5
Als alle Zeichen blühten mir ins Gesicht, als Phasen,
luminos und stehend, verschwindend in all der
aaaaaPracht,
früh und spät fielen in eins, und ich wusste
weder, wo wir waren, noch wer ich selbst darin sei.
Auf dem Weg kamen Gesichter
Greise hatten mich Zukunft gelehrt, die Jünglinge
aaaaaFrieden
und ich scheute mich nicht mehr vor dem Vokabel
dieser gescheiterten Maße, ich sah, ich lag richtig,
allen im Weg. Gelächter von Möwen, irrer Aufruhr
aller Spatzen in allen Bäumen, ich strich durch ein Haar
während sie Zweige von Weiden, die ich sah und nicht rühmte,
als ich sah, sie rührten sich von selbst. Vor Agonie oder Brise.
Seis drum. Sie bäumten sich auf (Gelächter) und verschwanden
kurze Zeit drauf hinter einem beliebigen Horizont von
Wort, ganz wie das Licht, das uns unverhältnismäßig,
instantan in Freude kippt, aus Jauchzen vermiedene Netze,
und wir nahmen die Schwäne und tauchten sie unter in dunkles Liquid,
träufeltens uns auf die Birnen, honey I love you today you are mine.
Ganz wie die Welt ganz mein ist wenn so beleuchtet von mir.
Ich bin dumm: von einem Licht hinter mir.
Dieses schmale, brennende Ich, sollte es alleine diese
riesigen Schatten für alle werfen, die niemand begreift?
Nennt ihr es? Ich nenn es nicht; ich nenn es Umgebung.
Rufen wir: „Herrlich. Herrlich.“ Gelächter von Pappen dazu,
Aufblenden, Fahnenkulissen, winden sich um die Antworten der Träger,
blind, Verkehrsbehinderungen markierend, die Schritte im Unbekannten,
Hände ausgedehnt, um die Verwundungen, wie erwünschte Bescheide,
möglichst zuerst zu ersehnen, und die Verwunderung alle.
– Chamisso-Preis-Laudatio für Ann Cotten. –
Jedes Gedicht braucht, was Bergson einmal als élen vital beschrieben hat. Élan ist wie eine Stimmung und zugleich mehr als nur eine Stimmung. Elan ist eine Energie. Und ich glaube, jedes Gedicht kommt aus einem élan, in dem Sinne, dass es nicht genügt, dass wir jetzt hier sitzen und Apfelwein trinken. Das ist noch kein Gedicht. Das ist trivial. Ein Gedicht entsteht erst dann, wenn noch etwas hinzukommt, nämlich dieser élan – ein Hauch von etwas mehr, etwas Undefinierbares. Ich würde nicht sagen, der Hauch des Göttlichen. Aber ein Hauch. Als ob wir plötzlich da wären und nicht da wären. Als ob wir uns sehen würden. Im Moment sitzen wir hier. Wir trinken. Wir sprechen: Das macht noch kein Gedicht. Aber wenn wir uns in dieser Zeit einen Augenblick von außen sehen: Das ist das Gedicht. Das kommt selten. Das sind diese Momente der Erhebung, die auch aus dem Trivialen erwachsen können.
Adam Zagajewski
„What is the answer. what is the question?“
„Ein Gedicht“, meine sehr verehrten Damen und Herren, lese ich, nicht minder beeindruckt, im Wortgespür des polnischen Lyrikers Adam Zagajewski, „wächst aus einer besonderen Situation, aus dem Leben heraus“. Insofern: – what ist the answer, what is the question? könnte ich in the spirit, but not imitating Gertrude Stein nachschöpfend fragen: It’s neither important where you come from nor where you go to, BUT: Wer schreibt sich wohin, wenn Sie schreiben, sehr geehrte, heute Abend auch mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis geehrte Ann Cotten?
Ich weiß nicht, ob ich dieser Spur oder, sinngebender ausgedrückt, der Fährte Ihres Schattens, diesen Münchener Augenblicken entsprechend und auf einer ihnen zeitgebührenden Denkhöhe werde die Neugier halten können.
Ich will das Experiment dennoch wagen, mitzugreifen, indem ich mich meinen Cotten-Lektüren übersetze.
Anders „inidruckt“:
Ich verstehe Ihre Literatur, aber ich habe keine Interpretation der Bilder. Nur Wahrnehmung, die Sätze bildet. Ein Ständiges im Unsteten aus der Nähe in die Distanz fortgleitendes Nächstes „Ich“ im Wesentlichen Ihres Schreibens.
Soweit so anfänglich, fiele mir nicht noch der Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Joachim Sartorius ein, der unmissverständlich konstatierte:
Es springt uns an. Ein gutes Gedicht ist wie ein Überfall. Wenn wir es lesen, scheint es, als habe die Sprache nur auf diesen Moment gewartet – auf den Moment, in dem sie ihr…
den Rest, nein, ein Rest, das wäre zu endheitlich abgegriffen, deshalb doch lieber: den Beginn der Offenbarung, jene Lichtbeute (und jenes Lichtgebeutelte) der Epiphanie überlasse ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren oder wie es Ann Cotton in ihrem Schichtengebäude namens Florida Rooms, insonderheit aus der literarischen Feder eines Cocker-Ichs mitteilen lässt:
O wie ist der Duft eines Fremden, der nicht da ist? Die größte Abstoßung wird in der Abwesenheit seiner Ursache zur größten Lockung. Da sehen Sie, was für ein Organ die Hundeseele ist. Und kein Hund ist seiner Menschenliebe so gewiss wie ein Streuner. Wir jagen und verprügeln jeden Streuner, der seine Herrschaft verlässt. In Ausnahmefällen berufen wir ein Gericht ein, das streng prüft, ob das Dummchen berechtigt ist, das heißt gezwungen war, das Verhältnis zu beenden. Vor dieser Naivität müssen die Haushunde geschützt werden. Hat man sich erst an das raue Leben gewöhnt, hat man gelernt seine Sprache zu sprechen, ist man schon ganz unbemerkt, viele schöne Eigenschaften und Bilder der Jugend los. Wir sind aber große Schwärmer, wenn niemand zugegen ist, und Gourmets des Menschendufts, vor allem ohne den Menschen.
Und ich will Ann Cotten, einer zusätzlichen Verblüffung in ihrer Textsammlung Florida Räume aus dem Jahr 2010 und einem Ihrer dichtungskritischen Äußerungen folgend (– Zitat: „Interessant wird egal was erst, wenn man dessen Modus annimmt, voraussetzt, sich schenkt und zum Konkreteren, Jeweiligen eben vordringt. Zu dem, was sich mit einem Text kapieren lässt, was ein Text kapiert und ist,“) noch mit einem zweiten O-Vertontem hörbar machen:
Vielleicht ist meine Ehrfurcht vor dem, was ist, übertrieben. Menschen sehen Eigenschaften, ich nehme die Eigenschaften hin und sehe Zeit. Die Zeit drückt sich mir aus, wie eine Pflanze sich auftut, als beobachtbarer Prozess. Ein Prozess bedeutet, dass jemand beobachtet. Zeit zeigt sich immer jemandem. Also bin ich, ich muss mich bloß vollends materialisieren.
