ECHO
Zum Vergangnen hin sind längst verschlossen
schon die Wege – und was soll es mir?
Dort gibt’s Ziegel, blutig überflossen,
oder, zugemauert, eine Tür
oder auch ein Echo, das dem Flehen
taub ist und zu schweigen nicht vermag…
Es ist diesem Echo so geschehen
wie auch dem, was ich im Herzen trag’.
1960
Anna Achmatowa wurde 1889 in Bol’soj Fontan in der Nähe von Odessa geboren, wuchs aber in Nordrußland auf, zunächst in Pawlowsk, dann in Zarskoje Selo, der Zarenresidenz in der Nähe von Petersburg, wo sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr blieb. Ihr Vater, Ingenieuroffizier bei der Flotte, war zur Zeit ihrer Geburt schon pensioniert. Durch ihre Mutter kam sie früh mit russischer Literatur in Berührung; bereits mit elf Jahren schrieb sie ihr erstes Gedicht. In Zarskoje Selo besuchte sie das Mädchengymnasium – das war die Zeit, in der sie Nikolaj Gumiljov kennenlernte, der dort ebenfalls zur Schule ging. Nach der Trennung der Eltern zog die Mutter mit den Kindern wieder nach Südrußland. Anna Achmatowa machte 1907 in Kiew ihr Abitur. Danach begann sie ein Jurastudium, ging aber bald in Petersburg zum Studium der Literaturwissenschaft über. Sie schloß sich dort der Bewegung der Akmeisten1 an. Der Begründer dieser Dichterschule war Gumiljov, den sie 1910 heiratete. In der von ihm 1911 begründeten sog. „Dichterinnung“ (Cech poetow) übernahm sie die Funktion einer Sekretärin. 1912 wurde ihr einziger Sohn Lew geboren. Die Ehe wurde schon 1918 wieder geschieden. Über ihren Verlauf und die Gründe für die Scheidung hat sich Anna Achmatowa – zumindest schriftlich – nie geäußert. Es läßt sich aber aus ihren in dieser Zeit entstandenen Gedichten einiges an Problematik ablesen (etwa: „Wir werden nicht aus einem Glase trinken“ oder „Auf dem Fluß treibt klirrend das Eis“, das im Jahr der Scheidung entstand). Sicherlich war Gumiljov ein sehr schwieriger, innerlich zerrissener und getriebener Mensch (s. die Gumiljov-Gedichte „Don Juan“ oder „Ich kann es kein Leben nennen“), um dessen Unglücklich-Sein sie wußte („Der Schnee schmolz…“) und der ihr auch nach der Trennung noch viel bedeutete. Wie sehr sie sein früher und grausamer Tod erschütterte – er wurde 1921 als Konterrevolutionär erschossen – beweist ein in demselben Jahr entstandenes und gerade in seiner Knappheit bewegendes Gedicht von ihr, in dem die äußeren Umstände zwar verfremdet sind, das sich aber deutlich auf ihn und sein Ende bezieht („Daß du nicht mehr lebst“). Dabei muß man sich allerdings hüten, alle Gedichte aus dieser Zeit autobiographisch zu interpretieren; manchmal sind sie vielleicht nur Ausdruck von Anna Achmatowas Einfühlungsvermögen in Frauenschicksale schlechthin. Wie stark dieses ausgeprägt war, beweisen in unserer Auswahl sehr deutlich die drei Gedichte „Biblische Verse“.
Sicher ist, daß Anna Achmatowa von Gumiljov in ihrer frühen Lyrik sehr beeinflußt wurde. 1912 erschien ihr erster Gedichtband Abend, der von der Kritik gleich sehr freundlich aufgenommen wurde. Weithin bekannt wurde sie dann durch ihren zweiten Band Rosenkranz (1914); damit wurde sie so etwas wie eine Modeerscheinung und von vielen weniger bedeutenden Dichterinnen nachgeahmt. Ihr dritter Band, Der weiße Schwarm, erschien am Vorabend der Oktoberrevolution (September 1917). 1921 kamen noch ihr vierter und fünfter Gedichtband (Wegerich und Anno Domini) heraus. Dann folgte eine lange Epoche, in der sie zum Schweigen verurteilt war. Sie war seit etwa 1925 verfemt; nicht einmal ihr Name durfte genannt werden. In dieser Zeit lebte sie mit ihrer Mutter und ihrem Sohn in sehr bedrängten Verhältnissen. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Bibliothekarin. Gedichte hat sie in dieser Zeit kaum geschrieben, wohl weil sie es nicht durfte. In den dreißiger Jahren erschien dann ihr Name wieder, aber zunächst nur unter Übersetzungen (u.a. aus dem Armenischen) und Prosaarbeiten. (Sie schrieb verschiedene Studien über Puschkin die sie auch später fortsetzte.) 1936 fing sie wieder an zu dichten; u.a. entstand in dieser Zeit der Zyklus „Requiem“,2 der bis heute in Rußland nicht erschienen ist. Erst neuerdings zeichnen sich Tendenzen ab, in einer vollständigen Ausgabe ihrer Werke auch diesen Zyklus aufzunehmen. Er gibt den Erschütterungen Ausdruck, die sie durchmachte, nachdem 1935 ihr Sohn verhaftet worden war. Diese Zeit war die sog. Ezowscina, so benannt nach Ezow, dem Leiter der Stalinschen Geheimpolizei. Damals reihte sich Anna Achmatowa monatelang in die Warteschlangen vor den Leningrader Gefängnissen ein, in der Hoffnung, ihren Sohn zu sehen. Er wurde dann zu 15 Jahren Exil und Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und erst nach Stalins Tod begnadigt.
Nach 1940 kam eine kurze Epoche, in der wieder Gedichte von Anna Achmatowa publiziert wurden. Es erschien eine Auswahl aus ihren ersten fünf Bänden mit einigen neuen Gedichten. Dabei wurden allerdings Gedichte mit religiösen Motiven und Bildern herausgelassen. Der Band wurde positiv aufgenommen; kritisiert wurde allerdings, daß die Revolution kaum Einfluß auf ihre Dichtung hatte. Während des Krieges schrieb und publizierte sie wieder mehr Gedichte, z.T. mit stark patriotischem Akzent. Sie hat ihre Heimat sehr geliebt und sie ja auch in den für sie schwersten Jahren nicht verlassen. Hier ist das Gedicht „Als Rußlands Volk…“ zu nennen. Eine tiefe Heimatliebe spricht aber auch aus den schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstandenen Gedichten „Juli 1914“ und – in objektivierender „Verfremdung“ – aus dem zweiten Gedicht der „Biblischen Verse“, in dem man ohne weiteres die Frau Lots, die sich noch einmal nach der Heimat umschaut, mit der Dichterin gleichsetzen kann – ebenso wie die Türme von Sodom mit Rußland, das ja für sie ein Land „voll Sünden“ war. Ende 1941, während der Blockade, verließ Anna Achmatowa Leningrad und flog nach Moskau; danach lebte sie evakuiert in Taschkent und kehrte erst 1944 nach Moskau, später nach Leningrad zurück. 1943 war noch ein kleiner Auswahlband ihrer Gedichte erschienen, aber drei Jahre später wurde sie zum zweiten Mal zum Schweigen verurteilt. Sie wurde eins der ersten Opfer der sog. Shdanow-Ära. Shdanow war seit 1944 Sekretär des Zentralkomitees und bekämpfte alle Schriftsteller, die nicht der Parteilinie folgten, alle, die er für „Reaktionäre, Kosmopoliten und Salonliteraten“ hielt. Neben dem Satiriker Sostschenko wurde Anna Achmatowa besonders heftig angegriffen. Ihrer Dichtung wurde Pessimismus, Ästhetizismus, überhaupt Dekadenz und Volksfremdheit vorgeworfen. Shdanow nannte sie „eine Entwurzelte, Nonne und Dirne zugleich“. 1946 wurde sie ebenso wie Sostschenko aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Sie lebte in dieser Zeit von Übersetzungen, wobei ihr besonderes Interesse der alten koreanischen Dichtung und dem serbischen Volksepos galt.
1950 begannen, zunächst nur vereinzelt, wieder Gedichte von ihr zu erscheinen, darunter zwei Gedichte auf Stalin, die sie unter Druck schreiben mußte. Man hatte ihr mit Repressalien auf ihren Sohn gedroht. Vollkommen reintegriert wurde sie nicht. Manche ihrer Dichtungen erschienen zunächst im Ausland, so ihr „Poem ohne Helden“ (1960 in New York) und das schon erwähnte „Requiem“. In Rußland erschienen seit 1958 wieder Auswahlbände ihrer Dichtung, aber bis heute keine Gesamtausgabe. Allgemein wird von sowjetischer Seite ihre spätere Dichtung, vor allem natürlich die patriotische (bei uns vertreten durch das Gedicht „Kinder sprechen“) positiver beurteilt als die frühere, wobei allerdings betont wird, daß ihr Patriotismus keine Bejahung der Revolution einschloß. Immerhin ist sie inzwischen in Rußland als bedeutende Dichterin anerkannt, und außerhalb Rußlands galt sie nach Pasternaks Tod als die bedeutendste unter den neueren russischen Dichtern überhaupt. (Sie war mehrfach Anwärterin auf den Nobelpreis.) Die Anerkennung zeigte sich u.a. auch darin, daß sie 1964 während einer Italienreise mit dem Preis von Taormina ausgezeichnet wurde und 1965 den Ehrendoktor der Universität Oxford erhielt. In demselben Jahr erschien auch in den USA die erste Gesamtausgabe ihrer Dichtungen. In Rußland ist eine solche bis heute nicht erschienen, doch könnte sich das im Zuge der „Perestrojka“, in der auch eine Gesamtausgabe Gumiljovs geplant ist, vielleicht bald ändern.
Anna Achmatowa starb am 5. März 1966 in Domodedowo bei Moskau.
Anna Achmatowas Dichtung hat in ihrer frühen Zeit eine relativ begrenzte Thematik: Ihr zentrales Thema ist die Liebe – Liebe in aller Leidenschaftlichkeit. Dies Thema allerdings wird reich variiert, wobei tragische Akzente vorherrschen. Melancholie und Desillusion sind die Grundstimmungen. Das Mystische, was den Symbolismus auch in seiner Liebesdichtung bestimmte, fehlt bei ihr fast ganz, alles bleibt – ganz im Sinne des Akmeismus – im diesseitigen Bereich, ist real und lebensbezogen, etwas, das sogar von der sowjetischen Literaturkritik positiv bewertet wird. Kennzeichnend für ihre Liebesdichtung ist ein ausgeprägter Psychologismus – man hat manche ihrer Gedichte als verkürzte und komprimierte Dostojewski-Romane bezeichnet. Ihre Sprache ist, dem Inhalt entsprechend, eher hart, man könnte sagen „sachlich“. Dabei arbeitet sie mit sparsamen Mitteln und spricht in fast lakonisch kurzen, dabei ungemein eindringlichen Worten.
