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Wonnekind schaut, benommen von den eignen Worten,
aaaaaaaaaaauf Orama, das Netzkabel und mich.
„Hab ich zu viel gesagt?“, fragt er. „Sind wir Retorten
für deine Sekte?“, fragt das Internet in entlegenen
aaaForen
aaaaaaaaaaweniger Wonnekind als vielmehr sich.
„Nein, meine Sekte, wenn du wirklich sagen willst Sekte,
hat weniger Zweck als freundliche Funktion.
Sie legt sich auf alle, die hier sind: eine Decke
gegen die Kälte des Kosmos. Wie ein Kondom
wohltuend trennt, um nicht zu beunruhigen
aaaaaaaaaadie Säfte mit, was wissenschaftlich nicht
aaaaaaaaaaerläuterbar, wirkungstechnisch jedoch schlicht
unheimlich ist, damit man sich nicht zuigeln
aaaaaaaaaamuss innerlich. Bis es vielleicht einmal zerbricht.
Was nicht vorauszusehen ist, für Sorgen so kein Thema.
Zerbrechen ist für uns die Gottheit Nummer zwei.
Wir verehren natürlich die Schraubengottheit wie immer,
doch ist der Trickster Zerbrechen zu unsrem Glück dabei,
stört die Ordnung des Kosmos, oft zu unsren Gunsten,
aaaaaaaaaain jener eher kurzfristigen Sicht,
die wir so lieben, weil wir sie für süße Dinge nutzen,
Dummheiten wie den Zweitaktmotor oder Bumsen,
aaaaaaaaaada kümmert uns plötzlich das Schrauben nicht.
Und doch wird in diesen, sagen wir, leicht gelogenen
Momenten, meistens auch besinnungslos
euphorischen, die Schraube unsres Lebens festgezogen.
Wir kommen aus diesem Gewinde nimmer los.
Die Sekte oder Decke dient dazu, das zu verschönern.
aaaaaaaaaaDamit man eher damit einverstanden ist.
Geschraubt wird sowieso, doch nicht um zu verhöhnen
die Menschen, wie sie manchmal glauben, wenn sie hören,
aaaaaaaaaawas sie nicht hören wollen. An den Ist-
Zuständen änderts alles; wenn man sie nur gutheißt,
sind sie leicht zu manipulieren, sozusagen weich.
Die Temperaturen der Seelen sollten immer etwa gleich
heiß sein wie die Umgebung, dass es sie zusammenschweißt.
Und wie ein Einziges bewegt der Mensch die Welt,
aaaaaaaaaadie Welt den Menschen, der sie mag,
weil sie ihm auch in allem irgendwie gefällt.
Und er sich noch im Schlimmen gern zu ihr gesellt.
aaaaaaaaaaDer schöne Schmerz, unerbittliche Tag,
leichter Missklang, welcher nur reizt zu mehr –
wir lieben diese mehrdeutigen Sachen sehr.
Ihr habt es, wo alles erreichbar schien, vergessen,
wie sehr das, was es ist, längst in eurem Ermessen
begraben ist, während ihr nach noch mehr vorausbestimmtem
aaaaaaaaaaMaterial die Hände recktet,
um es anzumalen, euch anzueignen, zu gebrauchen, flimmernd
vor Gier, Nichtigkeit mittels Geistmanöver anzuzünden,
aaaaaaaaaaeuch flammend lecktet,
verachtend euch, voll Sehnsucht, euch zu wissen,
in Eile zu verschwinden, hoheitsvoll und bissig
last ihr Bücher, angetrieben von vagen Schuldgefühlen,
legtet die gellenden Ohren auf Pfühle, voll mit Müllen.“
(…)
Ann Cotten liest aus ihrem Versepos Verbannt! Teil 1 / Teil 2
ein Rascheln im Sellerie, ein Tiger verschwindet, in der Ferne detoniert eine Atombombe, und das Bewusstsein beginnt, rückwärts zu laufen. Es gehört einer Fernsehmoderatorin, die aufgrund wiederholten Fehlverhaltens auf eine einsame Insel verbannt wurde, ausgestattet nach eigener Wahl mit Messer, Schleifstein und Meyers Konversations-Lexikon.
Doch sie ist nicht allein. Hier sind schon fünfundzwanzig Matrosen, die in den Jahren seit ihrem Schiffbruch eine beachtliche kleine Parallelgesellschaft aufgebaut haben, sie heißt Hegelland. Ursprünglich Quäker, hängen sie jetzt der selbsterfundenen Schraubenreligion an und unterhalten in arbeitsamer Kulturleistung drei Pressen von kontinuierlich steigender Druckqualität. Was wird nun angesichts der ersten Frau passieren, und was, wenn mehr kommen?
In 399 Neo-Spenser-Strophen schildert Ann Cotten die Turbulenzen, die nach einer weiblichen Flüchtlingswelle aus dem Internet in Hegelland entstehen. Die verschuldeten Prothesenträgerinnen werden unwillentlich zum Katalysator einer schon lange schwelenden Konterrevolution. Mithilfe von Reimen, Anspielungen, synästhetischen Zwängen und großer Anschaulichkeit wird dieser luzide Alptraum auch in Ihr Bewusstsein gehämmert.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2016
– Ann Cotten ist die klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache. Ein Gespräch über ihr neues Epos Verbannt!, den Psychoterror des Internets und die Konterrevolution japanischer Zedern. –
Im Pluriversum der Poesie ist Ann Cotten ebenso zu Hause wie in den Metropolen. Während sie gerade zwischen Berlin, Wien und London pendelt, spielt ihr neues, die Sinne taumelnd machendes Werk auf einer einsamen Insel. Verbannt! heißt die Mischung aus Pop und Mythos, aus Hoffnung und Vergeblichkeit. Und mit ihm schreibt die 1982 im amerikanischen Iowa geborene Schriftstellerin ein Projekt fort, das anders ist, als alles, was es in der deutschsprachigen Literatur sonst gibt. Ann Cotten geht zurück in die Geschichte des Dichtens, um ganz im Heute anzukommen. In der bei Byron, Shelley und Keats beliebten Spenserstrophe ist ihr jüngstes Versepos erzählt. Ein Drahtseilakt zwischen seelenvoller Romantik und ausgebufftem Witz, über dessen Gefahren die Dichterin bei ein paar Bieren im Berliner Lokal Keyser Soze erzählt.
Paul Jandl: Der an eine öde Schwarzmeerküste verbannte Ovid wäre vor Neid erblasst. In Verbannt!, dem neuen Versepos von Ann Cotten stehen Palmen am schönen Strand von Hegelland. Neben einem Herrn namens Wonnekind streift ein lustiger Trupp aus der griechischen Mythologie über die Insel, Hermes Wolpertinger ist da und ein gewisser „Pan Orama“. Es gibt Internet und sogar eine „Schraubenreligion“.
Ann Cotten: Es geht – ich sage nur: Hegel! – um Dialektik. Die Dialektik steht mit dieser Schraubenreligion in Verbindung. In meinem Kopf zumindest: Es ist das Halbperfekte, das nicht ganz Runde, das einen aber doch weiterbringt. Wie wenn man sich mit einem hinkenden Fuß dreht. Die Dynamik entsteht durch den Defekt.
Jandl: Am Anfang Ihrer Geschichte steht die Schuld, eine erotische Verfehlung im Medienmilieu. Dann kommt die Verbannung. Drei Dinge darf die Verbannte auf die Insel mitnehmen. Sie entscheidet sich für ein Messer, einen Schleifstein und ausgerechnet für Meyers Konversationslexikon von 1910, einundzwanzig Bände.
Cotten: Ich habe im Altpapier Meyers Konversationslexikon von 1910 gefunden, und da hatte ich die Idee, dass jemand damit auf eine Insel verschlagen werden könnte. Zunächst dachte ich an Prosa. Aber da braucht man immer so eine Nähe zu den Figuren, so eine dicke, schwerfällige Konsequenz, da ist zu wenig Abstand zwischen den Worten, zu wenig Luft zum Spielen.
Jandl: Eine schöne platonische Idee: Es gibt die Insel, man ist dort aber mit Wörtern und Definitionen allein, die Dinge selbst gibt es nicht. Verbannt! ist eigentlich Dystopie und Utopie in einem.
Cotten: Ich war ganz beim Problem Hegel: Arbeit an einem System, das niemals gelingen wird. Während man schreibt, verändern sich die Wörter und Begriffe. Das System verzieht sich sozusagen, wie ein Fensterrahmen. Und natürlich ist das auch beim Text so. Während ich die Verse schreibe, schiebt sich die Wirklichkeit zwischen die Wörter, und die Geschichte verzieht sich. Was mir übrigens gefällt, sind manche japanische Erzähler. Die klingen naiv und intelligent. Im Vergleich stinkt europäische Prosa immer nach Ideologie. Man muss immer der Versuchung widerstehen, ins Auskennerische abzudriften, ins augenzwinkernde you know, you know.
Jandl: Dass sich Verbannt! nicht bei seltenen Versmaßen auskennt, kann man jetzt aber auch nicht sagen. Das Epos ist in Spenserstrophen geschrieben.
Cotten: Wenn ich mir so ein altes Versmaß hernehme, dann hat das einen experimentellen Charakter. In diesem Fall bin ich über den englischen Dichter W.H. Auden auf die Idee gekommen, mit der Spenserstrophe zu arbeiten. Auden hat auf dem Schiff nach Island eine Parodie von Byrons Childe Harold geschrieben, das durch seinen massiv tuntigen Humor die Sache ein bisschen in die Music Hall transponierte. Schon Byron beherrscht das recht strenge Reimschema – ababbcbcc mit der letzten Zeile als Hexameter – ganz souverän, er schreibt Strophe um Strophe quasi zur Entspannung vor dem Schlafengehen oder beim ersten Rotwein nach dem Aufwachen. Weil es im Deutschen nicht so viele vertretbare Reime gibt, geht es bei mir meistens so abaabccdd, wobei öfters eine Zeile hinzukommt, wenn es grad lustig ist, bei einem Reim zu bleiben, oder ich trage einen Reim in die nächste Strophe weiter.
Jandl: Im Buch gibt es neben einer Schraubenreligion auch eine „Kryptomerien-Bewegung“.
Cotten: Kryptomerien sind Japan-Zedern. Das Wort stand erst einmal nur da, weil ich es für einen Reim brauchte. Dann wurde es das Maskottchen für eine Art Konterrevolution oder Widerstandsbewegung. Das ist ein bisschen wie das Ende der DDR – mit dem, was man seit dem Mauerfall hat, dieser „Lidl-Freiheit“, ist man auch nicht wirklich zufrieden. So ist das halt im Buch. Die Wirklichkeit, wie ich sie mir in meinem Kopf zusammenfasse, wird zur mythologischen oder allegorischen Erzählung. Und da spielen moralische Abbiegemöglichkeiten eine wichtige Rolle.
Jandl: So ist es immer bei den Büchern von Ann Cotten. Man kann ganz trivialen Spuren folgen oder die Sache sehr hoch hängen.
Cotten: In meinem Kopf ist das Politische schon wirklich wichtig, und jede Erzählung ist auf eine gewisse Weise politisch. Aber auf sehr bochene Weise. Bochn, wie der Wiener sagt, also etwas ungeschickt. Aber auch sehr unschuldig. Die Bochenheit entspricht ungefähr meiner Weltsicht. Und es ist alles mit wenig Sorgfalt zusammengezimmert, aus Ungeduld. Es sind nur Modelle, Skizzen. Ich möchte herausfinden, was ich denke, und nicht die Ansichten anderer Leute nachplappern.
Jandl: Wenn es im Buch um eine Utopie geht, dann schaut die Verwirklichung dieser Utopie eigentlich auch ziemlich zusammengezimmert aus. Richtig glücklich sind die Leute auf ihrer Insel nicht.
Cotten: Aber nachher, nach der Kryptomerienrevolution sind sie noch unglücklicher. Tropical Island, haha.
Jandl: Es beginnt ja eigentlich recht pompös. Die Musen werden angerufen. Und Sex wird auch versprochen.
Cotten: Ich bin auch enttäuscht von diesem Abfall gegen Ende hin. Während ich immer dachte, dass es endlich losgeht, habe ich gespürt, dass ich allmählich genug habe von diesem Versmaß. Sex gibt’s übrigens bei Hermes Wolpertinger. Man muss halt kapieren, dass das Sex ist und nicht einfach ein Trip.
Jandl: In Verbannt! wird auch abgerockt. Es gibt atemberaubende Reime:
Doch geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Im Allgemeinen wär es damit abgetan. Ob pur
oder vermischt mit Eigenem,
das Drama ist zu erleiden. Es erfinden aber ist Tortur!
Cotten: Hör ich gerne, dass das nicht nur mir Spaß macht. Ein paar Mal habe ich übrigens nachgeschlagen, es gibt so Onlinereimlexika für Rapper. Aber letztlich braucht man’s nicht.
Jandl: Keine Anstrengung, sondern Lockerung.
Cotten: Absolut. Man kann es nicht forcieren, aber seine Gehirnstrukturen neu ausrichten: auf Reim. Es darf aber auch nicht zu leicht gehen. Denn dann wird’s oft blöd.
Jandl: Mit der Spenserstrophe ist es ja wie mit allem, was in der Literatur strenge Form ist. Das Scheitern wird beim Schreiben genauso generiert wie das Gelingen.
Cotten: Ja, wenn Steine im Weg liegen, wenn etwa der Reim schwierig ist, dann kann man sich überlegen, dem Stein nach links oder nach rechts auszuweichen. Und das wiederum gibt dann natürlich auch den weiteren Weg vor. Und das Scheitern ist auch wieder ein Scheitern an der Realität, an der Realität des Reimproblems etwa. Der Vorsatz, ein Versepos zu schreiben, ist noch die reinste poetische Träumerei, aber schon beginnen die Probleme. Manchmal klappert es so dahin und scheint ganz locker, aber man muss aufpassen. Es ist wie auf einer Schotterstraße, kleine Löcher versetzen das Ganze in Schwingung, und die Schwingung wird immer größer, bis man aus der Kurve fliegt.
Jandl: Und beim Versepos, anders als beim Gedicht, muss man ja auch die Handlung vorantreiben.
Cotten: Ja, genau, auch das noch. Ich schreibe normalerweise ja keine narrative Prosa, und ich muss mich an eine Handlung erst herantasten. Beim neuen Buch ist es der Versuch, einen Plot zu bauen, der nicht auf autobiografischer Erfahrung beruht, sondern auf Ideen. Und Reimen. Man muss wie beim Skifahren locker und konzentriert bleiben. Wenn man mehrmals hintereinander einen Satz nur wegen des Reims macht, ist man draußen. Wenn die Reime zu zahm sind, ist es aber wieder fad. Eigentlich ist das Buch nur eine Kleinigkeit nebenbei, ein Experiment, eine Fingerübung auf dem Weg zur Science-Fiction.
Jandl: Wirklich? Science-Fiction?
Cotten: Das ist dann wohl so etwas wie Steampunk oder Retrofuturismus, was? Ich kann nicht genau sagen, warum, aber Hegel ist für mich voll die Science-Fiction. Der Weltgeist! In der Science-Fiction-Literatur sind ja, finde ich, das Allerbeste die Zeitmaschinen. Gewaltig bewegend! Zeitmaschinen sind wie Abstraktion, eine Perspektive, ein Fenster, eine Fluchtlinie in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Dieser Moment in H.G. Wells’ Zeitmaschine, wo er abhebt und die Tage, Monate, Jahre immer schneller vorbeiflackern! Vielleicht ist das so stark, weil es bloß eine Übertreibung des normalen Älterwerdens ist, so wie bei Stanislaw Lems Solaris die Erscheinungen Verkörperungen von Gedanken, Träumen, Neigungen sind. Das macht geradezu eine Art Slapstick draus.
Jandl: Die Welt wird aus den Angeln gehoben.
Cotten: Ich komme übrigens gerade von einem Symposium zur Frage „Was ist Kritik?“. Bei der Erfindung einer zukünftigen, also nicht historischen Welt, geht es natürlich um eine Fundamentalkritik von allem. Wie bei Lenin, der diese vielen Grundlagenwerke über alles verfasst hat, als müsste er die ganze Welt neu aufstellen. Nach der Tabula rasa ein Nulltext. Der Kitzel der Diktatur ist das dirty pleasure der Science-Fiction-Literatur. Das Vergnügen einer zirka 13-jährigen Seele. Die idealistische Lesart des Aufbaus der Ostblockstaaten schwingt aber auch mit. Ich war ja während der Schulzeit andauernd mit Inselverwaltung beschäftigt. Wir haben uns Utopien mit allen Details ausgemalt von der Agrarpolitik über die Gestaltung der Städte bis zur Wirtschaftsordnung.
Jandl: Im neuen Buch ist es ja auch Tabula rasa.
Cotten: Laborsimulation. Es interessiert mich, wie man einen Gedanken zum Körper bringt. Zum Beispiel: Wo kaum was ist, ist keine Selbstbeschränkung notwendig. Puritanistische Regeln entwickeln sich nur, wo man mit Überfluss umgehen muss. Jetzt gibt’s überall Dosenschinken und Cola, und Polynesien hat ein Problem mit Fettsucht.
Jandl: Ein schöner satirischer Witz des Buches betrifft das Internet. Wie eine Nabelschnur hängt es an den Figuren, und daraus kommt immer Gekicher. Egal, was aus den utopischen Ideen werden könnte, das Internet kichert.
Cotten: So erlebe ich es auch. Man sitzt in seinem Zimmer und arbeitet, und das Internet kichert. Das ist es ja: Ich konzentriere mich auf kleinste Dinge, und das Internet hat ja immer den Überblick. Über alles und jedes. Es ist noch viel besser als Meyers Konversationslexikon von 1910. Meine Konzentration muss ihm lächerlich vorkommen. Aber auch meine Ablenkbarkeit. Alles ist in seinem Licht lächerlich! Das muss eine Art Teufel sein, der mir alles madig macht!
Jandl: Das Internet hält sich ja selbst für eine Art Wahrheitsinstrument. Zum Schriftsteller kann es immer sagen: Google doch einfach, wie es wirklich ist.
Cotten: Aber ich traue dem Internet keine Weisheit zu. Es kichert nur blöd und weiß alles besser. Es ist süffisant und lacht alles aus. Psychoterrormäßig. Und was besonders fies ist: Es führt auch noch Buch über alle, die mit ihren Träumen und Utopien gescheitert sind. Es kann eigentlich nur pessimistisch machen.
Jandl: Auch auf der sprichwörtlich einsamen Insel ist das Internet mit dabei.
Cotten: Ja. Man hätte es mit einem diktatorischen, antidemokratischen Dekret aus meiner Utopie ausschließen müssen. So aber wird mein Versepos am Ende unübersichtlich. Ganz anders wäre es, wenn Meyers Konversationslexikon die alleinige Quelle des Wissens wäre. Das ist eine geordnete Welt. Aber hat man nicht irgendwie das Gefühl, dass es das Internet immer schon gab und dass man es technologisch nur sehr spät erschlossen hat? Vielleicht ist es als unterirdisches Reservoir schon lange da. Als Kanalsystem. Man darf es nicht idealisieren. Das Internet ist voller Schlampereien.