Es ist nicht oder vielleicht doch (?) Ann Cotton, die hier spricht. Nichtsdestotrotz. Es ist gesagt, weil geschrieben. Das zeichnet sie immer wieder und aufs Neue aus. Wenn „materialisieren“ Umwandlung bedeutet, dann ist sie vernehmlich auch diese zu würdigende persona: eine Umwandlerin, fortwendende, mehr- und vielsprachige Umwandlerin. Im Sinne eines Fächers und seines innewohnenden Fächerns in einem, eines Auffächerns zudem, von außen. Mit der Haltung, jenen Schreibfächer in ihrer Hand zu sein, zu nutzen (nicht nur Seite als Luxusgeste) und gleichzeitig das Wie einer Funktion zu prüfen. Das Weshalb weiß, das ist selbstredend, um altkünftige Wörter:
Der Flügelschlag eines Schmetterlings ist so was von out. Andere Wörter wiederum sind zeitlose Klassiker. Auge, Himmel, Wolken. Hund. Du. Ich. Meine Hand, dein Nacken. Dein sarkastischer Blick.
Faltfächer also, dessen Geschichte mit der japanischen Kulturgeschichte (Japan ist Cotten nicht nur fremd) eng verbunden scheint, wenn ich der Aufzeichnung eines Buches Glauben schenken darf, ein Katalog aus dem Jahre 1891 dessen ich in der Badischen Landesbibliothek fündig wurde und der den zunächst eigenwillig daherkommenden Titel trägt: Alte und neue Fächer – aus der Wettbewerbung und Ausstellung zu Karlsruhe 1891 und der die schieren Spuren benennt, die durchaus auf ein Japanisches, insofern als man voraussetzte und mutmaßte, dass der Fächer eine Erfindung der Japaner (gewesen) sei, in ihre auch zu laudierenden Erzählungen Der schaudernde Fächer brückt.
In der Begleitpublikation zur Ausstellung Deutsche Fächer in der ehemaligen Residenzstadt sind folgende Sätze zu kosten:
Auch in das japanische Hofceremoniell ist der Fächer aufgenommen (gewesen?) und spielt dort etwa dieselbe Rolle, wie an unseren Höfen die Schleppe. Es ist ein sehr großer Falt- oder Stabfächer, welcher nur langsame, gemessene Bewegungen gestattet. Oben an den beiden Außenstäben sind Schleifen, Bänder und Quasten angebracht, welche, zur Erde herabhängend, beim Gebrauche des Fächers in eleganten Schlangenwindungen den Boden fegen. Pierre Loti beschreibt diesen Fächer in so anmutiger Weise, dass ich seine Worte hierher setzen will: „… elles agitent, ouvrent et referment constamment leurs évantails de cour, qui sont bien les plus grands évantails conus; sur les soies plissées qui les composent, sont peints de rěves très vagues presque indicibles, des moires marines, des reflets d’eau dans des nuages, des lunes pǎles d’hiver, des ombres de vols d’oiseeux qu’on ne voit pas de pluies de pételes de pěcher emportées par le vent dans des vapeurs d’avril; à chaque angle de la monture est atteché un énorme gland à fanfreluche avec de queues en chenile nuencée qui trainent par terre balayant le sable fin á mesure que la dame s’évente…“
Nehmen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Gedanken, die Sie bis jetzt vernommen haben als ausholender Prolog, als eine Bring-Schonung, Gedankenschonung mit Ausblicksausschnitt. Kein literarischer Text im vertrauten oder unvertrauteren Sinne, dafür als ein vorläufiges Resumée der in diese Laudatio eingereichten Assoziationen und Synthese einer fortwährenden Lektüre, die mit den Fremdwörterbuchsonetten begann – in nuce mit ihrem Gedicht „Metonomie, wir“:
Ich sprech für dich, lass gut sein.
Lass gut sein, sag ich. Sei
beruhigt, sage ich, ich formuliere,
da können, wenn ich fertig bin, wir beide rein.
(…)
ein Lese-Erleben, das später in die bereits erwähnten Florida Rooms einbrach, zwischendurch ihrer Elegie „Das Pferd“ einen Kurzbesuch abstattete und schließlich den „schaudernden Fächer“ zu hantieren suchte. Ich sage „hantieren“, weil der Umgang mit einem Faltfächer gekonnt sein will. Wie gesagt: Luxus, Nutzen, später Botschaft (die wundersamen Geheimzeichen der Fächersprache), aber auch dies Amusement, auch Kalkül und Epiphanie dort, wo sich ein Gesicht enthüllt (oder verhüllt)… auch, und ich wiederhole mich gern: fun.
Ich begann also meine Lese-Ausflüge in den „schaudernden Fächer“ mit den radikalen Verszeilen am Schluss des Buches:
Fear nothing, fear my love, fear nothing, fear the air,
with the souls of your feet feel it feel the jolly air
wie are too high tob e sad now, too high tob e sad,
let me go on. I’m going
on in the jolly air with a wound htat will open the afternoo,
l’m going
on, on, on in the jolly air, maybe see you soon
but I’m going
on, on, on like theres no tomorrow
don’t feel the pain, dont feel the sorrow (on, on, on like there’s no tomorrow
don’t feel the pain, don’t feel the sorrow
(…)
Nein, ich habe Ann Cottens Prosa-Werk nie in einer Art und Weise gelesen, wie es beispielsweise Sigrid Löffler in einem Interview zur „Neuen Weltliteratur“ als Lektüreparadigma für sich beschreibt:
Es gibt das Kriterium des ersten Satzes, erweiterbar allenfalls auf das Kriterium der ersten Seite. Da entscheidet sich, ob ein Buch etwas taugt, ob es sprachlich und gedanklich auf der Höhe ist und ob ich weiterlese.
Dieses Lese-Primat schürft eine Ermöglichung aus. Eine andere Wunde wäre, ein Buch (irgends) aufzuschlagen, seine vermeintliche Ordnung und die schiere Seitenzahlfolge und die von ihr behauste Zeitlichkeit zu durchgrenzen und aus einer parallelen oder mehrdimensionalen Wahrnehmungswirklichkeit ins Geschehen einzufliehen, um dabei irgendwo, irgendwann – irgends – ins Buch zu gelangen. Das wäre dann vielleicht ein Weiteres, ihre, Ann Cottons literarische Kompromisslosigkeit Auszeichnendes: Die schaudernde Mehrdimensionalität der Bewegungen aus dem Vorhandenen. Mit dem Vorhandenden ins Vorhandene. Was für ein handling – globalesisch ausgedrückt. Wie sie sich um Sätze bringt, indem Sie Sätze zulässt, die sich dann ihr bringen.
Satz-Wort-bild-Sätze-Bringen, so dass auch der Satz vollbringt, der Text.
