WENN ES EIN POEM GIBT
VON DER GANZEN SACHE,
GIBT ES ERST WIEDER EIN WÖRTERBUCH,
DAS ALLES IM EINZELNEN
ERKLÄRT IN FORM VON REIMEN.
Beim Eintreten geziemt es sich, ernst zu sein und
aaaaanicht sofort
mit dem Feixen zu beginnen. Doch mögen sich
aaaaaAbkürzungen anbieten.
Das eine oder andere hat man ja doch schon gesehen. Dazu
ist der trockene Humor zu Diensten. Eine Mauer unter Freunden,
denen man nicht mehr zuhören will, und unter Feinden der Schalter einer Behörde.
Eine Behörde aber ist kein Tier. Jemand hat sie erfunden
als Entität wie die Tonne, als Mittel unter Menschen.
Realistischerweise muss man vermuten, sie hat sich
nach und nach entwickelt. Für den Staat das, was
der Schildpatt für die Kröte ist: Zuerst eine gute Idee,
etwas Schickes von außen, eine Verbesserung; später eine Notwendigkeit.
Wer heute ohne Parfum geht, ist verloren.
Schildpatt aber, um die Metapher zu polieren
mit derlei Arbeit gewohnten Händen, bezeichnet im Niederländischen
das ganze Tier. Als niederländische Händler Kämme und Dosen
„von Schildpatt“ anpriesen, dazu Flossenbewegungen eingingen,
stand auf in Reibung und Versatz der Geist der Metonymie.
Dieser ist im Zauber der Animisten aktiv. Wie wir irgendwie wissen, befinden sich
stark und schnell wirksame Punkte an Kreuzungen von Straßen.
– Ein Gespräch mit Ann Cotten über Lyrik und Ökonomie. –
Christof Meueler: Vor fast zehn Jahren gab es in der Zeit die Rubrik „Politisches Gedicht“. Sie wurden damals auch gedruckt.
Ann Cotten: Da habe ich mir Mühe gegeben.
Meueler: In meiner Erinnerung waren Ihre Gedichte eigentlich die einzig guten. Nicht so grotesk der „Tagesschau“ nachempfunden wie die meisten anderen.
Cotten: Oh, danke. Es ist sauschwer, politische Lyrik zu schreiben, wenn nicht von vornherein klar ist, welche Position man hat – und ohne eine solche Tarnung schreibt man ja nur für die Gleichgesinnten. Wenn man in der Zeit schreibt, schreibt man hingegen fast auf feindlichem Terrain. Der Kommentarbereich dort ist der reinste Zirkus.
Lyrik ist ja quasi schlüpfrig – man hat Umgang mit Ambiguitäten, Ironien, mit allem, was dem Wahrheitswert irgendwie entschlüpft. Gedichte waren okay, aber dann noch für ein feindlich gesinntes Publikum Essays zu schreiben, hat mich komplett fertiggemacht, sodass ich damit aufgehört habe, obwohl ich das Geld hätte gebrauchen können.
Meueler: Als Schüler, in Darmstadt in den 80er Jahren, habe ich einmal für eine Schülerzeitung den Dichter Karl Krolow interviewt. Ich hab jetzt noch einmal nachgeschaut: Der hat den Bücherpreis 1956 gewonnen. Krolow sagte: „Von Lyrik kann man nicht leben.“ Er erzählte, dass er vom Suhrkamp-Verlag jeden Monat eine Art Gehalt bekam. Und er wohnte kostenlos in einer Bungalowsiedlung für Künstler und Schriftsteller am Waldrand, bezahlt von der Stadt Darmstadt, die sich als „Stadt der Künste“ begriff. Gibt es so etwas noch?
Cotten: Nein. Als ich 2006/2007 bei Suhrkamp anfing, war nicht einmal die Rede von Verlagsbindungen über ein Buch hinaus. Das Verhältnis ist freundlich und aufmerksam, aber keine Ehe.
