“: Celans letzte Char-Übersetzung
3.3 Intensivierung und „dichterische Wörtlichkeit“: Celan als Übersetzer von Henri Michaux
3.4 Celans Übersetzungsentwürfe aus dem Werk von Yves Bonnefoy
4 „Spiel mit dem Stil“: Der Queneau-Übersetzer Ludwig Harig
4.1 Vom „Assistant d’allemand“ zum „waghalsigen“ Übersetzer
4.2 Zur Frage der Übersetzbarkeit von Queneaus Werk
4.3 Harigs Übersetzung von Queneaus „Petite cosmogonie portative“
aaa4.3.1 „Handgriffe Kunstkniffe Glattschliffe“: Klangspiele französisch/deutsch
aaa4.3.2 „Wicht“, „Licht“, „Gedicht“: Das Spiel mit dem Reim
aaa4.3.3 „Metrisch“ – „Dissimetrisch“: Queneaus deutsche Alexandriner
aaa4.3.4 „Raffiniert konstruierte Transfähre“: Intensivierung durch Transformation
aaa4.4 Die Cosmogonie im Kontext: Französische Literatur in Harigs Werk
5 „Des Verfassers Gefährte“: Volker Braun als Übersetzer von Alain Lance
5.1 Braun im Kontext der Literaturvermittlung in SBZ und DDR
aaa5.1.1 Rezeptionsmuster in der SED-gelenkten Übersetzungspraxis
aaa5.1.2 „War eine meiner Türen französisch“: Alain Lance und sein Übersetzer Volker Braun
5.2 Polyphones Sprechen: Politische Diskursivität und intertextuelle Verfahren in Brauns Übersetzungen
aaa5.2.1 „Téhéran soixante-huit“ -Teheran 68
aaa5.2.2 „Comme j’en ai traversé de ces villes opaques“ – Der Umweg durch die Fremde
aaa5.2.3 „Printemps“ – Frühling
aaa5.2.4 „Neutron suprême“ – Höchstes Neutron
aaa5.2.5 „Aux amis de l’est“ – An die Freunde im Osten
– Zusammenfassung und Ausblick
– Literaturverzeichnis
– Rechtenachweis
– Bild- und Textanhang
– Abbildungsnachweis
– Personenregister
von Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig und Volker Braun repräsentiert eine bislang nur teilweise erforschte Hochphase französisch-deutscher Lyrikvermittlung. Unter Einbezug historischer Entstehungskontexte und poetologischer Prämissen untersucht die vorliegende Arbeit Strategien semantischer, klanglicher und metrischer Transformation, mit denen die Übersetzer in der Zielsprache individuelle Lesarten der Ausgangstexte – u.a. von Yves Bonnefoy, René Char, Raymond Queneau, Alain Lance – gestalten. Diese Übersetzungen, so die These, zeugen von einem sich neu herausbildenden Paradigma: dem der poetischen Interaktion.
De Gruyter, Klappentext, 2013
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