Vor diesem, durchweg persönlichem Lese-Hintergrund erlaube ich mir „summary” zu sagen, vorläufig zumindest, sprich:
Versuch einer mehrdimensionalen Zusammenfassung oder Autobiographie einer Laudatio in 17 kürzeren und langfristigeren Sätzen:
1
Ann Cotten
2
Ihre Sätze sind, frei nach Adorno, der Mikrokosmos des Anerzählten, insofern lesen wir uns ein in (und auf) den Kosmos Ann Cotten – das Unüberschaubare schauend. Nicht schaudernd.
3
„Dichtung ist nicht Veterinärmedizin“ (Ann Cotten) „– wie, frage ich mich, bringt man um alle Welt den Eifer auf, wirklich gut zu schreiben? Und wie verwandelt man ihn in die Praxis?“ Cotten „organisiert“ neue Begegnungen der Wörter. Nicht Eingebung: Gebung wie in „gegeben“ oder „fortgegeben, freigegeben“.
4
Mit jedem W:ort Veränderung. Streaming could be. Is. Das heißt – die Handlung geht auch ohne die Erzählerin weiter. In eine Geschichte einbrechen, fortbrechen, wie man in eine Straßenbahn steigen könnte, wahrnimmt, wieder aussteigt. Ausschnitt-Figuren, Schnitt-Figuren. „Lieber also, als die volle Enttäuschung zu leben, ein Labyrinthschreiber.“ Das macht heutige Geschichten ins Heutige und Häutende lebendig.
5
„Schönheit = Möglichkeit“ oder 1 und 1 ist 1.
6
Frei nach Ann Cotten: Wie gut ist es, sich zu ärgern.
7
Bilingualität in Ann Cottens Texten könnte als ein weiterer Schattenwurf gedeutet werden, den es den Hügel hinunterzurollen gilt, dem eigenen Schatten hinterherschattend. Nur eines der Beispiele, um den Humor der Mindestens-Zwei-Sprachigkeit nicht harmlos abzufedern. Ein Sprachball, Sprachschneeball, eine Sprachlawine wider den, wider jeglichen Exotismus.
8
Sie verstehen – Höflichkeitsform – wenn Sie verstehen, den Unterschied zwischen Sentiment und Gefühl und so lese ich auf S. 139 des Buches: „Immer diese Suche nach der Vernunft, es war wie Gemüse zu schälen, die herben, signifikanten Oberflächen wegzulegen – nur um sich über die Insignifikanz der nackten Sellerie umso ergebnisloser zu wundern.“
9
Ein Ja-Abenteuer. Das ist teuer bezahlt. Das ist Existenz aus dem Essentiellen heraus, sprich: Seins-Komplizin. Ann Cottens Bücher beginnen und enden nicht im Klappentext des Verlages.
10
Cotten-Ton: „Mit der Fensterbank hatte es allerdings eine andere Bewandtnis als bloße Tugend. Sie putzte sich allmorgendlich mit demselben Lappen, mit dem sie sich zuvor ihr Gesicht gewaschen hatte. Sie bildete sich ein, auf diese Weise ihre Träume, ja sich selbst, besser als sie sich kannte, in die Fensterbank einzumassieren.“ In der Kunst, Sprache zu sein, könnte es ein Lautvermächtnis zwischen der Maserung des Holzes, als entschleunigte Geographie, und dem Akt des Massierens geben. Entwischte Spuren. Schärfer. Härter. Kantiger.
11
Aber dieses Wissen, es strotz aus jedem Wort, jedem Satzspiel Sprache um.
12
So kopfgebürtig werden diese Erzählungen realitäre Wortkunst, dass in jeder Passage auch m:ein Leser-Ich aufschauert. Mir zumindest wurde andienliche Arbeit beim Lesen und das Bereitgestellte musste sich der Entstellung stellen. Bereit weiter zu lesen. Auch an anderer Stelle. In mir.
13
Form wird zum Atemgeschöpf. Damit auch leiblich. Körperkunft. Lauert Rettung dann in der Ironie. Selbst? Und doch eine Sehnsucht!? In den Fremdwörterbuchsonetten schon vorweggenommen?
14
LiebSchauPlätze – wie viele Augen haften sich los, wenn doch nicht alle Altwörter abgewetzt, vernutzt sind? What ist the question, what is the answer?
15
Irr-Sinn ist auch sound. „Falscher Jasmin?“ setzt voraus, dass es einen echten gibt. Wo mündet dann der Reim?
16
Wiederum und nicht zum Schluss: Ann Cotten.
17
Siebzehn Erzählungen. Eine Primzahl, die sich ergibt, nicht nachgibt. Primzahl sei eine Zahl, hat man mich einst gelehrt, die nur zwei Teiler habe. Heute Abend spiele ich mit dieser Zahl. Zwei Teiler: das Buch selber und die Autorin. Ich als Leser stelle fest, ungeteilt: Wie schön, dass es Bücher gibt, die ich immer wieder zuklappen muss, weil Substanz aufwühlt und Ruhe braucht, um sich ihr wieder zu stellen.
Sehr verehrte Damen und Herren der diesjährige Adalbert-von-Chamisso-Preis ist eine Auszeichnung für die Dichterin Ann Cotten und Ann Cotten ist die beste Auszeichnung in diesem Jubliäumsjahr für den Adalbert-von Chamisso-Preis: In Bewegung beide. Die Dichtung durch sie, der Preis durch ihre Dichtung. Wider alle Unkenrufe und Pseudodebatten. Auch die der letzten Tage. Insofern freue ich mich auf die nächsten Jahre.
Herzlichen Glückwunsch, liebe Ann Cotten, wie schön, dass Sie diesem Preis auch eine andere, neue Zeit schenken.
José F.A. Oliver, 6.3.2014
Im Rahmen der Offenburger Literaturtage Wortspiel stellen wir Autoren und ihre Werke vor. In seiner Reihe dichter:innen präsentiert der Lyriker José F. A. Oliver die Chamisso-Preisträgerin Ann Cotten.
Es ist bisweilen schwierig, den Gedankengängen und Wortschöpfungen einer Dichterin zu folgen, die, wie Ann Cotten, eine Wortspielerin ist. Oliver, der die Adalbert-von-Chamisso-Preisträgerin am 30. April in der Buchhandlung Akzente im Rahmen der Offenburger Literaturtage Wortspiel präsentiert, drückte es in seiner Laudatio so aus:
Ich verstehe ihre Literatur, aber ich habe keine Interpretation der Bilder.
Er habe „nur Wahrnehmung, die Sätze bildet“.
Ein gutes Gedicht sei wie ein Überfall, zitiert Oliver den Literaturkritiker Joachim Satorius. Und das trifft auf die Lyrik von Ann Cotten zu. Cotten sei eine „Umwandlerin“, sagt Oliver im Gespräch mit der Mittelbadischen Presse.
Jutta Hagedorn: Im vergangenen Jahr haben Sie die Laudatio für Ann Cotten zum Chamisso-Preis gehalten. Wie und wo haben Sie sich kennengelernt?