Jandl: Alles wissen ist ja auch eine Utopie. Die Mönche in den mittelalterlichen Bibliotheken…
Cotten: Ja, vielleicht ist das ein Anfang. Wissen zusammenzutragen aus verschiedensten Quellen. Ein erstes Onlinegefühl. Und es gibt natürlich Gustave Flauberts großartige Persiflage auf die Idee, Wissen zu akkumulieren. Bouvard und Pécuchet hasten von Gegenstand zu Gegenstand, lesen Tonnen von Büchern und wissen am Ende eigentlich gar nichts. Ich habe das Buch während der Arbeit an Verbannt! gelesen, und es hat mich sehr verstört.
Jandl: Warum?
Cotten: Ich hole mir auch stapelweise Bücher aus den Bibliotheken. Aber ist es jemals genug? Ich verliere mich in verschiedenen Narrativen, mein Interesse springt… Wenn nichts dabei rauskommt, ist diese Bibliotheksbulimie ja nur eine bürgerliche Neurose. In den „Flüchtlingsgesprächen“ von Brecht ist es ja wieder umgekehrt. Dort ist es der Arbeiter, der meint, dass Bildung für ihn nur Luxus ist. An seinem Leben wird sie nichts ändern. Augenauswischerei, Ablenkung. Aber ich bin getrieben.
Jandl: Wenn wir schon bei klassischen Bildungskonzepten sind: Die Scham, etwas nicht zu wissen, scheint direkt proportional mit den steigenden Möglichkeiten digitaler Recherche abzunehmen.
Cotten: Bei mir gibt es noch große Scham. Allerdings auch oft auf seltsamen Gebieten. Als junger Mensch interessierte ich mich zum Beispiel brennend für Fahrradmechanik, traute mich aber nicht fragen, weil ich meinte, alles schon wissen zu müssen. Dabei ist die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen ein geiler, ein magischer Ort. Hinter einem das, was man schon kennt, jenseits der nächsten Biegung das Unbekannte. Scham empfinde ich heute eher, wenn ich meine, mein Wissen nicht richtig zu organisieren oder anzuwenden.
Jandl: Das cottensche Werk hat ja durchaus was Enzyklopädisches, es ist von Anfang an eine Einübung in die Literatur. Von Fremdwörterbuchsonetten über die konkrete Poesie und Prosamischformen bis zu Byron.
Cotten: Ja, das stimmt schon, und ich werde manchmal gefragt, wann ich denn einmal ein richtiges Buch schreibe, so wie andere Schriftsteller auch. Einen richtig fetten Roman. Schnarch.
Jandl: Aber das Werk ist doch nicht gescheitert, ganz im Gegenteil.
Cotten: Ich weiß es nicht. Ich arbeite schon nach einer Idee, und ich sehe alle Fehler. Vielleicht eben, weil es eine Idee gibt. Die meisten Leute fangen ja einfach etwas an und haben eigentlich gar keinen Begriff davon, was sie da gerade tun. Kinder sind ja auch ohne Plan schnell gezeugt, eine Familie ist gegründet oder ein Unternehmen. Mir ist allzu klar: Die Dinge, die ich schreibe, sind nie perfekt. Deswegen muss ich immer weiter schreiben.
Jandl: Die Schraubenreligion! Gibt es denn in der Literatur überhaupt Perfektion?
Cotten: Goethe! Naja. Ganz allgemein gesprochen: Perfektion ist als Idealdispositiv unersetzbar. Was das neue Buch betrifft und um mal eine maritime Metapher zu wagen: Ich habe mir einen kleinen poetischen Kutter gebaut mit einem Elektromotor dran, und nach und nach fliegen einem die Teile um die Ohren. Totalhavarie. Analyse von Motor und Meer.
Jandl: Das Buch hat außerordentlich feine Illustrationen von der Dichterin selbst. Am Ende gibt es ein Schlusstableau: ein Strand, übersät mit Müll. Eine Ernüchterung nach den utopischen Träumen. Das ist allerschönstes Scheitern.
Cotten: Hm, schön, ja. Man hat einmal über mich gesagt, dass ich wirke, wie aus dem Kanalsystem der letzten Jahrhunderte gefischt. Dass meine Sprache sonderbar ist. Das stimmt schon: Es ist splatter-chaotisch. Man weiß nie, ist es Bullshit oder wahrer als der Boulevard.
– Die Lyrikerin Ann Cotten schreibt ein Versepos und führt ihre Kritiker an der Nase herum: Verbannt!. –
Ann Cotten ist eine Herausforderung für die Literaturkritik. Die amerikanisch-österreichische Lyrikerin schreibt wirr, aber witzig. Also, finden viele, sie sei ironisch. Sie jongliert mit Pointen der Geistesgeschichte und arrangiert diese auf denkbar ekstatische Weise. Also beherrscht sie ihren Fundus virtuos. Als Fingerübung betreibt sie Dekonstruktion so, dass es sich nur um Parodien einer einst vom Pathos des Politischen getragenen intellektuellen Praktik handeln kann. Weil die Autorin hier und da Schwänze am falschen Geschlechte wachsen lässt und Vokale von ihrem Wortkörper amputiert, unterläuft Cotten alle Kriterien der traditionellen Literaturkritik.
Und wenn man nun wie die 1982 geborene Autorin gleich in der Einleitung ihres Versepos mit dem altmodischen Titel Verbannt! deutlich macht, dass man seinem Kritiker immer schon eine Nasenlänge voraus ist, indem man dessen blöden Essentialismus geißelt, will man am Schluss nicht dieser blöde Kritiker gewesen sein. Eine Poetik der Verweigerung sehen die Aufgeschlossenen hier am Werk; auf die Rezeptionshaltung kommt es an! Den Skeptischen legt Cotten verleumderische Worte in den Mund:
„Die Cotten steckt den Kopf jetzt in den Sand“, hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen und an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen der „immer schon verwirrten“ Lyrikerin den Garaus, den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauss.
Also Kollegen: Kopf aus dem Sand! Betreiben wir ein bisschen Wortfeldanalyse und Formenkommentar im Revue-Stil – durchaus mit verschmutzter „Feder“.
Erste Frage: Warum nutzt eine moderne Lyrikerin die Versform für einen Text von immerhin 163 Seiten, wo es sich doch offensichtlich um ein völlig veraltetes Mittel zum Verfassen actionreicher Epen und Lehrgedichte handelt? Dieses war vor dem Schriftzeitalter zum einen mnemotechnisch nötig. Zudem übertraf die den Zeitgenossen erträgliche Pathosspanne die unsrige damals um ein Vielfaches. Bis ins achtzehnte Jahrhundert gingen die Zeitgenossen noch von der heute vollkommen obsoleten Vorstellung aus, die Sprache sei ein seelenloses Material, das sich durch die Auferlegung strenger Regeln einhegen ließ. Von Freud und Wittgenstein noch keine Spur. Der hohe Ton regierte die Literatur.
Ein totaler Anachronismus also, den Ann Cotten da kultiviert, zumal in sogenannten Spenser-Strophen (benannt nach einem Zeitgenossen Shakespeares), die Cotten formal aber gar nicht durchzuhalten vermag, weswegen im Klappentext vorsichtshalber von Pseudo-Spenser-Strophen die Rede ist. Soll jetzt keiner kommen und meckern, nur weil das Reimschema klemmt und die Jamben ziemlich unbeholfen vor sich hin stolpern. Ist doch sowieso nur ein Witz. Aber, das muss man ihr lassen, durchaus ein guter:
Wir spüren die Notwendigkeit einer kritischen Sprache,
Weltwahrnehmung statt Weltgestaltung und eh alles wurscht,
und wie bei Wurst geht’s um die Hängung.
Zweite Frage: Die Hängung, sprich die Positionierung des literarischen Objekts im Raum der Kunstsprachen. Dritte Frage: Der Inhalt.
Eine junge Moderatorin wird aufgrund ihrer Liebschaft zur Tochter einer Kollegin auf eine exotische Insel verbannt, die sich Hegelland nennt und auf der es irgendwie dialektisch zugeht. Denn kaum gelandet, wächst der bisexuellen Moderatorin auch schon ein Penis – und die Geschlechtergrenzen lösen sich in Luft auf. Hermes Wolpertinger ist von nun an der Name des lyrischen Ichs. Und als jener erlebt es die Abenteuer des Insulaners in der Strafkolonie. Im Gepäck hat es die zweiundzwanzigbändige Ausgabe von Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1910:
Ich aber hab Information!
Hab echte alte Seiten zu meiner Disposition
Und das ist nützlich, denn das Inselleben kann mitunter eintönig sein, auch wenn es dort Matrosen (Genets queerer Querelle ist auch dabei), Anhänger einer ominösen Schraubenreligion und entlaufende Musen aus dem Internet kennenzulernen gilt. Ein kühles Bier wäre schön, also erläutert das Lexikon, wie man es braut – in großen Enjambements treibt’s den Leser zum herben Genuss. Dabei lässt der Insulaner sich den Verstand vernebeln mit den Erzeugnissen der Inselzeitungen, derer es drei gibt: Die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wischblatt“, wobei „Na“ und „Zy“ für naiv und zynisch stehen.
Ein übergeordneter Gedanke des Epos, von seinem Thema wollen wir an dieser Stelle lieber gar nicht reden, scheint die Möglichkeit einer Insel zu sein, auf der so etwas wie ultimatives Alleinsein geboten wird. Doch weit gefehlt, denn das Internet selbst räkelt sich kabelsalatmäßig unter Palmen. „Es ist wie ein Schlepper, kein Mensch weiß aber, / wo man rauskommt.“ Sein alerter Spion, Abkömmling einer irischen Familie im Margarine-Business, heißt Pan Orama. Das ist natürlich ein feiner Kalauer, und davon versteht die Cotten wirklich mehr als ihr Gewährsmann, der Überwachungsexperte Foucault. Doch jetzt ganz ehrlich, liebe Kritikerkollegen, Hand aufs Herz: Wer will so einen Kokolores, der sich in vierhundertdrei Strophen über das Raunen der Musendichtung lustig macht und dabei ersatzweise weißes Rauschen erzeugt, ernstlich lesen? Wäre die kleine Form, die Ann Cotten in früheren Gedichtbänden mit teilweise erstaunlichem Ergebnis beackert hat, da nicht das deutlich bessere Format?
Die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen sei ein geiler, magischer Ort, behauptete die Autorin kürzlich in einem Interview. Die Antwort klingt so originell, dass sie schon stimmen wird. „Splatter-chaotisch“ sei ihre Sprache. Und der Wahnsinn, den sie kultiviert: natürlich hat er keine Methode:
Doch geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Daraus folgt:
Ich hab keine Wahl, es wird hier wohl kein Drama geben,
weil dafür müssten mehrere Personen reden.
Ganz monoton ist das Ganze allerdings nicht. Immerhin kommt mit Homer und Vergil, mit Wordsworth und Keats, dem Marquis de Sade oder Jean Genet ein ganzer Chor von Einflüsterern zu Wort, quasi hinter Palmwedeln versteckt:
Nur hin und wieder baut ein Künstler kosmisch schöne Normen,
die meisten kleckern. Doch die Regelmäßigkeiten
ergeben sich fast gleich deutlich gerade aus dem Vermeiden.
So weit, so naseweis. Vielleicht tritt jetzt ein, was Ann Cotten immer schon vorausgesehen hat. Die Spielverderber steigen indigniert aus der Lektüre aus. Sie trösten sich mit den witzigen Comicstrips, die Cotten selbst gezeichnet und ihrem Versepos beigelegt hat. Die Fans werden die Genialität ihrer Pastichekunst feiern. Für sie ist auch weiterhin klar:
Der Sellerie raschelt geheimnisvoll im Mondlicht
Das glauben wir kaum – mit oder ohne Mondgesicht.
– Pseudo hin oder her: Mit ihrem Versepos Verbannt! legt Ann Cotten ganz gegenwärtige Zwischen- und Gegengesänge in Spenser’schen Stanzen vor. –
„‚Die Cotten steckt den Kopf jetzt in den Sand‘, hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen / und, an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen / der ‚immer schon verwirrten‘ Lyrikerin den Garaus, / den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauß“ schickt Ann Cotten ihrem neuen Buch, dem Versepos Verbannt!, einleitend voraus – und nimmt möglichen Kritiken den Wind schon aus den Segeln, bevor überhaupt in See gestochen wird. Fraglos: ein Taschenspielertrick. Kein ganz neuer zumal. Man kennt ihn von Norbert Gstrein, zum Beispiel. Der hat in seinem Schlüsselroman Die ganze Wahrheit auch allerlei erwartbare Einwände gegen sein ganzes Unterfangen angeführt. Genützt hat es dem Buch wenig.
Cotten freilich setzt noch eins drauf: „Und in der Tat, warum sollte jemand das lesen?“, heißt es. Und eine Hand voll Zeilen später kommt Lenin zum geflügelten Wort: „Was tun?“ Davor war schon vom „I Ging“ – John Cage lässt grüßen – die Rede und kurz darauf schleicht nach den Musen („schlaft weiter, schlaft, schlaft lange!“) auch ein „ganz moderner, deliriöser, inadäquater Herr Marquis de Sade in Fraungestalt“ ums Eck.
Um sie – das stellt diese „Einleitung“, die nicht einleitet, sondern mitten hineinschmeißt, klar – wird es in der Folge gehen. Irgendwie jedenfalls. Denn obwohl ein Epos grundsätzlich erzählender Natur, also ganz plump gesagt handlungsgetrieben ist, so wirklich schwindelfrei nacherzählen lässt sich Verbannt! nicht.
Trotzdem und ohne Gewähr, ein Versuch: Eine TV-Moderatorin wird, nachdem sie der minderjährigen Lena unbotmäßig nahekam, auf eine weit weniger einsame Insel als zunächst angenommen verbannt. Ein Eiland namens Hegelland, auf dem sich Signifikate nicht um Bezeichnungen kümmern und selbst Meyer Konversationslexikon (aus dem Jahr 1910), das der Protagonistin als mehrbändiges Buch für die Insel geblieben ist, wird hier keine Ordnung schaffen. Alles löst sich auf, verkehrt, verirrt, verzaubert sich auf Hegelland, wo – natürlich – weltgeistgetränkte Theoriearbeit auf zeitgeistig aufgemaschelte Praxis trifft – und selbst der strenge Reim von anno dazumal ganz absichtsvoll quietscht und knarrt.
Verfasst hat Ann Cotten, geboren in Iowa, aufgewachsen in Wien und zumeist in Berlin ansässig, ihr an Assoziationen, Zwischen- und Gegengesängen, Kalauern und Hintersinnigem reiches Epos in so genannten „Spenser-Strophen“. Der Klappentext kündigt einem, reichlich klugscheißend, aber was soll’s, „Pseudo-Spenser-Strophen“ an. Pseudo hin oder her: Die Spenser’schen Stanzen gehen auf Shakespeares Zeitgenossen Edmund Spenser zurück und sind Ausdruck viktorianischer Strenge: Jede Strophe hat neun Verse und das feste Reimschema ababbcbcc. Cotten hat diesen formalen Schraubstock fürs Deutsche adaptiert – und sich dabei die Freiheit genommen, so fest zuzudrehen, dass es Stock samt Stein aus seiner Verankerung reißt: kreative Zweckentfremdung, sprachbewusst, ungemein klug, gewagt und nie frei von bitterem Schmäh. Permanent blitzen im Irgendwie und Irgendwo schillernde Gegenwartsbezüge auf, gesellschaftspolitische genauso wie eher popkulturelle. Aber wirklich zu fassen kriegt man sie nicht. Dass irritiert zwar, aber geschadet hat etwas irrlichternde Irritation bekanntlich noch nie. Im Gegenteil: Verbannt! ist ein Meisterwerk, das Kopfzerbrechen bis zum Kopfweh bereitet. Mehr geht eigentlich nicht.
– In ihrem Versepos Verbannt! schickt Ann Cotten den weiblich gewordenen Weltgeist in Gestalt einiger postmoderner Internethippieamazonen auf die Insel – und übertrifft als Autorin sich selbst. –
Bevor man sich von Ann Cottens neuem Buch Verbannt! umgarnen lässt, einem Versepos in 403 Strophen, sollte man Folgendes wissen. Edmund Spenser veröffentlichte 1590 das Versepos The Faerie Queene, eine Eloge auf Elizabeth 1., und er tat dies in Strophen von jeweils neun Versen, die sich nach einem festen Schema reimen (nämlich: ababbcbcc).
Dieses Schema nun dient der preisverwöhnten Autorin, die nach Selbstauskunft gern „alte Bücher“ liest, als Vorlage für ihr ziemlich heutiges Stück. Vorlage? Na, eher als Einladung zur schlampig-genüsslichen Spielerei. Denn Cotten ist nicht Gernhardt; das Heiterkeitsdiktat zur Versöhnung der Dichtung mit der Basis-Melancholie des Lebens lehnt das verrückte, verkopfte Riot Girl der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Ihre Leserschaft soll’s nicht leicht haben, nein, nein.
Der Verlag weiß das wohl. Ein Plot muss her! Deshalb versucht die Gattung Klappentext hier das Unmögliche. Und das klingt dann so:
In 403 Pseudo-Spenser-Strophen schildert Ann Cotten die Turbulenzen nach einer weiblichen Flüchtlingswelle aus dem Internet.
Stopp. Bevor wir uns sagen lassen, dieser „luzide Alptraum“ hämmere (sic) sich in unser „Bewusstsein“, übernimmt jetzt die böse Kritikerin. Und das ist durchaus im Sinne der Dichterin, die gleich in der „Einleitung“ ihre Kritiker schmäht, vermutlich um ihnen den Wind aus den Segeln ihres eventuellen Widerstands zu nehmen. Aber was, wenn da gar kein Widerstand ist? Die gute Stimmung ist leider hin. „,Die Cotten“, schreibt Cotten, „steckt den Kopf jetzt in den Sand‘, / hör ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen / und, an ihren Prinzipien hängend, zornbebend bescheinigen / der ,immer schon verwirrten‘ Lyrikerin den Garaus, / den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauß.“
Ach Schwester Hochmut, war das nötig? Aufatmen, als „die Zeit für Einleitung fast um“ ist. Endlich kann es losgehen mit der Robinsonade, der abenteuerlichen Reise, von der hier dichtend die Rede ist. Ann Cottens fraglos erstaunliches Hirn, von unverschämten Musen zuverlässig geküsst, ist nun ganz auf Anti-Plot geeicht, sprich: „Echte“ Handlung will die Autorin gar nicht. Die Kopfgeburten dieser Verse kommen vielmehr aus dem Sprachmaterial selbst, aus der Dichtung der Alten (bei Spenser allein bleibt es nicht), die auf den „Weltplastikmüll“ der Jetztzeit trifft. Der wird an Küsten angeschwemmt und entstammt, vermuten wir, der Bewusstseinsindustrie im Großen wie im Kleinen. Oder, wie es an einer Stelle heißt:
Nichts ist echt. Was nicht Lüge ist, wird Kitsch sein.
Das Elisabethanische Zeitalter war in Sachen Gender-Trouble höchst entspannt. Daran will die 1982 im amerikanischen Iowa geborene und weitgehend in Wien aufgewachsene Ann Cotten offenbar anknüpfen, an ein Goldenes Zeitalter, als das schöne Durcheinander allerdings hauptsächlich für Männer Vergnügen bereithielt. Schluss damit, mag sie sich gesagt haben. Jetzt kommen die Frauen auf die Insel, beziehungsweise erst mal eine, und die wird eine prachtvolle Metamorphose erleben. Ihr wächst, kaum angekommen, ein Riesenphallus, in dem man sogar herumspazieren kann.