Ihre spätere Dichtung verliert dann die einseitig tragische Färbung – mit melancholischen Stimmungen wechselt Lebensfreude. Auch thematisch wird ihre Dichtung immer kontrastreicher und polyphoner. Während ihre frühe Dichtung subjektiv gewesen war, bekommt die spätere einen mehr objektiven Charakter – also eine umgekehrte Entwicklung wie bei Gumiljov. Die Thematik erweitert sich; allerdings hatte es auch in früheren Gedichten neben den erotischen gelegentlich andere Motive gegeben: Das Religiöse spielt eine Rolle, daneben das Landschaftliche.
Was den formalen Charakter ihrer Dichtung betrifft, so ist – ebenfalls entsprechend den Gesetzen des Akmeismus – die klassische Einfachheit und Klarheit ihres Stils kennzeichnend. Ihm fehlt alles Ornamentale und Manieristische. In ihrer späteren Dichtung verliert die Sprache dann allerdings ihren konkreten Charakter, sie wird verschlüsselt und schwerer verständlich. Der Bau ihrer Verse ist zwar nicht so virtuos wie oft bei Gumiljov, aber immer klassisch streng; nicht zuletzt deswegen hat man sie gelegentlich als „russische Sappho“ bezeichnet.
Irmgard Wille, Nachwort
Wenn sich in der deutschen Übersetzung gelegentlich ungenaue Reime (Assonanzen) finden, so entspricht das zwar nicht Vers um Vers, aber doch grundsätzlich dem russischen Original.
Anna Achmatowa, die große russische Dichterin, verdient allemal unser Interesse. Ihre frühen Gedichte brachten einen neuen Ton in die russische Poesie. Nach den metaphysischen und geschichtsphilosophischen Spekulationen der Symbolisten artikulierte sie als junge Frau mit großer Nüchternheit ganz einfach ihre Gefühlsregungen. Das Private gerann zu Poesie. Gesten und Gegenstände des Alltags erschienen als Indizien innerer Vorgänge.
An diesem Prinzip des dichterischen Ausdrucks hat Anna Achmatowa auch dann festgehalten, als ihr eigenes Schicksal in den Strom der politischen Katastrophen und Umwälzungen gerissen wurde: Krieg und Revolution; die Erschießung ihres ersten Mannes, Nikolaj Gumiljow, 1921; Diffamierung seitens der proletarischen Schriftstellervereinigung RAPP; Verhaftung und Verfolgung ihres Sohnes und ihrer engsten Freunde, darunter Ossip Mandelstam; Evakuierung während der Blockade Leningrads; neue Angriffe nach dem Zweiten Weltkrieg, da sie offiziell zur Gegnerin des Sowjetregimes erklärt und von Andrej Shadanow als „Nonne und Hure“ geschmäht wurde. Einen Weg der Leiden hat diese Dichterin durchmessen, ehe sie in den sechziger Jahren in der Sowjetunion rehabilitiert und in der Welt gefeiert wurde. Anna Achmatowa starb 1966.
Kurz hintereinander erscheinen jetzt zwei Bände mit Gedichten der russischen Lyrikerin, unterschiedlich in der Auswahl und im übersetzerischen Umgang mit den schwierigen Texten, einig in dem Entschluß, dem Leser nicht nur deutsche Versionen, sondern parallel dazu die russischen Originale zu bieten. Fast will es scheinen, als hätten die Herausgeberinnen beider Bände ihre Auswahl abgestimmt, denn es bestehen zwischen ihnen kaum Überschneidungen; in mancher Hinsicht ergänzen sie einander.
Die von Ilma Rakusa betreute Gedichtauswahl enthält nur wenige Stücke aus der frühen akmeistischen Phase, stellt vielmehr deutlich auf die Dichtungen seit den dreißiger Jahren ab. Ihren wichtigsten Akzent erhält sie durch das in den Jahren 1940 bis 1962 niedergeschriebene „Poem ohne Held“. Auch die kleinen, doch bedeutsamen Zyklen „Im Jahr vierzig“, „Kriegswind“, „Cinque“, „Nördliche Elegien“, „Berufsgeheimnisse“ und „Den Weg aller Welt“ findet man erstmals in einer westdeutschen Ausgabe. Die Nachdichtungen wurden früheren (zum Teil ostdeutschen) Ausgaben entnommen und stammen von Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, Uwe Grüning und Heinz Czechowski.
Wie sehr es sich bei diesen „Nachdichtungen“ um Notbehelfe handelt, wird durch die Konfrontation mit den russischen Originalen auf Schritt und Tritt belegt. Sie vermitteln weder den genauen Sinn noch den poetischen Charakter der herb-schönen Gedichte der Anna Achmatowa. Am ehesten vermag noch die Nachdichtung des „Poem ohne Held“ von Heinz Czechowski zu überzeugen. Diese schwierige Dichtung, Rekonstruktion der Petersburger belle époque am Vorabend des Ersten Weltkrieges, gipfelnd im Selbstmord des jungen Dichters Wsewolod Knjasew, stellt ein kunstvoll geknüpftes Gewebe von Anspielungen auf andere Texte dar. Das Authentische der Epoche, hier wiederum als das Private der einstigen Akteure eingefangen, erschließt sich letztlich nur dem Kenner der biographischen Verhältnisse. Ob die von der kundigen Herausgeberin beigesteuerten Kommentare ausreichen, das Sinngeflecht des Gedichtromans zu durchdringen, darf bezweifelt werden. Wie Ossip Mandelstam, dem sie in der Verschlüsselung der konkreten Vorgänge hier sehr nahe kommt, läuft mit diesem Werk auch Anna Achmatowa Gefahr, zur Dichterin für Literaturwissenschaftler zu werden.
Die Auswahl von Irmgard Wille erstreckt sich auf das gesamte lyrische Werk der Anna Achmatowa. Man findet einige der Gedichte, in denen sie die komplizierte Beziehung zu Nikolaj Gumiljew zu erklären sucht. 1910 hatte sie ihn geheiratet; die junge Ehe stand ganz im Zeichen der Poesie, des Akmeismus, wie ihn Gumiljow mit einer kleinen Gruppe von Dichtern gegen den herrschenden Symbolismus vertrat. Mit der für Anna Achmatowa typischen Unmittelbarkeit wird das Zerbrechen der Beziehung, dem Eisgang der Newa korrespondierend, ausgesprochen:
Auf dem Fluß treibt klirrend das Eis,
und die Himmel sind hoffnungslos fahl.
Ach, warum, da von Schuld ich nichts weiß,
diese Strafe? Warum die Qual?
Man findet den Balladenzyklus „Biblische Verse“ mit dem wundervollen Gedicht „Lots Weib“.
Anna Achmatowa erkennt und beklagt hier im Los jener Neugierigen, die zur Salzsäule erstarrte, zeitloses Frauenschicksal.
Bei der poetischen Übersetzung solcher Verse geht es nicht ohne Verlegenheitslösungen ab. Auf der Strecke bleibt die lautsemantische Motivation, die im Original „Tod“ und „schauen“ (smert’ / smotred’) miteinander verbindet. Gleichwohl sind nicht wenige der Übertragungen von Irmgard Wille in Tonlage und Vers ziemlich gut gelungen, jedenfalls vermitteln sie von der Poesie der Anna Achmatowa einen angemesseneren Eindruck als die reimlosen, ametrischen Verse der Ausgabe von Ilma Rakusa, Anna Achmatowa hat nun einmal – man mag das für antiquiert halten oder nicht – am traditionellen Vers festgehalten; im Metrischen ging sie über die sogenannte dol’niki nicht hinaus, die nach ihrer rhythmischen Struktur etwa der deutschen „Volksliedzeile“ entsprechen. Gewiß, die poetischen Übersetzungen wirken glatter, konventioneller als die Originale; vor allem büßen sie Anna Achmatowas mitunter fast patzigen Lakonismus ein. Den vermitteln aber auch die „prosaischen“ Nachdichtungen keineswegs genauer, obwohl sie doch auf die für die Akmeisten sakrosankte Harmonie von Vers und Strophe verzichten. Anna Achmatowas epigrammatischer Vierzeiler „An die Verse“ (1961) gewinnt weder in der freirhythmischen, mit Assonanzen arbeitenden Wiedergabe von Rainer Kirsch seinen vollen Sinn:
Ihr durch die Finsternis ein fallender Stern,
Wege wo keine sind im Weglosen,
Bitterkeit, Lüge, immer neuer Schmerz,
Ihr niemals Trost.
noch in den glatten Reimen der Irmgard Wille:
Ihr führtet wie der Sterne Flüge
durch dunkle Wegelosigkeit,
Ihr waret Bitterkeit und Lüge;
doch niemals wart ihr Trost im Leid.
Außer den Gedichten enthält die Ausgabe von Irmgard Wille und Rosemarie Düring ohne ersichtlichen Grund fünf Briefe Boris Pasternaks an die Achmatowa (das Pasternak gewidmete Gedicht aber fehlt) und vier Dutzend überaus eindrucksvoller Fotos, darunter wenig bekannte Privataufnahmen der Dichterin. Daß auch ein Teil der Handschrift des „Poems ohne Held“ in Fotoreproduktion in den Band geriet (die man wieder eher in der anderen Ausgabe erwarten könnte), gehört, wie das Neben- und Durcheinander verschiedener Transkriptionsweisen und einige entstellende Druckfehler, zu den Absonderlichkeiten dieser Auswahl. Trotz allem: Anna Achmatowa wird uns durch die beiden Bände ein gutes Stück näher gebracht.
Reinhard Lauer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.7.1988
Am 22. Juni 1959 richtete Anna Achmatowas Gönner, der Kulturfunktionär Aleksej Surkow, einen Brief an den Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow: „Ich halte es für meine Pflicht“, schrieb er unter anderem, „Ihre Aufmerksamkeit auf eine alte (im Sinne von ,vorrevolutionäre‘, G. D.) russische Schriftstellerin zu lenken, die in der zweiten Junihälfte ihren siebzigsten Geburtstag begeht. Es handelt sich um Anna Andrejewna Achmatowa, deren Poesie im Beschluß des ZK der AKP(b) ,Über die Fehler der Redaktionen der Zeitschriften Swesda und Leningrad‘ streng kritisiert wurde. Diese Kritik war ihrem Ton nach äußerst scharf, ihrem Wesen nach jedoch richtig, weil die Dichterin, die in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges zusammen mit ihrem Volk einen großen moralisch-politischen Aufschwung erleben durfte, im ersten Nachkriegsjahr eine Reihe tief pessimistischer Gedichte veröffentlicht hat. (…) Die Kritik der Partei ging nicht spurlos an ihr vorüber.“ Surkow meinte damit offensichtlich den berüchtigten Ogonjok-Zyklus, von dem sich Achmatowa seinerzeit die Freilassung ihres Sohnes erhofft hatte.