Früher musste man ja überlegen, ob es gut ist oder eine Falle, sich für mehrere Veröffentlichungen zu verpflichten. Jetzt ist es sehr offen – heißt: Ich kann auch woanders veröffentlichen; heißt andererseits: Der Verlag kann sich die Rosinen rauspicken. Beide haben die Lizenz zum Opportunismus, aber auch zur Vielfalt. Und ich habe auch absichtlich Bücher woanders gemacht, die bei Suhrkamp affig oder kokett gewesen wären.
Meueler: Aufgebaut wird niemand mehr, anders als im Profifußball.
Cotten: Nicht mit materiellen Zuschüssen, soviel ich weiß. Heute kenne ich nur Manfred Rothenberger vom Kunstverein Nürnberg, der in diese Richtung denkt. Er betreibt seinen eigenen Verlag: Starfruit Publications. Der fragt als Herausgeber immer: „Wie sieht es aus, brauchst du Geld?“ Und dann bekomme ich kleine Summen, während ich am Projekt arbeite, 50 Euro im Monat, ein halbes Jahr lang.
Meueler: Es gibt Vorschüsse.
Cotten: Zwischen 1.000 und 2.000 Euro – oder wenn man scharf verhandelt, auch bis zu 5.000 Euro. Per Vertrag bekomme ich ja acht bis zehn Prozent vom Verkaufspreis. Das wird aber erst ab dem Moment fällig, wenn gegenüber dem Verlag der Vorschuss sozusagen abbezahlt ist. Das Geld muss man allerdings – heißer Punkt für experimentell Schreibende – nicht zurückzahlen, auch wenn man nicht so viel verkauft. Das ist das direkte Einkommen aus Büchern.
Meueler: Lyrik ist besonders schwer verkäuflich, oder?
Cotten: Absolut. Es funktioniert nicht, dass man davon leben könnte. Hin und wieder wird im Radio mal ein Gedicht vorgelesen. Davon kann man sich einmal im Jahr neue Schuhe kaufen. Am ehesten bekommen Dichternnnie (1) Geld bei Veranstaltungen. Wenn sie Glück haben.
Man braucht noch andere Einkünfte: Übersetzen, Essays schreiben, Unterricht geben. Das stückelt sich so zusammen. Und ich konnte auch nur deswegen zehn Jahre davon leben, weil ich einmal die Gelegenheit hatte, zusammen mit meiner Mutter von einem alten Freund eine Wohnung ganz billig zu kaufen, sodass ich in Wien keine Miete bezahle.
Meueler: Romane verkaufen sich besser.
Cotten: Beim Roman fangen die Spekulationen an, deswegen ist das Feld auch härter umkämpft. Es ist eine durchgebildete Aufmerksamkeitsökonomie, bei Romanen geht es um die schiere Menge. Man wird in dem Maß bekannt und verkauft, wie jemand Geld für Werbung investiert – der Inhalt und die Qualität des Texts spielen vielleicht noch eine kleine Rolle dazu. Das Gute an der Lyrik ist, dass die Kollegen nicht nur extrem interessant, sondern auch großteils solidarisch sind. Da validiert sich die Entscheidung, dass man auf Lebensqualität und nicht auf Einkommenshöhe setzt. Es gibt auch Neid unter Lyrikernnnie klar, aber eigentlich ist es eine ziemlich solidarische Gesellschaft.
Interessant, aber auch erschreckend, dass es hier auch so werden könnte, ist die Situation in den USA. Weil es für Lyrik dort ohne Kulturförderung erst recht kein Einkommen gibt, gehen viele Dichternnnie an die Uni und unterrichten Studentennnie. Im US-Uni-System zieht man sich ja nach der Schule auf der Uni noch mal ein, zwei Jahre Allgemeinbildung rein, weil die Schulen schlecht sind. Das sind also nicht nur die Literatur-Bachelors, sondern auch sehr breite Kurse. Und dann entstehen daraus Millionen von neuen Lyrikernnnie.
Meueler: Und die müssen dann wieder eigene Zeitschriften und Verlage gründen, damit sie überhaupt veröffentlicht werden?
Cotten: Ganz genau. Unendlich viele Blogs. Aber es ist eine gefährliche Suchtspirale. Irgendwann merkt man, dass das auch niemand liest, und dann macht es auch keinen Spaß mehr. Und dann beginnen die Kämpfe um Aufmerksamkeit – eine Zeitschrift muss irgendwie die anderen rund um sich herum abtöten oder in Veröffentlichungskonglomeraten vereinnahmen.
Mittlerweile ist es schwer, eine Zeitschrift zu finden, die Manuskripte überhaupt liest. Meist gibt es Wettbewerbe, wo man einen Cover Charge bezahlt, um überhaupt am Wettbewerb teilnehmen zu dürfen, und da geht es um eine Online-Veröffentlichung! Es ist eigentlich sehr ähnlich wie die akademische Journal-Landschaft. Ein Ponzi-Schema.
Meueler: Wie in einem Schneeballsystem. Haben Sie denn von Anfang an Lyrik geschrieben?
Cotten: Es war eher ein Nebenprodukt. Ich habe alles mögliche geschrieben. Prosatexte, Spaziergangsprosa könnte man sagen. Ich hatte Handke gelesen und mochte diese Idee, dass man wie ein Blatt durch die Welt geht und Sachen so beschreiben kann, dass jemand anderes sie sieht. Bis heute finde ich, das ist einfach geil und ein Antrieb an sich für diese Tätigkeit.
Dann hatte ich die Idee mit den Fremdwörterbuch-Sonetten. Mit denen war ich ein paar Monate auf Poetry-Slams unterwegs. Zufällig hat das ein Suhrkamp-Autor mitbekommen. Er sagte mir, ich soll ihm mal ein Manuskript schicken, er zeige es seiner Lektorin. Aber dann passierte nichts, und ich habe etwas mit einem österreichischen Kleinverlag klargemacht und Suhrkamp geschrieben, dass ich schon was gefunden habe, danke. Darauf haben sie mir geschrieben: Stopp, wir wollen es doch machen. Das fiel gerade in einen Lyrik-Boom hinein – da schrieben die Zeitungen in Deutschland über einen Lyrik-Hype in Berlin, den mussten sie konstruieren.
Ich meine, die Berliner und überhaupt die deutsche Szene, die schrieben ja schon seit Thomas Kling, aber jetzt blickten also 2006, 2007 auch die Feuilleton-Journalistennni der großen Zeitungen von ihren Romanen auf. Ein junges unbekanntes Gesicht, Sonette, Fremdwörter, das passte super ins Konzept – Sonette sind so schön fassbar. Und dann auch noch mit Fremdwörtern, das ist originell und irgendwie modern, interkulturell, yay! Das verkauft sich sogar bis heute, weil es zum Teil schon in die Schulbücher aufgenommen worden ist – ich glaube, aufgrund einer neuen Lehrplanbestimmung, über die sich die Lehrernnnie eh aufregen, weil sie jetzt Lyrik zur Matura prüfen sollen, ohne dass klar ist, wie. Insofern verständlich: Sonette auf modern, das lässt sich noch halbwegs besprechen, wahrscheinlich. Es war aber ohne Kalkül. Mir bedeutet das wirklich etwas, alte Formen zu benutzen, vielleicht ja gar nicht aus so anderen Gründen als dem Lehrertyp.
Meueler: Reimen geht nur lustig?
Cotten: Na, das ist ein bisschen vielschichtig zu sehen. Im Deutschen sind ja die Endsilben so fad, sie sind sprachgeschichtlich erodiert, wir sind tektonisch auf dem Weg Richtung Englisch. Rilke hat quasi die letzten Reste aus dem Joghurttopf der reichen Reime rausgekratzt.
Außerdem ist das Deutsche, weil wir so viel mit Kombinatorik arbeiten, wesentlich vokabelärmer als etwa das Englische. Deswegen ist reimen bei uns recht fad und schnell erschöpft, und man kann bei vielen Reimen nur mit Ironie arbeiten.