Wer diese Frau ist? Es handelt sich um eine intelligente Fernsehmoderatorin, die verurteilt wird in einem „Schiedsgerichtsprozess“, weil sie an der Manga-süchtigen Tochter Lena ihrer Freundin herumgefingert hat; sie mochte das Mädchen wohl wirklich gern. Die Elizabethaner hätte das nicht weiter gekratzt, aber heute – Stichwort Überwachung, saubere Sitten, Tugendmoral – landet die patente Fernsehmoderatorin, die fortan „ich“ sagt, auf der „einsamen Insel“ („Lena und ihre Mutter werd ich wohl nicht wiedersehn“). Verbannt!
Klar darf sie was mitnehmen, und das wären ein Messer mit Schleifstein plus Meyers Konversations-Lexikon in 22 Bänden, Ausgabe Leipzig 1910. Dieses herrliche Lexikon gesellt sich zu Dafoe, Homer, Vergil, de Sade, Genet, Marx, Keats, Jakobson, Strugatzki, Tschernyschweski hinzu als Quell der Assoziationsgewitter, die auf die verwandelte Moderatorin niedergehen. Ihr neuer Name: Hermes Wolpertinger. Der Ort: irgendwo im großen Meer. Warm ist es, Palmen stehen herum, die Moderatorin klettert da erst mal rauf, unten pennt ein Tiger, man sieht seine Erregung, aber nicht lange, denn es fällt eine Kokosnuss zielgenau darauf, peng! Überhaupt durchwabert viel Comic-Esprit die poetisch aufgeheizte Tropenluft, bis hin zum „Tempel“, der den babylonischen Turm in Form eines gigantischen Dübels nachformt. Ein seltsamer Schraubenkult herrscht hier, begleitet von handwerklichem Geschick der Neuankömmlinge Hilde, Mathilde, Dunja, Latosha und weitere, eine ganze Flüchtlingswelle aus dem Internet. Die Matrosen vor Ort (einer heißt Querelle!) freuen sich, alles nette Jungs.
„Hegelland“ heißt das Eiland allen Ernstes, und nun dürfen Sie raten, wer dort herrscht? Der Weltgeist, genau, aber der weiblich gewordene Weltgeist. (Das Ganze eine Synthese aus totaler Doofheit und totaler Philosophie.) Doch bevor es dazu, kommt und bevor die tolle schräge Zeit wieder vorbei ist, dieses surrealistische Happening, diese „Neo-Oper“ für postpostmoderne Internethippieamazonen, müssen noch zwei Herren erwähnt werden, die auf der Insel quasi regieren. Hermes Wolpertinger (alias „Ich“, die Fernsehmoderatorin) lernt gleich am ersten Morgen einen gewissen Wonnekind kennen, einen eher normalen Mann, und verliebt sich.
Liebe, Libido, Sex – da ist was los. In tausend „Gay-Chat-Foren“ chatten „Millionen Gleichgesinnte“, „dicht an dicht wie Plankton“ – puh, da wundert es einen schon nicht mehr, wenn das schaumgeborene Phallusweib irgendwann ausruft:
Endlich wirklich allein!
Ein kurzes Vergnügen allerdings; diverse Aufgaben warten auf es/auf sie. Zum Beispiel muss Bier her. Glücklicherweise hilft „Meyer“ aus. Das Lexikon weiß, wie man braut. Es folgen, etwas länglich, einige Pseudo-Spenser-Strophen über die Bierherstellung („getrunken wird immer“). Aber Alleinsein, wirkliches!, das gibt’s im Grunde nicht mehr. Schuld hat World Wide Web.
Einmal heißt es:
Wir finden immer alles scheiße in Europ-
a, und hier ist sicher nur manches besser…
Das ist genial:
Das „Objekt a“ (Lacan) abzutrennen vom Körper der geraubten Europa! Dass man das noch mal erleben darf, dieses freie Flottieren der Partialobjekte, in gewissermaßen unerschütterter Theorie-Euphorie, die Ann Cotten sich bisher – sie ist ja noch jung – nicht hat vermiesen lassen. Sie beschließt, sofern sie wirklich sie ist und nicht Hermes Wolpertinger:
Das Internet ist pleite!
Damit wäre auch der Internet-Spion arbeitslos. Sein Name – Pan Orama – erklärt sich daher, dass seine Eltern Margarine machten aus Abfallprodukten, denn sie waren aus Irland („O’Rama“) und hatten zwölf Kinder (vgl. Kapitel 11, 8. Strophe). Der Rama-Konsum hat natürlich allerhand Plastikmüll produziert, der als „Seemüll“ des Versepos’ Coda geben wird, als „alles zusammenbricht“. Doch vorher noch ein Wort zur Politik.
Der Witz ist nämlich, dass auf dieser gar nicht so einsamen Insel die Alte Zeit insofern reproduziert wird, als es – noch – Pressen gibt, im buchstäblichen Sinne des Wortes: gedruckte Zeitungen. Und zwar gleich drei, die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wisch-Blatt“. Sie repräsentieren die Aggregatzustände der alten und der neuen Bewusstseinsindustrie: Naivität, Zynismus und Boulevard. Das ist klug und bitter gesehen!
Wenn es einen Aufruhr gibt auf dieser traditionsgesättigten Insel, die Ann Cotten mit schönen handgefertigten Comic-Blättern illustriert, wenn es eine Revolution der Zeichen gibt, dann gilt sie den Medien. Das, sagt die längst besänftigte, angetane Kritikerin, könnte überhaupt der Kern der verrückten Idee einer weItabgewandten Verbannung in Versform sein: Es holt dich immer wieder ein. Oder auch: Alt und Neu sind auch nur Fiktionen. Verbannt! ist ein stressiges, aber virtuoses Buch; es werden sich daran noch viele Germanisten die Zähne ausbeißen. Fürs Erste aber bleibt festzustellen: total abgefahren.
– Frei nach Flauberts Roman Bouvard et Péchuchet: Ann Cotten und ihr angriffslustiges, vergnügliches, boshaftes Versepos Verbannt! mischt die Insel Hegelland auf. –
Bei der Arbeit an einem „scheußliches Versepos“ hat sich die Dichterin Ann Cotten vor einiger Zeit einen prominenten Verbündeten gesucht. Sie hatte sich festgelesen in Gustave Flauberts letztem Roman Bouvard und Pécuchet, einer herrlichen Farce auf den Bildungseifer zweier Büchernarren, die das Wissen ihrer Zeit sammeln wollen und dabei ein absurdes Gewebe aus Zitaten kompilieren. „Ich mache mir Notizen für ein Buch“, so Flaubert 1872, „in dem vorhabe, meine Galle auf meine Zeitgenossen zu speien. Die Kotzerei wird mich wohl einige Jahre in Anspruch nehmen.“ Ann Cotten hat sich in ihrem jüngsten Lyrik-Projekt auf ihre eigene, stets angriffslustige, vergnügliche und boshafte Weise ausgekotzt.
Dass „Dichtung und Überfall“ zusammengehören, hat Cotten bereits in dem Poetik-Buch Helm aus Phlox (2011) dargelegt – der ästhetisch widerborstige, ketzerische „Veitstanz“ ist seither ihre Methode. Verbannt! nimmt sich die Freiheit, rein gar nichts in den heiligen Hallen der Kultur ernst zu nehmen und stattdessen in lustigem Quergang durch Philosophie, TV-Kultur und Internet-Trash ein Gebräu aus Reality-TV, Pop-Klischee und philosophisch unterfütterten Kalauern zu mixen. Verbannt! ist eine bunte Philosophie-Revue und zugleich eine heitere Mediensatire, die niemanden mit Spott verschont, noch nicht mal die Verfasserin des Langgedichts selbst.
Als „entsetzliche Ballade“ über einen „ganz modernen, / delirösen, inadäquaten Herrn Marquis de Sade in Frauengestalt“ annonciert, bahnt sich das Versepos einen Zickzack-Weg durch die Mythen unserer Medienwelt. Den formalen Rahmen liefert die mehr oder weniger rigide Anwendung der sogenannten „Spenserstrophe“, die von den englischen Romantikern verwendet wurde – eine Strophe von jeweils neun Gedichtzeilen, gereimt nach dem Schema ababbcbcc. Ann Cotten schlägt daraus Profit, indem sie ihre grellen Einfälle in diese lose gereimten Strophen bindet – schon sieht das Ganze nach einem hypermodernen Gedicht in strenger Form aus.
„Man weiß nie“, so hat Ann Cotten selbst sehr offenherzig dem Interviewer der Welt erklärt, „ist es Bullshit oder wahrer als der Boulevard“. Eine kuriose Story hat ihr Epos allemal: Eine Fernsehmoderatorin wird wegen einer erotischen Verfehlung an einer Minderjährigen vor die Wahl gestellt: entweder „unfreiwillige Brustvergrößerung“ oder „endgültige Zivilisationsverstoßung“. Sie entscheidet sich für die Verbannung und landet am schönen Strand von „Hegelland“, wo Palmen wachsen und ein wohlgesonnener Bürgermeister namens „Wonnekind“ und 25 weitere Männer als Quäker hausen und einer „Schraubenreligion“ huldigen. Die Lockerung der ideologischen Schrauben ist Programm. Als hilfreich bei der Kompilation nützlichen wie nutzlosen Wissens erweist sich Meyers Konservationslexikon in einundzwanzig Bänden aus dem Jahr 1910, das die Heldin nach „Hegelland“ mitgenommen hat. Daraus kann sie nach Bedarf Fakten entnehmen, um sie zu neuen Konstellationen zusammenzuklauben. Zu weiteren Akteuren des Versepos gehören so vieldeutig schillernde Wesen wie ein gewisser „Hermes Wolpertinger“ oder der Internet-Spion „Pan Orama“, die in immer neuen Verwandlungsgeschichten durch das Werk geistern.
Auch das Motiv des Vexierspiels mit geschlechtlichen und sexuellen Identitäten zieht sich durch die neunzehn Kapitel von Verbannt. Zu den heitersten Passagen zählen die wunderlichen Zeichnungen und Comics, die Ann Cotten beigesteuert hat, und ihre wunderbar böse Persiflage der Medienlandschaft. So konkurrieren auf „Hegelland“ drei Zeitungen um die Deutungshoheit: die „Na-Presse“, die „Zy-Presse“ und das „Wisch-Blatt“, die sich in ihrer Dummheit nur graduell unterscheiden. Unfreiwillig witzfrei sind dagegen die Exkurse über den Zusammenhang zwischen Poesie und Bierherstellung, wobei die Autorin hier wohl selbst das Konversationslexikon geplündert hat, das ihre Heldin auf die Insel gerettet hat.
Macht also besser gleich Bier aus den jungen Dichtern!
Malzapparate gibt es schon zuhauf.
Macht Bier auch aus den Kritikern und Kunstrichtern!
Lasset sie kommen, stampfet sie und sauft!
So kommen weniger Probleme auf.
Mein Gott, was sind das schöne deutsche Reime.
Obgleich ich bierlos, ist mein Hals wonnig davon im Schleime.
Ist das Resultat solcher satirischen Versübungen nur schlampig produziertes „Dünnbier“, wie es einmal heißt? Keineswegs. Ann Cotten hat mit Sarkasmus, Spott und Boshaftigkeit die ehrwürdige Gattung des Versepos neu erfunden. Manchmal stochert sie mit ihren Einfällen im Nebel und produziert Leerlauf. Immer wieder gelingen ihr Verse, die für großes Lesevergnügen sorgen. Flauberts Lesenarren hätten ihre helle Freude daran gehabt:
Doch, geb ich zu, so ziemlich alles Doofe
gliedert sich in Exposition, Peripetie und Katastrophe.
Im Allgemeinen wär es damit abgetan. Ob pur
oder vermischt mit Eigenem, das Drama
ist zu erleiden. Es erfinden aber ist Tortur!
– Ann Cotten schickt in ihrem Versepos Verbannt! eine Fernsehmoderatorin auf eine einsame Insel. Dort spukt der weibliche Weltgeist mutig gegen alle Konventionen. –
Wenn Ann Cotten reimt, dann fliegt einem der Verstand um die Ohren. Ihre Satzanfänge geben ein wenig Halt, eine erste Orientierung, um dann wieder abrupt die Richtung zu wechseln. Die Dichterin weiß, wie man eine Geschichte erzählt und eine kryptische Idee formuliert. Doch dann stößt sie alles beiseite und raunt dem Leser zu:
So nicht, mein Lieber. Zu früh gefreut.
Genau diese Erfahrung des kurzen Festhaltens und langen Scheiterns am Sinn ist die Quintessenz des neuen Versepos Verbannt!, verfasst von einer Autorin, die 1982 in den USA geboren wurde, in Wien aufgewachsen ist und sich irgendwann dazu entschieden hat, in Berlin zu leben. Der Text ist in neunzeiligen Spenserstrophen verfasst, die bei George Byron oder Percy Shelley besonders beliebt waren, höchste Konzentration beim Leser und größtes Taktgefühl für sprachliches Tempo beim Autor erfordern. Der Spagat zwischen klassischem, ja fast schon altbackenem Versschema (ababbcbcc) und radikaler, vor nichts haltmachender Konfrontation mit der modernen Welt ist das ständige Vexierspiel, das dieser Text auf kongeniale Weise umzusetzen weiß.
Der Inhalt wäre schnell erzählt und dürfte ohnehin nicht so wichtig sein: Eine Fernsehmoderatorin wird aufgrund einer betriebsinternen Liebesaffäre auf eine einsame Insel verbannt. Es ist ein riskanter Ausflug, bei dem die Heldin drei Dinge mitnehmen darf – ein Messer, einen Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910, einundzwanzig Bände. Als Resonanzkörper dient Ovid, der große Verbannte der Literatur, der Verwandlung und Mythologie ebenso ernst nahm wie Ann Cotten, die ihre Themen durch einen Fleischwolf der Ideen, Anspielungen und Paraphrasen presst, bis es blitzt und donnert. „Schraubenreligion“ heißt das dann.
Versucht man nun, sich an die Sätze zu klammern und ihnen zu folgen, merkt man schnell, dass das Lesen dieses Versepos einem teuflischen Pakt gleicht: Die Geschehnisse auf der Insel sind nur Staffage, eher Beiprodukt für einen Freestyle, der in Wirklichkeit ein skurriler Assoziationsreigen ist, eine Karussellfahrt der Ideen. Der Leser hetzt hinterher und darf einen Gedankenteppich beim Ausrollen beobachten, der sein Muster chamäleonhaft verändert. Das muss man erst mal aushalten können.
Aber genau das ist Literatur: mutig und wild und der Konvention schrill abgewandt. Just dann entstehen Sätze wie diese:
Schlimm ist es, wie die Zeit abläuft, sagte ich schon.
Wie unerbitterlich ein Problem ins nächste
sich gießt und nie zurück ins Kästchen hinterm Megafon
fließt ein gesagtes Wort, und sei es auch das allerschwächste
der Argumente, vom Schaumgipfel Scham das Höchste.
Man findet lieber einen komplett irren Reim,
lässt zu, dass was passiert – passieren muss –, auch wirklich kein
Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt,
sodass der Realismus, niemals irrig, in den Irrsinn kippt.
Der Widerspruch ist Programm, die Realität ein Missverständnis und überhaupt die Fundgrube für Witz, Pointe, schräge Metapher, die im Brüchigen unbekannte Perspektiven erschließen. „Ich scratche Wirklichkeit, wie mit den Händen Drucker Kupferplatten beätzen“, sagt das lyrische Ich und verliert sich sprichwörtlich auf dieser einsamen Insel, die sich später als Hegelland entpuppt, wo die notwendige Folge eines Reims den Weg des (weiblichen) Weltgeists bestimmt. Hierbei ist der intelligente Schluss genauso wichtig wie die banale Pointe – allesamt gleichberechtigte Partikel der Welt:
Was ihre Teile vor der Katastrophe
als Träume wählen, auch wenn es mir nicht gefällt,
ist Teil der Wirklichkeit. Ein Philosoph, eh
ein Freund von mir, erinnert: Welt ist auch das Doofe.
Von Seite zu Seite steigert sich die Komplexität. Die Insel wird bevölkert von mythologischen Gestalten, die den Sinn noch weiter ins Absurde treiben: ein Wonnekind taucht auf, ein Hermes, eine Syrinx und andere skurrile Figuren, die das Inselleben aufmischen und über Gott und die Welt philosophieren. Ihre (Geschlechts-)Identitäten sind opak, mit dem lyrischen Ich oft austauschbar und ohnehin mehr Stichwortgeber für eine Poetologie, die in der Übertreibung zerrspiegelhaft darstellt, dass unsere Welt nicht minder irrsinnig ist als das Cottensche Fleckchen Land.
Dabei werden die komplexen Strophen immer wieder unterbrochen von skurrilen Comicstrips der Autorin, die dem Versepos eine zweite Sinnebene verleihen. Man sitzt da und versucht sie zu entschlüsseln wie Schatzkarten, die nur so tun, als wären sie Anweisungen für ein letztes Verständnis. Wenn die Irrfahrt vorbei ist, bei der man gelernt hat, wie Bierbrauen funktioniert, wie aus „Zy-Pressen“ Zeitungen entstehen und warum sich das Internet selbst bei größter Einsamkeit im Kopf nicht ausschalten lässt, fühlt man sich betäubt, wund, verstört und irgendwie, ja, auch glücklich.
– Nach Hegelland: Ann Cotten geht in ihrem enormen Versepos Verbannt! auf große Fahrt. –
Man könnte den Versepos Verbannt! von Ann Cotten als eine Provokation empfinden. Denn dieser Text der vielleicht experimentellsten Lyrikerin im deutschsprachigen Raum strotzt auf den ersten Blick nur so vor Zumutungen. Er reißt scheinbar wahllos sprachliche Sinn-Abgründe auf und stürzt sich mit rücksichtsloser Lust in sie hinein. Er attackiert die einfachste Erwartung an Literatur, ansatzweise zumindest zu verstehen, was man liest, und wäre damit auf den ersten Blick nicht mehr als ein irres, komisches und doch bitter ernst gemeintes Sprachspiel. Und doch wäre nichts falscher als das. Ann Cotten ist mit ihrem Versepos ein bewundernswert kühner und tief gedachter Text-Coup gelungen.
In 403 Spenser-Strophen, einem nach dem englischen Dichter Edmund Spenser benannten Reimschema aus dem 16. Jahrhundert, räumt die Lyrikerin auf mit einer Dichtung, die uns die Welt vorführt, wie wir sie eigentlich schon immer verstanden haben. Dichtung kann, das bewies Cotten bereits in ihren drei vorangegangenen Büchern, auch eine kondensierte Form emphatischen Denkens sein. Und zwar in einer unerhörten Sprache. Verbannt! weist bei allem Anachronismus der Formen (Spenser-Strophe, Epos) in die Zukunft dessen, was noch möglich ist und sein könnte mit diesem manchmal schon so abgetragen erscheinenden Denkgewand Sprache. Nach der Lektüre ist man sich zumindest sicher, dass die Möglichkeiten der Literatur längst nicht ausgeschöpft sind.
In der Einleitung des in 19 Kapitel aufgeteilten Langgedichts beschreibt Cotten ihr dichterisches Ansinnen erst einmal bescheiden als das „Vermitteln zwischen Sein und Denken“. Sie lässt den Großteil der schwer nachzuerzählenden Handlung konsequenterweise auf einer Insel namens Hegelland spielen. Spuren dieser Philosophie finden sich im Text tatsächlich, nicht zuletzt in einer absoluten Unruhe des Subjekts, dem Beben eines nie zu einer endgültigen Form gerinnenden Denkens und Sprechens und dem Mut zur äußersten Zerrissenheit des Sinns, auch wenn Hegel all dies bekanntermaßen am Ende auf dem Olymp des absoluten Wissens still stellt.