In all diesen Jahren war auch ihre staatsbürgerliche Haltung einwandfrei. Als der verstorbene M. Soschtschenko es während des Leningrader Treffens mit einer Gruppe reaktionärer englischer Studenten fertigbekam, diese aufdringlichen Gäste gegen den Beschluß des Zentralkomitees aufzubringen, erteilte Anna Achmatowa ihnen eine entschlossene und scharfe Abfuhr. Lange vor dem Rummel im vorigen Jahr um die Verleihung des Nobelpreises an B. Pasternak hörte ich von Achmatowa Worte scharfer Verurteilung über die künstlerischen Schwächen und politischen Tendenzen des Romans Doktor Schiwago, den sie im Manuskript gelesen hat, das ihr von Pasternak persönlich überreicht worden war.
Nach diesen für die Dichterin mehr als fragwürdigen Lobesworten kam der Literaturfunktionär auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen:
Irgendeine Form staatlicher Anerkennung des halben Jahrhunderts schriftstellerischer Laufbahn von Anna Achmatowa (…) wäre ein schwerer Schlag für all diejenigen Reaktionäre und schwankenden Intellektuellen, die es bis heute nicht schaffen, sich von dem berüchtigten ,Fall Pasternak‘ loszulösen.
Anna Achmatowa versus Boris Pasternak – das war der neue Trumpf, mit dem Surkow die Lage seines Schützlings radikal verbessern wollte. Als Jesuit unter Jesuiten wußte er sehr genau, welcher Art von heuchlerischer Logik der Apparat am ehesten folgen würde. In den einschlägigen Kreisen ließ sich elementare Gerechtigkeit immer noch am besten als Tracht Prügel für den Klassenfeind verkaufen. Die Wahrheit indes war simpel: Chruschtschow bereitete sich gerade auf sein Gipfeltreffen mit dem US-Präsidenten Eisenhower vor. Das riesige Sowjetreich lechzte danach, endlich wieder von der freien Welt gestreichelt zu werden. Im November 1958 hatte die Moskauer Führung einen Pyrrhus-Sieg errungen. Nach einer schmutzigen Propagandakampagne, in deren Verlauf Semitschastnyj, der Minister für Staatssicherheit, Boris Pasternak öffentlich mit einem Schwein verglichen hatte, war es gelungen, den anfänglichen Widerstand des Dichters zu brechen. Aus Angst vor einer Zwangsausbürgerung verzichtete er auf den Nobelpreis für Literatur. Das internationale Ansehen der Sowjetunion war damit auf dem Tiefpunkt angelangt.
In derselben Woche, als sich Pasternak vom eigenen Ruhm öffentlich distanzierte, erschien bei einem Moskauer Verlag das Buch Gedichte von Anna Achmatowa, mit einer gemessen an den Bedürfnissen der Leser geradezu lächerlichen Auflage von 25.000 Exemplaren und einem Umfang von 131 Seiten. Das schmale Büchlein, von Freunden wegen seines roten Einbands ironisch als „Kommunistisches Manifest“ bezeichnet, war das Produkt eines doppelten Kompromisses: Aleksej Surkows Zugeständnisse gegenüber der offiziellen Zensur wurden durch Anna Achmatowas erzwungene Nachsicht gegenüber Surkow ergänzt. Das Ergebnis: Ein großer Teil des Bandes bestand aus den Nachdichtungen koreanischer, polnischer, rumänischer und bulgarischer Dichter – allesamt Früchte der materiellen Armut Achmatowas und nicht der Inspiration. Das Wichtige an dieser Veröffentlichung war jedoch, daß ein fünfzehn Jahre andauerndes Publikationsverbot endlich durchbrochen worden war. Auf viele alte und neue Gedichte mußte Achmatowa verzichten, weil die tragischen Ereignisse ihrer Laufbahn auf keinen Fall sichtbar werden sollten. Dennoch blieb der Zyklus über die „Nicht-Begegnung“ mit Isaiah Berlin, selbstverständlich ohne Nennung seines Namens, sowie einige Fragmente aus dem „Poem ohne Held“ erhalten.
Achmatowa hatte seinerzeit die Entscheidung der Schwedischen Akademie begrüßt und Pasternak persönlich gratuliert, obwohl sie den Doktor Schiwago aus ästhetischen Gründen sehr kritisch beurteilte. Was die lynchjustizähnliche Kampagne gegen Pasternak betraf, die Achmatowa seelisch stark belastete, so sagte sie öffentlich kein Wort darüber. Ihr dies vorzuwerfen, wäre jedoch nicht nur ungerecht gegenüber der nun alten, kranken und immer noch ausgegrenzten Dichterin, sondern auch unhistorisch. Offene Formen der intellektuellen Solidarität, die noch wenige Jahre zuvor ein sicheres Todes- oder Verbannungsurteil gewesen wären, gab es zu dieser Zeit in der Sowjetunion noch nicht, und mit individuellen Auftritten konnten die Protagonisten nur sich selbst schaden, ohne gleichzeitig den Betroffenen helfen zu können.
Inwieweit Surkows Brief, den der Generalsekretär tatsächlich gelesen hat (einer Randbemerkung seines Mitarbeiters Wladimir Lebedjew auf der Akte zufolge), direkt hilfreich war, ist unklar. Offensichtlich aber war, daß der XXII. Parteikongreß der KPdSU sich auf Achmatowas weiteren Werdegang positiv auswirkte. Dieser Kongreß im Oktober/November 1961 legte nicht nur ein exaktes Kursbuch der kommunistischen Entwicklung fest, sondern bestätigte auch die antistalinistische Linie des XX. Parteitags. Im Grunde wiederholte man die Thesen und Behauptungen aus Chruschtschows Geheimrede im Februar 1956, aber diesmal vor der Öffentlichkeit des Riesenreichs. Diejenigen, die sich weiterhin zu Stalin bekannten, wurden aus der Partei ausgeschlossen, und Stalins Leichnam wurde aus Lenins Mausoleum entfernt. Diese nicht eben geschmackvolle Maßnahme – geschmackloser war vielleicht nur die Einrichtung des Mausoleums überhaupt – erwies sich als historische Grenzziehung: Die Exhumierung eines Pharaos ist nie mehr rückgängig zu machen.
Die sowjetischen Intellektuellen, unter ihnen die Literaten, erwarteten von dem Kongreß eine geistige Erneuerung des Landes. Vieles sprach für eine solche Entwicklung. Die junge Poetengeneration um Jewgenij Jewtuschenko durfte auf offenen Plätzen und in Stadien einer begeisterten Menschenmenge ihre Gedichte vortragen. Zahlreiche Autoren konnten plötzlich ins westliche Ausland reisen und dort lizensierte Ausgaben ihrer Werke veröffentlichen. Die eigentliche Sensation ereignete sich jedoch im November 1962, als die Zeitschrift Nowyj Mir eine Erzählung von Aleksandr Solschenizyn, „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, veröffentlichte. Außer der Beharrlichkeit des Chefredakteurs Aleksandr Twardowskij war dieser Durchbruch dem bereits erwähnten Wladimir Lebedjew zu verdanken, der seinem Chef Chruschtschow einige Passagen aus dem Manuskript vorgelesen und diesen von der Notwendigkeit einer Publikation überzeugt hatte, vor allem aber dieses kühne Vorhaben über den Kopf der gewaltigen Zensurmaschinerie hinweg verwirklicht hatte.
Der bis dahin unbekannte Mathematiklehrer Solschenizyn aus Rjasanj wurde von heute auf morgen weltberühmt. Er war der erste, der den Stalinschen Terror offen thematisierte, und er legitimierte damit in der Sowjetunion eine „Kunstgattung“, die in glücklicheren Ländern eher den Historikern oder einfach den Liebhabern des Exotischen vorbehalten ist: Die Entdeckung weißer Flecken in der Geschichte.
„Weiße Flecken“ – das war der Titel eines Aufsatzes, den der Romancier Weniamin Kawerin in der Zeitschrift Nowyj Mir veröffentlichen wollte. Er versuchte darin seinen Jugendfreund und Mitstreiter aus der literarischen Strömung „Serapionsbrüder“ der zwanziger Jahre, den 1958 verstorbenen Michail Soschtschenko, zu rehabilitieren. Möglicherweise glaubte Kawerin, daß nach Stalins Entthronisierung sein Chefideologe Schdanow auch nicht mehr tabu sein dürfte. Doch er mußte schon bald eine herbe Enttäuschung erleben. Das Manuskript „Weiße Flecken“ lag monatelang in der Redaktion der Nowyj Mir herum und mußte dann an den Autor zurückgesandt werden. Der Zensor Wiktor Golowanow erwies sich als unbeugsam, und eigentlich hatte er in seiner Verbotspraxis noch weiter gehen wollen. Am 12. Dezember 1962 schrieb er in sein Tagebuch:
Ich überreichte der Genossin Semjonowa (Mitarbeiterin der ZK-Abteilung für Literatur, G. D.) eine Auswahl der Gedichte von Achmatowa; sie sind für die Publikation ungeeignet.
Das gleichzeitige Mattsetzen von Soschtschenko und Achmatowa durch die Zensur bedeutete, daß die Angst der Behörden einen gemeinsamen Nenner hatte: Man wollte auf keinen Fall am Parteibeschluß von 1946 rütteln.
Anna Achmatowa und ihr Umfeld saßen den gleichen Illusionen auf wie Kawerin. Auf einen Anruf von Twardowskij hin reichte die Dichterin bei der Nowyj Mir einen ganzen Zyklus ein, der entgegen seinem Titel „Aus den neuen Gedichten“ teilweise auch ältere Werke beinhaltete. Die Argumente des Zensors Galawanow erwiesen sich offensichtlich als wenig stichhaltig, weil es der Redaktion in diesem Fall gelang, das Publikationsvorhaben zu realisieren. Der Zyklus wurde 1963 in der Januarausgabe veröffentlicht.
Als Aleksandr Twardowskij am 20. Oktober 1962 von Chruschtschow empfangen wurde, beschwerte er sich über die Schwierigkeiten seiner Zeitschrift mit der Zensur betreffs Kawerin. Er sagte dem Kremlchef, seiner Ansicht nach sei „der ZK-Beschluß über die Literatur aus dem Jahre 1946 vom Leben überholt, hoffnungslos veraltet, niemand wagt ihn zu zitieren. Das Schiff der Literatur stößt sich trotzdem mit seinem Kiel an diesem Stein unter Wasser.“
In Literatenkreisen wurde danach die Version verbreitet, Chruschtschow habe gegenüber Twardowskij beteuert:
Den Beschluß von 1946 kann man ignorieren…
Tschukowskaja überbrachte Achmatowa die freudige Nachricht, und diese sagte mit einem Stoßseufzer:
Schade, daß Mischenka (Soschtschenko, G. D.) das nicht mehr erleben durfte!
Und auch sie verbreitete überall das schöne Märchen vom Ende des Schdanowismus.
Groteskerweise hatte auch diese freundliche Legende einen wahren Kern. In den frühen sechziger Jahren fand in aller Stille auf einem Nebenschauplatz, im Bereich des sowjetischen Lexikonwesens, ein Kleinkrieg statt. In einem anderen Zusammenhang habe ich bereits darauf hingewiesen, daß Lexika, Enzyklopädien und Definitionssammlungen aller Art in der Sowjetunion nicht nur unentbehrliche Handbücher, sondern auch Orakel der sich immer schneller wandelnden offiziellen Auffassungen darstellten. So verschickte die Redaktion der Großen Sowjetenzyklopädie nach dem XX. Parteikongreß an die Abonnenten des Riesenwerks ein merkwürdiges vierseitiges Korrekturblatt. Es enthielt den Vorschlag, das Stichwort „Berija“ zu entfernen, getrost in die Mülltonne zu werfen und statt dessen einen geschwätzigen Aufsatz über die Beringstraße einzukleben.
Vielleicht wollten die Redakteure der Kleinen Literaturenzyklopädie ihren Lesern eine ähnlich mühevolle Arbeit ersparen, als sie sich während der Vorarbeiten zum ersten Band gezwungen sahen, an die allerhöchste Instanz zu appellieren. Die Dringlichkeit des Hilferufs hing mit der alphabetischen Natur von Lexika zusammen: Gleich zu Anfang des Buches lauerte die Gefahr, über Anna Achmatowa Bewertendes schreiben zu müssen.
Aleksej Surkow als Vorsitzender des Redaktionsausschusses und Leonid Schaumjan, Leiter des wissenschaftlichen Rates in der Redaktion, nahmen dies zum Anlaß, die Genossen in ihrem Brief vom 12. Februar 1962 über die „Notwendigkeit der Überprüfung der Charakteristik mancher sowjetischen Schriftsteller und der Einschätzung einiger ihrer Werke im Lichte der Entscheidungen des XX. und des XXII. Parteitags der KPdSU“ zu überzeugen. Zu Anna Achmatowa und Michail Soschtschenko meinten sie, es sei „neben der Erwähnung der Unzulänglichkeiten in ihrem Œuvre unzweckmäßig, die scharf negativen Einschätzungen des ZK-Beschlusses zu wiederholen.“ Das höchste Machtgremium des Landes reagierte schnell und überraschend positiv. Es verfügte, in der Kleinen Literaturenzyklopädie seien Kraftausdrücke wie „unsowjetisch“, „abgeschmackt“ oder „literarischer Schurke“ in der Tat „unzweckmäßig“ und daher zu meiden. Über die keineswegs harmloseren Termini „Dirne“ und „Nonne“ wurde nichts gesagt. Das historische Dokument wird von den Unterschriften der Politbüromitglieder Michail Suslow, Boris Ponomarjow, Leonid Iljitschew, Frol Koslow und Aleksandr Schelepin geziert.
Umso erstaunlicher ist es, daß im Resultat das Stichwort „Achmatowa“ bei den Genossen auf wenig Begeisterung stieß. In einem auf den 18. Juli 1962 datierten Bericht über die „ernsthaften Unzulänglichkeiten“ des ersten Bandes der Kleinen Literaturenzyklopädie warfen sie den Autoren vor:
Es ist allgemein bekannt, wie kompliziert und widersprüchlich die schöpferische Laufbahn von A. Achmatowa gewesen ist. Es gab bei ihr nicht wenige Irrtümer und Brüche. Dennoch wird die Dichterin in dem ihr gewidmeten Artikel in einer ,geschönten‘ Art und Weise geschildert, über ihre Fehler wird nur nebenbei und versöhnlich gesprochen.
Auf der Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU von 31. August 1962 wurde unter anderem der Bericht über – oder eher gegen – die Literaturenzyklopädie thematisiert. Die Genossen hatten jedoch offensichtlich wenig Lust, sich am Beispiel Achmatowa in die eigene Vergangenheit zu vertiefen. Man forderte die Autoren des Nachschlagewerkes auf, „die Arbeit ohne einen ZK-Beschluß fortzusetzen“. Die meisten der verantwortlichen Kulturfunktionäre waren noch von Schdanowscher Schule, und das Machwerk ihres verstorbenen Chefs war und blieb für sie eine heilige Kuh.
Doch der Augustbeschluß sollte immer wieder Schwierigkeiten bereiten. Zwei Jahre später stand die Produktion des zweiten Bandes an, und der Buchstabe S, der neunte im russischen Alphabeth, drohte gleich mit zwei Stichworten: „Soschtschenko“ und „Swesda“. Schaumjan wollte mit seinem Brief vom 8. Oktober 1964 vermutlich einem erneuten Rüffel seitens der Genossen vorbeugen:
Angesichts der Wichtigkeit dieser Frage halten wir uns nicht für berechtigt, diesen Beschluß (gegen die Swesda, G.D.) ohne die Erlaubnis des ZK der KPdSU zu charakterisieren. Ich bitte um Ihre Instruktionen.
Der als Anlage zum Brief verschickte Artikel zum Stichwort Swesda war, wahrscheinlich unter Mitwirkung von Surkow, geradezu radikal formuliert:
Die Zeitschrift Swesda wurde scharf kritisiert im Beschluß des ZK „Über die Zeitschriften Swesda und Leningrad“, vom 16. August 1946. Der Beschluß machte es zu Recht zur Aufgabe der Zeitschriften, daß sie den kommunistischen Ideengehalt der von ihnen veröffentlichten Werke erhöhen sollten. Gleichzeitig trug dieser unter dem direkten Einfluß Stalins gefaßte Beschluß den Stempel des administrativen Verhältnisses zur Literatur, er spiegelte Stalins schädliche Theorie über die Verschärfung des Klassenkampfes im Maße der fortschreitenden Entwicklung des Sozialismus wider. Der Beschluß war, was seinen Ton anbelangt, grob und beinhaltete unbegründet scharfe Charakterisierungen einzelner Autoren.
Im bibliographischen Teil des Stichworts wurden weder Schdanows Rede noch der Beschluß selbst erwähnt. So weit war die Anwendung von Chruschtschows Stalinkritik auf das Phänomen „Schdanowschtschina“ noch nie gegangen.
Die mittlere ZK-Ebene reagierte am 16. Oktober 1964 äußerst vorsichtig auf den Artikel. Sie kommentierte mit keinem Wort den beispiellosen Ausfall gegen ein nach wie vor gültiges ZK-Dokument, sondern formulierte lakonisch:
Wir halten es für richtig, dem Genossen Schaumjan vorzuschlagen, aus den Artikeln „Swesda“ und „Soschtschenko“ die Erwähnung des Beschlusses (…) zu entfernen.
Aus Gründen der Rückversicherung wurde die graue Eminenz Michail Suslow von dieser Meinungsäußerung schriftlich unterrichtet, und er kritzelte in seiner zittrigen Handschrift auf das Blatt:
Man kann damit einverstanden sein. 17.X.64. Suslow.
Der Zeitpunkt war nicht unwichtig, denn zwei Tage zuvor hatte sich das Plenum des ZK der KPdSU zusammengesetzt und eine erneute historische Wende eingeleitet. Der Stalin-Entlarver Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der in diesen Tagen einen Urlaub auf der Krim verbrachte, wurde durch eine unblutige Palastrevolution gestürzt.
Damit die ganze Absurdität des Tauziehens um die alternde Dichterin begreiflich wird, muß ich darauf hinweisen, daß die sowjetische Führung während des von Surkow ausgelösten „Lexikonkriegs“ durchaus noch einige andere Sorgen hatte. Im Oktober 1962 kam es aufgrund der in Kuba stationierten sowjetischen Raketen zur sogenannten Kubakrise, die fast zum Dritten Weltkrieg geführt hätte. 1963 begann die Entzweiung mit China und die Spaltung des Weltkommunismus. Im Sommer 1963 erlebte die sowjetische Landwirtschaft eine katastrophale Mißernte, und die Regierung war gezwungen, Getreide aus den USA für Gold zu importieren. Direkt oder indirekt beteiligte sich Moskau an zahlreichen lokalen Konflikten wie dem Vietnamkrieg oder der Zypernkrise und finanzierte ein enormes konventionelles und nukleares Rüstungsprogramm.
Selbst im kulturellen Bereich war die Parteiführung voll ausgelastet. Um die durch die bescheidene Liberalisierung freigesetzten Kräfte wieder unter Kontrolle zu bringen, organisierte man im Kreml zwischen Dezember 1962 und März 1963 zwei „Begegnungen der Führer der Partei und des Staates mit den Vertretern der schöpferischen Intelligenz“, im Grunde eine großangelegte Einschüchterungsaktion gegen allerlei neue Nonkonformisten: Avantgardekünstler, kritische Filmregisseure, Theaterleute, Memoirenschreiber sowie Anhänger moderner Tänze, vor allem des Twist, der als Hauptfeind galt. Doch alles war vergeblich: Die Schdanowsche Ordnung konnte niemals mehr wiederhergestellt werden.
Achmatowa hatte wenig mit dieser literarischen Fronde zu tun. Sie bevorzugte immer noch die „sympathische Tinte“, die Sprache der Geheimbotschaften. So versah sie ein in der Januarnummer 1963 der Nowyj Mir veröffentlichtes Gedicht mit dem Motto:
Sie schreiben über uns mit schrägem Blick.
Den Urheber dieser Aussage bezeichnete sie als „I. B.“ Einige Zeitgenossen meinten, mit „I. B.“ sei der verstorbene russische Prosaiker und Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin gemeint. Mir hingegen, welch Wunder, fiel als erstes Isaiah Berlin ein.
In Wirklichkeit verbarg sich hinter den Initialen ein junger Freund Achmatowas, der Dichter Jossif (Iossif) Brodskij. Dieser erschien zum ersten Mal Anfang August 1962 in Komarowo und brachte der Dichterin Rosen mit, ihre Lieblingsblumen. Außerdem beschenkte er sie mit einem verspäteten Geburtstagsgedicht, aus dem das Zitat stammt. Merkwürdigerweise tauchen das Motto und die Anfangsbuchstaben „I. B.“ in Achmatowas späteren Werkausgaben nicht mehr auf – wenigstens nicht in denen, die noch unter Surkows Aufsicht erschienen sind. Der wohlwollende Zensor hielt den Namen Brodskijs wegen dessen Prozeß, Verbannung und späterer Ausbürgerung selbst noch in dieser verklausulierten Form für unakzeptabel.
Der deutsche Journalist Willi Bongard besuchte zusammen mit einer Dolmetscherin namens Rita die Bewohnerin der „Budka“ in Komarowo bei Leningrad. Der Besuch muß vor Mitte September 1962 stattgefunden haben, denn den Winter verbrachte die Dichterin meistens bei Moskauer Freunden, und Bongards Aufsatz erschien in der Hamburger Zeit am 5. Februar 1963. Er begann gleich mit einer scharfen Beobachtung:
Merkwürdig, als wir auf ihre Datscha zugingen, winkte uns die alte Dame hinter ihrem Fenster zu, gerade so, als ob sie uns erwartet hätte. Davon konnte keine Rede sein; es war mir peinlich genug, daß ich ihre Anschrift erst am Vormittag hatte auskundschaften können.
Tatsächlich war dies eine Eigenheit der altgewordenen Anna Achmatowa: Sie stand am Fenster ihrer Hütte und wartete ungeduldig auf Gäste, die sich gar nicht angekündigt hatten. Sie befand sich in einem Zustand permanenter Neugier sowie in einer ständigen Bereitschaft, Menschen zu begegnen, Ereignisse aufzunehmen. Margarita Aliger beschrieb diesen Zustand so:
Sie wollte bereits am frühen Morgen wissen, ob am Abend jemand kommen würde. Nicht nur vorbeikommen, sondern als Gast für den ganzen Abend – um zu sitzen, Tee zu trinken, zu reden. Sie wurde nervös, wenn das Telefon zu selten klingelte.
Und sie fügte noch eine Geschichte hinzu: Einmal, als Achmatowa bei ihr in Leningrad wohnte, mußte die ganze Familie fortgehen. Aliger wollte die alte Frau nicht allein lassen, sondern lieber jemanden finden, der sich um sie kümmert. Achmatowa beruhigte jedoch ihre Gastgeberin, sie bleibe gern allein. Daraufhin verließ auch Aliger die Wohnung, mußte jedoch, da sie etwas vergessen hatte, noch einmal zurückkommen. So hörte sie zufällig, wie Achmatowa im Nachbarzimmer telefonierte. Sie bat eine ihrer jungen Freundinnen inständig, gleich zu ihr zu kommen, weil sie ganz allein sei. „Dieses ,ganz allein‘“, so erinnerte sich Margarita Aliger, „wiederholte sie mit einer solchen Verzweiflung, daß man fühlen konnte, wie unerträglich dieses Alleinsein für sie war.“ Tatsächlich blieb sie in ihren letzten Jahren kaum eine Minute lang allein. Dutzende von Freundinnen und Freunden waren bereit, sie zu beherbergen, ihren Alltag zu organisieren, sie überallhin zu begleiten – aber sie war chronisch einsam.
Achmatowa lebte als alte Frau sehr einfach, geradezu armselig, obwohl sie mittlerweile mit ihren Übersetzungsaufträgen recht gut verdiente. Sie unternahm keinerlei Anstrengungen, Komfort in ihren Alltag zu bringen oder eine eigene Wohnung für sich zu beanspruchen. Sie freute sich fast kindlich über jedes Geschenk und verschenkte es dann weiter. Selbst mit ihren zahlreichen Schals, die sie sehr mochte, verfuhr sie so. Offensichtlich behielt ihr Credo aus dem Jahre 1921 ein Leben lang Gültigkeit:
Belaste nicht mit eitler Freud’ dein Herz
Gib niemals es ans Heim noch an den Gatten
Dem eignen Kind füg zu Verzichtes Schmerz
um Brot für solche, die es selten hatten.
Ebenso hielt sie sich immer an den eigenen kategorischen Imperativ:
Und bitte Gott um nichts.
Einerseits hing diese Anspruchslosigkeit mit der Überzeugung zusammen, daß es besser ist, in einem Staatswesen, das für die Bürger eine kontinuierliche Bedrohung bedeutet, nichts zu besitzen, was etwa bei einer Verhaftung zurückgelassen werden müßte. Andererseits handelte es sich hier nicht um irgendeinen trockenen Puritanismus, denn Achmatowa wußte Speisen, Getränke und bis zu ihrem dritten Herzinfarkt 1961 auch das Rauchen zu genießen und mochte Witze, die nicht immer fein waren. Vor allem betrachtete sie als Gegenstück zu ihren Entbehrungen und Leiden die eigene Dichtkunst und alles, was damit zusammenhing, als höchste Genußquelle. Auch gab es einen Gegenstand, den sie am liebsten im Safe einer Zürcher Bank aufbewahrt hätte: Ihren schäbigen Koffer aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in dem sie die wichtigsten Manuskripte aufbewahrte.
Mit weiter voranschreitendem Alter, als sich die strenge Selbstkontrolle über ihr öffentliches Verhalten allmählich lockerte, tauchte bei ihr eine Eigenschaft auf, die es vorher nicht gegeben oder die sie konsequent unterdrückt hatte: Die Liebe zum Ich, zur eigenen Geschichte und Dichtung. Sie bewunderte ihre alten Fotos, freute sich über wiedergefundene Gedichte aus der „Silbernen Zeit“ oder über Artikel aus westlichen Zeitungen, in denen man ihren Namen erwähnte. Zunehmend entdeckte sie die Sehnsucht nach Ruhm, den sie früher spöttisch „das Spielzeug der Welt“ genannt hatte.
Die Freundin Natalja Iljina erinnert sich:
Aber jetzt war dieses Spielzeug für Achmatowa mehr und mehr tröstlich. Für materielle Güter hatte sie, ihren eigenen Worten gemäß, „keine Aufmerksamkeit“, in der Leningrader Wohnung wohnte sie kaum, in Moskau wanderte sie von einem Freund zum anderen, den Sommer verbrachte sie in ihrer „Budka“ in Komarowo, ihr Pelzmantel war alt und die Schuhe unbequem. Aber Ehrerbietung, Schmeichelei, die ängstlichen Verehrer beiderlei Geschlechts, die Blumen, die Anrufe, der ganze mit Besuchern ausgefüllte Tag, das Lesen von Einladungen oder wenigstens anwesend zu sein – das alles wurde ihr zur Notwendigkeit.
Ruhm bedeutete für sie nicht ein schmales oder dickes Buch mit einer Einleitung von Surkow. Die Dichterin, das einsamste Wesen der Welt, wollte von der Welt umarmt werden. In den Gesprächen zwischen Achmatowa und ihren Freunden kam immer häufiger das Zauberwort „Nobelpreis“ vor.
Gleichzeitig wurde Anna Achmatowa verletzlicher denn je, und vor allem über Nachrichten aus dem Ausland konnte sie sich maßlos erregen. Wenn der exilrussische Literaturhistoriker Gleb Struwe aus Paris ihre Rolle in Nikolaj Gumiljows Leben unterschätzte oder ihr nichts als „Schweigen“ in den zwanziger Jahren unterstellte, geriet sie außer Rand und Band vor Zorn. Die tatsächlich zweifelhaften italienischen und französischen Nachdichtungen ihrer Poesie empfand sie, so berichtete der deutsche Besucher Bongard, „unzulänglich bis unerträglich“. „Sie empfängt uns in einem hohen Sessel hinter einem kleinen Schreibtisch, der im rechten Winkel zum Fenster steht, dem einzigen, das dem bäuerlich einfachen Raum Licht gibt“, berichtet Bongard.
Ein Bett aus rohem Holz gezimmert an der einen Wand – und noch eines mit bunten Wolldecken überzogen an der anderen. Ein paar Bücherbretter in der Ecke, nicht einmal ganz gefüllt, auf einem kleinen Tisch ein altes Radio und ein Plattenspieler. Kein Schrank, kein Teppich; aber zwei Ikonen.
Zum Abschied wollte Achmatowa dem Besucher ein Gedicht mitgeben. Sie rief nach ihrem Assistenten, einem jungen Mann im Rollkragenpullover (dem Dichter Anatolij Najman, mit dem zusammen sie Leopardi übersetzte und der die Funktion des Privatsekretärs versah), der es im Nebenzimmer in die Maschine schrieb. Die Zeit veröffentlichte das Mitbringsel im russischen Originaltext und in deutscher Übersetzung. Es handelte sich um einen Monolog aus dem Drama Prolog oder Traum im Traum.
Er spricht:
Du, dreimal so bezaubernd wie die Engel,
bist du der Weide Schwester auch am Fluß,
ich bring dich dennoch um mit meinem Lied
und ohne daß dein Blut die Erde tränkt.
Ich rühre dich mit meiner Hand nicht an,
ich seh’ dich nicht und liebe dich nicht mehr (…)
Alle maßgeblichen Achmatowa-Forscher sind sich darin einig, daß dieser „Er“ die poetische Verdichtung des „Gastes aus der Zukunft“ war.
„Achmatowa“, so erinnerte sich Anatolij Najman, „sprach über ihn immer lustig und respektvoll (…) sie hielt ihn für eine bedeutende Gestalt im Westen, (…) und daß er jetzt für sie ,das Nobelchen‘ durchsetzen will – mit diesem Diminutiv streichelte die Dichterin den angesehensten Literaturpreis der Welt. Im Gespräch nannte sie ihn häufig ironisch-respektvoll ,Lord‘, seltener ,Sir‘. (…) ,Sir Isaiah, der beste Gesprächspartner Europas‘, sagte sie einmal. ,Churchill lädt ihn gerne zum Mittagessen ein‘“.
Die Legende über Churchill wurde, möglicherweise von Achmatowa selbst, weiter kolportiert. So schwärmte der befreundete Literaturkritiker Lew Oserow in seinem Tagebuch:
Isaiah Berlin kennt sie, 1946 (1945, G. D.) war er bei ihr in Leningrad und blieb fast bis zum frühen Morgen. Es stellte sich heraus, daß Berlin in dieser Zeit Churchills Referent war.
Der Sprachwissenschaftler Wjatscheslaw („Koma“) Iwanow, Sohn des berühmten Schriftstellers Wsewolod Iwanow, ließ eine völlig neue Version des Mythos über den „Gast aus der Zukunft“ entstehen, indem er diesen zum Statisten degradierte:
Anna Achmatowa erzählte mir, als Churchills Sohn in Rußland war, wollte er sie sehen. Er konnte aber nicht kommen, weil er betrunken war. Er schickte nur einen Bekannten (…).
Während Achmatowa hemmungslos ihre Phantasie spielen ließ, war sie sorgfältig darauf bedacht, das Geheimnis vor Personen zu hüten, die sie nicht zu ihrem vertrauten Kreis rechnete. So erfuhr Kornej Tschukowskij, den sie zwar respektierte, aber aufgrund seiner früheren systemkonformen Haltung aus einer gewissen Distanz betrachtete, so gut wie nichts über ihre Begegnung mit Sir Isaiah Berlin. Der alte Schriftsteller ahnte selbst dann noch nichts, als er im Juni 1962 zum Ehrendoktor der Oxforder Universität ernannt wurde. Erst im Frühjahr 1965, als Achmatowa ihre Reise nach Oxford vorbereitete, ging ihm ein Licht auf.
„Gestern hat Anna Achmatowa angerufen“, lesen wir in Tschukowskijs Tagebuch vom 27. Mai. 1964.
Ich gab ihr am Telefon ziemlich dumme Ratschläge. (…) Unter anderem erzählte ich ihr, was für ein wundervoller Mensch Sir Isaiah Berlin sei, wie gut und warmherzig er sei usw. Plötzlich sagte mir Lida (Tschukowskaja, G. D.) nebenbei, daß A. A. Berlin besser kennt als ich, denn sie hatte in den vierziger Jahren in Leningrad (oder in Moskau) einen Roman mit ihm, viele ihrer Gedichte (…) seien ihm gewidmet, und er sei der Initiator ihrer Krönung. Er sei sehr einflußreich und organisiere ihr selbstverständlich eine pompöse Begegnung. Sie verfüge aber über eine lange Liste von Don Juans. Sie habe einiges, woran sie sich nachts erinnern könne.
Von regelmäßigen Kontakten zwischen dem Oxforder Professor und der Dichterin konnte selbst in dieser relativ liberalen Zeit keine Rede sein. Meine Frage, ob er je versucht habe, direkt oder über Vermittler Anna Achmatowa anzusprechen, beantwortete Sir Isaiah 1995 in London mit einem kurzen und sehr kategorischen „Njikogda“ (niemals).
Anatolij Najman, der vielleicht am meisten über die letzten Jahre Anna Achmatowas weiß, erinnerte sich, daß sie ihm Berlins Essayband Der Igel und der Fuchs und nach ihrer Rückkehr aus England einen britischen Soldaten-„Flachmann“ schenkte, den sie von Sir Isaiah Berlin bekommen hatte. Irgendwelcher Schriftverkehr zwischen 1956 und 1965 ist nicht überliefert.
Hin und wieder gab es jedoch gemeinsame Bekannte. So arbeitete eine Zeitlang Martin Edward Malia, amerikanischer Slawist und Professor der California University, in Moskauer Archiven. Sein Thema, Aleksandr Herzens Lebenswerk, war Isaiah Berlins Forschungsgebiet, und auch Lidija Tschukowskaja beschäftigte sich mit jener Zeit. So kam es zu intensiven Gesprächen zwischen Malia und Tschukowskaja, die schon bald Achmatowas Aufmerksamkeit weckten.
„Sie begann mich über Malia auszufragen“, berichtete Tschukowskaja in ihrer Tagebucheintragung vom 16. November 1962.
Ich habe mich ein bißchen darüber beklagt, daß er manchmal zu lange bei mir sitzt und ich von den Gesprächen müde werde, obwohl es für mich interessant ist, mit ihm zu sprechen. (…) „Nichts Verwunderliches gibt es daran, daß Malia so lange bei Ihnen sitzt“, sagte sie. „Malia ist doch ein Freund von Sir Isaiah, und der saß bei mir einmal zwölf Stunden ununterbrochen und hat damit den Beschluß verdient“…
Aufregend war jedoch, was der Amerikaner als Zitat seines Mentors Berlin der Dichterin direkt mitteilte:
Achmatowa und Pasternak haben mir die Heimat zurückgegeben.
Berlin meinte damit die Begegnungen im Herbst 1945, die in ihm die „russischen“ Gefühle aktualisiert hatten. Achmatowa fügte hinzu: „Schmeichelhaft, nicht wahr?“ Lassen die Worte des Briten ein für ihn ungewöhnliches Pathos erahnen – allein das Wort „Heimat“ klingt aus seinem Mund wie ein Gebet – so erscheint Achmatowas Reaktion äußerst kühl. Dabei mußten solche Lobpreisungen Öl sein für ihre Wunden, sie mußten ihr Trost für all die Schrecklichkeiten vermitteln, die sie ihrer festen Überzeugung nach jener einzigen Novembernacht des Jahres 1945 zu verdanken hatte.
Aus dem „Nobelchen“ wurde dann leider doch nichts. Offensichtlich war die Königlich-Schwedische Akademie von dem Skandal um Pasternak beeinflußt. Studiert man die Geographie ihrer folgenden Entscheidungen, so entsteht der Eindruck, sie wollten vor allem einen großen Bogen um Rußland machen. Der Italiener Salvatore Quasimodo (1959), der Franzose Saint-John Perse (1960), der Jugoslawe Ivo Andric (1961), der Amerikaner John Steinbeck (1962), der Grieche Iorgos Seferis ( 1963) stammten alle aus Ländern, die keine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion hatten. Die Entscheidung zugunsten ihrer Auszeichnung löste keine Affäre aus. Erst Jean-Paul Sartre (1964) sorgte für Aufsehen, indem er den Preis ablehnte. Unter anderem warf er dem Komitee vor, Michail Scholochow unverzeihlicherweise ignoriert zu haben.
Im nächsten Jahr wurde dann der Autor des Stillen Don mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Die Moskauer Kulturfunktionäre triumphierten. Kaum ein halbes Jahr später verlangte Scholochow auf dem XXIII. Kongreß der KPdSU sinngemäß die Todesstrafe für die Autoren Andrej Sinjawskij und Jurij Daniel, die wegen unerlaubter Auslandsveröffentlichungen zu sieben bzw. fünf Jahren Lagerhaft verurteilt worden waren.
„Wären uns diese finsteren Kerle in den erinnerungswürdigen zwanziger Jahren in die Hände gefallen“, erklärte der frischgebackene sowjetische Nobelpreisträger, „als wir uns noch nicht auf die einschränkenden Paragraphen des Strafgesetzbuches, sondern auf unser revolutionäres Rechtsbewußtsein beriefen, dann hätten diese Schurken im Schafspelz eine andere Strafe erhalten! Und dabei machen sich einige über die ,Strenge‘ des Urteils Gedanken.“
Es hat wenig Sinn, Scholochows einzigen echten Roman mit Achmatowas Lyrik zu vergleichen. Wenn jedoch nicht er, sondern sie in ihren letzten Lebensjahren diese Auszeichnung erhalten hätte, dann wäre sowohl dem hohen Gremium in Stockholm als auch der sowjetischen Regierung eine große Blamage erspart geblieben.
Eine der letzten Auswirkungen von Chruschtschows kulturpolitischem „Tauwetter“ war das Leningrader „Rundtischgespräch“ der „Europäischen Schriftstellergemeinschaft“ (COMES) im August 1963. Am Rande dieser Tagung traf sich Anna Achmatowa mit dem Vorsitzenden der COMES, dem Italiener Giancarlo Vigorelli. Er überbrachte ihr eine beinahe unfaßliche Nachricht: Die Stadt Catania wollte sie im folgenden Jahr mit dem angesehenen Literaturpreis Ätna-Taormina auszeichnen. Wahrscheinlich sprachen sie bei dieser Gelegenheit bereits über eine Einladung nach Italien.
Wenn es jemanden gab, der imstande war, ein solch kühnes Vorhaben durchzusetzen, dann war es Vigorelli. Zu dieser internationalen Konferenz war es ihm nicht nur gelungen, Jean-Paul Sartre einzuladen, sondern auch den Ungarn Tibor Déry, der noch wenige Jahre zuvor für seine Beteiligung an der Vorbereitung des Volksaufstands 1956 im Gefängnis gesessen hatte. Vigorelli hatte den Sowjets eine heiße Ware anzubieten: Die Mitgliedschaft im internationalen PEN, die ein enormer Prestigegewinn für die UdSSR gewesen wäre.
„Das literarische Unternehmen (gemeint ist COMES als Institution, G. D.) von Signore Vigorelli war“, so urteilte Anatolij Najman, „von prosowjetischer, wenn nicht direkt kommunistischer Richtung. Der damals von Surkow geführte Schriftstellerverband suchte nach Möglichkeiten, sich mit ,realistisch denkenden‘ westlichen Literaten anzufreunden, ohne die eigene Würde zu verlieren. Der noch nicht lange zurückliegende Skandal um Pasternak erschwerte die Annäherung, die von beiden Seiten erwünscht war. Achmatowa erwies sich als (…) ideal für die entstehende Konstellation („Requiem“, Verfolgungen und überhaupt das Unsowjetische für sie; Patriotismus und nichtkonterrevolutionäre Haltung für uns.“)
Vermutlich streckte Vigorelli seine Fühler bereits im Sommer 1963 aus, und als er den Einladungsbrief an Achmatowas Leningrader Adresse schickte, war er sich seines Erfolgs ziemlich sicher. Als geübter Kulturdiplomat verband er zwei Sachen miteinander: die Auszeichnung der Dichterin Anna Achmatowa mit dem Ätna-Taormina-Preis und die nächste Tagung der Europäischen Schriftstellergemeinschaft in Carania, Auf diese Weise konnte Achmatowa als sozusagen offizielles Mitglied der zur Tagung eingeladenen sowjetischen Delegation nach Italienreisen.
In der ersten Begeisterung schickte die Dichterin mit Hilfe von Freunden einen Brief in italienischer Sprache an Giancarlo Vigorelli. Hinter den formal-höflichen Sätzen spürt man eine kaum verhüllte Euphorie – kein Wunder, wenn man bedenkt, daß Achmatowas letzte Auslandsreise zweiundfünfzig Jahre zurücklag. Jede Hoffnung auf eine Begegnung mit der freien Welt hatte sie längst aufgegeben. Bereits 1958, als die erste sowjetische Schriftstellerdelegation ohne sie nach Rom fuhr, hatte sie ihre Reisesehnsucht in einem melancholischen Gedicht begraben:
Die niemand einlud nach Italien
schicken mir ihren Reisegruß,
derweil ich ohne Padua und Rom
im meinem Spiegelland bleiben muß.
Nicht gehe ich den vertrauten Weg
an heiligen sündigen Fresken,
Nicht zwinkere ich noch blinzle ich
den lieben Leonardesken.
Es gab Grund genug zur Melancholie. Die Supermacht Sowjetunion verwahrte ihre Grenzen vor den eigenen Bürgern fast so streng wie vor den vermeintlichen oder tatsächlichen Gegnern. Es erforderte immense Anstrengungen, das Land in Richtung Westen zu verlassen. Individualtourismus in die kapitalistischen Staaten gab es ohnehin nicht, Gruppenreisen fanden nur sehr selten statt, und die Aufnahme in die Liste potentieller Teilnehmer an einer solchen Veranstaltung kam einer Auszeichnung gleich. Vor allem konnte man vorher nie genau wissen, ob sich die Mühe beim Ausfüllen unzähliger Formulare, die Beschaffung von Gutachten am Arbeitsplatz und bei der zuständigen Parteiorganisation gelohnt hatte. Die Bearbeitung der Anträge verlief unter strengster Geheimhaltung, und die Auslandspässe wurden ein oder zwei Tage vor der geplanten Reise ausgehändigt. Ausgenommen hiervon waren nur ein paar Dienstreisen, und einige privilegierte Künstler – unter ihnen die Dichter Jewtuschenko und Wossnesenskij – besaßen einen für mehrere Ausreisen gültigen Paß. Aber jeder einzelne Fall wurde in der „Ausreisekommission des ZK der KPdSU“ entschieden, und die wichtigste Expertenrolle bei diesen Entscheidungen kam dem KGB zu.
Unter solchen Bedingungen war kaum vorstellbar, daß Achmatowa je als Folge eigener Bemühungen den Ätna erblickt hätte. Wieder mußte Aleksej Surkow für sie die Kohlen aus dem Feuer holen, und das tat er auf eine nicht besonders zimperliche Art. Vor allem teilte er seinem Schützling offiziell mit, der Schriftstellerverband habe weder gegen die Auszeichnung noch gegen die Reise etwas einzuwenden. Erst danach, am 25. Mai 1964, schrieb er einen Brief an das ZK.
Er erläuterte darin die Zusammensetzung der Jury, in der ein Mitglied, Professor Dibenedetti, Kommunist sei. Unter den früheren Preisträgern befänden sich „progressive Schriftsteller“ wie Umberto Saba, Salvatore Quasimodo oder Tristan Tzara. Der Preis sei mit 1.000.000 Lire (= 2.000 Dollar) dotiert, und es sei das erste Mal, daß er an einen sowjetischen Schriftsteller verliehen werde.
Dann würdigte er die Laufbahn der „ältesten sowjetischen Dichterin“, die bald 75 Jahre alt werde. Er vergaß auch nicht zu erwähnen, daß „ihr ehemaliger Mann N. Gumiljow wegen Beteiligung an einer konterrevolutionären Verschwörung erschossen wurde, was sie nicht daran hinderte, in Rußland zu bleiben. Während des Krieges verhält sie sich patriotisch. Nach dem Krieg kommt es bei Achmatowa zu einem Rückfall in ihre früheren Stimmungen, und ihre Gedichte werden berechtigt (obwohl in einem sehr scharfen Ton) in dem Beschluß über die Zeitschriften Swesda und Leningrad kritisiert. Dieser Beschluß geht nicht spurlos an Achmatowa vorbei. Im Jahre 1948 (richtig: 1949, G. D.) beginnt sie auf den Seiten der Wochenschrift Ogonjok (…) neue Gedichte zu veröffentlichen, die sie in die Reihen der sowjetischen Dichtung zurückbringen. (…) In allen Fällen, wenn ausländische Journalisten und ausländische Studenten Achmatowa zu irgendwelchen Beschwerden oder antisowjetischen Äußerungen provozieren wollten, hat sie ihnen eine würdige Abfuhr erteilt und sich als sowjetischer Patriot verhalten. Unter Berücksichtigung von alledem sowie der Tatsache, daß ein positives Verhältnis zur Verleihung des italienischen Preises an sie ein schmerzhafter Schlag auf die Hand der ausländischen Verleumder wäre, wäre es nützlich, Achmatowa an der Übernahme dieses Preises nicht zu hindern.“
Surkows kunstvolle Demagogie bestand nicht einfach darin, daß er, wie bereits in dem Brief an Chruschtschow im Sommer 1959, seinem Staat eine Großzügigkeit als „schmerzhaften Schlag“ gegen den Klassenfeind schmackhaft machen wollte, sondern auch oder sogar hauptsächlich in dem, was er unausgesprochen ließ. Achmatowas Werke, unter ihnen das „Poem ohne Held“ und das „Requiem“, waren zu dieser Zeit bereits in mehreren westlichen Ländern veröffentlicht worden. Sogar russische Exilverlage druckten sie, allerdings mit der vorsichtigen Anmerkung:
Ohne Wissen und Erlaubnis der Autorin.
Aktuell hatte man ihr politisch nichts vorzuwerfen, und den Beschluß vom August 1946 konnte der Apparat kaum gegen sie verwenden, ohne sich lächerlich zu machen. Ein Reiseverbot hätte leicht eine Welle westlicher Empörung nach sich ziehen können – ein „schmerzhafter Schlag“ für die sowjetische Außenpolitik, die es in diesem Fall nicht leicht gehabt hätte, den Vorwurf der Unmenschlichkeit abzuwenden.
Die Erpressung war erfolgreich. Die Genossen Snastin und Polikarpow von der Ideologischen Abteilung des ZK beschränkten ihre Mißbilligung zunächst darauf, in einem Brief an das Politbüro vom 27. Mai 1964 den Vorsitzenden des Schriftstellerverbands ein bißchen zu denunzieren:
Wie aus dem Chiffretelegramm des sowjetischen Botschafters in Rom, Gen. Kosyrew (Vater des späteren russischen Außenministers, G. D.) ersichtlich ist, hat der Gen. Surkow seine vorläufige Erlaubnis zur Italienreise von A. Achmatowa erteilt, ohne diese Frage vor Ort abgestimmt zu haben.
Danach folgte ein Satz, den man am liebsten als „ideenlos“ bezeichnen würde, wenn dieser Begriff im kommunistischen Vokabular nicht bürgerlich-dekadentem Gedankengut vorbehalten wäre:
Obwohl dieser Preis einer Reihe progressiver Autoren, unter ihnen Kommunisten, verliehen wurde, trägt die Verleihung an A. Achmatowa doch tendenziösen Charakter. Sie ist nämlich Unterstützung für eine Dichterin, deren Lebenswerk in unserem Land kritisiert wurde.
So blieb die Exkommunikation vom August 1946 für Achmatowas mächtige Gegner, zu denen Dmitrij Polikarpow seit 1940 gehörte, zwanzig Jahre später als einziges, allerdings unscharfes Argument gegen sie übrig.
Der Schlußteil des Briefes enthält ein kaum überhörbares Zähneknirschen:
In der entstandenen Situation erachtet die Ideologische Abteilung es für möglich, den Vorschlag des Gen. Surkow zu akzeptieren.
Am 11. Juni 1964 versahen die Halbgötter des Politbüros, Leonid Breschnew, Leonid Iljitschow, Pjotr Demitschew, Boris Ponomarjow und Michail Suslow, die womöglich kürzeste Floskel in dem gewaltigen Aktenberg über Achmatowa mit ihren Unterschriften:
Einverstanden.
Der greise Kornej Tschukowskij notierte damals in sein Tagebuch: „Achmatowa nach Italien – das ist phantastisch. (…) Sie hat ,weder einen ungebrochenen Knochen / noch einen straffen Muskel‘“, zitierte er seinen Lieblingsdichter Nekrassow, „und plötzlich fährt sie nach Italien, wo sie gekrönt wird.“ Er wäre jedoch kein russischer Schriftsteller, wenn er nur mit Freude auf diese Nachricht reagiert hätte. Mürrisch fügte er hinzu:
Und was wird mit meinem Soschtschenko-Aufsatz, den ich für die Lit(eraturnaja) Gaseta geschrieben habe?
Als gäbe es einen logischen Zusammenhang zwischen Achmatowas plötzlicher Reisefreiheit und der Freiheit, über ihren Leidensgenossen sechzehn Jahre nach dessen Tod die Wahrheit zu schreiben, als gäbe es überhaupt eine Logik in diesem Wirrwarr der schlecht verarbeiteten alten Verbrechen und der noch bevorstehenden neuen Fehlleistungen des Systems.
Auch die Betreffende selbst sah ihre Reise nun skeptischer als zu Beginn der Italien-Pläne. Sogar noch kurz vor Abfahrt des Zuges Moskau-Rom konnte sie den Argwohn nicht hinter sich lassen. Während ihr mehrere Freunde dabei halfen, ihre Gepäckstücke – nur geborgte Reisetaschen, wie Anatolij Najman bezeugte – in das Abteil zu bringen, stand sie im kalten Dezemberwind auf dem Bahnsteig, eingewickelt in einen langen Baumwollschal, welcher der Witwe von Aleksej Tolstoj gehörte, und zögerte. „Was tun? Ich fahre, um das kommunistische Rußland zu vertreten“, soll sie dem Ehepaar Lew Kopelew und Raissa Orlowa gesagt haben. Auf die tröstenden Worte, sie werde dort einzig und allein die Großmacht Russische Poesie repräsentieren, antwortete sie:
Nein, meine Lieben, ich weiß wohl, warum man mich hinschickt.
Einer der Kronzeugen von Achmatowas Auszeichnung war der deutsche Autor Hans-Werner Richter. Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien erstattete er Bericht für den Sender Freies Berlin und den Norddeutschen Rundfunk. Eigentlich handelte es sich dabei eher um eine Ode in Prosa an das Phänomen Anna Achmatowa, denn als Dichterin war sie ihm völlig unbekannt, so daß er sie zunächst mit der jungen Poetin Bella Achmadulina verwechselte.
Giancarlo Vigorelli veranstaltete für die etwa hundert Teilnehmer der Tagung seiner „Europäischen Schriftstellergemeinschaft“ ein Kulturprogramm. In dem ehemaligen Kloster St. Domenico zeigte man den Film Matthäusevangelium des anwesenden Pier Paolo Pasolini, der, so merkte Richter bedeutungsvoll an, „Kommunist und wahrscheinlich Mitglied der Partei ist“. Und von diesem Satz an konnte der Autor nicht mehr mit dem Schwärmen aufhören:
Hätte ich Christus gekannt, so müßte ich hier sagen: niemals sah ich Christus strahlender, niemals anziehender, niemals begeisternder. (…) In diesem Kinoraum gab es nach dem Ende des Films keine Atheisten mehr. Selbst die Russen schlossen Pasolini küssend in ihre Arme, und einer von ihnen hatte verstohlene Tränen in den Augen.
Dieser eine war aller Wahrscheinlichkeit nach Aleksandr Twardowskij, Chefredakteur der liberalen Literaturzeitschrift Nowyj Mir. Jedenfalls erzählte er von dem Film nach seiner Rückkehr in Moskau seinem Kollegen Wladimir Lakschin und behauptete:
„Allein schon deshalb hat sich das Hinfahren gelohnt.“ Eine ganze Stunde lang erzählte er mir den Film. „Ich habe mich zur Christusgestalt, ehrlich gesagt, verhalten als zu etwas Veraltetem, und ich erwartete nicht, daß mich das so bewegen kann… Und als man am Ende des Films ein russisches Lied sang, scheinbar unpassend und doch begreiflich, bin ich beinahe in Tränen ausgebrochen“.
Achmatowa war bei der Filmvorführung nicht dabei. Den Inhalt des Films erzählte ihr ein halbes Jahr später Anatolij Najman, der das Matthäusevangelium in einem exklusiven Moskauer Kinosaal, möglicherweise im Kinoteatr Illusion, gesehen hatte. Bei Najmans Erzählung brach Achmatowa ebenfalls in Tränen aus. Aber folgen wir weiter Hans-Werner Richters begeisterten Worten:
Ach, der italienische Kommunismus, diese seltsame Mischung aus Klassenkampf, Christentum, Sozialismus, katholischer Kirche, Toleranz, Eigensinn, großsprecherischen Gesten und tiefem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, und das alles auf sizilianischem Boden (…) in einem zigarettenverräucherten Kinosaal. Ja, beinahe hätte ich gerufen: Christus ante portas… Christus vor den Toren des Kommunismus…
Es gibt Leute, die behaupten, daß nicht nur ein Foto oder ein Gemälde, sondern auch eine echte Landschaft oder beispielsweise ein Sonnenuntergang über dem Meer kitschig sein kann. Sicherlich war sie echt, diese Faszination des Dichters aus der Gruppe 47, der sich, aus Adenauers christlich-sozialem Wohlstandsmief kommend, nach einem katholischen Sozialismus unter mediterranen Bedingungen sehnte. Trotzdem war das, was Hans-Werner Richter so emphatisch schildert und was von den meisten Anwesenden ähnlich erlebt wurde, nicht die Wirklichkeit, sondern eine durch den historischen Augenblick erzwungene Autohypnose.