José F. A. Oliver: 2007 bei einem Autorenessen des Suhrkamp Verlages in Frankfurt a.M.; aber ich hatte zuvor schon Ihren Gedichtband Fremdwörterbuchsonette gelesen. Danach ihre Erzählungen. Im letzten Jahr war mir schließlich die Ehre zuteil geworden, die Laudatio auf sie zu halten, als die Robert Bosch Stiftung ihr in München den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2014 verlieh.
Hagedorn: Was hat ihr Schreiben, dass Sie davon eingenommen sind?
Oliver: Ihre Lyrik und Prosa sind für mich einfühlsam-„wilde“ und dennoch sprech- und sprachgebändigte Inspirationsgebilde. Eine vehemente Herausforderung, selber Sprache ins Ungewohnte wie Unbewohnte der Bedeutungen zu sein, wenn ich sie lese. So kann ich den Wörtern und ihren Geistern begegnen. Texte wie Geigerzähler. Ihr Mut zum literarischen Experiment – streichelnd radikal und genau – und ihre vielschichtige Schreibhaltung sind aufrührend und aufrührerisch. Ein ausfransendes Kaleidoskop aus fremdschönen Gedanken und Gefühlen.
Hagedorn: Sie nannten sie eine Umwandlerin.
Oliver: Sie bricht Perspektiven in verrückende Wendungen. Sie verstört und das ist gut. In einem Gedicht schreibt sie: „als wär ein Eck in meinem Denkvermögen / oder ein Leck im Rohr von Hirn zu Kopf:“ Ja, „Anecken“ – das wäre ein richtungsweisendes Bild für die Konsequenz ihres Schreibens.
Hagedorn: Bislang hat sie Lyrik geschrieben mit einigen Prosa-Einschüben, 2013 ihr schaudernder Fächer, eine Erzählung. Wo liegen aus Ihrer Sicht ihre Stärken/Schwächen?
Oliver: Wie gesagt, sie weitet Sprache und legt die Verse und Sätze in die Verantwortung des Lesers. Das ist alles andere als eine Schwäche. Es ist ein Bewusstseinsgeschenk. Eine poetische Sprachdimension, wie sie heute vonnöten ist angesichts der Lebenswirklichkeiten, die so aggressiv, oft unerklärlich daherkommen. Im Grunde eine Schreibhaltung wider sinnhohle Sprachinhalte, die verharmlosen oder schönreden, bzw. umlügen. Man muss sich allerdings auf ihre Bücher einlassen.
Hagedorn: Ganz leicht zu lesen ist es nicht.
Oliver: Es ist keine Feierabendlektüre, sondern eine Literatur, die vom Leser Bereitschaft verlangt, ihr zu begegnen und Arbeit einfordert. Wenn man dazu gewillt ist, wird man reich belohnt.
Hagedorn: Spiegel online schwärmte von „literarischen Schmuckstücken“, ein Prosastück, „das seine Qualitäten komplett aus Dichtung und Sprachkunst schöpft“ – damit kann der Durchschnittsleser nicht viel anfangen, fürchte ich.
Oliver: „Schmuckstücke“ ist ein seltsam unpassendes, eigentlich ein völlig ungeschicktes Wort für Ann Cotten. Dichtung und Sprachkunst sind Antworten auf das Leben und die Verletzungen des Alltags. „Schmuckstücke“ – das klingt liebreizerisch nach wortkünstlerischer Deko. Nein, ihre Kunst ist ein Wortfeuer. Man kann sich daran erwärmen, aber auch verbrennen.
Hagedorn: Sie scheint mit Sprache sehr großzügig/frei umzugehen – doch was heißt das bei einer Dichterin? Ist das nicht gerade Sinn und Zweck?
Oliver: Sie geht mit (ihrer) Sprache so um, wie sie es muss. Das ist, glaube ich, weder „großzügig“ noch „frei“, sondern eine innere Notwendigkeit der Fragen, die sie beschäftigen.
Hagedorn: Ihr Schreiben ist offensichtlich gleichzusetzen mit dem Nachdenken über das Schreiben, also keine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis? Kommt da die Literaturtheoretikerin durch?
Oliver: Das ist sie natürlich wunderbarerweise ebenfalls: Eine Dichterin, die sich über die Bedingungen, das Werden, das Gelingen und Misslingen von Literatur Gedanken macht. Eine Voraussetzung ins Experiment.
Hagedorn: Für wen schreibt man derartige Prosa und Lyrik?
Oliver: Für sich und für andere. Die Leserschaft ist so vielfältig und unterschiedlich wie die Schriftsteller. Jeder literarische Text hat auch seine Leserschaft. Sich darauf einzulassen, heißt, die Wahrnehmung zu schärfen.
– Sie wurde in den USA geboren, wuchs in Österreich auf und schreibt auf Deutsch. Ann Cotten gilt als literarisches Wunderkind mit Lust auf Abenteuer. Jetzt wird sie mit dem renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. –
Sieht man sie zum ersten Mal, haftet ihr etwas Burschikoses, fast Sprödes an. Eine zurückhaltende junge Frau, dick eingemummt in Wintermantel und Mütze, die Sätze anfängt, abbricht, wieder von Neuem beginnt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man hinter dem schrägen Pony, dem nervösen Flirren ihrer braunen Augen, etwas Zerbrechliches. Ann Cotten umweht ein Geheimnis, genauso wie ihre Literatur.
Freiheit ohne Heimat
Mit fünf Jahren zog sie mit ihren Eltern von Iowa nach Wien, tauschte amerikanische Kleinstadt gegen die europäische Kulturmetropole. Die Tochter von zwei Naturwissenschaftlern lernte erst hier Deutsch. Jene Sprache, die sie später minutiös sezieren und zu etwas völlig Neuem zusammensetzen sollte. „Heimat bedeutet mir eigentlich nichts“, meint sie lapidar. „Ich fühle mich nicht irgendeinem Land zugehörig. Und das macht einen auf jeden Fall sehr frei.“
Diese Freiheit ist auch in den Texten von Ann Cotten zu spüren. Aus der Distanz beobachten, dazwischen statt mittendrin sein – diese Rolle gefällt ihr am liebsten. Begonnen hat sie mit Gedichten, die sie auf Poetry Slams vortrug. Kleine literarische Miniaturen, die sich weder um Grammatik noch um Satzbau scherten. Statt spätpubertärer Lyrik gab es messerscharfe Sprachakrobatik.
Wozu den Inhalt überhaupt beginnen?
Kaum fängst du an, bist du davon von Sinnen,
besinnst du dich, fängst an mit seinem Ausbau,
beginnst, ihn zu verstehen, geht er aus. Schau.
