DER BLINDE:
An der eigenen Hand berühr dich nicht,
über die Brücke führ dich nicht,
zeige auf dich mit dem Finger nicht,
erzähle von dir diese Dinge nicht…
Du gehst, du gehst, und du stolperst…
stets „Geschlossenheit“ erwarteten, wurde Anna Achmatovas letztes großes Werk „Enuma elisch“ jahrzehntelang nur stiefmütterlich behandelt. Es galt als nicht wirklich existent, zumindest als unvollendet. Indessen hielt sie es selbst, wie zahlreiche Briefe belegen, für ihre wichtigste Schöpfung, ja, sogar für ihr dichterisches Testament schlechthin. Mit der vorliegenden Übertragung wird der Text zum ersten Mal auch im deutschsprachigen Raum bekannt. „Enuma elisch“ heißt auf Altbabylonisch „Als droben …“ Mit diesen Worten beginnt eine uralte Kosmogonie. Auch in ihrem „Enuma elisch“ formuliert Achmatowa einen Mythos: den des eigenen Lebens vor dem Hintergrund der Epoche. Dabei treibt sie das bereits im „Poem ohne Held“ erprobte Prinzip der Mystifikation noch auf die Spitze. In scheinbar bruchstückhaften Szenen, Gedichten, Prosapassagen, Tagebucheintragungen und fiktiven Rezensionen besingt sie eine Liebe, die sich über Raum und Zeit erhebt. Die Dichterin selbst erscheint hier als eine große Unbekannte – als X, während die Ableitung X2 ihre „nächtliche Seite“ darstellt. Sie wird zu einer Schlafwandlerin, deren größte Angst es ist, plötzlich aufzuwachen. „In Taschkent hat mein Poem ohne Held eine Weggefährtin bekommen: das Drama Enuma elisch, ein Mittelding aus Buffonade und Prophetie, von dem nicht einmal ein Häuflein Asche übriggeblieben ist …“
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2005
Von Ossip Mandelstam ist das paradoxale Diktum überliefert, wonach das grösste Werk eines Autors dessen Tod sei und alles zuvor Geschriebene lediglich Prolog dazu. Diese spekulative Vorstellung scheint sich auch Anna Achmatowa, Zeitgenossin und Vertraute Mandelstams, zu eigen gemacht zu haben, als sie in den 1940er und dann nochmals in den 1960er Jahren an einem grossangelegten mythopoetischen Text arbeitete, dessen bewusst offen gehaltenes Ende mit ihrem Ableben zusammenfallen sollte – allein der Tod würde, ihrer Überzeugung nach, das Unvollendete zur Vollendung bringen. Was von diesem Text, zu dessen wechselnden Arbeitstiteln auch „Prolog“ gehörte, überliefert ist, erweist sich als ein Konglomerat von disparaten Fragmenten, die weder thematisch noch strukturell auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. In freier Folge, mit zahlreichen Wiederholungen und Varianten arrangiert die Autorin lyrische, szenische, essayistische, dokumentarische Versatzstücke zu einem fluktuierenden Textgebilde, das keiner Gattung definitiv zugeordnet werden kann. Am ehesten könnte man von einem lyrischen Ideendrama reden, da der Text grösstenteils auf irgendwelche schwer fassbaren Personen oder Stimmen verteilt ist, die als Rezitatoren symbolträchtigen Gedankenguts eingesetzt werden und die insgesamt eine Art welttheatralischen Chor entstehen lassen, zu dem Figuren und Kreaturen wie „Jemand“, „Rivalin“, „X“, „alter Dichter“, „Intendant“, „Adler“, „Doppelgängerin“ oder auch der „allerdickste“ Andrej Shdanow, Stalins monströser Kulturinquisitor, gehören. Auf motivischer Ebene dominieren neoromantische Elemente (Mond, Höhle, Schatten, Spiegel, Masken), und sprachlich fällt der pathetisch instrumentierte Text, dessen rätselhafter Titel Enuma elisch (Als droben) einem babylonischen Schöpfungsepos entstammt, hinter alles zurück, was Anna Achmatowa mit ihrem luziden lyrischen Frühwerk zur russischen literarischen Moderne beigetragen hat. Wiewohl die Autorin dieses späte, höchst ambitionierte Werk, das nun erstmals in einer russisch-deutschen Einzelausgabe vorliegt, für ihr testamentarisches Opus magnum hielt, fällt es aus heutiger Sicht schwer, darin mehr als eine zerfahrene Altersdichtung zu erkennen: Was als Prolog geplant war, ist zum Abgesang geraten.
Felix Philipp Ingold
Es gibt Werke, deren mysteriöse Entstehungsgeschichte Stoff für einen Roman abgäbe. „Enuma elisch“, das letzte, möglicherweise unabgeschlossene poetische Opus der russischen Dichterin Anna Achmatowa, ist ein solches Werk. Achmatowa selbst behauptete, sie hätte den als Theaterstück konzipierten Text zwischen 1942 und 1944 in Taschkent verfasst und am 11. Juni 1944 eigenhändig verbrannt. Nicht nur das Datum der Verbrennung darf angezweifelt werden, sondern auch der Begriff der Rekonstruktion, den Achmatowa ins Spiel brachte, als sie 1962 die Arbeit an „Enuma elisch“ wieder aufnahm. Bis zu ihrem Tod, 1966, schrieb sie an diesem Drama, das – 1989 erstmals gedruckt – wegen seines heterogenen und fragmentarischen Charakters bis heute Rätsel aufgibt.
Übersetzer Alexander Nitzberg meint einen Teil dieser Rätsel gelöst zu haben: „Enuma elisch“, so seine These, sei ein vollkommen neu gestaltetes Werk und auch keineswegs unabgeschlossen. