1. EINIGE KOORDINATEN DER LYRIKDISKUSSION UND EIN VORSCHLAG ZU IHRER VERSCHIEBUNG
Im Herbst 2003 habe ich den slowenischen Dichter Dane Zajc in Wien lesen hören. Oder eher: Ich habe ihn sprechen hören. Er las seine Gedichte nicht ab, er konnte sie auswendig. Zajc saß sehr ernst und gerade, er sprach, als seien die Texte nicht seine, als würden sie ihm gerade eingegeben – von oben. Seine Stimme wirkte ganz geöffnet und dabei völlig ruhig. Falls er irgendeine Besorgnis spürte – um seine Wirkung, Attacken durch Publikum oder Gedächtnis – wurde sie nicht hörbar. Seine Stimme legte die Gedichte um die Hörer1 herum, sie erzeugte – wie mir schien – ein Gefühl von Wärme.
Dane Zajc’ Lesung wurde für mich zu einer der intensivsten Begegnungen mit Lyrik überhaupt. Und bis heute kann ich dieses Erlebnis, obwohl es meine Überlegungen immer noch anzieht, nicht angemessen beschreiben. Ich kann auf die Inszenierung verweisen – wie gerade geschehen. Ich könnte einzelne Fragmente zitieren, die mir in Erinnerung geblieben sind. Ich könnte mich in Formulierungen retten, wie ,die Gedichte haben mich eben sehr berührt‘ oder ,ich wollte, dass es nie mehr wieder aufhört‘. Oder ich könnte das Bild von der veränderten Welt bemühen – nach der Lesung bin ich auf den verregneten Platz vor der Nationalbibliothek hinaus gestolpert und es war ein anderer Platz. Mit all dem hätte ich etwas Zutreffendes genannt, trotzdem sind die Formulierungen dem Erlebnis nicht angemessen. Das, wie es war, hat eine andere Qualität. Und gerade weil diese Diskrepanz so groß ist, vermute ich, dass eine weitere Erkundung des Wie und Warum einer gelungenen Lyrikwahrnehmung dabei hilft, diese Kunstform besser zu verstehen.
Eine solche Begeisterung, die sich der sprachlichen Erfassung widersetzt, tritt zwar bei Begegnungen mit Musik, Film oder bildender Kunst genauso auf. Bei der Lyrik aber ist das Verhältnis zwischen Gegenstand und Rezeption etwas anders: Hier gelingt es nicht, einem dezidiert sprachlichen Erlebnis auch sprachlich zu begegnen. Die Sprache scheint vor sich selbst zu kapitulieren. Die Reflexion gerät damit schnell an einen Punkt, der auch bei Roman Jakobson und Linda R. Waugh aufscheint, wenn sie von Sprache („Language“) und Gedichten („Poetry“) als „two inseparable universals“2 sprechen. An den Punkt eines Unterschieds also, der Gleiches vom Gleichen zu trennen scheint, ebenso unabweisbar wie schwer zu definieren.
Die Unruhe, die ein solcher Unterschied ausstrahlt, mag mit dafür verantwortlich sein, dass sich die Diskussion über Lyrik meist schnell von der Rezeption verabschiedet und andere Blickwinkel wählt. Allerdings wirken die metasprachlichen Vorzeichen, unter denen über Lyrik nachgedacht wird, nicht immer produktiv. Meiner Wahrnehmung nach tragen sie oft nichts zum Verständnis der Besonderheiten poetischen Sprechens bei, sondern verdecken diese. Hier sollen daher einige andere Koordinaten erprobt werden. Auch solche, die nicht im engeren Sinn der Lyrikdiskussion entstammen. Ich werde versuchen, Begriffe aus eng verwandten Wissensgebieten auf die Lyrik zu projizieren, um deren Verhältnis zu diesen Begriffen zu bestimmen. Zu Beginn jedoch möchte ich auf drei dieser irreführenden Vorzeichen in der momentanen Lyrikdiskussion näher eingehen.