Dazu kommt dann noch die Freiheitsideologie, wegen der zum Beispiel ich wegen der Sonette immer gefragt werde, ob ich denn Korsette mag. In Russland ist die Reimkultur dagegen nicht tot. Ich meine, wegen der reicheren Grammatik, weil auch mehr verschiedene Vokale in den Endsilben sind, sodass die Reime interessanter werden.
Meueler: Sie haben in Ihrem Versepos Verbannt! doch auch knallhart durchgereimt.
Cotten: Ja. Tut weh, oder?
Meueler: Ein lustiger Wahnsinn.
Cotten: Ganz ohne Ironie ging das ja eben nicht.
Meueler: Stimmt es, das Sie für die Reime ein Internet-Rap-Reimlexikon benutzt haben?
Cotten: Hin und wieder, wenn ich nicht weiterkam. Natürlich gibt es Reimlexika extra für langweilige Gedichte. Aber die bieten keine guten Optionen. Das Gute an dem Rap-Lexikon ist, dass es sehr unreine Reime hat, und vielleicht überschneidet sich mein Humor zum Teil damit. Auch wenn es demografisch peinlich ist, wenn eine weiße Enddreißigerin Rap hört, schätze ich das Genre sehr. Letztlich ist ja fast alles, was eine weiße Enddreißigerin macht, peinlich – also hilft’s nichts: Ich muss einfach drauf schei…en.
Meueler: Thomas Meinecke, der Schriftsteller und Musiker von der Band FSK, hat mir mal erzählt, dass er seine Songtexte mit Reimlexikon reimt.
Cotten: Echt? Wow!
Meueler: Plattenkritiken schreiben sich nach meiner Erfahrung besser, wenn man Romane liest, und schlechter, wenn man Fachbücher liest, weil die Romane mehr Adjektive haben. Gilt das auch für Gedichte?
Cotten: Ich steh ja eher auf Fachliteratur. Mit Fakten und Terminologie kann man lyrisch sehr gut arbeiten, da kann man viele interessante Unterströmungen herausholen, finde ich. Ulf Stolterfohts Gedichte speisen sich zum Beispiel sehr stark aus Fachliteratur. Auch Monika Rinck liest sehr viel, aus unterschiedlichsten Bereichen; Katharina Schultens benutzt Börsenjargon… Fachliteratur hat auch für Reime viel Potenzial. Alles, was lateinstämmig ist, lässt sich reimen, und grad in einem dem Klischee nach bildungsfernen Bereich wie Rap oder Pop bekommt es dann einen klischeebrechenden Charakter.
Meueler: Bei Ihren Fremdwörter-Sonetten waren die meisten Fremdwörter doch sehr speziell, viele kannte ich gar nicht.
Cotten: Ich habe sehr unterschiedliche Wörter verwendet. Ich wollte das Klischee davon, was ein Fremdwort ist, aufbrechen. Bei einem Sonett war zum Beispiel Ironie das Fremdwort, ist ja recht geläufig. Oder englische Lehnwörter. Und schön natürlich wieder lateinische zum Nachschlagen. Ich habe einfach gemacht, was mir gerade getaugt hat, was sich zu einem interessanten Bild kombinierte.
Meueler: Sie haben Ihre Uni-Abschlussarbeit über Konkrete Poesie geschrieben.
Cotten: Ja, eine Masterarbeit über Listen in der Konkreten Poesie. Im Sinne von Aufzählungen. Ich bin nicht der Typ, ein Konzept aufzustellen und dann zu befolgen. Ich stelle zwar gerne Konzepte auf, weiche aber bereitwillig davon ab, wenn die Realität es verlangt. Die Konzepte halten also oft nicht lang. (lacht)
Ob ich selbst auch listenförmige Texte geschrieben habe? Hm. Hin und wieder Kater-Litaneien. Die geilste Listen-Poesie, die ich im Moment kenne, ist Who is Who von Schittko, Pohl, Mießner und Kramer (2) aus Berlin. Leider vergriffen – die sollten es wieder auflegen! Das geht immer nach dem Muster A heißt jetzt B, also A heißt jetzt A’, B heißt jetzt B’ und so weiter. Eine wilde Mischung aus Prä-Post-, Wende-Ästhetik, Popkultur und obskuren Abkürzungen.