Die italienische KP vertrat in den frühen sechziger Jahren die Ansicht, sie könne den Sozialismus auf der Halbinsel mittels sogenannter „Strukturreformen“ friedlich erreichen. Sie verhielt sich zunehmend kritisch gegenüber den sowjetischen und osteuropäischen Modellen. Palmiro Togliattis posthumes Memorandum, das im September 1964 auch in der Prawda veröffentlicht wurde, ließ die Hoffnung aufkeimen, der westliche Kommunismus könne zur Demokratisierung des Ostens beitragen. Diese Illusion hielt sich jedoch nicht sehr lange.
Auch die merkwürdige Schriftstellersolidarität in Catania, als sich die sowjetische Delegation brüderlich im Sonnenschein der einst verfemten Dichterin wärmte, erwies sich als ephemer. Wenige Jahre später wetteiferten die soeben salonfähig gemachten Sowjetliteraten in der Frage der Verurteilung von Aleksandr Solschenizyn, beglückwünschten die Parteiführung zur Okkupation der Tschechoslowakei, ließen den von der Zensur gebeutelten Twardowskij aus der Nowyj Mir verjagen und fanden bis 1988 kein einziges Wort zugunsten der vollständigen politischen und moralischen Rehabilitierung ihrer Ätna-Taormina-Preisträgerin Anna Achmatowa.
Zur Vorführung von Pasolinis Film hatte Achmatowa sich entschuldigt, denn die lange Reise hatte sie sehr erschöpft. Deshalb verschonte man sie auch mit der Tagung. Sie wurde von Nikolaj Punins Tochter Irina begleitet – eine Verlegenheitslösung, denn ursprünglich wollte sie ihre Moskauer Vertraute, die Schauspielerin Nina Ardowa, mitnehmen. Diese hatte jedoch im September 1964 einen Herzanfall erlitten.
Der schlechte Gesundheitszustand der Dichterin kürzte auch die Auszeichnungszeremonie ab. Achmatowa las ein Gedicht – angesichts des Genius loci das im Jahre 1924 geschriebene Gedicht „Muse“:
Wenn ich mich nachts bereite auf ihr Kommen,
Dann hängt mein Leben, scheint’s, am seidnen Band.
Was kann mir Ehre, Jugend, Freiheit frommen,
Wenn sie mir naht, die Flöte in der Hand?
Sie kam, warf ab den Schleier, der sie zierte,
Und schaute dann sehr aufmerksam auf mich.
Ich frug: Bist du’s, die Dante einst diktierte
Das Buch der Hölle? Sie entgegnet’: Ich.
„Ja, sie las russisch“, berichtete Hans-Werner Richter, „und mit einer Stimme, die an ein fernes Gewitter erinnerte, wobei niemals klar wurde, ob das Gewitter im Abziehen oder erst im Heraufkommen war. Ihre dunkle rollende Stimme ließ keine hellen Töne zu. Das erste Gedicht war kurz, sehr kurz, und kaum beendet, erhob sich ein Beifallssturm, obwohl – abgesehen von den anwesenden Russen – niemand russisch verstand. (…) Der Vorgang glich (…) dem Neujahrsempfang am Hof einer weiblichen Majestät. Eine Zarin der Poetik nahm die Huldigung des diplomatischen Corps der Weltliteratur entgegen (…) Endlich hieß es: Anna Achmatowa ist müde, und schon schritt sie hinaus, eine große Frau, alle Poeten von mittlerer Statur um Kopfeslänge überragend, eine statuarische Erscheinung, an der sich die Wellen der Zeit von 1889 bis heute gebrochen haben, und so, wie ich sie hinausschreiten sah, begriff ich plötzlich, warum Rußland zeitweise von Zarinnen regiert werden konnte.
(…) Nur einer unter ihnen (den Russen, G. D.) war ein Spötter, aber ich will hier seinen Namen nicht nennen, um ihm Anna Achmatowas Ungnade zu ersparen. Er sagte, als auch ich meinen Handkuß in der Art meines Landes absolviert hatte: ,Wissen Sie, 1905, zur Zeit der ersten russischen Revolution, war sie eine sehr schöne Frau.‘“
Lew Kopelew erzählte mir: Als er Hans-Werner-Richters Text bekam, suchte er damit sofort Achmatowa auf und übersetzte ihr die Dithyramben des deutschen Dichters. Die oben zitierte Episode sparte er aus Taktgefühl gegenüber der alten Dame aus. Unvorsichtigerweise ließ er jedoch die Zeitschrift bei Achmatowa liegen. In einem Telefongespräch sagte sie daraufhin:
Lew Sinowjewitsch, Sie sind ein echter Kavalier. Und jetzt übersetzen Sie mir den ganzen Text. Aber bitte ohne Auslassungen.
Anna Achmatowa verband ihren internationalen Ruhm mit Sir Isaiahs Bemühungen und benutzte dafür dasselbe Wort „Chlopoty“, mit dem sie seinerzeit ihre eigenen Anstrengungen um Lews Befreiung bezeichnet hatte. Sie sah ihren späten Ruhm auf sich zukommen und siedelte seinen Höhepunkt in der Nähe ihres Todes an:
Es tage. Das Jüngste Gericht
Begegnung trauriger als Trennung,
Und mich übergeben dem toten Ruhm
Deine lebendigen Hände.
Den Vierzeiler hat sie mit einem ungewöhnlich langen Titel ausgestattet: „Aus dem Reisetagebuch. Ein Gelegenheitsgedicht“. Als Datum steht in allen Ausgaben „Dezember 1964“. Mit der Reise konnte nur die nach Catania gemeint sein. Und die inspirierende Gelegenheit während dieser Reise hing möglicherweise mit der mystifizierten Person des „Gastes aus der Zukunft“ zusammen, der nach Achmatowas Überzeugung den Ätna-Taormina-Preis „durchgesetzt“ hatte.
In einem auf den 20. Oktober 1964 datierten Brief an Jossif Brodskij schrieb Achmatowa an dessen Verbannungsort in der Nähe von Archangelsk:
Jossif, aus den unendlichen Gesprächen, die ich Tag und Nacht mit Ihnen führe, müssen Sie alles wissen, was geschah und was nicht geschah. Es geschah:
„Da lag schon die hohe
Schwelle zum Ruhm,
Doch mahnte die schlaue Stimme:
Kehr um!“
Nicht geschah: „Es tagt. Das Jüngste Gericht…“ usw.
Das erste Zitat entstammt dem Poem „Auf dem Weg der ganzen Erde“ (1940) und bezieht sich auf Achmatowas erste „Ruhmesphase“, das Erscheinen des Gedichtbandes Aus sechs Büchern, die Aufnahme in den Schriftstellerverband und den Versuch von mehreren Kollegen, sie zum Stalinpreis vorzuschlagen. Das ist das, was geschah und was mit der Beschlagnahmung des Buches endete. Ebenso kurzlebig war ihr Nachkriegstriumph. Für den Ruhm mußte Achmatowa bezahlen, und zwar einen sehr hohen Preis – in den vierziger Jahren mit der Exkommunikation, in den sechziger Jahren, so meinte sie, mit dem eigenen Leben.
Die adäquate Situation des großen russischen Dichters sei es seit Puschkins Zeiten, in Ungnade zu fallen – so Achmatowas Auffassung. Als Jossif Brodskij im Frühjahr 1963 von einem Leningrader Gericht wegen „Arbeitsscheu“ verurteilt wurde, machte sich Achmatowa große Sorgen um ihn und intervenierte zugunsten des Verbannten, war aber gleichzeitig von seinem Schicksal begeistert:
Welche Biographie wird unserem Rothaarigen bereitet! Als hätte er dafür absichtlich jemanden angeheuert!
Zu dem Kontext gehört auch, daß Achmatowa zwischen zwei Leopardi-Gedichten, die sie zusammen mit Anatolij Najman übersetzte, diesen immer häufiger daran erinnerte, daß ihre Tage gezählt waren. Den eigenen Tod reflektierte sie jedoch nicht als etwas biologisch Unausweichliches, sondern als düsteren Gefährten des ebenso unausweichlichen Ruhms. Anders gesagt: Man muß sterben, um unsterblich sein zu können.
Hätte es einen derartigen Zusammenhang zwischen wachsendem Ruhm und abnehmendem Leben tatsächlich und nicht bloß in der an Oscar Wildes Dorian Gray geschulten Phantasie von Anna Achmatowa gegeben, dann wären die sowjetischen Kulturpolitiker am Tode Achmatowas völlig unschuldig gewesen. Sie hatten die Dichterin niemals verwöhnt, weder ihren siebzigsten noch den fünfundsiebzigsten Geburtstag offiziell gefeiert. Es gab höchstens einige zaghafte Versuche, sie eine gewisse Achtung spüren zu lassen. Ignatij Iwanowskij hat überliefert, daß nach ihrer Blinddarmoperation und dem darauffolgenden Herzinfarkt in einem Leningrader Krankenhaus an ihrem Bett ein Vertreter des lokalen Schriftstellerverbands mit einem Blumenstrauß erschien und ihr vorschlug, sie in ein besseres Krankenhaus einweisen zu lassen. Achmatowa antwortete trocken:
Danke. Man hat mich bereits halbiert.
Als einziges erwähnenswertes Zeichen offizieller Akzeptanz kann die Entscheidung vom März 1965 interpretiert werden, sie in das Präsidium des II. Kongresses des Schriftstellerverbands der Russischen Föderation zu wählen. Wie weit entfernt war jedoch diese Entscheidung von dem, was im Vorwort der französischen Ausgabe ihrer Gedichte als rhetorische Frage stand:
Wann endlich begreift die Sowjetunion, daß sie auf Achmatowa nicht weniger stolz sein müßte als auf Gagarin und Titow?
Die letzte große Anerkennung kam aus einer ganz anderen Richtung: Am 15. Dezember 1964 beschloß die Universität Oxford, Anna Achmatowa zum Ehrendoktor der Literatur zu küren.
(…)
György Dalos, aus György Dalos: Der Gast aus der Zukunft. Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte, Europäische Verlagsanstalt, 1996
aaaaaa aaaaFür A.A. Achmatowa
Ein Mund voll Trauer ist die Winternacht.
Noch eh er aufgeht, platzt aus allen Nähten
der Himmel, wie vom Feuerwerk entfacht:
Sternschnuppen, Meteore und Kometen
blitzen über dem blendendweißen Schmutz.
Der Winter schaut die Ränke an, die Henker.
So starrt ein Mensch – schon lebender, noch kränker –
ins leere Glas. Und alles ist so nutz-
und witzlos, ohne Sinn und sonderbar,
doch nicht ersonnen, wenn auch gleich zu Ende.
Mir ist, wenn ich bestrahlten Schnee gewahr,
als ob ich Ihren Namen wiederfände.
Jewgenij Rejn
Übersetzung Alexander Nitzberg
Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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