Das erste sehe ich in einer (fast erbarmungslos zu nennenden) Orientierung an den Produzenten. Die Dichterin soll nicht nur dichten, sie soll in begleitenden Texten auch Aufschluss über ihr Tun geben. Diese Textsorte ist vergleichsweise beliebt. Solchen Texten wird die Überschrift ,Poetik‘ gegeben und nicht wenige dieser Texte tauchen unter ihrer eigenen Überschrift durch, wirken beliebig und werfen die Frage auf, welche Art Lesevergnügen sie produzieren sollen. Geht es darum, der Person des Autors über diese Art der Selbstauskunft ,näher‘ zu kommen? Oder ist es eine Art ,Kochbuchinteresse‘ – diese Autorin endlich wird den Schreibprozess so transparent machen, dass sich nach ihrem Rezept auch den eigenen Texten ,Qualität‘ (bzw. öffentliche Aufmerksamkeit) ,zusetzen‘ lässt? Oder genießt man das statuserhebende Gefühl, sich in komfortablem Sicherheitsabstand zu jedem wirklich literarischen Text doch mit vermeintlich ,Hochwertigem‘ befasst zu haben? Denn die produzentenorientierte Neugier auf die vermeintliche ,Poetik‘ verbindet sich nur in Ausnahmefällen mit einem Interesse an Poesie.
Womöglich aber, so ließe sich einwenden, ist das Interesse an Poesie längst erloschen, und in einer Art kompensatorischer Geste werden wenigstens die Selbstauskünfte der Dichter noch abgenickt. Das ist möglich. Mir jedoch scheint poetische Neugier keineswegs inexistent, sondern lediglich eine momentan wenig prestigereiche und daher versteckte Vorliebe. Das poetische Interesse ist und bleibt oft still, weil es mit einer existenziellen Bedürftigkeit zu tun hat, die zu zeigen keinen Statusgewinn bedeutet.3 Damit aber werden die Orte, an denen es zutage tritt, von vornherein zu unerwarteten; es spricht sich bei Menschen aus, bei denen es das Vorurteil zunächst nicht vermutet hätte; es wird unverhofft formuliert – und immer wieder zeigen sich die ,Träger‘ selbst von ihm überrascht. Das betrifft nicht nur Lesungsteilnehmerinnen, die von sich selbst sagen, sie seien ,zufällig‘ oder ,gezwungenermaßen‘ in eine Lesung ,geraten‘ und nun erstaunt, ,was Lyrik könne‘ oder dass ,das‘ Lyrik sei.4 Eine vergleichbare Überraschung formuliert auch die dänische Autorin Janne Teller in einem Gespräch mit der Zeitschrift Kulturaustausch:
Als ich 1993 bis 1994 für die UN-Mission zur Unterstützung des Friedensprozesses in Mosambik gearbeitet habe, war dort Bürgerkrieg. Ich war furchtbar erschüttert über die täglichen Bilder und Berichte des allgegenwärtigen Leidens. Das hat mich so mitgenommen, dass ich außerstande war, ein Buch zu lesen. Aber dann hat mir jemand einen Gedichtband zugesteckt, mit englischer Poesie. Zunächst wollte ich gar nicht darin lesen. Irgendwie kam mir dann die Eingebung, ich müsste anfangen, Gedichte auswendig zu lernen. Das erste war „The Walk“ von Thomas Hardy von 1914. Das hatte überhaupt gar nichts mit Bürgerkrieg oder Mosambik zu tun, da ging es um den Tod seiner Frau. Und doch war es, als ich es einmal auswendig konnte, wie Salz und Wasser für meine Seele, als hätte Thomas Hardy etwas von sich selbst, ein bisschen Energie, auf mich übertragen und mich dadurch stärker gemacht. Wenn ich morgens die aktuellen Gräuelmeldungen erfuhr, sagte ich mir selbst ein Gedicht vor und das Unerträgliche wurde damit ein wenig erträglicher.5
In Tellers Äußerung scheinen die beiden anderen irreführenden Koordinaten der Lyrikdiskussion auf. So musste Teller die Überzeugung überwinden, der Umgang mit einem Gedichtband sei letztlich dasselbe wie die Lektüre ,eines Buchs‘ – wozu sie sich nicht mehr imstande fühlte. Dass Teller den Gedichtband mit einem ,aber dann‘ abgrenzt, lässt vermuten, dass ,ein Buch‘ eher narrativ als poetisch strukturierte Texte enthalten hätte. Das narrative Paradigma erscheint hier als das Übliche, Gewöhnliche; es liefert das dominante Verstehensmodell für die Begegnung mit literarischen Texten; auch für die Lyrik wird seine Gültigkeit ohne weiteres vorausgesetzt. Literaturgeschichtlich betrachtet mag dies verständlich sein. Jurij Lotman etwa beschreibt die Entwicklung der westlichen Literaturen als einen Weg hin zu schlichteren, der Alltagssprache ähnlicheren Strukturen, deren Anziehungskraft und Komplexität sich nicht aus rhythmisch-lautlichen Mustern speise.6 Diese narrativen Muster begünstigen jedoch eine Rezeption, in der die Möglichkeit einer Distanzierung und inhaltlichen Paraphrase erwartet wird – eines Musters also, das sich nicht auf die anders arbeitende Sprachform Lyrik anwenden lässt.
Das allzu große Vertrauen in die erklärende Kraft des Erzählparadigmas bildet die zweite Koordinate, die der Lyrikdiskussion eine wenig vielversprechende Richtung weist. Die dritte sehe ich darin, dass die schriftlichen Formen, und mit ihnen ,das Lesen‘, als primär und verbindlich wahrgenommen werden. So wie Teller ihre Begegnung mit Lyrik beschreibt, zeichnet sich jedoch eine produktive Verschiebung in Richtung Mündlichkeit ab: Im ,Auswendiglernen‘ und wiederholten ,Vorsagen‘ erschließt sich das Potenzial des Gedichts. Die Autorin begegnet dem poetischen Text und seinen Möglichkeiten erst, als sie sich der Poesie unter anderen Vorzeichen als ,Lesen‘ und ,Buch‘ nähert. Eine Hörerin von Gedichten hat nun den Vorteil, dass ihr bereits das mündliche literarische Ereignis selbst den Weg zu einem anderen Lyrikverständnis andeutet.
Janne Tellers Lage und Bedürftigkeit inmitten eines Bürgerkriegs sind speziell und extrem. Gleichwohl wird in ihrer persönlichen Schilderung sichtbar, dass die Rezipientin die Existenzbedingung literarischer Prozesse bildet – und für die Lyrik scheint dies in besonderem Maß zu gelten. Ich plädiere deshalb dafür, den Blick zu weiten und ihn – nach der Rezeptionsforschung des 20. Jahrhunderts7 kann es nur heißen: einmal mehr – auf die Empfängerseite von Dichtung zu lenken. Denn dort, und nur dort, liegt der Austragungsort von Literatur.
Mit Stanley Fish gesprochen ist der Text „[k]ein Objekt […], sondern ein Ereignis, etwas, das geschieht, und zwar mit Beteiligung des Lesers.“8 Entsprechend will dieser Aufsatz „einen literaturwissenschaftlichen Positivismus“ vermeiden, „der Bedeutung jenseits des eigenen Zutuns annimmt und damit von den sprachschaffenden Qualitäten des Lesens abstrahiert.“9 Hier nun soll auch von den realitätserzeugenden Qualitäten des Hörens nicht mehr abstrahiert werden. Zu diesem Zweck wird das Feld der Auskünfte gedehnt und Aussagen der Produzentinnen werden um jene der Rezipienten ergänzt. Selbstverständlich werden dabei die Rezipienten nicht als biographische Schicksalswesen in den Fokus treten – wohl aber als Personen, die über ihre Erfahrungen kompetent Auskunft zu geben vermögen. Daraus können keine literaturwissenschaftlich exakten Aussagen zu einzelnen Gedichten entstehen, wohl aber kann klarer zutage treten, was die poetische Erfahrung ausmacht. Wenn das Verfahren gelingt, wird der Abgleich von Hörer- und Produzentenaussagen, von konkreter Textgestalt und theoretischen Modellen etwas deutlicher erkennen lassen, warum und inwiefern es anders ist, einem poetischen Text zuzuhören, als anderen literarischen Formen oder Kunstgattungen zu begegnen. Mehr über diese Unterschiede in Wahrnehmung und Verständnis zu wissen aber scheint mir essenziell: Denn nur so werden sich Gründe für das beharrliche Nicht-Aussterben von Dichtung – aller Todesanzeigen zum Trotz – identifizieren lassen.10