Cotten hingegen spielt bis zuletzt ein wildes, waghalsiges Spiel mit Ideen und Texten, die ein Assoziationsfeuerwerk entlang einer jahrhundertelangen Denkgeschichte von Ovid bis Benjamin zünden und bei genauer Spurensuche wohl recht viele Regalbretter füllen würden. Die Dichterin scheint alles mit allem und das auf kürzesten Wegen zu verweben. So entsteht ein irritierendes, irrlichterndes, fantastisches Schlittern, Taumeln, Gleiten und Stolpern über die unwahrscheinlichsten Holzwege poetischer Ideen.
Anfangs bewegt sich das lyrische Ich, eine Fernsehmoderatorin, noch in einer langweilig geordneten Denkwelt. Sie „stakste durch die Diskurse, die liefen auf Schienen / in den Kantinen zwischen zwanzig starren Mienen“, heißt es zum braven Habitus, der in den TV-Studios herrscht, wobei nahe liegt, dass sie im Epos für jene berühmten Bretter stehen, die die Welt bedeuten. Menschen namens Dirk, Philipp und Lena bevölkern sie, und es herrscht eine Art Erwachsenen-Krankheit der Engstirnigkeit, die bewirkt, dass Sprechen und Denken immer wieder bekannte Muster reproduzieren und aussortieren, was nicht hinein passt:
Und so verklebt Erwachsensein die ganze Welt
Das lyrische Ich fühlt sich unbändig zum Kindlichen hingezogen, weil es selbst „keine Kästchen verwende“, „um die Wahrheit zu züchtigen“. Doch diese Sehnsucht, im Versepos realisiert als verbotene Liebe zur minderjährigen Lena, führt für die Moderatorin dann zum titelgebenden Urteil: Verbannt!, auf eine einsame Insel. Klar ist, dass es sich in den folgenden Kapiteln nicht um das Reportieren einer tatsächlichen oder fantasierten Reise auf eine Insel handelt, sondern um eine Art Reisetagebuch über Expeditionen in unbekannte Denk- und Sprachregionen, in denen das Dichten, Schreiben und Erzählen mitsamt seinen bekannten Konventionen mit auf dem Spiel stehen. Spricht die verbannte Moderatorin anfangs noch zu sich selbst mit Hilfe von Meyers Konversationslexikon von 1910, das sie als eines der wenigen Dinge mitnahm, so verändert die Begegnung mit Wonnekind, dem Bürgermeister der dann doch nicht so einsamen Insel namens Hegelland, alles.
Schnell gewinnt man den Eindruck, dass die Insel in Wahrheit nur ein anderer Name für eine ewige Seekrankheit der Sprache und des Denkens ist. Und da Veränderung das einzig Konstante in diesem Ideenkosmos ist, lösen sich auch die Identitätsgrenzen der Fernsehmoderatorin bei ihrer recht körperlichen Begegnung mit Wonnekind auf. Sie wird zum Fabelwesen Hermes Wolpertinger:
Ein Geweih wächst mir jetzt, ein Riesenpimmel
statt eines Beins, das andere wird Stummel
und Fischschwanz.
Mit Wonnekind leben noch 25 andere Männer und Götter auf der Insel als Quäker und huldigen einer Schraubenreligion. Das Wort Quäker, das sich von „Zittern“ ableitet, ist treffend für die unaufhörlichen Bewegungen der Körper und Geister in dieser anarchischen Paragesellschaft.
Der Text selbst erscheint wie eine Art „Dauererregung“, es herrscht „Random-Schaltung“. Schließlich stößt noch ein gelangweilter Internet-Flüchtling namens Pan Orama hinzu. Und was sich in diesen Begegnungen sprachlich ereignet, so viel soll gesagt sein, geht über das Bewusstsein und dessen angestammte Herrschaftsgebiete weit hinaus.
Man kann sich deswegen in diesem Hegelland auch nachhaltig verirren. Jeder Sinn, auch jener der 20 Illustrationen, ebenfalls aus Cottens Feder, jeder kleine Handlungsstrang, jede Figur, an die man sich lesend klammert, bleibt zwielichtig, offen, wandert und verschwindet. Das führt zu einem endlosen, fast psychoseverdächtigen Gleiten der Signifikate. Am Ende ist es trotzdem zutiefst traurig, wenn das surreale Gebaren der Inselbewohner fast unbemerkt wieder ins Alt-Bekannte kippt.
Und dann kommen noch die Frauen auf die Insel, bei Cotten geknechtete Wesen, geformt mithilfe von Prothesen nach den Vorstellungen des Internets. Lange von den Männern herbeigesehnt, setzt mit ihrer Ankunft bald der stetige Verfall der Wunderwelt ein. Auch die drei freien Pressen auf der Insel, welche die Moderatorin anfangs als utopische Sprechorgane erkundete, fußen, wie sich herausstellt, doch nur auf Naivität, Zynismus und boulevardesker Spaßigkeit.
Schließlich bricht die alte Engstirnigkeit wieder ein:
In Reichweite vor allem engt sich unser Himmel,
als sähe man nicht richtig, seit
Fiktion und Kunden überholten Wonnekinds Erfinden,
ununterscheidbar, nur unerbittlicher als real:
wörtlich, wie auch die Welt immer bloß war, was sie halt war.
Die poetische Revolution ist gescheitert! Es lebe die poetische Revolution der Ann Cotten!
– Ann Cotten schickt in ihrem Versepos eine TV-Moderatorin in Manolo-Blahnik-Pumps auf eine Insel der Verdammten. Das ist witzig, bizarr und von postmoderner Schönheit. –
Es ist eine „entsetzliche Ballade“, die Ann Cotten uns in ihrem neuen Buch singt. Ihre Moritat handelt von dem „sibirischen Unglück“ eines „Herrn Marquis de Sade in Fraungestalt“. Sie erzählt in Versen von dem Unglück und mit übers Knie gebrochenen Reimen zumal. Die Gewalt, wer immer sie an wem verübt hat, wird hier zunächst und vor allem an der Sprache vorgeführt. Sie wird gebrochen. An jedem Versende. Das geht durch Mark und Bein, nicht nur der Wörter, sondern auch des Lesers. „Nur wenn es richtig ist, duftet es in das Hirn hinauf.“ Richtig sind die Verse dann, wenn an ihnen sichtbar und hörbar wird, wovon sie erzählen.
Indessen erschliesst sich nicht ohne weiteres, wovon die Verse handeln. Unverkennbar ist nur, dass Gewalt im Spiel ist. Das Messer der Dichterin schneidet dann auch brachial mitten durch die Wörter hindurch und hält sich dabei weder an Silbengrenzen noch an Sinnzusammenhänge:
… wie er mich als neue Art verwendet:
Ihm Aussicht ist mein… Ende. T-
raumschluss. Ich bin jetzt Frau wieder…
Der Reim auf „verwendet“ kann dann zwar nicht gesprochen, aber immerhin im Schriftbild nachgeformt werden. Oder auch: Der Reim stimmt durchaus und lässt sich auch so lesen, nur entsteht dann ein Wort, das wiederum dem Schriftbild widerspricht.
Nichts also stimmt mehr vollends überein. Nicht das Schriftbild mit einem irgend denkbaren Wortsinn – und nicht ein naheliegender Wortsinn mit dem, was das Schriftbild suggeriert. Alle Sinnstiftungen sind hinfällig geworden in dieser Welt – die dennoch auf verwirrende Weise bei den uns vertrauten Zeichensystemen Anschluss sucht.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die Ich-Erzählerin, eine Fernsehmoderatorin, lässt sich zu Intimitäten mit der minderjährigen Tochter einer Kollegin hinreissen, die Sache fliegt auf und sie aus der Sendung. Man stellt sie vor die Wahl (und man erkennt an den Optionen, zu welcher Karikatur die Welt verzerrt ist): entweder „unfreiwillige Brustvergrösserung oder quasi endgültige Zivilisationsverstossung“. Sie wählt Letzteres, wird auf eine einsame Insel verbannt und nimmt drei Dinge mit ins Exil: ein Messer, einen Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910 in zwanzig Bänden nebst zwei Supplementbänden.
Der Verbannten bleibt nicht lange verborgen, dass sie nicht ganz allein auf dem Eiland lebt. Erst begegnet ihr ein Tiger, da sie gerade auf einer Kokospalme zugange ist. Aus Unachtsamkeit und weniger aus Berechnung tritt sie mit ihren Manolo-Blahnik-Pumps eine Kokosnuss los, die der Raubkatze aufs Gemächt fällt und darum diese fürs Erste ungefährlich macht. Alsbald stösst sie auf andere Menschenkinder, auf gestrandete Matrosen, die seit vier Jahren die Insel bewohnen und sich hier eingerichtet haben. Wonnekind ist deren Anführer, ihm vertraut sich die Erzählerin an; er führt sie – als sei er ihr Vergil in der Unterwelt – ein in die Gesellschaft der Inselbewohner.
Er erklärt ihr das Pressewesen: Drei Zeitungen erscheinen auf der Insel, vom Revolverblatt über die postmoderne „Zy-Presse“ bis zum ebenso wenig schmeichelhaften „Wisch-Blatt“. Er macht sie vertraut mit der insularen Metaphysik, die Wonnekind als Prophet selber gestiftet hatte:
Ich aber, im Hirn bunter,
ging auf den Berg, drei Nächte, kam mit Schrauben wieder runter.
Eine Schraubenheiligkeit also – angemessen jedenfalls für diesen spätzeitlichen Homo faber – wird im schraubenartigen Tempelgebäude verehrt.
Schliesslich zeigt ihr Wonnekind die Bibliothek, wo eine Eselin für die fortgesetzte Produktion von Gasen und darum von Strom besorgt ist durch die Lektüre unterschiedlichster Schriften. „Auch hat unseres Staats Verfassung sie geschrieben“, so erklärt Wonnekind der Verbannten, „aufgegessen und zu Eselsäpfeln zerrieben. / Sie ist somit die Hüterin von allem, des Mysteriums.“
Das ist alles lustig und skurril und nicht ohne bizarre Pikanterie. Denn der Inselstaat hat auch einen Namen: „Hegelland“ wird er geheissen. Und erst allmählich merkt man nun, in welcher parodistischen Slapstick-Komödie man sich befindet. Ann Cottens Versepos amalgamiert auf anarchisch wilde Weise Miltons Paradise lost, Vergils Georgica oder Aristophane’ Vögel zu einem Spottgedicht auf alle postmodernen Verfahren des Denkens und Dichtens.
Diese Dichtung zielt mitten hinein in eine Gegenwart, die sich in dieser Travestie kaum mehr zu erkennen vermag, aber gerade noch in der Entstellung das kritische Potenzial wahrnimmt. Ann Cotten verbindet ihr schauerliches Epos mit ebensolchen Zeichnungen, die nun vollends den schauerromantischen Habitus dieses Textes hervorheben – ohne ihm allerdings eine zusätzliche Aussagekraft zu erschliessen.
Vielleicht liegt in dieser motivischen Redundanz das Kardinalproblem dieses zugleich hochpoetischen wie absurd komischen Textes: Die Dekodierung seiner sprachlichen Struktur, seiner inhaltlichen Zusammenhänge und seiner unterschiedlichen Zeichensysteme (Reim, Versmass, Metaphern, Illustrationen) führt immer wieder an den gleichen Punkt und nur immer an genau diesen zurück: Die Welt ist aus den Fugen, die Sprache ein Mittel der Herrschaft, Religionen sind Erfindungen überreizter Hirne – und der Staat stellt nichts als eine Eselei vor. Wohin auch immer man blickt in diesem Versepos: Es ist die Gewalt am Werk, ob an der Sprache, an den Menschen oder an den Tieren.
Der sprachliche Aufwand in diesen rund 400 Strophen zu (in der Regel) neun Versen (in Anlehnung an die sogenannte und von der englischen Romantik wieder aufgegriffene Spenser-Strophe) ist darum so gewaltig wie gewalttätig. Das gedankliche und poetische Ergebnis wiederum steht in einem argen Missverhältnis dazu. Darum noch einmal der eingangs zitierte Vers:
Nur wenn es richtig ist, duftet es in das Hirn hinauf.
Duftet es ins Hirn hinauf? Oder um mit einem Vers zu fragen:
Und in der Tat, warum sollte jemand das lesen?
Allein der Sprache wegen! Weil hier jemand, im Wortsinn, Verse schmiedet. Weil hier im Reim zusammengezwungen wird, was nie und nimmer sonst zusammenkommt. Und weil hier auseinanderbricht, was man sich getrennt sonst nicht denken würde.
Für die Mühsal, die diese Lektüre, es sei nicht verschwiegen, kostet, entschädigt am Ende allein der ingeniöse Sprachwitz Ann Cottens. Wenn sie etwa „Klang“ auf „Bumerang“ reimt, dann ist das nicht nur lustig: Es fasst ins genaue Wort, was die hochkomplexe Reimstruktur der Spenser-Strophe macht: Alles kehrt immer wieder zurück. Jeder Klang schlägt den Leser zwei, drei, vier Verse später wieder als Bumerang vor den Kopf. Das bereitet ein köstliches Vergnügen, wie es nur die boshaften Parodien können.
Jan Kuhlbrodt: Von der Wiederkehr des Epos
signaturen-magazin.de
Meinolf Reul: Rhapsodische Gedanken zu Ann Cottens Versepos „Verbannt!“
signaturen-magazin.de
Timo Brandt: Der weibliche Faust…
fixpoetry.com, 5.4.2016
Christiane Kiesow: Medienzirkus bei Ann Cotten
fixpoetry.com, 10.8.2016
Kristin Steenbock: Posthumane Science-Fiction
literaturkritik.de, Juli 2016
Peter Groenewold: Ann Cotten, „Verbannt!“ – Das komplette Lesetagebuch (1–18)
café-deutschland.blogspot.de, 2.8.2016
Tilman Winterling: Verbannt! – Ann Cotten – Versepos
54books.de, 21.8.2016
Daniel Grabner: Vers-Punk
FM4, 6.5.2016
Maria Renhardt: Flotter Plot in alter Strophe
Die Furche, 1.12.2016
Ann Cotten: Verbannt! – Interview – DAI Heidelberg
– Gespräch mit Ann Cotten am 6. November 2017 in Dresden. –
Paul Jandl nennt Ann Cotten die „klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache“ [Die Welt, 3.4.2016] In der Tat versetzen ihre Bücher – ob Fremdwörterbuchsonette oder das Versepos Verbannt! und erst recht JIKIKETSUGAKI Tsurezuregusa – den Leser, der sie gefunden hat, zunächst einmal in Erstaunen und Neugier. Man vergisst diese Bücher nicht – wie alles, was man sich erarbeiten muss. Kafkas berühmte Briefzeile – „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ – kommt einem in den Sinn. Einige Texte von Ann Cotten, etwa im Erzählband Der schaudernde Fächer, haben diese Qualität. Das hier abgedruckte Gespräch macht aber deutlich, dass auch hinter diesen Büchern einmal mehr ein fleißiger Mensch steht, mit einer unglaublichen Neugier, mit Demut vor der Welt und mit Freude am Lösen von selbstgestellten Aufgaben. Der hochgelehrte Bücherstaub quillt allenfalls aus den bemühten Texten der Rezensenten, weil die Bücher von Ann Cotten sich dem flüchtigen Lesen entziehen. Ich hatte das Glück, Ann Cotten während der Unterbrechung einer Fahrt von Berlin nach Wien in Dresden treffen zu können. Da uns beiden klar war, dass über ihr Denken und Schreiben nicht nebenbei gesprochen werden kann, brachte sie freundlicherweise viel Zeit mit, selbst für eine Wanderung auf dem Elbhang bei Wachwitz war Zeit. Ich würde deshalb den von Paul Jandl gefundenen Superlativen noch „ausdauernd freundlichste Dichterin“ hinzufügen wollen.
Axel Helbig: Liebe Ann Cotten, ehe wir auf Ihre zuletzt erschienenen Bücher, das Versepos Verbannt! und die Textsammlung JIKIKETSUGAKI Tsurezuregusa, zu sprechen kommen, würde ich Sie gern zu Ihrem „Einstieg“ in die Literatur befragen und ganz kurz auf einige der vorherigen Bücher eingehen. Sie sind im Alter von fünf Jahren mit Ihren Eltern aus den USA nach Wien gezogen. Sind Sie mit englischsprachigen und deutschsprachigen Kinderbüchern aufgewachsen?
Ann Cotten: Nur mit englischsprachigen.
Helbig: Ging das in der Jugend zweisprachig weiter?
Cotten: Klare Trennung. Ich habe in der Schule deutsch gesprochen, zu Hause englisch. Bei den Büchern kamen dann zunehmend auch deutsche vor. Mein Vater brachte die Janosch-Bücher mit. Ich habe mir deutsche Jugendbücher in der Bibliothek ausgeliehen, zugleich weiterhin auf Englisch gelesen.
Helbig: Welche Prägungen hat es gegeben, die zur Beschäftigung mit der Literatur hingeführt haben?
Cotten: Ich war sehr unzufrieden damit, ein kleines Mädchen zu sein. Um Pirat zu sein, war Literatur geeignet. Deshalb habe ich mich in Bücher geflüchtet. Im Englischunterricht wurde mir erlaubt, unter der Bank Fortsetzungsromane zu schreiben, anstatt zu stören. So habe ich das Dispositiv des Schreibens eingeübt. Im Bücherregal fand ich ein paar englischsprachige Gedichtbände, die aufregend schön waren. Es gab einen Englischlehrer, Mr. Silva, er unterrichtete ersatzweise Englisch und hatte William Carlos Williams mitgebracht und noch einige andere kontemporäre Lyriker. Er hat diese Dichter auf eine sehr offene und fordernde Weise eine halbe Stunde lang besprochen und uns dann machen lassen, was wir wollen. Das hat Eindruck auf mich gemacht. Jetzt ist ein großer Roman von Arturo Silva herausgekommen. Das ist ein Text wie Finnegans Wake, er heißt Tokio Whip. Er hatte Jahrzehnte in Tokio verbracht, das wusste ich damals gar nicht. Vielleicht ist es eine Art von Scheitern in Tokio, die in diesem Roman beschrieben wird. Jedenfalls kam er wieder zurück. Ich sehe ihn manchmal im Filmmuseum in Wien.
Helbig: Was haben Sie eigentlich genau studiert? In den Annalen der Deutschen Nationalbibliothek werden Sie als Mitarbeiterin an einem Kompendium über Walther von der Vogelweide geführt.
Cotten: Das war nur galant von dem Professor Birkhahn, der mich als Organisationsassistentin bei dieser Tagung engagiert, also bezahlt hatte. Ich weiß nicht, warum er das gemacht hat. Er wollte, dass ich Mediävistin werde. Ich habe in Wien aber dann Neuere deutsche Literatur studiert. Ich mochte zwar das Lesen von Mittelhochdeutsch, als wie einer scheinbaren Zwischenform zwischen Englisch und Deutsch, mit lauter pikanten Verschiebungen, wollte aber, vielleicht gerade wegen diesem Reiz, nicht professionell in diese Richtung gehen.
Helbig: Ihre Abschlussarbeit an der Uni in Wien – Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen – wäre gut als Promotionsarbeit durchgegangen. Eine Arbeit, die enzyklopädischen Charakter hat und sich trotzdem nicht trocken liest. Wie kamen Sie auf das Thema und was lernen wir diesbezüglich von den in der Arbeit exemplarisch abgehandelten Autoren (u.a. Ernst Jandl, Oskar Pastior, Eugen Gomringer)?
Cotten: Es war damals in Wien ziemlich naheliegend, dass man ins Archiv geht. Es gibt dort große Handschriftensammlungen, die geradezu darauf warten, dass Germanisten sich ihrer annehmen. Mehrere Professoren schlugen also vor: Gehen Sie doch in die Michaelerkuppel. Ich bin aber bis heute nicht in der Michaelerkuppel gewesen, weil ich fand, dass man erst die publizierten Werke lesen muss, bevor man sich an die Handschriften heranmacht. Ich kam dann auf dieses Listenthema, ich weiß nicht mehr, wie. Während ich daran schrieb, lernte ich schon Berlin kennen und fand es interessant, die verschiedenen Teile der deutschen Gegenwartsliteratur zusammen in einen Blick zu bekommen. In Wien ist man sehr gut bekannt mit den österreichischen Autoren, der Rest der Nachkriegsliteratur ist perspektivisch oder eben unperspektivisch verzerrt. Ich fand es interessant, Oskar Pastior, Eugen Gomringer und Ernst Jandl, und dann noch den eher traditionell schreibenden Günter Eich, mit derselben Fragestellung zu lesen. Die Fragestellung musste gefunden werden, es war natürlich eine politisch-philosophische.
Helbig: Ich finde es interessant, dass auch das Thema aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet wird. Man wird hineingezogen.
Cotten: Ich habe eigentlich nie ganz die Eigendefinition der konkreten Poesie geschluckt. Man kann ja das Konkrete auch im Nichtkonkreten finden. Sie sagen ja selbst, dass sie sich vom Barock herleiten. Man findet aber auch bei Günter Eich diese Aufzählungen. Das kam mir kontinuierlich vor. Jedenfalls war es interessant, nach einer Formulierung zu suchen, die alle beschreiben kann.
Helbig: Ihr erstes Buch Fremdwörterbuchsonette wurde 2007 von der Kritik vorsichtig euphorisch aufgenommen. Sie selbst bezeichneten das Sonett einmal als Denkmaschine. Was macht diese Maschine mit Ihnen?
Cotten: Es ist ein Flow, wenn man ein Sonett schreibt oder eine ähnlich strenge Form. Denken – später habe ich gelernt, dass man etwas skeptischer hinterfragen sollte, was Denken eigentlich ist. Man kennt den Spruch: Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, usw. Es fühlt sich halt an wie Denken. Das Sonett scheint wohin zu führen, das Denken oder wenigstens denkähnliche Verwandlungsprozesse anzuleiten, es ist ja dialektisch, etwa durch seine abwechselnde Benutzung von Assoziationen und logischen Verknüpfungenen, Gleichklang und anderen Techniken.
Helbig: Im Zuge Ihrer Recherchen zu Nach der Welt sind Sie auf Oulipo gestoßen, die französische Autorengruppe, die „Spracherweiterung durch formale Zwänge“ anstrebt. Gab das einen Anstoß, die Sonettform zu wählen?
Cotten: Da ich George Perecs La vie mode d’emploi zur Französischmatura gelesen habe, war ich mit Oulipo seit der Schule vertraut – dank der coolen Französischlehrerin. Mir hat Perecs Anspruch imponiert, für jedes Werk eine neue Form zu benutzen. So wollte ich auch arbeiten. Das allein ist noch kein Konzept, aber ich finde das gut. Bei den Sonetten wollte ich, dass jedes Sonett anders daherkommen sollte, wie bei einer Modenschau.
Helbig: Das überraschende an dem Buch ist die Breite des Wissens und des Interesses, welches dieses Debüt offenbart. Es wird nicht nur auf die deutsche Sonettform rekurriert, sondern auch auf die französische, italienische, englische etc. Das Buch liest sich mit seinen vielen sprühenden Gedanken und Anspielungen wie ein Exkurs durch die Weltliteratur. Sind Sie an der Uni eine Bücherfresserin gewesen? Schon Nach der Welt enthält eine umfangreiche Bibliografie.
Cotten: Es treibt mich, die Sachen, die ich gerade gelesen habe, zu verwenden. Also täuscht die scheinbare Masse, es ist Strandgut. Das passive Dasitzen und Lesen liegt mir nicht. Wenn mich etwas interessiert, dann neige ich dazu, es gleich anwenden zu wollen. Das schaut dann aus wie Hochstapelei.
Helbig: Für den Leser ist es am Ende eine spannende Wissenserweiterung.
Cotten: Ja, so schien es mir auch. Deswegen habe ich es geschrieben. Immer wenn mich etwas interessiert, denke ich, das muss doch die anderen auch interessieren.
Helbig: Warum eigentlich Fremdwörter?
Cotten: Die sind ein bisschen fresh in der deutschsprachigen Dichtung. Auch in der deutschsprachigen Denke.
Helbig: Einige der Sonette finde ich genial, wunderbar stimmig in Form und Inhalt. Oft werden die Gedanken auch gesellschaftskritisch und kulturanthropologisch abgewogen. Nach dem 39. Sonett gibt es eine Kehre, ab da werden die ausgewählten Fremdwörter ein zweites Mal mit einem Sonett bedacht. Das hat es dem Lektor sicher schwer gemacht?
Cotten: Meine Lektorin Charlotte Brombach hat sehr auf Details geachtet und gesagt, wenn etwas unverständlich oder grammatisch unkorrekt ist. Zwei oder drei Sonette habe ich ganz herausgenommen und neu geschrieben. Ich wäre neugierig, welche Ihnen als die Schwächeren aufgefallen sind, ob es die gleichen sind wie bei mir, mein Eindruck wechselt aber oft. Gedichte, auf die ich am meisten stehe, im Englischen vor allem, sind oft mit ganz banalen Endreimen ausgestattet, auch Popmusik. Vielleicht sehe ich es deshalb manchmal allzu wertfrei. Es fällt mir generell schwer, Gedichte von anderen und auch meine eigenen zu bewerten. Manchmal, wenn sie lange liegen, kann ich erkennen, was schlecht ist. Manche kommen mir in der Erinnerung blasser vor als andere, wo ich vielleicht auch weniger Zeit damit verbracht habe.
Helbig: Welche Autoren haben Ihnen so etwas wie eine geistige Grundlage gegeben? Es tauchen immer einmal Namen auf Doderer, Musil, Pound, Bernhard. Wann kamen diese Autoren in Ihr Leben?
Cotten: Unterschiedlich, die Österreicher zuerst, Pound habe ich erst vor kurzem extensiver gelesen. William Carlos Williams und Wallace Stevens waren anfangs wichtig. Dann auch Brecht. Man hatte mir eine Anthologie geschenkt, wo Autoren ihre Lieblings-Brecht-Gedichte angeben mussten. Jeder so drei bis fünf Gedichte. Manche Gedichte waren doppelt abgedruckt. Eigentlich ein ungeschicktes Buch. Ich habe es trotzdem mit mir herumgetragen und die Gedichte teils auswendig gelernt. Auch Hegel ist für mich ein Fundament der deutschen Sprache, sein Gebrauch der Verben. Oder wie er umgangssprachliche Ausdrücke verwendet, um Philosophie zu präzisieren.
Helbig: Ist die Philosophie ein Bestandteil des Studiums gewesen?
Cotten: Nein, ich habe nur Germanistik studiert, mit ein bisschen Französisch; Latein durchgefallen. Ich hatte vor den Sonetten eigentlich nur Prosa geschrieben. Dann geriet ich irgendwie in die Lyrikszene und probierte, was die anderen so schrieben, sogenannte Lyrik und Miniaturen auf so paradox-kritisch. Erst als ich japanische Erzähler der Moderne las, interessierte mich das narrative Erzählen. Die hatten nicht diesen „Lehnstuhlerzählton“. Da war eine Wachheit und eine Art Direktheit, aber auch eine Ruhe, in der man die Dinge benennen kann, wie sie sind. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Prosa, in der nicht ständig bewertet wird, dafür aber die Dinge in ihrer Sinnlichkeit wahrgenommen werden, Shūsaku Endō z.B., das ist für mich auch ein sprachliches Fundament geworden, ein Raum, wo sich das Gefühl einstellt, dass man so arbeiten könnte. John Donne war noch wichtig für mich, der englische metaphysical poet.
Helbig: Sie sagten einmal: „Oft kann man in einer Fremdsprache die Gedanken klarer ausdrücken.“ Wie hängt das zusammen? Warum ist die deutsche Sprache letztlich die „Arbeitssprache“ geworden?
Cotten: Deutsch ist für mich gar keine Fremdsprache. Aber vielleicht auf eine bestimmte Weise schon. Ich glaube, den Gedanken habe ich von Liesl Ujvary: „Schönen Stil schreibt man, wenn man so schreibt, wie eine Übersetzung klingt.“ Bei mir ist es schon so, dass ich in die deutschen Ausdrücke verliebt bin, diese Schnörkel, dann aber auch wieder Hass habe gegenüber Klischee-Ausdrücken. Dass ich die unbedingt vermeiden will, indem ich ganz umständlich schreibe, nur um nicht diese übliche Formulierung zu verwenden. Und dieser ganze Eiertanz fällt weg, wenn ich – was ich manchmal wirklich mache – einen Essay noch einmal im Englischen zusammenfasse und diesen Text dann ins Deutsche zurückübersetze. Zum Beispiel, um einen Text zu kürzen. Denn es ist für mich viel mühsamer, mich bei all diesen Überempfindlichkeiten im Deutschen zu ertappen. Die Adjektive, welche ich ergänze, damit man mich ja richtig versteht und nicht die falsche Nuance liest. Diese ganze Paranoia. Ich habe das Deutsche immer verwendet, weil es die Sprache ist, in der ich gelernt habe, mich mit der Außenwelt, mit der fremden Kulturwelt auseinanderzusetzen, darin geübter war als im Englischen. Aber dadurch habe ich auch all diese Deformationen, die man entwickelt, wenn man versucht, als Teenager in der Welt zu überleben. Im Englischen habe ich quasi die Chance, dort frisch anzufangen. Aber, da erzählt glaube ich jeder mehrsprachige Mensch eine andere Geschichte.
Helbig: Sie publizieren mitunter auch englische Texte. Welche Schreibgründe führen dazu?
Cotten: Bei „I, COLEOPTILE“ sind wir nach Irland gefahren. Die Texte sind in einem deprimierenden Torfschneiderkaff in der Mittelsenke dieser Insel entstanden. Beim zweiten englischen Buch handelt es sich um Texte, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind. Wenn ich in einem Land war, in dem ich viel Englisch gesprochen und gehört habe, habe ich auch auf Englisch geschrieben. Manchmal aber auch aus Gründen, die ich nicht sagen kann. Das japanische Englisch, auch das chinesische Englisch entzücken mich, weil sie frisch und direkt und präzise sind und nicht so ranzig wie das Englisch der native speaker.
Helbig: Lässt sich diese Frische auch ins Deutsche übertragen?
Cotten: Schwierig. Die Geschichten in Der schaudernde Fächer waren auf irgendeine Weise davon begeistert, aber, sie sind ja auch sehr verschnörkelt, wie meine deutschen Texte oft sind. Am ehesten transportieren die kleinen Gedichte, welche den Prosatexten folgen, diese Schlichtheit. Aber auch nicht ganz.
Helbig: Der schaudernde Fächer ist Ihr erster Prosaband. Das Buch macht auf mich den Eindruck eines Experimentierfeldes. Untersucht wird, wie man in unterschiedlichen Prosaformen über Liebe und Erotik erzählen kann. Das Buch ist durchkomponiert. Durch die Wiederkehr einiger Figuren, z.B. Prätz, einer männlichen Idealgestalt, bekommt das Ganze so etwas wie eine Romanqualität. Auch enthält das Buch einen Miniroman in Briefen [„Birkenhäuschen“], den man sich länger ausgeführt vorstellen könnte. Wie kam es zu diesem Buchprojekt?
Cotten: Aus meiner Sicht kreist das Erzählen um das Problem der unerwiderten Liebe aus verschiedenen Perspektiven. Lange Zeit glaubte ich, dass es das nicht gibt, dass es nur banale Missverständnisse sind, plumpe Verhärtungen gegen die Realität oder deliröse Projektionen. Denn entweder herrscht eine Art Schwingresonanz zwischen Geistern oder nicht, aber wie soll Mitschwingen einseitig gehen? Ich dachte, das gibt es nicht, dass das Cello sagt, ich höre den Schrank mitresonieren, und der Schrank sagt: nein, stimmt nicht. Einer von beiden lügt. Das war das Grundproblem. Die Geschichten sind dann einmal so herum und einmal anders herum. Einmal ist die erzählende Figur unglücklich verliebt, einmal die oder der Andere im Text. Dafür habe ich verschiedene Töne und verschiedene stilistische Ansätze gesucht, mitunter auch in Essayform.
Helbig: Dieser Wechsel der Formen macht für mich die Qualität des Buches aus. Das interessiert mich, da bleibe ich dran und freue mich, immer wieder überrascht zu werden.
Cotten: Dieser Wechsel bringt auch für mich die Spannung. Wenn ich an einem Prosatext arbeite, kommt oft der Moment, wo es halt langweilig wird. Dann neige ich dazu, den Text abzuschließen und nicht nach einer Wendung zu suchen, mit der ich den Text weiterführen könnte. So habe ich es mit Beziehungen auch gelernt, dass es besser ist, sie zu beenden als sie zu reparieren. Bedenklich eigentlich. Dafür kommt man rum.
Helbig: Es wechseln auch die Themen. Das Thema Geschlechtsumwandlung habe ich in der deutschen Literatur noch nicht so tiefgehend behandelt gefunden [„Birkenhäuschen“]. Auch das Thema Knabenliebe [„Huligan“]. Oder das Rituelle im Text „Einfall in China. Wechsel der Lehrmeister“. Bei manchen Themen hat man den Eindruck, ihnen zum ersten Mal zu begegnen. Sind Liebe und Erotik in der deutschen „Hoch“-Literatur unterrepräsentierte Themen? Fehlt es an Mut zur Leidenschaft? Streift man zu bieder um sexuelle Obsessionen herum, aus Angst, Pornografie zu schreiben?
Cotten: Das Problem ist nicht mangelndes Interesse an Sex, sondern die Erstarrung der Ästhetik. Es gibt im Mainstream einfach, Pardon, aber deutlich zu viel Altherrenliteratur, was weniger ein Mangel an anders Schreibenden ist als eine Frage dessen, was erfolgsträchtig erscheint: Man lernt, was alten Männern gefällt. Obwohl ja viel mehr Frauen lesen, aber sie neigen leider auch oft dazu, gerade die Eskapistinnen, die die größten Konsumentinnen von Romanen sind, die gelernt haben, ihr Leben nach den Vorstellungen von nicht wirklich maßgeblichen Randgestalten auszurichten. Ich meine, dass nur das im Hochliteratur-Feuilleton ankommt, was so klingt wie alte Herren schreiben. Überlegen, behäbig, belehrend, so klingt Erzählen in der Mikrostruktur, das erzeugt diesen Gemütlichkeitsfaktor, den die Leute suchen wie Nostalgie-Interieurs. Das heißt, man imitiert diesen Gestus, und alles, was ernsthaft anders klingt, kommt gar nicht erst in den Hardcover oder in die großen Verlage. Das klingt irgendwie zu gefährdet.
Helbig: Also verdrängt das Kalkül den Mut zur Leidenschaft?
Cotten: Es gibt einen Filter. Und die, die mit Kalkül schreiben, kommen durch. Aber noch ein Wort zum Sexualstil voriger Generationen. Ich denke, es ist normal, dass man das Balzverhalten der Eltern eklig findet, also eine Art Generationsablöse passiert. Ich habe einmal einen Aufsatz über Gerhard Falkner geschrieben, ich finde, dass er interessant über Sexualität schreibt. Und trotzdem empfand ich das beim Lesen aus meiner Perspektive als den sexuellen Stil einer vorangegangen Generation, mit einem Vokabular, das für mich abtörnend ist. Der schaudernde Fächer wird vermutlich vor allem von Jüngeren gelesen, weil man sich in diesem Alter gegebenenfalls, also wenn man da ein paar Fragen offen hat, besonders mit sexueller Orientierung beschäftigt. Ich habe das Bedürfnis, diese Dinge unerhört zu formulieren, weil das, was ich meistens darüber zu lesen bekomme, als Beschreibung dessen, was ich erlebe, meinen Geschmack beleidigt.
Helbig: Ich würde das Buch als Schullektüre empfehlen. Man kann es einerseits als Formenschule der Prosa diskutieren, andererseits wirft das Buch viele Fragen im allzu oft tabuisierten Bereich der Sexualität auf über die man mit jungen Lesern sprechen könnte, wenn es denn Lehrer gäbe, die sich auf diese Gespräche einlassen wollen. Im Verlag Peter Engstler ist parallel noch Hauptwerk Softsoftporn erschienen. Erotische Texte, die Verlangen und Begierde umkreisen, in Gedichten und Songs Sexualpraktiken beschreiben. Unterstützt mit Zeichnungen von Mareile Fellien. War der Text zunächst auch dem Suhrkamp-Verlag vorgelegt worden?
Cotten: Nein. Der schaudernde Fächer und Hauptwerk sind etwa zur gleichen Zeit entstanden, Hauptwerk etwas später. Diese Texte sind ein eigenes kleines Experiment und haben mit der Problemstellung des schaudernden Fächers nichts zu tun – oder so viel Kontingentes, dass man es ganz besonders auseinanderhalten muss. Die Einfügung von Gedichten in ein unregelmäßiges, episodisches Prosawerk ist im Übrigen abgeschaut. Es gibt diesen sogenannten ersten japanischen Roman der Hofdame Murasaki Shikibu: Prinz Genji, eine Art Biografie, die im Rahmen von Genjis Lebenslauf vor allem seine erotischen Abenteuer berichtet. Das sind respektvolle, sehr schöne, präzis gearbeitete Texte. Das ist wie klares Mondlicht in einer kühlen Nacht. Diese gegenseitige Aufmerksamkeit, diese Hochherzigkeit der Figuren, jenseits von der Idiotie europäischer Moralvorstellungen, etwa der Assoziation von Hingerissenheit mit Verkommenheit. Zum klassischen Konzept der Beziehung gehört, dass sich die Personen Gedichte schicken. In der japanischen Literatur – aber auch in der japanischen Liebeskultur, wenn man so will – verwendeten Frauen und Dichterni1 die japanische Silbenschrift, während die Männer in Staatsangelegenheiten chinesisch schrieben, also einen vollkommen anderen Briefstil verwendeten. Im Tokugawa-Museum in Nagoya sah ich neulich wieder Exemplare von beidem. Briefe von Männern: gerade Zeilen, von chinesischen Zeichen dominiert, das heißt abstrakte Begrifflichkeiten, institutionell gedachte Terminologie. Man sieht an der Wiederholung der Zeichen, welche von Floskeln durchzogene starre Rhetorik da im Spiel war (leider reichen meine Kenntnisse nicht zu mehr). Die Frauenbriefe schauen vollkommen anders aus. Die Silbenschrift fließt aus leichter, auch exzentrischer, grotesker, launischer Hand schräg übers Blatt. Ich habe in Japan Freunde gefragt, was denn in so einem Frauenbrief steht. Mir wurde geantwortet, Sachen in der Linie von: „Seit ich diese Kürbisblüte gesehen habe, ist mein Leben nicht mehr dasselbe.“ So spricht man über die Liebe, so chiffriert und exaltiert empfindsam; präzise Sinneslust ist gefragt bei der Wahl der zu erwähnenden Pflanze. Es ist keine Ästhetik des Genusses, sondern eine der Hingabe. Das hängt damit zusammen, dass die hohen Frauen in Japan früher extrem abgeschieden lebten.