Weltenbummler auf Sinnsuche
Mit solchen Gedichten beeindruckte Ann Cotten sogar Friederike Mayröcker, die Grande Dame der deutschsprachigen Lyrik, und brachte mit Mitte Zwanzig ihr erstes Gedichtband heraus. „Man ist so darauf trainiert, zu bestimmten Sachverhalten immer die passenden Phrasen drauf zu haben“, erklärt die 31-Jährige. „Wenn man aber sprachspielerisch arbeitet wie ich, wird man diese Klischees relativ schnell los.“
Eine Zeitlang experimentierte Ann Cotten, mischte Prosasprengsel in ihre Gedichte ein. Jetzt ist ihr erstes Buch mit reinen Erzählungen erschienen. Der schaudernde Fächer ist ein dunkles Tableau mit 18 Geschichten. Sie alle kreisen um die Abwesenheit von Liebe. Von Berliner Bars über die algerische Wüste bis zu einem japanischen Erlebnisbauernhof reicht die geografische Spannweite. Einsame Weltenbummler stürzen sich ins Leben, dröhnen sich mit Drogen voll, immer auf der Suche nach etwas Besonderem.
Hat sie denn nie erfahren, dass ihr Liebespartner natürlich nur am Trip interessiert ist, von ihr nur den Trip mitbekommt, auf den sie ihn befördert? Was hat ein anderer von ihrem Innenleben, was soll er damit anfangen?
Die Sprache der Anderen
So nüchtern und abgeklärt kann Ann Cotten unsere Sehnsucht nach Liebe entlarven. Und das so souverän und so präzise, dass sie jetzt mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt wird. Jener Auszeichnung, die seit 1985 Schriftsteller ehrt, die auf Deutsch schreiben, deren Muttersprache aber eine andere ist.
Damit reiht sich die Austro-Amerikanerin in eine Liste mit Preisträgern wie Rafik Schami, Feridun Zaimoglu und Terézia Mora. „Ich bin sehr dankbar über die Auszeichnung“, gibt Ann Cotten zu. Schließlich ist sie auch mit 15.000 Euro dotiert. Viel Geld in einer Branche, wo sich junge Autoren oft von einem Literaturstipendium zum nächsten hangeln müssen.
Fordern statt einlullen
Kompromisse machen, sich dem Marktgeschmack anpassen – das ist nichts für Ann Cotten. Vielleicht ist sie auch deswegen 2007 nach einem Germanistikstudium in Wien nach Berlin gezogen. „Es ist eine extrem fruchtbare, offene Stadt voller Möglichkeiten, wo man gut durchkommen kann“, erklärt sie. „In Wien oder in München wäre so ein Leben schier unmöglich. Außer man baut sich sein Schilfhüttchen an der Isar.“
Ann Cotten wohnt lieber im ehemaligen Berliner Arbeiterbezirk Wedding. Die Akademikertochter aus gutem Hause liebt es, Erwartungen zu unterlaufen, auch in ihrer Literatur. Handfeste, lineare Plots sucht man bei ihr vergeblich. Narrative Spuren werden sofort verwischt.
Ihre Bücher gleichen eher Bewusstseinsströmen, wilden Assoziationsketten. „Das ist genau das, was mich interessiert, auch wenn ich selbst lese. Mich unterhalten diese klaren Handlungsstränge und Klischeeanhäufungen nicht“, erzählt sie mit einem leicht trotzigen Unterton.
Ihre filigranen Sprachkunstwerke haben nichts von dieser einlullender Gemütlichkeit. Man muss sich Ann Cottens Gedichten und Erzählungen langsam nähern, hellwach und bereit, ein Abenteuer einzugehen. Erst Schritt für Schritt entfalten sie ihre Magie. Aber dann kann man sich ihrem eigenartigen Sog nicht mehr entziehen.
– „In mir ist etwas angelegt, das die Abweichung immer bejaht“ sagt Schriftstellerin Ann Cotten. Außerdem spricht sie über deutsche Vokabelarmut, afrikanische Rhetorik und das Spiel mit dem Bestreben, einen „wirklich guten“ Text zu schreiben. –
Judith von Sternberg: Frau Cotten, können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie Deutsch gelernt haben?
Ann Cotten: Nein, eigentlich nicht.
Sternberg: Sie waren fünf…
Cotten: Ich erinnere mich nur an einzelne Szenen, in denen ich wahrscheinlich unrecht hatte. Ein Streit mit meiner Mutter um eine Wortbedeutung, weil ich dachte, ich könnte besser Deutsch als sie. Nach drei Jahren stimmte das vielleicht, am Anfang sicher nicht.
Sternberg: Aber vom Spracherwerb selbst wissen Sie nichts mehr?
Cotten: Null. Aber ich finde das nicht so merkwürdig. Vielleicht ist es normal, wenn man auf eine Sache seine ganze geistige Energie verwenden muss. Ich erinnere mich zum Beispiel auch nicht mehr an meinen ersten Sex. Natürlich weiß ich die Eckdaten, wie man so sagt, aber an die Situation selbst habe ich keine Erinnerung.
Sternberg: Waren Sie als Schülerin gut in Englisch?
Cotten: Ich war überhaupt keine gute Schülerin. Ich konnte bereits lesen, worauf ich ganz stolz war, aber ich konnte nur Englisch lesen. Jetzt half mir das auf einmal gar nichts, aber die Arroganz war da. Es müssen komische Turbulenzen in meiner Wahrnehmung gewesen sein.
Sternberg: Prägt es Ihren Blick aufs Deutsche, dass es nicht Ihre erste Sprache ist?
Cotten: Bestimmt. Ich habe Phrasen und Redewendungen nicht als kleines Kind bei meinen Eltern gehört, was sie einem ja irgendwie vertraut oder lieb macht, sondern draußen bei anderen. Vielleicht nehme ich das Deutsche zum Teil objektiver wahr, zum Teil aber auch mit einer ganz unmenschlichen Skepsis. Sprache braucht Wärme, eine entfremdete Sprache ist nicht besser.
Sternberg: Fühlen Sie sich der deutschen Sprache fremd?
Cotten: In einem nicht negativ gemeinten Sinne: ja. Es gibt für mich keine Automatismen. Viele Leute sprechen so, als sei es eine Anstrengung, aus den Konventionen auszubrechen. Für mich ist die Anstrengung, die Konventionen zu erfüllen. Das ist keine große Leistung, keine große Kreativität, wenn ich abscheuliche Bilder verwende. Die Anstrengung besteht eher darin, das ein bisschen einzudämmen, es zu zivilisieren.
Sternberg: Eine Ihrer Erzählerinnen in Der schaudernde Fächer beklagt die „scheußliche Vokabelarmut“ im Deutschen. Beklagen Sie das auch?
Cotten: Im Englischen oder Russischen gibt es viel mehr Vokabeln. Was aber nicht nur ein Vorteil ist. Englische Lyrik kann geradezu ertrinken darin. So viele Hauptwörter, man schwelgt darin, aber es passiert nichts. Anders, wenn man eine so spröde und komplizierte Grammatik hat wie im Deutschen. Die Vorsilben zum Beispiel bringen einen Ausländer völlig auf die Palme. Der ästhetische Vorteil kann jedoch sein, dass die Sprache weniger farbengesättigt ist und dafür grafischer wird, dynamischer. Für Lyrik ist das ein Vorteil, finde ich, bis man dann partout ein statisches Gedicht schreiben will, zum Beispiel bei Übersetzungen aus dem Englischen. Dann ist es wieder problematisch, dass die Verben dreimal so lang sind und aus zwei Teilen bestehen, und die ganze schöne Schlichtheit ist am Arsch. Man sagt aber trotzdem, das Deutsche sei eine gute Übersetzungssprache, weil man andere Idiome relativ gut nachmachen könne. Ins Englische übersetzt klingen Texte meistens nur gestelzt.