Meueler: Es gibt auch Long- und Shortlists. Wie läuft es mit den Literaturpreisen? Sind die gerecht, oder muss man sich da hinten anstellen – und wenn man alt genug ist, kriegt man einen?
Cotten: Gerecht? Sie scherzen? Ich habe davon eine Zeit lang gelebt und war ein Glückskind – eben durch diesen Glücksfall, dass ich zu Suhrkamp gekommen bin, ohne dass ich selber mich darum bemüht hätte. Ich habe vielleicht dadurch immer das Gefühl, dass es in diesem Feld wenig bringt, sich zu bemühen, weil in der Literatur gerade das Bemühen unter Generalverdacht steht.
Wenn jetzt eine Autorin selbst mit einem eigenen Buch in die Buchhandlung geht – sogar wenn sie sagt, ich schenke es euch –, wird das abgelehnt. Alle wollen immer die Sicherheit, dass jemand anderes etwas schon beurteilt hat. Und so kommen diese „Glückssträhnen“ bei Preisen, dass man so „rumgereicht“ wird, wie es heißt, und dann die nächste. Ich habe mich nicht darum bemüht – als das Interesse abflaute, begann ich mich nach solideren Arten umzusehen, wie man Geld verdienen kann. Daher bin ich keine gute Ratgeberin, was Erfolgsstrategien im Literatur-Business anbelangt.
Meueler: Auch nicht um Stipendien?
Cotten: Naja, hin und wieder habe ich etwas eingereicht. Bei Stipendien kriegt man Geld für eine Leistung, wenn man eine Projektbeschreibung gemacht hat, und das muss man auch nachher vorzeigen. In Österreich wurde ja der PEN-Club durch die Grassroots-Organisation der GAV (3) links überholt, und die Community ist sehr kollegial. Ältere haben mir erklärt, wie man es auch in die eigene Arbeitsweise einbaut, dass man eben jedes Jahr um ein Arbeitsstipendium einreicht. Und irgendwann hat man auch Glück, wenn es Hand und Fuß hat, und das Formulieren solcher Projekte ist auch für die eigene Arbeitskonzeption kein Schaden.
An den Preisen ist höchst unangenehm, dass da die Bewertung überbewertet wird. Natürlich sagt man aber nicht Nein, weil man das Geld braucht und in einer prekären Situation lebt. Aber es wäre besser, wenn es mehr Stipendien und weniger Preise gäbe, finde ich. Man kommt sich vor wie ein Trick-Delfin.
Meueler: In Lyophilia schreiben Sie: „Du musst alles packen können, dabei lässig sein.“
Cotten: Ich weiß nicht, wem ich das in den Mund gelegt habe. (lacht) Klingt ein bisschen sarkastisch?
Meueler: Einem Jungen namens Igor, der noch zur Schule geht.
Cotten: Auch ich spüre diesen Druck. Das lässige Aussehen-Müssen ist vielleicht ein Amerikanismus. Wenn man das Lässigsein aber sehr weit fasst, muss man es nicht forcieren. Wenn man sich die Lässigkeit von Nerds ansieht, die eben nicht versuchen, cool zu sein, sondern einfach ihre Nerdigkeit ausleben, dann ist das auf eine Art auch lässig.
Ich meine, dass man nicht versucht, etwas zu machen, was eigentlich nicht geht, sondern sich für etwas entscheidet und sich das dann so einrichtet, dass es auch geht. Das ist wahrscheinlich eine Sehnsucht, die aus einem zehnjährigen sonnigen Prekariat heraus kommt, wo ich mich ständig als Tausendsassa präsentiert habe – oder meinte, mich präsentieren zu müssen – und dann am Abend nach der Lesung schon wieder das Nächste zusammenpfuschen musste. Es war irgendwann extrem deprimierend, dass ich nie Zeit habe, etwas richtig gut zu machen, aber immer die höchsten Hoffnungen wecken muss.