Dieses Extreme finde ich sehr gut für die Literatur. Aus diesem Grunde folgen in Der schaudernde Fächer auf die Erzählungen kurze Gedichte. Der Methodenwechsel von Prosa und Gedichten lässt einen Gedanken anders schupfen, neu aufspießen – und wirkt auch schlicht erfrischend.
Helbig: Werden auch in den Prosatexten von Der schaudernde Fächer Impulse aus der japanischen Prosa aufgenommen?
Cotten: Die Prosatexte habe ich zum Teil in Japan geschrieben, unter dem Einfluss von moderner japanischer Prosa. Ich nenne es mal: geschmackvoller Bekenntnisstil, ha ha, im Ernst, radikaler Realismus, der schon sprachlich die Kooperation ders Lesernis braucht, nicht einseitig auf dien Leserni eindrischt. Durch ihre Wachheit sind diese Texte frisch, und plötzlich hat mich Prosa wieder interessiert.
Die Texte wirken, ohne dass dies besonders erwähnt würde, autobiografisch. Ich lese es vielleicht aus Merkmalen, die zeigen, dass dier Autorni Gründe hat, warum es so war und nicht anders, eine Liebe zur Wahrheit, zur treffenden Abbildung. Diese Obsession empfinde ich auch. Es fällt mir schwer, auch nur irgendwelche banalen Details zu verändern, um die Identität zu verwischen. Ich mache es zwar natürlich manchmal, je nach sozialer Situation, wenn ich jemanden nicht verletzen möchte. Aber die Sachen, die mich bewegen, müssen mit äußerster Präzision aufgeschrieben werden. Das ist durchaus obsessiv. In der japanischen Prosa finde ich diese obsessive Präzision auch, aber sie verstehen es dabei irgendwie, die Peinlichkeit zu vermeiden. Das war also vorbildlich für mich.
Helbig: Ihr 2016 erschienenes Versepos Verbannt! greift auf die Spenser-Strophe zurück, ist in 403 Pseudo-Spenser-Strophen abgefasst. Wieder so eine Unterkunft in einem formalen Korsett. Wie kamen Sie auf die Spenser-Strophe? Gibt es da einen Zusammenhang mit den Oulipo-Bestrebungen?
Cotten: Ja, ja, Oulipo sind da aber nicht die ersten, die darauf gekommen sind. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Wort Korsett nicht zu verwenden? Beim Dichten wird niemals etwas in irgendetwas hineingezwängt. Sondern das Gedicht entsteht ja erst in der Form. Es ist vielleicht ein Plan, eine Vorgabe, eine Logik, der man folgt. Mir helfen künstliche Formen. Sie geben dem Stück einen verlässlichen Rhythmus, dier Leserni kann sich entspannen und die merkwürdigen Aussagen und Bilder über sich ergehen lassen. Beim Sonett weiß sier, nach 14 Zeilen ist es vorbei. Weil ich für Formentscheidungen Gründe brauche, und seien sie noch so banal, kann ich mit der freien Form oft schwer umgehen. Obwohl ich die auch manchmal verwende. Eine formale Struktur ist dagegen wie ein Kontrakt zwischen mir und der Leserin und dem Leser. Da kann man sich darauf verlassen, das wird jetzt in diesem Rhythmus weitergehen. Dann hat man schon eine Orientierung. Es ist auch leichter, in diesem Rahmen schräge Dinge zu sagen. Auch wenn man nicht alles gleich auf Anhieb versteht, ist zumindest noch der Rhythmus oder der Gesang da. Und es ist auch nicht so ein Druck da auf den Inhalt. Ich glaube nämlich daran, dass ganz generell wichtige Dinge oft nebenbei passieren.
Ich glaube auch, dass das Entwickeln von philosophischen Haltungen eine Frage der Übung ist. Man ist das, was man tut. Wenn man etwas regelmäßig tut, dann formt dies das eigene Leben und langfristig auch den eigenen Körper. Man kann nicht vorab wissen, was das eigentlich bedeutet. Aber man geht dieses Spiel ein und dann entsteht dieser Textkörper, der das ist. Im Fall von Verbannt! benutzte ich eine abgewandelte Version der Spenser-Strophe, weil die reine Spenser-Strophe zu viele Reime hat für das Deutsche, dreimal drei Reime vom selben Reim. Das ist zu viel Geklingel. Es ist auch so schon viel Geklingel. Im Englischen gibt es ja deutlich mehr Reimwörter, weshalb es dort nicht ganz so ächzt.
Helbig: Verbannt! ist Gesellschaftskritik und Gesellschaftssatire, es wird aus der Historie heraus reflektiert. Eine 22-bändige Ausgabe von Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1910, ist ständiger Begleiter der wegen einer Verfehlung auf die Insel Tantalos verbannten Fernsehmoderatorin. Später stellt sich heraus, dass die Insel auch von 25 gestrandeten Matrosen bewohnt wird (angeführt von Wonnekind), die sich als moralische Stütze eine sogenannte „Schraubenreligion“ gesetzt und als besondere Kulturleistung drei Presseerzeugnisse kreiert haben. Aus welcher Ursprungsidee hat sich das Buch entwickelt?
Cotten: Ich habe das 22-bändige Lexikon im Altpapier gefunden. Dann wollte ich mir einen Anlass schaffen, mich damit zu beschäftigen. Eigentlich wollte ich mit dieser Idee eine Prosa schreiben. Dann kam ich auf die Spenser-Strophe, weil ich gerade W.H. Audens „Letter to Lord Byron“ gelesen hatte. Ich spürte sofort, das ist eine Form, mit der man viel Spaß haben könnte. Es war ein ähnliches Gefühl wie bei den Fremdwörterbuchsonetten.
Im Laufe dieser Inselgeschichte wurde mir aber langweilig. So beschloss ich, die Insel zu bevölkern und den Text sich mehr in Richtung Utopie-Parodie entwickeln zu lassen.
Helbig: Das Epos hat in der Tat etwas von einem Science-Fiction-Thriller. Das Internet wird zur Stütze und Bedrohung der Inselgesellschaft. Es schafft Pan Orama – eine Art Spion –, es schafft Hermes Wolpertinger – eine Art Halbgott als zweite Verkörperung der Fernsehmoderatorin – und es spült eine Flüchtlingswelle von verschuldeten Frauen auf die Insel. Am Ende steht die revolutionäre Ablösung der Schraubenreligion durch den Kryptomerienkult. Das Ganze hat auch etwas von einem Schelmenroman. In einer sehr amüsanten Einleitung (zugleich Programm) kündigt die Verbannte „die entsetzliche Ballade vom sibirischen Unglück eines ganz modernen, delirösen, inadäquaten Herrn Marquis de Sade in Frauengestalt“ an. Warum der Vergleich mit de Sade?
Cotten: Das habe ich nicht ganz eingelöst, obwohl ich die ganze Zeit noch überlegte, wo könnte ich noch drastischere Sexszenen einbauen… Mit solchen großspurigen Ankündigungen wollte ich aber auch den Charakter dieser Moderatorin vorführen. Sie hat freilich mit dem Marquis die Situation gemeinsam, dass sie aufgrund von Ausschweifungen, die sie sehr ernst nimmt, und gegen die die Gesellschaft ihr verlogen vorkommt, in die Einöde verbannt wird.
Helbig: Die Persönlichkeit der Verbannten scheint zu zerfallen, Psyche und Seele werden von ihr in Abgrenzung zur Vernunft beobachtet, Zitat: „… Es stört mich, was für kompletten Unsinn meine Psyche tut… Die Seele gliedert sich, wies scheint, in Zonen, und nur durch diese Trennung ist sie hell… Ich weiß plötzlich: Seele ist Besserwisserei“. Welche Funktion hat dieses Auseinandernehmen der Persönlichkeit – Psyche, Seele, Vernunft? Ist das ein philosophischer Ansatz, zumal auch Frege, Descartes und Malinowski im Gedankenstrom der Fernsehmoderatorin auftauchen?
Cotten: Bei der Dichtung steht die Forschung und Wissenschaft natürlich an erster Stelle, ich erkunde, was diese Wörter bedeuten könnten, wohl auch mit den Mitteln der Satire, weil eine treffende Satire wie ein Beweis ist. Ich versuche also, mit der scharfen Klinge des Humors die Dissoziation zu beschreiben, die auch ich mitunter in merkwürdigen Situationen erlebe. Ich finde das ganz interessant. Die verschiedenen historischen Begriffe des Innenlebens des Menschen haben alle durchaus starke Beschreibungsfähigkeit. Und je nach Modell ist das Innenleben des Menschen irgendwie anders aufgeteilt, das ist wie Rinderdiagramme: Stelze, Rumpsteak, etc. Ich finde die Bezeichnungen aus verschiedenen Gründen brauchbar. Einerseits finde ich es wichtig zu kommunizieren, solche Zustände kann man erleben, ohne dass dies ein Ausstieg in die endgültige psychische Krankheit ist. Die These, dass jeder so etwas erlebt, läge mir nahe. Andererseits finde ich, dass die Möglichkeit, sich von sich selber abzutrennen, auch ein Modell ist, um die Welt zu verstehen, indem man alles um sich herum vergisst, sich in das projiziert, womit man sich beschäftigt. Eigentlich sind das alles nur Versuche, Normalitaten zu beschreiben. Aber mit Vokabeln, die anerkennen, dass das schon jemand beschrieben hat, weil wir Beziehungen zu den bereits bestehenden Theorien brauchen, um nicht zu verblöden.
Helbig: In einem anderen Zitat heißt es: „Man kann die Seele freilich nicht mit der Vernunft verwalten, weil die Vernunft für sie nichts als ein großer Spaß ist.“ Das liest sich mitunter wie ein Kommentar zu Freud und Nachfolgern.
Cotten: Ich glaube, da bin ich eher im Konsens mit allen, die keine theoretischen Abhandlungen schreiben. Jede Musik beruht auf einem heimlichen Primat des „Anderen“ über die Vernunft. Es ist dialektisch wie Herr und Knecht, Hinze und Kunze. Gerade wegen ihrer Schwäche kann oder muss man aber die Vernunft ja lieben. Das soll jetzt nicht als Antiintellektualismus meinerseits aufgefasst werden. Es gibt zum Beispiel diese Momente, wo die Seele so etwas wie eine eigensinnige destruktive Kraft offenbart. Man nimmt sich etwas vor und spürt zugleich, wie die Seele darüber lacht. Sie weiß genau, dass man das nicht durchsetzen wird, was man sich mit seiner Vernunft gedacht hat. Manchmal. Ein andermal schlüpft sie wieder Hand in Hand mit der Vernunft und sie machen alles ganz brav gemeinsam. Und zwar, wenn die Ordnung schön ist.
Helbig: Die Insel wird auch als Hegelland bezeichnet. Welche Ansatzpunkte bietet Ihnen die Hegelsche Philosophie für Ihren Entwurf?
Cotten: Ich habe von Hegel etwa so wenig gelesen, wie man von der Insel durch das Versepos erfährt. Einiges habe ich aber gelesen. Die Art des Hegelschen Sprechens ist einzigartig. „Bei Hegel ist der Sinn an einer ganz langen Leine“, hat es neulich mein Freund Apunkt einer Nichtdeutschen geschildert. Thesen, wie: Kunst ist üben, sind natürlich besonders relevant für das Schreiben. Hegel wirkt auf mich wie ein Land. Wie eine Insel, auf die ich komme, wo ich einiges verstehe, einiges beobachte, es ist aber jedenfalls schon ohne mich da.
Ich lese immer wieder das Vorwort zur Phänomenologie des Geistes. Vom Späteren habe ich gehört, dass Hegel sich in der Bemühung nach einem symmetrischen Gebäude verliert. Das muss ich nicht miterleben.
Aus den Frühwerken meine ich tatsächlich den Weltgeist zu wittern, von dem Hegel spricht: bestehend aus so etwas wie elektrischer Spannung und deren Gesetzen, in diesem Luftraum zwischen konkreten, determinierenden Verba und abstrakten Nomen. Er ist so heikel mit dem Formulieren wie ich. Man könnte sagen, ich glaube an den Weltgeist. Es fühlt sich für mich an wie Pythagoras’ Entdeckung der Harmonielehre auf dem Monochord der Sprache oder das graduelle experimentelle Ertasten des Periodensystems der Elemente und der Atomlehre im 19. Jahrhundert. Ich kenne die Formel nicht, aber beim dialektischen Denken, beim Skizzieren vom Weltgeist kann ich sie erklingen hören und habe das Gefühl, dass Hegel in seinem Frühwerk auch danach schnuppert, und später kann es sein, dass er Kompromisse machte, die Begriffe gewohnheitsmäßig abstumpften, er nicht mehr hörte, was sie bedeuten könnten, sondern die Bedeutung, auf die er sie dann doch schließlich, durch die Übung eben, reduziert hatte.
Helbig: Wie in einem richtigen Science-Fiction-Märchen geschehen im Epos Wunder und Zeichen. So stülpt sich aus der Fernsehmoderatorin – für sie selbst und für den Leser überraschend – eine göttliche Gestalt: Hermes Wolpertinger [„Ein Geweih wächst mir jetzt, ein Riesenpimmel statt eines Beins, das andere wird Stummel und Fischschwanz“]. Welche Funktion hat diese Metamorphose? Oder sind auch Sie selbst durch Ihren Text überrascht worden?
Cotten: Das ist einer dieser Einfälle, die einem passieren und dann schaut man sie an und beschließt, dass sie interessant sind, und schaut, was sich daraus weiter ergibt. Ah das klingt jetzt so nach Schöpfermythos, aber ist halt so. Es gibt ja in verschiedenen Religionen Rituale, wie im Kantamblé oder im Voodoo oder Ayahuasca und so weiter, eigentlich in fast allen, die nicht zu Monotheismen degeneriert sind, wo eine Gottheit oder ein Dämon in den Menschen fährt. Da Text so ein durchlässiges Medium ist, ist es literarisch leicht zu machen; gleichzeitig ist es auch eine Spiegelung dessen, was einem beim Schreiben von Fiktion passiert. Man ist als Schreibender Medium einer Logik, einer sogenannten Geschichte.
Helbig: Im Text selbst wird einmal auf den Roman Es ist schwer, ein Gott zu sein von Arkadi und Boris Strugatzki angespielt.
Cotten: Dieser Titel wird zitiert als der saftige freche Spruch, der er ist. Aber der Hallraum passt auch: Die Situation in diesem Roman ist, dass jemand aus einer anderen Zivilisation kommt und aufgrund seiner Fremdheit als Gott aufgefasst wird. Dieses Motiv kommt auch in der Geschichte öfter vor. Es hieß ja, die ersten Weißen, die den Indianern begegneten, seien als die Erfüllung einer Prophezeiung angesehen worden, viele Völker haben die Spanier mit ihren Federn auf dem Kopf als Göttermanifestation in ihre Geschichtsschreibung integriert, es ist eben ein gängiges Erklärungsmuster.
Helbig: Dieses göttliche Wesen hat Folgen. Die Fernsehmoderatorin kommentiert: „Indessen spür ich plötzlich, meine Hoden sind kilometerbreite Pilzgeflechte in der Erde… Der Boden bebt, und schwellend drängt ein Kabel sich zwischen uns nach oben durch den Sand heraus. ,Das Internet!‘…“ Ich nehme an, das Internet wurde eingeführt, um über das Internet philosophieren zu können?
Cotten: Das war gar nicht strategisch gedacht. Es ist natürlich schwer, das Internet zu vermeiden. Als das Internet kam, dachte ich, ja, sehr lustig, so machen wir weiter. Ich habe ja normal betrachtet keine Hoden. Meine Hoden sind das Internet. Wikipedia sind meine Eier. Das finde ich eine lustige Cyborg-Hypothese.
Helbig: Das Epos wird zu einer mythologischen und allegorischen Parodie des Internet – gleichzeitig findet die philosophische Durchdringung der Folgen des Phänomens Internet statt. Ist das Internet weise?
Cotten: Es gibt einem als Autor einen befriedigenden Moment, und vielleicht hat auch der Leser kurz dieses gute Gefühl: Jetzt habe ich es dem Internet aber gezeigt. Aber das gehört zu den albernen Affekten. Natürlich halte ich das Internet für eine große Erfindung. Die Großzügigkeit der Entdecker, das einfach zu machen und dafür zu sorgen, dass es gratis bleibt, das ist Weisheit. Es offenbart Mut und zugleich eine Art von blinder Zuversicht. Klar, dass damit auch seltsame Dinge passieren können. Diese Art zu handeln, ohne sich einzubilden, alles kontrollieren zu müssen, finde ich weise. Aber das sind Menschen, ich denke, das Wort Weisheit ist auf Menschen maßgeschneidert, die ganzen moralischen Untertöne des Wortes sind auf Maschinen nicht wirklich anwendbar. Wenn gutes Design weise ist, dann, indem es die Spuren weiser Gestaltung trägt. Andererseits kann man auch von Menschen wahrscheinlich nicht sagen, sie seien weise, sie handeln nur gelegentlich weise. Man sagt es natürlich, es muss eine elliptische Ausdrucksweise sein.
Helbig: Ich finde es brutal, wie Wikipedia innerhalb weniger Jahre das Jahrhundertprojekt Brockhaus-Enzyklopädie hinweggefegt hat.
Cotten: Vielleicht kann man es mit der Zeit um 1500 vergleichen, als Buchdruck und Protestantismus den Interpretationsdiskurs übernommen haben, der vorher allein durch die Katholische Kirche definiert war. Es ist ein Übergang. Eine mediale Wende, die ein neues Denken bewirkt. Ich finde es eigentlich unnötig, hier den Daumen rauf oder runter zu halten. Hätte ich eine Meinung dazu, sie wäre der Geschichte wurscht.
Helbig: Ein ganz amüsanter Bestandteil des Versepos ist die Darstellung der unterschiedlichen Presseerzeugnisse auf Tantalos. Die NA-Presse, die Zy-Presse und das Wisch-Blatt parodieren unsere hiesige Pressewelt, im Buch unterstützt von Zeichnungen, die Sie selbst reichlich beigetragen haben.
Cotten: Ein Anfängerfehler von mir als Anfängerin in der Buchillustration war, dass ich die Zeichnungen genau in der Größe zeichnete, wie sie im Buch gebraucht wurden. Ich hatte das genau ausgemessen. Eine befreundete Künstlerin gab mir den Tipp: Du musst nicht genau in der Größe zeichnen, man kann ja schließlich vergrößern oder verkleinern. Ich habe es dann weiter nach meiner Methode gemacht, aus Gründen des Aberglaubens. Es hat eine komische Mischung aus Naivität und Phantastik. Es hat Spaß gemacht. Aber ich war lange im Zweifel, ob ich die Bilder verwenden sollte. Weil sie zu sehr entlarvend sein könnten. Weil ich in den Bildern dieselbe Art von Fehlern mache, wie in den Texten. Die Perspektive ist nicht verlässlich. Ich bin manchmal sehr detailverliebt, an anderen Stellen lasse ich wichtige Dinge aus.
Helbig: Als dem Matrosenvolk der „Großideenstrom“ versiegt war, hatte Wonnekind drei Nächte auf dem Berg verbracht „und kam mit Schrauben wieder runter“. Die Schraubenreligion war erschaffen als „blinder Fleck“, der das Volk verbindet. Das Schraubenlager wird zum Tempel. Dient die Erschaffung einer Religion im Epos nur dem Spaßeffekt?