Sternberg: Ins Deutsche übersetztes Englisch klingt oft simpel.
Cotten: Das ist ja beliebt und ich mag es auch. Dass etwas schlicht ist, dass einmal Schluss ist mit der Fuchtelei und Überladenheit, die es in meinen Texten zum Beispiel gibt.
Sternberg: Wie viele Sprachen können Sie?
Cotten: Deutsch, Englisch, Französisch, würde ich sagen.
Sternberg: Sie lernen Japanisch.
Cotten: Und Russisch. Aber sehr sporadisch. Das geht langsam voran.
Sternberg: Sie lernen Sprachen nicht, um als Touristin besser zurechtzukommen, oder? Es kann nur darum gehen, dass Sie das für Ihre Arbeit brauchen. Aber was daran? Vokabular, Grammatik?
Cotten: Vokabular und Grammatik auf jeden Fall. Übers Lateinische kann ich vielleicht besser sprechen, weil es eine vergangene Liebesgeschichte ist. Heute würde ich mir nicht einmal zutrauen, verlässliche Nachhilfe zu geben. Das Lateinische wirkte auf mich extrem sinnlich, weil die Fälle stark sind, dann die grammatischen Figuren, die zum Teil wie stärkere Versionen von Sprechweisen waren, die ich aus dem Englischen kannte, wie Acl, und zum Teil ganz neu für mich waren. Der Ablativ ist wie ein Märchenprinz mit einem Allzwecktool in der Hand.
Sternberg: Sie brauchen Fremdsprachen, um Ihren eigenen Umgang mit Sprache anzureichern?
Cotten: Wenn ich es so überlege, ist es aber vielleicht gar keine gute Idee, weil ich ohnehin schon so viel Quark anstelle in meinen Texten. Wenn ich mir etwas vornehmen würde, dann eher, ein Stilwörterbuch zu studieren. Ich würde gerne so schlicht schreiben können, dass der Text nicht auffällt. Vielleicht gelingt es mir auch ab und an, aber immer weniger, je mehr ich mich anderen Sprachen und meiner Vorliebe für Absonderlichkeiten hingebe.
Sternberg: Sie schreiben im Fächer, es sei eine typisch deutsche Eigenschaft, innerlich bewegt und äußerlich träge zu sein.
Cotten: Ein polemischer Text.
Sternberg: Sagt das aber nun mehr über Sie oder über die Deutschen?
Cotten: Beides zugleich. Es ist eine Karikatur, die nicht neu ist, aber die Art, wie ich in der Erzählung aggressiv spotte, gibt dem Text selbst ein wutverzerrtes Gesicht. Also fällt es schon auf die Erzählerin zurück. So ist es jedenfalls von mir gedacht. Mit einem so allgemeinen Satz über deutsche Eigenschaften kann ich ansonsten wenig anfangen. Das ist es vielleicht, was mich tatsächlich an den Deutschen stört. Die Tendenz, immer eine allgemeine Gültigkeit zu finden. Es wird diskutiert, als gehe es darum, eine möglichst hohe Anzahl von allgemeinen Aussagen zu produzieren, die wahr sind. Auch in der Entscheidungsfindung geht es immer darum: entweder das oder das. Zwei völlig absurde Positionen werden manchmal als Alternativen dargestellt. Dieser Tick zum Wählen ist eine massive Denkbehinderung, glaube ich. Das Problem haben natürlich nicht nur die Deutschen, das haben viele rhetorisch übergeschulte Sprachen. Das afrikanische Englisch zum Beispiel ist ein rhetorisches Monstrum.
Sternberg: Tatsächlich?
Cotten: Ich habe oft Schwierigkeiten, mit englischsprachigen Afrikanern zu diskutieren, weil ich mich überrollt fühle von einer riesigen Rhetorikwelle. Bei Sprachen, die eigene Wege nehmen, zum Beispiel immer eine Zweitsprache sind und immer im Umgang mit Kolonisatoren gesprochen wurden, entwickeln sich ganz eigene Traditionen. Ich glaube, dass da auch kollektive Traumata eingeschrieben sind – im Englischen ja bereits. Amerikanische Rhetorik beispielsweise ist extremes Macht-Panik-Sprech.
Sternberg: In der ersten Erzählung des „Fächer“-Bandes stellt sich die Erzählerin die Frage, woher man den Eifer nehmen soll, wirklich gute Literatur zu schreiben. Wo nehmen Sie den Eifer her?
Cotten: Es ist wie bei vielen Genüssen eine Lust, aber auch eine Anstrengung. Wobei es mir an der Stelle eher um die Frage ging, woher ich den Eifer nehmen soll, das Stilwörterbuch zu studieren, um „gut“ zu schreiben. Ich will meine Spiele spielen, das macht mir Spaß, aber es ist nicht unbedingt gut.
Sternberg: Ach so, mit „wirklich gut“ meinen Sie gar nicht das, was Sie selbst schreiben.
Cotten: Nein, ich meine: wirklich gut. Als ich einmal Ornamente gezeichnet habe, fiel mir auf, dass in meiner Struktur offenbar etwas angelegt ist, das die Abweichung immer bejaht. Ich versuche, den absolut schönen Kreis, die gerade Linie zu zeichnen, aber meine Finger sind bis in die Spitzen darauf trainiert, die Abweichung gutzuheißen. Ich glaube, das zeugt von einer sehr angenehmen Kindheit. Mein Wille reicht nicht tief genug, um mich an diesen kleinen Ausscherereien zu hindern.
Sternberg: Sie wären vermutlich keine Künstlerin, wenn Sie den kugelrunden Kreis zeichnen würden, dafür aber eine gute technische Zeichnerin.
Cotten: Ich glaube, es wäre voreilig, sich damit zufrieden zu geben, nicht perfekt sein zu wollen. Natürlich kann ich nicht wie ein Computer zeichnen, aber die Bemühung darum macht etwas mit mir. Ich habe genug Chaos in mir, um froh zu sein, wenn ich mich um klare Formen bemühe. Ohne die Liebe zur unerreichbaren Perfektion, zu Gott, wie immer Sie es nennen wollen, wäre Kunst auch nur so ein Kacken. Wenn man sich damit zufrieden gibt, das Fleischliche, Fehlerhafte zu feiern.
Sternberg: Wie schreiben Sie?