Die Veranstaltungen werden ja im Vorhinein gebucht. Also alle wollen daran glauben, dass es das Event aller Zeiten wird, wie bei dieser Lyrik-Großveranstaltung in Frankfurt letztes Jahr – und solche Erwartungen, wie soll man sie im Rahmen der normalen Physik erfüllen? Also ist auch niemand besonders erstaunt, wenn der Literatur-Event nicht ganz so außerordentlich war, wie er angekündigt wurde, und man schreitet zum nächsten.
Es höhlt alle Beteiligten aus, und ich meine, dass der Hintergrund davon diese ständig zunehmende Stiftungskultur mit Werbung und Exzellenz-Behauptung und Vergabe per Jury ist. Es soll im Namen der Gerechtigkeit sein, aber in Wirklichkeit erzieht es nur alle Freischaffenden zur hyperbolischen Selbstpräsentation.
Meueler: Ist das auch der Grund dafür, dass Sie sich gerne mit Welten beschäftigen, die sich eventuell in der Zukunft befinden? Die Kritik hält Ihnen gerne einen Satz vor, den Sie einmal in einem Interview gesagt haben: dass Sie gerne Science-Fiction auf hegelianischer Basis schreiben würden.
Cotten: Ich weiß nicht, was für komische Leute das ernst nehmen. Es ist im Buchdeckel mit eindeutigen Markern für Ironie versehen.
Meueler: Amüsant ist es. Ich würde es auch als politische Forderung begrüßen.
Cotten: Ich bin jetzt Dissertantin in Komparatistik. Nun habe ich die Möglichkeit, das nachzuholen, was mir vorher gefehlt hat und zur Windigkeit meiner Behauptung beiträgt. Aber Hegel ist präsenter, als man glaubt. Zum Beispiel das sogenannte Othering – dass manche Gesellschaftsgruppen wie Ausländernnnie und Frauen als „das Andere“ erzählt und die dadurch marginalisiert werden, während ihnen zugleich wichtige, aber abgewertete Arbeiten zugeschoben werden. Das kann man auf Hegels Bild von Herr und Knecht zurückverfolgen. Wenn man die Mechanismen dieser Zuschreibungen besser erkennen lernt, begreift man, was für eine indirekte Macht man in der scheinbar schwächeren Position hat: also wie sehr die Machthabenden auf die scheinbar Machtlosen angewiesen sind. Das hilft bei der Suche nach der richtigen Stelle für den Sand, den man ins Getriebe streuen muss, damit die Maschine dekonstruiert werden kann bzw. am besten gezwungen wird, sich selbst umzubauen.
Nicht nur Simone de Beauvoir ist eine Hegel-Leserin, auch Jean Paul Sartre und vor allem Jacques Lacan, der wie Hegel aufgrund seiner Abstraktion ungeahnt großen Einfluss auf andere hatte. Alle haben sie in Paris Alexandre Kojève gehört, der Hegel auf sehr eigensinnige Weise gelesen hat. Es gibt einen merkwürdigen Text von ihm, in dem er immer einen Halbsatz von Hegel aufnimmt und noch einmal mit eigenen Worten paraphrasiert. Hegels Abstraktion und eigentümliche Verwendung von Vokabeln ist wie ein Trockenfisch, den Kojève ins Wasser legt, sodass er genießbar wird.
Meine These ist, dass Hegel aufgrund seiner Abstraktion eine sehr elastische Sprache oder Begrifflichkeit gefunden hat. Für mich ist Dialektik auch so etwas wie der vielfältig variierte Rhythmus aller Entwicklungen, so etwas wie polyphone Xylophonkunst.