Cotten: Nein, das meine ich eigentlich erstaunlich ernst. Erstens glaube ich mit Malinowski und Lévi-Strauss, dass Religion eine wichtige Funktion in der menschlichen Gesellschaft hat, rein strukturell gesehen. Das mit dem „blinden Fleck“ meine ich nicht negativ. Man hat sowieso blinde Flecken. Und um in einer Art von Harmonie in einer Gesellschaft zu leben, ist es nützlich, wenn die am selben Fleck liegen. Nicht dass es unbedingt gut wäre, aber es schafft wenigstens Harmonie. Ich hatte die Gelegenheit, verschiedene Gesellschaften mit ihren Religionen zu beobachten. Vor allem der Vergleich mit dem Buddhismus ist interessant. Ich mag die monotheistischen Religionen nicht, mit dem Buddhismus kann ich mich anfreunden. Man sagt auch, er ist mehr eine Philosophie als eine Religion. Die Metapher Schraube finde ich brauchbar, also anregend ordnend. Viele Esoterikernnnie sprechen ja auch von spiralförmigen Entwicklungen. Da ist etwas dran, man darf es nur nicht immer so aufstiegs-ideologisch sehen. Im Buddhismus gibt es die Wiedergeburt, gelenkt von deiner Anhänglichkeit, die ähnelt mir der Dialektik – nicht umsonst waren japanische Philosophen fasziniert davon, die Hegelschen Begriffe mit denen des Buddhismus abzugleichen. Die Idee der Wiedergeburt ist ja nicht einfach nur ein Kreis oder Nietzsches Ewige Wiederkehr des Gleichen. Das Modell der Schraube fügt der Kreisbewegung eine Art Fortschritt in die Tiefe hinzu. Zugleich lässt man immer etwas zurück, welches, in der eigenen Wahrnehmung wenigstens, verblassen wird, bis man seiner wieder gewahr wird…
Die Wirklichkeit ist, wenn man mich fragt, zugleich bewunderungswürdig und angsterregend, je nach der Chemie, die man gerade im Kopf hat. Ich finde das Graduelle generell etwas beängstigend, weil das intellektuell oder begrifflich schwer zu beschreibende Entwicklungen sind, es glitscht so durch den mind. Man kann nicht sagen, wo eine Entwicklung begonnen und wo sie aufgehört hat. Deshalb lag es nahe, eine Mystik aus der Schraubenbewegung zu entwickeln. Verehrung von Schrauben und Angst vor Schrauben. Bei einer Religion ist ja auch die Schönheit der Bilder und Metaphern wichtig. Ansonsten geht es in einer Religion um pragmatische Ratschläge, die notorisch von nachfolgenden Generationen nicht ernst genommen werden, wenn sie gerade unbequem sind. Du darfst zum Beispiel nicht mit bestimmten Verwandten schlafen, die Erfahrung sagt, dass das aus genetischen und psychologischen Gründen meistens später zu Problemen oder Tragik führt. Erkläre das aber mal zwei Geschwistern, die gerade heiraten wollen. Deswegen muss es schöne und überzeugende Mythologien geben, damit die Gesetze schön sind und auch dann befolgt werden, wenn man sie nicht versteht.
Helbig: Zu einem Schelmenroman gehört immer auch ein Quantum Naivität der Hauptfigur. Das sehe ich mit der wiederkehrenden Frage der Moderatorin, „ich weiß immer noch nicht, ob ich ich bin oder der Phallusgott“, eingelöst. Lehnt sich das Epos auch an die Tradition des Schelmenromans an?
Cotten: Mein damaliger Freund hat, während ich an Verbannt! arbeitete, den Simplicissimus von Grimmelshausen gelesen – ich aber nicht. Ich würde den Einfluss weiter fassen wollen. Der barocke Roman fasziniert mich generell. Etwa die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel. Oder die Romane von Johann Karl Wezel. Diese an den Barock mit Aufklärung anschließenden Romane haben etwas quasi Naives (oder Unideologisiertes) in der Unterhaltungslogik. Schreibende wie Leserni wollen unterhalten werden, und es spricht nichts gegen ganz unwahrscheinliche Dinge. Dabei entsteht eine Komplizität wie beim Kinderspiel, so à la: „sagen wir, es ist so, und dann, sagen wir, passiert das…“. Diese Komplizität ist lustig und verstärkt unser Wissen, wir befinden uns in einem literarischen Text, es muss nicht alles realistisch sein. Gern werden ja auch philosophische Thesen an Handlungen ausprobiert und so. Später mit dem Druck zum Naturalismus kommt ein großer, ängstlicher Stumpfsinn in die Ästhetik. Aber kann sein, diese Beschränkung hat der Konzentration gutgetan. Ich muss ja zugeben, dass mein Geist aus lauter Spaß am Spaß auch mithin flatterhaft ist, sich von den Einfällen ablenken lässt.
Helbig: An einer Stelle sagt sie: „Was ist nun mit mir? Bin ich nun die verbannte Fernsehmoderatorin oder Hermes Wolperting, Dämon von Petschorin.“ Warum diese Anspielung auf Michail Lermontows Ein Held unserer Zeit? Die Figur des Petschorin taucht ja bereits in Der schaudernde Fächer auf, bei Lermontow ein hochintelligenter Fatalist mit einem selbstreferentiellen Willen zur Macht, der auf andere, die er ins Verderben stürzt, dennoch anziehend wirkt. Vielleicht eine der interessantesten Figuren der Weltliteratur.
Cotten: Irgendwie konnte ich mich mit dieser Figur identifizieren. Ich bin nicht so schlimm wie er, aber (lacht)… Petschorin ist ein intelligenter Mensch, der nichts Gutes mit seiner Intelligenz anfängt. Diese Macke, dass er seine Möglichkeiten sieht und in diesem Moment unfähig ist, es zu wollen. Dieses flackernde Begehren finde ich interessant. Wie eine Elektrotechnikerin will ich herausfinden, warum es flackert, ich weiß, es gibt eine Erklärung. Er weiß nicht, was er will, und er will auch nicht passieren lassen, was er nicht weiß. Er will, als Beobachter, der er in letzter Instanz ist – er hat ja die Erzählstimme – sich begeistern lassen, das Begehren der Welt aufleben lassen. Mich interessiert die Logik, auf diese Weise am Leben zu sein. Vielleicht sehe ich deshalb eine Verbindung zwischen Hermes Wolpertinger und Petschorin und auch der zur Zeit modischen Theorie vorn Phallus als imaginärem Gebilde. Weil er einmal da ist und auch wieder nicht, mal zärtlich und brauchbar und dann wieder weg ist. Generell würde ich sagen, mein mit Vorliebe angewandtes Erklärungsmuster ist: Es gibt keinen besonderen Grund, warum es so ist und nicht anders. Das ist quasi Genealogie wie bei Nietzsche. Man kann zwar herleiten, wie es gekommen ist, aber es hätte auch anders kommen können. Ich mag es, so zu schreiben, im Gegensatz zu vielen Texten, die ich als zu monokausal und scheinfolgerichtig empfinde. Was im Übrigen auch ein Motiv von Barockromanen ist. Das ist bei Wezel wirklich interessant – vor allem in dem vierhändigen Roman Tobias Knaut, Wezel probiert dort anhand dieser Figur, ähnlich wie Voltaire im Candide, philosophische Thesen aus. Etwa den Stoizismus. Knaut macht einfach nichts, um seine Situation zu verbessern, und schaut, was passiert. Man kennt es auch als schicke moderne Position des Depressiven, von Melvilles Bartleby oder Perecs Un homme qui dort. Wezels Figur macht das aber quasi bewusst. Eine konstruierte Kunstfigur.
Helbig: Das nächste Inselwunder ist die Erschaffung der Frauen aus dem Internet – eine Art Cyborg-Frauen, bestehend aus Fertigteilen, die als 3D-Scan-Design aus dem Internet strömen: „supergeile Standardpakete, das verkürzte Oratorium der Wünsche“.
Cotten: In der Literatur zum Ersten Weltkrieg hatte es einen Prothesendiskurs gegeben. Viele Essays, die sich auf Beobachtungen stützten, da es nach dem Ersten Weltkrieg sehr viele Menschen mit Prothesen gab. Es erschienen ja schon im Krieg illegale Pamphlete mit Bildern, die zeigten, wie Bombenopfer ausschauten. Das hatte die idealistische Kriegseuphorie etwas gedämpft, aber leider zu spät. Parallel kam zum ersten Mal überhaupt in der Literatur unter perversen Literaten so etwas wie ein Prothesenfetischismus auf. Warum? Möglicherweise, denke ich, kann man es aufregend finden, die eigene Sexualität mit Phänomenen der politischen Aktualität zu verbinden, etwa auf Feministinnen stehen in den 70er Jahren, oder dirty chats machen jetzt. Ich glaube, ein Teil der Aufregung ist, dass man den Puls der Zeit fühlt, wie er in einem selbst schlägt. Das finde ich interessant im Zusammenhang mit den Cyborgs von jetzt. Es gab einmal eine Website einer Do-it-your-self-Pin-up-Gruppe, tätowierte Frauen, die teilweise auch Prothesenträgerinnen waren und die es spaßig fanden, sich als Pin-up-Girls darzustellen. Dazu kommt ein immenses Pornografie-Angebot im Internet. Computerspiele, wo man sich als Avatare geile Bodys zusammenstellen kann. Ich fand es lustig und gerade im Kontext der Konstruiertheit von fiktionaler Literatur interessant, aber auch einzig richtig, die Künstlichkeit des Frauenkörpers in meinem Text auf die Spitze zu treiben.
Helbig: Lustig ist auch die Wendung, dass die Frauen nicht zurück können, weil das Internet pleite ist. Ab und an gibt es einen Seitenhieb auf unsere neue Wissenserwerbsstrategie Wikipedia: „… gewohnt, alles mittels Wikipedia zu kapieren, nur, können tun wirs trotzdem nicht.“
Cotten: Es ist kein Seitenhieb. Es ist die Normalität. Die teilweise heterogene Qualität vom schwarmintelligenten Lexikon unterscheidet sich auch nicht so sehr von dem Quatsch, den die wichtigen Männer in die wichtigen Bücher schrieben, man lese nur den Eintrag zur Seele im Meyers. Es gab ja damals auch schon das Klischee von den Büchergelehrten, die Besserwisser sind, aber nichts können. Ob sich das geändert hat, weiß ich nicht. Aber ich wollte noch etwas zu dem „verkürzten Oratorium der Wünsche“ sagen. Das ist eine Metapher, die man sicher nie versteht. Ich meine wirklich Oratorium als Musikform. Es gibt von längeren geistlichen Stücken oft auch eine verkürzte Version, wo viele Schönheiten nicht vorkommen, man eilt dann durch, weil die Messe nicht so lange dauern darf. Eine „kleine Leiche“ in meinem Text, die außer einerm Kirchenmusikerni vielleicht keiner versteht.
Helbig: Man kann gar nicht alle Facetten dieser Geschichte hier darstellen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ganz amüsant ist, in diesem Buch auf Entdeckungsreise und der überbordenden Phantasie der Autorin nachzugehen. – Den Strom für die Insel liefert eine Eselin, gleichzeitig die Verfassungsgeberin der Insel, Hüterin des Mysteriums. Recht gesprochen wird nach einem Zufallsgenerator. – Zahlreiche wunderbare Einfälle, die dem, der von Literatur vor allem erwartet, dass sein eigenes Denken forciert wird, zahlreiche Denkschleifen anbietet.
Cotten: Die Phantasie des Lesers braucht es auch, denn mehr als solche Denkanstöße wird oft nicht geliefert.
Helbig: Die von den Frauen getragene revolutionäre Kryptomerienbewegung, deren Sieg den Schlusspunkt des Textes setzt, wird zum Beispiel nur kurz angedeutet.
Cotten: Ja, zum Ende hin bin ich ein bisschen ungeduldig geworden.
Helbig: In einem Interview deuteten Sie an, dass Ihr Schreiben in Zukunft durchaus auch einen Ausflug in Richtung Science Fiction machen könnte.
Cotten: Ja, das ist ein Thema. Wobei das bei mir weit gefasst wäre, eher in Richtung philosophische Science Fiction.
Helbig: Wie bei Stanislaw Lem?
Cotten: Ja, das sind große Vorbilder, die Strugatzkis und Lem. Aber. Es fällt mir schwer, in der Prosa dafür einen Ton zu finden. Die melancholische Ironie des sowjetischen Ostens stirbt ja aus, was kommt nach?
Helbig: Bereits Der schaudernde Fächer führt den Leser immer wieder nach Japan, ein Land, das Sie offenbar sehr beeindruckt hat. Sie sagten einmal: „Irgendwie ist Japan auch ein Beweis dafür, dass die Welt anders ist, als die Europäer denken.“ Was begeistert und überrascht Sie an Japan und der japanischen Kultur, speziell Literatur?
Cotten: Da ist eine Konzentration, die mir sehr gefällt. Elegantes Design, eine Ordnung, die von einer leidenschaftlichen oder heftigen Präsenz im Augenblick ausgeht. Ein unideologischer Realismus verbindet den Einzelnen mit der Gesellschaft, die gegenseitige Verantwortlichkeit und Abhängigkeit wird als fast atemlose Hingabe praktiziert. Grausam und zärtlich.
Ich brauche Ordnungen, weil ich sie selbst nicht gut herstellen kann. An Ordnungen, die mir gefallen, passe ich mich gerne an. Die japanische Ordnung gefällt mir in ihrer ästhetischen Ausprägung. Vielleicht auch, weil sie so anders ist als die europäische. Vielleicht ist es auch ein bisschen Exotismus von meiner Seite, dass ich mich an die fremde Ordnung gerne anpasse. Man sagt auch, die Japaner sind verrückt, das ist nur anständig, ich mag das. Die Extremheit der Welt – und sie ist extrem – ist den Japanernnnie ganz selbstverständlich; dieser Realismus fehlt mir in anderen Ländern mit einlullenderen Arten von kollektivem Bewusstsein. Die logische Reaktion auf die extreme Welt ist natürlich Selbstdisziplin oder Konzentration. Sie können aber auch sehr lustig sein, sich liebenswürdigster Albernheit hingeben, wie ich ja auch. Ich bin, wie viele Leute, eben ganz verliebt in Japan. Mich interessiert, was das alles mit meinem Denken macht. Es zieht mich dort hin.
Helbig: 2017 ist – wiederum im Verlag Peter Engstler – JIKIKETSUGAKI Tsurezuregusa erschienen, ein Buch, das ganz im Kosmos Japan zu Hause ist. Das Buch hält für den Leser neben Gedichten und Prosa auch ganz andere Dinge bereit. Sie hatten 2014 ein Stipendium in der Villa Kamogawa des Goethe-Instituts in Kyoto und sich bereits damals mit der Kanji-Zeichenschrift auseinandergesetzt, die zusammen mit den Silbenschriften Hiragana und Katakana zur Notierung der japanischen Sprache verwendet wird.
Cotten: Die Kanji-Schrift benutzt 214 sogenannte Radikale. Mit ihrer Hilfe findet etwa die Klassifizierung im Wörterbuch traditionell statt. Manche Kanji bestehen nur aus einem Gebilde, andere sind aus mehreren Gebilden zusammengesetzt. Lange Zeit war dies die einzige Art der Ordnung von Wörterbüchern. Man musste diesen Kanon kennen wie die Reihenfolge eines Alphabets, um Wörter im Wörterbuch nachschlagen zu können. Ich weiß nicht, wo das Wort herkommt. Vermutlich hat es eien europäischre Forscherni eingeführt, von Radix, Wurzel, hergeleitet. Dieser Kanon hat mich interessiert, zum Beispiel, weil er alt und arbiträr, aber voller Spuren ist, wie das Alphabet. Es gilt bei uns ja als etabliert, dass die Sprache einen konventionalistischen, keinen mimetischen Bezug zur eventuell existierenden außersprachlichen Wirklichkeit hat. Und doch stecken mimetische Relikte in diesem Code drin. Einige Zeichen leiten sich sehr suggestiv aus Bildern her. Allerdings führt dies leicht auf falsche Fährten. Man kann sich auf die mimetische Komponente nicht verlassen. Diesen Kanon zu erlernen fühlt sich an wie Welt zu lernen, die Liste der Radikale hat die Atmosphäre einer Art Schöpfungsgeschichte, da sind etwa die zwei verschiedenen Arten von Dreifüßen (hohle Füße einmal, einmal dünne, solide) aus der Urzeit Chinas zeichengebend, die man sonst nur aus Ausgrabungen kennt, oder eine bestimmte umständliche Art von Hellebardenaufsatz, bei dessen Benutzung man eine bestimmte Bewegung machen muss wie mit einem Schuhlöffel, was sich in die Strichfolge des Zeichens eingegraben hat. Ich wollte die Assoziationen dokumentieren, die ich mit diesem Kanon hatte, um dann im Gespräch mit Japanernnnie herauszufinden, welche Assoziationen von mir kommen und welche bereits in der Sprache verankert sind. Wo steige ich ein in eine kollektive Assoziationskultur und wo verbinde ich sozusagen eigenmächtig die Bilder. Ex negativo könnte man dann auch die Konturen dessen, was man für europäisch hält, korrigieren.
Helbig: Vielleicht wäre es gut, neben den Text unseres Gesprächs einige Beispiele für Ihre Auseinandersetzung mit den Kanji zu stellen. Vielleicht auch andere Texte, die dieses Projekt erhellen.
Cotten: Es ist allerdings schwer, sie aus der Reihenfolge zu nehmen. Es sollte auch vom Text abhängen. Weil einige Texte alleinstehend besser funktionieren als andere. Aber diese private Forschung läuft weiter, so dass ich die Japanernnnie, je nach Gelegenheit und ohne sie allzu viel zu nerven, etwas ausfrage über die Assoziationen. Man könnte ja auch Europäernnnie fragen nach Assoziationen, die man mit Buchstaben hat. Bei den wenigen Buchstaben ist jedoch die Verbindung zur Bildlichkeit noch viel abstrakter.
Helbig: Wenn man dem Namen JIKIKETSUGAKI nachspürt, kommt man zum „wiedergeborenen Dämon“. Was hat Ihr Projekt mit diesem Dämon zu tun?
Cotten: JIKIKETSUGAKI ist ein als Gelse, also als Stechmücke wiedergeborener „hungriger Dämon“, ein Preta, wie es in der buddhistischen Mythologie heißt, jemand, der im vorherigen Leben „alles Fleisch selbst gegessen“ hat, nicht verteilt hat. Diese gierigen Dämonen werden in verschiedensten Formen wiedergeboren. Da gibt es eine Geschichte mit herumrollenden Köpfen, die menschenfressend sind. Möglicherweise ist das mit der Stechmücke eine Phantasie von Lafcadio Hearn, einem greco-amerikanischen Journalisten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Japan eine Heimat fand. Seine japanische Frau erzählte ihm viele japanische Geschichten, die er auf Englisch aufschrieb, seine Sammlungen von japanischen Geistererzählungen sind berühmt und geradezu kanonisch. Ich habe den Eindruck, dass er ein gutes Verständnis für diese Dinge hatte. Obwohl es heißt, dass er aufgrund eines Augenleidens beim Erlernen der japanischen Schriftzeichen behindert gewesen sein soll. Hearn hat jedenfalls beobachtet, dass auf den Friedhöfen in Japan Schalen mit Wasser für die Toten bereitgestellt werden, damit diese etwas zu trinken haben. In diesen Schalen vermehren sich die Mücken. Er hatte dann die Idee, was für Menschen als Stechmücke wiedergeboren würden, nach seiner Art halb im Ernst, halb als Scherz formuliert. (Wiedergeburt hat aber auch viel mit dem Witz, den Pointen des Schicksals zu tun.) Diese Idee hat mir gefallen, das kreisende, sirrende, schreckhafte Begehren der Mücke, einen fremden Blutkreislauf anzuzapfen, schien mir eine treffende Beschreibung meiner dysfunktionalen Art, Kanji zu lernen. Aber auch die Unruhe, die Mücken um sich verbreiten. Ich war zu gierig nach neuen Kanji, weil sie alle so interessant sind. So dass ich sie nicht effektiv gelernt habe, sondern von einer zur nächsten den Verbindungen folgte, die ich mir nicht merkte. Einige dieser Aufzeichnungen sind im Buch abgedruckt, um dies zu zeigen.