Cotten: Es beginnt jedenfalls nie mit einem leeren Blatt. Das leere Blatt ist nur ein Mittel, um etwas aufzuschreiben. Es gibt eine charakteristische Trias. Meistens ist es so etwas wie ein Setting oder eine Schönheit, etwas, worüber ich physisch gerne schreiben möchte. Dann ein Gedanke, eine Konstellation von Begriffen. Dann ein Funke: ein erster Satz, eine Geste, irgendetwas, was diese beiden Elemente in Verbindung setzt. Das ist die Eröffnung des Spiels. Nicht das Passende interessiert mich dabei, sondern das, was etwas schräg zueinander steht. Dann schaue ich praktisch, dass ich irgendwie schreiben kann. Wie und wo ist weitgehend egal. Es gibt keine Rituale, keine Regelmäßigkeit.
Sternberg: Sie sind bisher vor allem Lyrikerin, Der schaudernde Fächer ist ein Erzählungsband. Elemente von einem Roman sind auch schon da.
Cotten: Obwohl es mir lieber wäre, etwas, was eine bestimmte Länge und thematisch miteinander zu tun hat, nicht gleich als Roman zu bezeichnen. Der Roman, auch wenn es ein sehr freier Begriff ist, hat ja noch mehr Charakteristika: die Entwicklung von Figuren vielleicht, der äußere Anschein einer zusammenhängenden Handlung. Wenn ich einen Roman schreiben wollte, würde ich es schon so anlegen, dass diese Dinge eine Rolle spielen.
Sternberg: Wäre das ein Ziel?
Cotten: Im Moment nicht. In Japan geht es um ein Projekt, bei dem ich versuchen werde, ein Langgedicht zu schreiben, das sich mit japanischen Kanji-Schriftzeichen beschäftigt. Es gibt zahlreiche Kanji-Schulen für erwachsene Ausländer, viele benutzen Eselsbrücken für die Zeichen und haben das für andere auch schriftlich niedergelegt. Das kombiniere ich mit der kursierenden These über „unsere“ griechischen Ursprünge, dass poetische Techniken wie Reim und Metrum sich als Memorierhilfen für lange orale Texte entwickelten.
– Die Tore des Einfalls weit geöffnet: Ein Treffen mit Ann Cotten, dem neuen Wunderkind der deutschsprachigen Literatur. –
Am Backsteinbau des alten Umspannwerks in der Kopenhagener Straße kommt die Sonne gerade noch vorbei. Sie trifft auf den Wilden Wein am Lokal Kohlenquelle. Es ist kurz warm geworden, und wo die Bohème des Prenzlauer Bergs die Pläne für den Durchbruch noch einmal überdenkt, dort sitzt Ann Cotten im Freien vor einem Glas Rhabarbersaftschorle und raucht. Das Haar ist weniger punkig als früher, und ihr ehemals türhüterische Trotz scheint einer neuen Sanftheit gewichen.
Ein Idyll mit dem Wunderkind der deutschsprachigen Literatur, wenn man das bei einer Einunddreißigjährigen noch sagen kann. Vielleicht ist Ann Cotten auch ein Engelkind. Denn wenn es in der Poesie so etwas wie einen Mayröckerhimmel gibt, dann gehört Cotten zu seinen friedlichen Heerscharen, zu denen, die’s der Herr eben nicht im Schlaf, sondern in luzidesten Wachzuständen gibt. Und den Chamisso-Preis, der für ein Werk vergeben wird, dem man den „Sprach- und Kulturwechsel“ aufs Schönste ansieht, gibt’s gerade obendrauf.
Ein paar Bücher sind es bisher nur von Ann Cotten und die nicht einmal besonders dick. Aber sie alle sind Ansagen in einem ästhetischen Betrieb, der mitunter lange auf neue Zündstufen hofft. Bei Cotten ist alles anders: Ihre Fremdwörterbuchsonette, mit denen sie mit Mitte zwanzig bei Suhrkamp debütierte, sind keine Sonette im klassischen Sinn, sondern Stroboskopblitze am Firmament der Erfahrung, sie schießen aus der Sprache und sie treffen, eben weil sie oft knapp daneben zielen. Man ist mitten im eigenen Zimmer, an der Webcam, „Zwischen den Stühlen“, wie eines der Sonette heißt oder in der Heimat, einer „Impersonation“:
Ob Mann, ob Frau, sie liegen über Hügeln,
short of amorph, in diesen Versionen
der Dunkelheit, im Schatten ihrer Flügel.
Um Paare geht es oft bei Cotten, um Annäherungen und Entfremdungen, um Versuche, bei den Spielen des Sozialen draußen zu bleiben, stiller Beobachter zu sein. Man hat der Dichterin selbst mitunter Sprödigkeit nachgesagt. Sie sagt:
Aggressivität schützt vor Zugriff auf noch nicht fertig entwickelte Gedanken. Man kann mir in Gedanken reinfunken oder mir Ekel einflößen, dann wäre mir der Gedanke verdorben.
Man will Ann Cotten keinen Gedanken verderben, der zu Büchern führen könnte wie den Florida-Räumen, in dem das Kreative Schreiben satirische Volten schlägt, um als voller Ernst wieder auf die Beine zu kommen. Fiktive Autoren wie die „Agentin“, „Der Cocker“, „Bettine & Bettines Mutter“ oder „Ann Cotten“ liefern Gedichte, Prosa und Theorie an ein Solothurner Literaturinstitut, das nichts anderes ist als der Kopf der Schriftstellerin selbst. Die Höhenflüge des Banalen und die unsanften Landungen des Tiefsinns erweitern den Raum, den „Florida-Raum“, bei dem man eigentlich gar nicht weiß, was er ist. Ein Multiversum? Oder ist es, schon der klanglichen Ähnlichkeit halber, ein Fluidum.
Mit dem Flüssigen habe sie es nicht so, sagt Ann Cotten, weil da gleich die Säfte ins Spiel kommen und eine gewisse Erotik, lieber sei ihr die Luft. Ariel, der Luftgeist. Für gängige Shakespeare-Inszenierungen müsste man nicht einmal an der Frisur viel ändern, und umgekehrt wäre auch in den Büchern Platz für Travestien.
(…)
In der Kleinstadt Ames in Iowa wurde Ann Cotten 1982 geboren. Als sie fünf war, ging es vom flachen, tiefsten Amerika mit seinem Mississippi, den Öltürmen und den weiten Feldern nach Wien. Wenn da Welten dazwischen liegen, dann ist in Ann Cotten jedenfalls eine Ahnung für Abgründe geblieben. Amerika, das ist die Wirklichkeit, wie sie eben ist, Wien, das ist ein großes Vielleicht.