Meueler: In Ihrem Versepos Verbannt! wird eine TV-Moderatorin auf eine Insel geschafft, die Hegelland heißt.
Cotten: Den Namen sehe ich in so einem Schriftzug vor mir wie „Blumenland“. Hegelland ist definitiv ein abstrakter Ort. Wie viele SF- und Fantasy-Autoren bin ich nach der Erzählung noch nicht fertig mit diesem Ort oder Topos.
Meueler: Auf Hegelland verwandelt sich die Moderatorin in einen Mann.
Cotten: Nicht direkt, sondern in einen Gott, einen hermaphroditischen, mit Phallus und Vagina. Es ist unklar, ob es Arsch ist oder Vagina, jedenfalls ein interessantes Loch.
Das Wort „Aufheben“, das Hegel benutzt hat, kann wegnehmen, transzendieren, ungültig machen, aber auch einfach levitieren heißen. Aufheben hat ja im Deutschen auch noch diese Marmeladenglas-Funktion, also dass man etwas für später aufhebt. Das ist bei Hegel nicht unbedingt im Vordergrund, aber man muss mit dieser Assoziation rechnen. Ein faszinierendes Wort. Und schwer zu übersetzen natürlich. Hegel-Übersetzernnnie in allen Sprachen spielen seit Jahrhunderten damit, aber erst dadurch wird einem das Spiel klar, das Hegel beim Schreiben treibt. Ich halte ihn für einen der allerwichtigsten Dichternnnie im Deutschen.
Meueler: Wenn Sie jemanden kennenlernen, stellen Sie sich dann vor mit „Beruf: Dichterin“?
Cotten: Meistens sag ich Übersetzerin, weil das ein bisschen seriöser klingt. Ich finde nicht, dass man Lyrik als Vollzeitberuf machen sollte, selbst wenn man es finanziell könnte. Meistens haben die Leute bei Lyrikernnnie, wie früher bei Frauen oder wie bei Außerirdischen, großen (vorgetäuschten) Respekt, aber schnell ist das Gespräch aus, denn man möchte lieber nichts Näheres wissen. Man wittert ja irgendwie, dass viel die Stabilität der Scheinwirklichkeit, in der man sich eingerichtet hat, infrage stellt. Und dass das nicht so heroisch ist, wie das manchmal klingen soll. Vielmehr haben die Leute Scheu wie vor Bettlern, vor den logischen Implikationen, die ihre Krallen nach ihnen ausstrecken, sobald man ein bisschen Mitleid zulässt. Und natürlich: Lyrik kann superpeinlich sein. Das Fremdschämige daran ist ja oft, dass für Intimitäten nicht immer der richtige Moment ist – aber Lyrik als Ware tut halt so, als könnte man das und sollte das auch jederzeit konsumieren. Es ist nicht einmal eine Droge: Es braucht Drogen.
Ich schreibe manchmal auch recht intime Gedichte, wenn ich zum Beispiel glaube, an einem persönlichen Erlebnis irgendwie einen Knackpunkt gefunden zu haben, der meine Position und Emotion mit gesellschaftlichen Zusammenhängen verbindet. Und wenn ich das lese, ist es total fremdschämig, und zwar manchmal genau deswegen, weil es gut ist. (Das ist was anderes als das Fremdschämen, weil jemand seine legitimen Gefühle so klischeehaft ausdrückt.) Genauigkeit entlarvt sowohl das Pathos der Liebe als auch die Würde der Ökonomie.
Meueler: Einen richtigen Roman möchten Sie nicht schreiben?
Cotten: Nein, ich lese ja auch keine Romane. Das ist für mich eine öde, bombastische, pedantische und besserwisserische Form. Es fühlt sich an, wie den Kopf im Sand zu begraben. Wenn ich schon die ersten Sätze lese – nee wirklich, und jetzt noch 300 Seiten davon?
Ann Cotten und Antye Greie alias AGF (EPHEMEROPTERAE IX), 2015.
Ann Cotten im Gespräch mit Alexander Kluge: Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen.
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