Der zweite Titel des Buches zitiert ein Standardwerk der klassischen japanischen Literatur, das Tsurezuregusa des Mönches Kenko. Dieser Titel bedeutet übersetzt ungefähr: mit leichter Hand hingeschriebene, unsystematische Notizen. Es ist ein kanonisches Werk, diese Art des Vorgehens wird also im Untertitel bejaht. Während JIKIKETSUGAKI ein Problem für mich darstellt: So kann man doch nicht arbeiten! So geht das nicht. Du musst irgendwie eine Ordnung schaffen. Das heißt, im Titel des Buches ist dieser Kontrast zwischen einer für mich eigentlich schmerzhaften und problematischen Realität und der Anerkennung eines solchen Vorgehens zusammengefasst, mit der Ruhe eines Mönchs, der genau dieses Chaotische des menschlichen Geistes eigentlich gutheißt. Dieser Untertitel beruhigt mich.
Helbig: Tsurezuegusa wird auch in Zusammenhang mit dem Wabi-sabi gebracht, worunter ein Konzept des Unvollständigen, Unperfekten, Improvisierten sowie Flüchtigen zu verstehen ist. Das sind im Übrigen Kategorien, die Sie oft selbst benutzt haben, um ihre eigenen Texte zu beschreiben. Streben Sie dieses Fragmentarische bewusst an?
Cotten: Einsamkeit nicht zu vergessen, Sabishii = einsam. Anstreben ist zu viel gesagt. Andererseits könnte ich es auch bejahen. Aber das ist ein Paradoxon, sobald man sagt, ja, das soll so sein, würde es praktisch zur Zielsetzung. Das fände ich pervers, zu sagen, ich setze mich hin und schreibe ein Fragment. Was soll das? Für mich würde das Fragment seine „Unschuld“ verlieren, wenn es in der Öffentlichkeit als Form des Erfolgs repräsentiert würde. Deshalb muss ich es mit einer Geste präsentieren, die sagt: ich kann es nicht besser als so, es ist etwas Interessantes daran, aber es gelingt mir nicht, es in eine vollendete Form zu bringen; ich lasse es lieber mit diesen scharfen ausgefransten Enden, als es irgendwie hübsch gerade zu beschneiden; u.a. weil ich denke, dass man nicht alleine denken kann, weil man sozusagen auf die Hilfe und das Wohlwollen anderer angewiesen ist. Ich habe wirklich nichts gegen das Fragment und lese von anderen auch gern Fragmente.
Helbig: In diesem Genre, dem das Tsurezuregusa des Kenko zugeordnet ist, wird auch Melancholie, Individualismus und Sehnsucht nach der Vergangenheit ausgedrückt. Versuchen Sie mit der Wahl des Untertitels Tsurezuregusa auch eine Anlehnung an diese Lesarten?
Cotten: Ein bisschen schon. Aber Kenko ist auch ein extrem belehrender Mönch. Da ist viel Gesellschaftskritik enthalten. Das liest sich manchmal wie eine „Benimmfibel“.
Helbig: Ja, da habe ich ein schönes Beispiel gefunden: „Man sollte sich nie so geben, als wäre man in eine Kunst oder Wissenschaft tief eingedrungen. Wird ein gebildeter Mann, auch wenn er seine Sache beherrscht, mit Kennermiene davon sprechen? Es sind immer nur die Leute aus der Provinz, die einem antworten, als hätten sie alles zutiefst erfasst…“
Cotten: Solche Texte findet man auch bei den Römern und Griechen, da gibt es Aphorismen-Sammlungen, die ähnliche Geschmacksurteile ausdrücken.
Helbig: Man findet das auch in Platons Der Staat.
Cotten: Ich habe auch in mir diesen Impuls, so zu denken: Wie sollte es eigentlich sein? Und warum benehmen sich alle so schlecht? Diese Weltverbesserungsimpulse. Aber ich fühle gleichzeitig das Ranzige daran. Diese quasi moralisch-normativen Gedanken wechseln sich ab mit Begehren und mit der Jagd nach der Schönheit, die ich wie die Welt selbst als amoralisch ansehe. Die Moral ist an uns, wie wir mit diesem widersprüchlichen Wust umgehen. Darum ging es bereits in Der schaudernde Fächer: In welcher Beziehung stehen Schönheit und Moral? Etwas, was auch Schiller beschäftigt hat. Ich suche nach der guten Moral und suche nach der Ethik und suche nach der Schönheit, nach dem schönen Ideal. Irgendsolche Dinge stehen immer im Hintergrund.
Helbig: Das Buch hat mehrere Texte, die die Qualität des Vorworts und des Nachworts erfüllen.
Cotten: „Die 214 Kanji Radikale“ ist das Vorwort zum Text mit den Kanji-Radikalen, danach folgt mit „SINNSPIESS“ die literarische Einleitung zu diesem Text…
Helbig: … „Du hörst den Geist lachen, von sehr sehr fern ein wohliges Grollen… Wehe, wehe, du lässt den Geist halbgerufen in diesem Zustand stehen.“ Eine Selbstermahnung?
Cotten: Ja. Deswegen fahre ich jetzt wieder hin.
Helbig: Das dritte Vorwort ist „Aufschreiben als Ausweichen“, wo die Beweggründe und Vorgehensweisen angedeutet werden.
Cotten: Ich finde es interessant und wichtig, möglichst akkurat zu beschreiben, was man tut, psychologisch. Man schreibt dies hin und beginnt dann aber, sich anders zu verhalten. Man weicht mit der Sprache aus und benennt doch nicht das, was den eigentlichen Kern des Problems ausmacht. Oder wenn man es benennt, verschiebt sich der Kanon des Problems. So wie in der Quantenphysik. Also Sprache ist ein tückisches Instrument, gerade auf dem Feld der Selbstverbesserung.
Helbig: Auch dieser Text ist zum einen Selbstansprache, u.a. ist von der Erfolgskrankheit die Rede…
Cotten: Auweh, versteht man das so? Ich meinte, dass die Gesellschaft erfolgskrank ist, ich, durch die offensichtliche Absurdität meiner Erfolge (im nie ganz unlächerlichen kleinen Bereich der Literatur) eher weniger krank.
Helbig: … aber auch Ansprache an den Leser, sich diesem Buch ganz zu öffnen und diese Krankheiten beiseitezuschieben.
Cotten: Auch eine Bitte – was mir ganz wichtig ist –, nicht so zu lesen, als würde ich etwas als abgeschlossene Erkenntnis präsentieren, als würde ich mich brüsten wollen mit exotischen Dingen. Das wäre auch gefährlich gewesen, wenn das Buch etwa über den Suhrkamp Verlag in größere Nähe zum Mainstream gespült worden wäre, wobei es aber auch andere Gestalt bekommen hätte. Ich will gar nicht daran denken, eine Hübschigkeit oder ein „erfolgreiches Inspiriertwerden vom Fernen Osten“ oder was, aaaa! Daher habe ich dieses Buch so nur bei Peter Engstler machen können, wo es, wie ich hoffe, ein halbwegs stimmiger Brocken ist. In dieser Gegend versteht man mich richtig, dass wesentliche Texte jenseits von Erfolg und Misserfolg passieren. Ich wollte das Straucheln porträtieren. Dieses Genre ist in der Nicht-Erfolgsliteratur ein sehr gut verstandener Topos, braucht gar keine extra Erklärung. Seltsam, oder? Dieser Unterschied fällt kaum auf, man denkt immer, alle in Kleinverlagen wollen lieber in die großen und schaffen es bloß nicht. In Wirklichkeit hängt mit der Erfolgsferne eine Haltung zusammen, die vieles kapiert, dem die vom Erfolg abhängigen Geschäftsmodelle gar nicht ins Auge sehen können.
Helbig: Als Metapher für dieses Straucheln wird eine Passage aus Kleists Penthesilea zitiert…
Cotten: Es gibt ein Problem mit der Bejahung der Leidenschaft. Wenn man es ernst nimmt, kommen lauter so Kleistsche Figuren heraus. Kohlhaas oder Penthesilea. Also Problematiken. Quasi im Kontrast steht diese Figur im Tsurezuregusa, diese buddhistische Ethik, die bejaht, dass die Menschen so sind, so leidenschaftlich, wenngleich diese Leidenschaften zu überwinden sind. Aber das braucht keine Eile, muss nicht Quälerei werden. Das Ziel ist die Überwindung, man soll aber nicht mit Gewalt überwinden. Es geht auch nicht ohne Hilfe. Man muss sich nicht beeilen, ins Nirwana zu kommen. Man kann so oft wiedergeboren werden, wie man möchte. Und so lange man ein Begehren empfindet nach der sinnlichen Welt, ist es richtig, immer wieder in sie hineingeboren zu werden. Bis man es nicht mehr wünscht. So dass der Wunsch der Spiegel der Entwicklung ist. Das gibt einem doch Hoffnung.
Helbig: Selbst wenn man als Blut trinkende Mücke wiedergeboren wird… In diesem dritten Vorwort steht auch: „Auf der Suche nach Methoden, die mich überlisten könnten, kam ich auch auf so was wie Traumarbeit. Diese mischte sich mit der Idee des ,mnemotechnischen Gedichts‘.“
Cotten: Das war eigentlich mein Projekt in der Villa Kamogawa. Zu versuchen, Gedichte zu schreiben, die mir helfen, sich die Kanji zu merken. Dabei fand ich zwei Sachen interessant, woran ich das herleiten könnte. Zum einen sagt man, dass sich die Versform aus mnemotechnischen Erwägungen heraus entwickelt hat. Weil sich in langen mündlichen Epen Verse leichter merken lassen als reine Prosa. Das war für mich endlich ein guter Grund für Form. Es ist schön, wenn man weiß, warum etwas gut ist. Das andere. Es gibt Bücher über die sogenannte Heisig-Methode, bei welcher Merkhilfen zu Kanji konstruiert worden sind. Heisig brüstet sich damit, sie in wahnsinnig schneller Zeit memorisiert zu haben. Und zwar mit Hilfe von teils frei erfundenen und teils aus der Etymologie hergeleiteten Bildverknüpfungen, wobei er auch viel Kritik einsteckt, weil es eben nicht alles etymologisch ist, sondern eine krude Mischung aus Eigenem und Fremdem. Das Interessante an diesen Texten ist, dass diese Bilder möglichst krass gewählt sind – schmerzhaft, pervers, surrealistisch. Damit es im Gedächtnis hängenbleibt. Das fand ich als Beweggrund und Textform extrem interessant, weil nicht ästhetische und diffuse Werturteile herangezogen wurden. Dann wollte ich schauen, was passiert, wenn ich selbst versuche, mnemotechnische Gedichte zu schreiben. Also Gedichte, deren Zweck nur darin besteht, mir Kanji zu merken. Teilweise kommen Kanji im Titel des Gedichts vor. Dann sind es Versuche, das Kanji in Form eines Gedichts auszudrücken. An den Text „INTEREST NET“ schließt sich ein längerer Text von einem Dieb ab, der eine Dichterzusammenkunft inszeniert. In diesem Rahmen kommen einzelne Lieder vor, die phantastisch anmuten. Dieser längere Text war zugleich der Versuch eines mnemotechnischen Langgedichts, also ein Versuch, die Schriftzeichen zu verarbeiten.
Helbig: Schön und zitierenswert finde ich in diesem Zusammenhang Ihr Hohelied auf die Faulheit: „So verschmolz Fleiß mit Faulheit. Es verschmolz auch Ehrgeiz mit Faulheit, oder sie sind längst in der Tiefe des Charakters verschmolzen: ist doch Faulheit die Mutter des Erfindungsgeistes. Es verschmolz aber auch Faulheit mit Demut.“
Cotten: Ich kann die Faulheit trotzdem nicht bejahen. Es ist eher ein Fluchen, dass die Faulheit sich überall hineinschleicht. In alles, was ich mache, schleicht sich entweder Denkfaulheit oder Tätigkeitsfaulheit hinein.
Helbig: Wer Ihr Buch zur Hand nimmt, wird Ihnen zuallerletzt Faulheit unterstellen. Ihre Faszination drücken Sie im Folgenden sehr schön aus: „Die Logik oder Grammatik der sinojapanischen Schrift nimmt alle im Westen als technische Mittel der Poesie bekannten Mechanismen in der gewöhnlichen Sprache aller bereits vorweg: Metonymie, Metapher, Assoziation, Wortspiel. Die Sprache besteht von Anfang an aus dem, was unsere Dichter meinen, ihr erst als Krönung hinzuzufügen.“
Cotten: Friedlieb Ferdinand Runge war das doch mit den „sich selbst malenden Bildern“ – ein Verfahren, bei dem mit gelösten Chemikalien auf Chromatographie-Papier „gemalt“ wird. Solch reiche, mit allen Schönheiten der Dichtkunst ausgestattete Texte fand ich auch zuweilen, Blüten der Sprache selbst, wie aus kollektiver Launenschönheit gemacht. Ich musste also feststellen, dass Schönheit nichts Besonderes ist. Es bestätigt aber den Verdacht, den ich immer schon hatte: dass es die Welt selbst ist, die so poetisch vernetzt ist. Deshalb ist es albern, irgendwelche Gedichte hochzuhalten, als hätten die das erst erfunden.
Helbig: Sie sagen mit Bezug auf die Kanji auch: „die arbiträre Strenge der Überlieferung ist ein Element ihrer Frische“. Also: Die Metaphernfindungen von vor 2000 Jahren sind zugleich frisch. Ist das nicht ein Widerspruch?
Cotten: Warum sollte es einer sein? Sind nicht so alte Statuen immer noch frisch? Manche Leute lesen täglich die Bibel. Sappho. Alte Sachen, die einen frischen Eindruck machen, sind aber natürlich interessante Untersuchungsgegenstände: Welche Eigenschaften sorgen für diesen Effekt? Ich suche immer nach Gründen, nach Logik. Ich will verstehen, warum das so ist. Bei etwas Lebendigem, das auf dem Substrat von Menschenmassen über lange Zeit überlebt, wie einer Sprache, liegt es sicher auch daran, dass immer wieder neues physisches Material nach alten Mustern geformt wird. So wie ein japanischer oder chinesischer Tempel, der alle 30 Jahre aus frischem Holz neugebaut wird, aber als alt gilt, weil er immer auf dieselbe Art gebaut wird. Beim Erlernen der Kanji musste ich lernen: dieser Strich muss genau so sein. Und du fragst nicht, warum. Das fühlt sich für mich frisch an, wie ein fremdes Lebewesen, wo ich auch nicht frage: Warum ist deine Nase so? Warum müssen deine Bücher auf Kante liegen? Es fühlt sich an wie etwas, das äußerste Demut verlangt. Denn, irgendetwas im Verstehenwollen hat mit dem immerwährenden Bedürfnis zu tun, Interpretationshoheit zu erlangen. Das muss nicht sein. Oder die utopische Frage: Kann ich verstehen wollen, ohne herrschen zu wollen? Wenn ja, dann sicher, indem ich es mir mit möglicherweise ganz anderen Erklärungslogiken erklären lasse, und verhindere, dass meine europäische Monokausalität bei jeder Gelegenheit gleich wieder zuschnappt.
Helbig: Der Prosatext „Monster“ nimmt einerseits das Dämonische als Selbstbezug zum Thema und leuchtet zugleich existentielle Grenzsituationen aus, die sich als Bilder einprägen: „Als schwarzer Schemen leben. … Tränen erreichen meine Oberlippe, pushen die Härchen, breiten sich durch die Lippenfalten aus und tränken meine Zigarette. Ich zünde mir eine neue an. Einen besseren Ort zum Denken kann ich mir nicht denken, und ich will mich aus der Trauer herausdenken.“
Cotten: Man braucht immer einen guten Vorrat an Zigaretten. Man hat mir vor kurzem von einem einarmigen Schlagzeuger aus Holland erzählt, der in Japan berühmt geworden ist.
Helbig: Schließlich gibt es im Buch auch einen „Ersten Versuch im Stil des Noh-Theaters zu inszenieren“.
Cotten: Es gibt wenig übersetzte Noh-Theaterstücke. Im Englischen gibt es ein paar dichterische Übersetzungen von Arthur Waley und von Fenollosa/Pound, voll Fehler und eigenmächtiger Interpretationen, und berauschend schön. Ich weiß aber nicht, wie nah sie, gerade in den Schönheiten, dem Original sind. Diese Texte haben jedoch viele Interessierte zur asiatischen Kultur hingeführt. Beim Noh-Theater sind einige formale Regeln zu beachten, die an Brechts episches Theater erinnern, wie zum Beispiel der formalisierte Auftritt, mit der sich die Figuren vorstellen, die stilisierte Sprache und Gestik; das europäische Theater der Moderne hat ja auch viel vom Noh-Theater und anderen asiatischen Theaterformen gelernt. Es entsteht eine schwebende Welt der poetischen Sprache und der Darstellung. Die Reize sind Reize der Darstellung. Mimesis wird eingefasst in kostbare Ornamentik. Das hat Witz. Man sagt zum Beispiel, bei Hitze sollte man schauerliche Themen inszenieren, damit die über den Rücken laufenden Schauer zur Abkühlung beitragen. Oder man setzt ein Kind in die Rolle des Tenno ein, weil es ein rührender Effekt ist, den Kaiser als Kind zu präsentieren. Cross-dressing ist immer reizvoll, ein weltweites Theaterphänomen. Also es kommen Figuren langsam über einen besonderen Steg auf die Bühne, in Zeitlupe nämlich, wie Figuren einer mechanischen Uhr, und auf halbem Weg auf diesem Steg bleiben sie stehen und sagen, wie die erste Zeile von Dantes Divina Commedia: Ich bin auf der Reise, komme von da und geh nach da. Dann gehen sie weiter, kommen an und sagen: Endlich bin ich da. Diese Figuren bringen dann ganz exquisite kurze poetische oder philosophische Beobachtungen auf die Bühne, von einer Radikalität, dass es einem die Luft wegnimmt. Dann gibt es einen Tanz oder einen anderen sinnlichen Effekt. Daran habe ich mich versucht, ich konnte nicht anders. Aber es folgt ein nächster Versuch!
Helbig: Liebe Ann Cotten, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Ostragehege, Heft 87, 5.3.2018
Hendrik Jackson: Proportionen mit Proteinen – ein Abend in der Rumbalotte zu Berlin mit n Cotten
Ann Cotten und Antye Greie alias AGF (EPHEMEROPTERAE IX), 2015.
Ann Cotten im Gespräch mit Alexander Kluge: Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen.
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