Dass mit dem Germanistikstudium auch noch die experimentelle Poesie vom Schlag der Wiener Gruppe über sie hereingebrochen ist, kommt in etwa der Kant-Krise Heinrich von Kleists gleich. Vielleicht, dass die Wiener Gruppe in ihrer Mischung aus größter Unschuld und durchtriebenster Intelligenz dem Zustand des Kindes glich, das Ann Cotten bei ihrer Ankunft in Wien gewesen sein muss. Mit den Wörtern haben die Herren einen Schabernack getrieben, den es bei der sogenannten Konkreten Poesie bekanntlich bisweilen weniger gab. Trotzdem hat Cotten die Mühen auf sich genommen, ihr Studium mit einer Arbeit über „Die Listen der Konkreten Poesie“ abzuschließen. Dass die Konkrete Poesie viele längst verstaubte Archivalien hinterlassen hat, ist ihr nicht entgangen, aber gleichzeitig glaubt auch sie, dass die Wörter Gebilde sind, dass sie Formen, Strukturen und eine eigene Physik haben. Was sie mache, sei Onomatopoiesis, der Versuch, der fühlbaren Beschaffenheit der Wörter nachzugehen, sie mit der Gegenwart kollidieren zu lassen. Die Verschiebungen, die Knirschstellen in der Sprache bleiben dabei hörbar.
Alles Glatte, eine Geschichte womöglich, interessiert sie nicht. Abbildungsprosa und Sentimentalität? Nein danke! Was Ann Cotten schreibt, das rührt nicht im Seelensud und will die wirklichen Bäume nicht mit künstlichen übertreffen, es ist in jedem Wort und in jedem Satz erlebnis- und erfahrungsoffen, es glaubt daran, dass durch die Einfallstore des Denkens und Empfindens genau das kommt, was es braucht: der Einfall.
Literarische Arbeit ist bei Ann Cotten immer auch Poetologie, Nachdenken über das Schreiben und Schreiben selbst sind für sie wie Ein- und Ausatmen. Ihre poetologischen Essays gehören zum Stoffwechsel einer Generation junger Lyriker, die sich auf einschlägigen digitalen Schauplätzen schon einmal einen Schlagabtausch liefern können, wenn Cotten wieder richtig hinlangt. Wenn sie in einem Essay „Etwas mehr“ fordert und gegen die „bürgerliche Trauerlyrik“ polemisiert, die da so sentimental um alle Ecken kommt. „Rührung und Begeisterung und ein bisschen Lebenshilfe sind zu wenig!“, schreibt die Dichterin denen ins Stammbuch, die zur Selbstergriffenheit neigen. „Ohne Befindlichkeit kann man nicht einmal in der Früh aufstehen.“ Aber muss man deshalb gleich Lyrik daraus machen?
Und auch die nüchternen Realisten kriegen ihr Fett weg. Der Ernst muss etwas Spielerisches haben, sonst ist er für die Erkenntnis verloren. Nach diesem Prinzip sind Cottens Bücher geschrieben, und mit genau diesem Prinzip können sie den Leser in den Wahnsinn treiben. Unschuld oder Überschmäh? Bei Ann Cotten weiß man es nicht so genau, und auch wenn man ihr in die braunen Augen schaut, dann wird man nicht schlauer. Sie ist ungerührt. Wie eine Heldin, von ihr selbst erfunden. Nur eben etwas weniger spröde als früher. Wie kam die Änderung?
Beziehungen, Gespräche, Interventionen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, die richtige Distanz zu den Menschen zu finden oder sie auf eine brauchbare Weise schwanken zu lassen.
So einfach kann es sein.
Man kann sich mit Ann Cotten Gedanken machen über das, was in der deutschen Literatur so piefig und behäbig ist, und wo man dringend mal durchlüften müsste. Zur Lockerung versuche sie, die deutschen Philosophen wie ein Bauer zu lesen, in aller Unschuld. Oder sie liest japanische Philosophen, die sich in den Zwanzigerjahren mit Nietzsche auseinandergesetzt haben, da bekämen die tonnenschweren Begriffe noch einmal Flügel, die Gedanken seien voll japanischer Kargheit und hätten zugleich eine große Leichtigkeit. Ann Cotten lebt in solchen Transformationen und geht in ihnen auf.
In ihren neuen Erzählungen schwingt der Sound der russischen Literatur, und auch Japan ist ein fixer Bestandteil des Settings.
Nach der Lektüre alter japanischer Erzählungen wusste ich, es geht doch, es geht ohne die ranzige Patina, die bei uns auf den Erzählungen liegt. Bei uns lehnt man sich im Erzählen immer zurück und erklärt, wie die Dinge waren. Die japanischen Erzählungen sind ganz unbefangen.
Unbefangenheit ist ein Wort, das bei Ann Cotten immer wieder vorkommt. Ist denn diese ausgebuffteste aller jungen deutschen Schriftstellerinnen wirklich unbefangen? Wahr wenigstens ist, dass sie von Konventionen nicht viel hält. Sie lebt und schreibt in Übergängen.
Wo auch immer Ann Cotten ist, was auch immer sie tut, sie wird die kulturellen Verschiebungen erkennen. An der Uni im japanischen Nagoya hat sie ein Seminar gehalten und ist dabei mit dem Versuch gescheitert, den Studenten Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus näherzubringen. Der Text über Seumes Marsch quer durch Europa war für diese Klientel zu kompliziert, aber aus den Referaten über Seume wurde eine Art Stille Post: Was die Japaner von Seume verstanden haben und was sie meinten, warum er nun ausgerechnet zu Fuß losgezogen ist, wurde zu einem Text für sich.
Später hat Ann Cotten noch einmal eins draufgesetzt. Die Französische Revolution und Napoleon. Japan ist Cottens fast utopisches Gegenstück zu Europa, das Land, in dem es sich sein lässt, weil man nicht alle Gefahren der Kultur kennt, weil man nicht alles versteht, was die Leute in der U-Bahn reden, und weil in diesem Kokon der Fremde am Ende auch vieles egal ist. Muss man alles wissen? Und wenn man etwas missversteht, was ist dann? Selbst zum Unsinn gibt es einen schönen Satz von Ann Cotten:
Unsinn ist ja so ein Begriff wie Ausländer, denn im Prinzip könnte irgendjemand sich in jeden denkbaren Unsinn hineinarbeiten, ihn temporär zur Heimat erklären.
Auch in Berlin kann vieles einfach mal egal sein. Wenn man im Wedding lebt, wie Ann Cotten, und vom Fenster aus die Flugzeuge des nahen Tegel starten und landen sieht, wenn man über die Brachen der Stadt zieht, oder vor der Kohlenquelle dem idyllischen Treiben auf der Kopenhagener Straße zuschaut. Gerade wird auf einem Fahrradanhänger ein alter Mann in einem Rollstuhl vorbeigefahren. Es ist ein Ensemble von größter Selbstverständlichkeit. Hoch oben sitzt der Herr auf seinem Vehikel, als wäre die Gebrechlichkeit ein reiner Triumph. Es ist ein schönes Bild. Im großen Stroboskop Berlin zuckt es kurz auf. War da was? Die Sonne ist weg. Wir nicken uns zu, wir zahlen.
Jochen Jung: Eine aufregende Ausweitung der Idee Roman
Ann Cotten und Antye Greie alias AGF (EPHEMEROPTERAE IX), 2015.
Ann Cotten im Gespräch mit Alexander Kluge: Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen.
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