I. Einige Koordinaten der Lyrikdiskussion und ein Vorschlag zu ihrer Verschiebung
1. Vom Sekundären zum Eigentlichen: Das gesprochene Gedicht und seine Resonanzen
2. Vom ,verehrungsvollen Lauschen‘ zur aktiven Bezugnahme: Gedicht und Hörer steuern sich an
3- Vom ,Gemeinten‘ zu sonderbarer Verständlichkeit: Die (unterlaufenen) Erwartungen an Lyrik
II. Anziehungs- und Fliehkräfte: Gesprochene Gedichte vor dem Paradigma des (literarischen) Selbstgesprächs
1. Das ,Diskurselement‘ Selbstgespräch
2. Die polylogisch-interaktiven Strukturen von Lyrik und Selbstgespräch
3. Inkorporationen des Anwesenden vs. Ausdruck eigener Befindlichkeit
4. Lyrische Reaktionen auf die historischen Transformationslinien des Selbstgesprächs
5. Die lyrische Öffnung der Sprechposition
III. Vom Zauberspruch zur poietischen Dimension des Sprechens: Bleibt Lyrik Anrede?
1. Anreden und angeredet sein – Erweiterung und Beschneidung durch Sprache
2. Selbstformung, Weltformung, Zauberspruch – Das poietische Sprachverständnis
3. Von der Assoziation zum Respons auf Stimme und gesprochenes Wort
IV. Die Sinnsphären des ,inneren sprechens‘: Von der Alltäglichkeit lyrischer Rede
1. Nur weil etwas fehlt, kann ein Ganzes entstehen – Die Bedeutung der Lücke
2. Etwas= x, = etwas x? Prädikative Aktivität und das Einschießen von sprachabweisendem Überschuss
3. Hören, inkorporieren, Neues produzieren
4. Schwierigkeiten – Die tröstliche Absage der Lyrik an das Phantasma durchgreifender sprachlicher Erfassung
5. „abtragen von Schichten“ – De-Sedimentierungen beim Hören von Lyrik
V. Die Perspektiven der Produzenten: Vier Gespräche
1. Gespräch zwischen Mila Haugová, Walter Koschmal und Anja Utler, 14.12.2012
2. Gespräch mit Lidija Dimkovska, 14.6.2013
3. Gespräch mit Olga Martynova, 28.6.2013
4. Gespräch mit Barbara Köhler, 12.7.2013
Anhang
– Setting, Fragebögen, kritische Evaluation der Vorgehensweise
– Literaturverzeichnis
– Kurzvorstellung der beteiligten Autorinnen und Autoren
– Dank
– so beschreibt eine Hörerin die Wirkung einer Dichterlesung: Das Erlebte lässt sich nicht erzählen. Dennoch können Rezipientenaussagen zeigen, was die Begegnung mit Lyrik ausmacht – und dass diese beim Hören am besten gelingt. Der Band bietet in Auseinandersetzung mit Sprach-, Stimm- und Lyriktheorien sowie durch Gespräche mit vier Dichtern (u.a. Olga Martynova) eine Erklärung dafür. Dabei wird deutlich: Sobald Gedichte gesprochen werden, animieren sie die Hörer zu einer explorativen Selbstansprache, die den Kern poetischer Erfahrung bildet. Ein so erweitertes theoretisches Verständnis von Lyrik ermuntert zu einer selbstbewussteren literarischen Praxis, die der eigenen Interaktion mit dem Gedicht vertraut.
transcript Verlag, Klappentext, 2016
Jan Kuhlbrodt: Jenseits von Produktionsästhetik und Hermeneutik
signaturen-magazin.de
Schreibe einen Kommentar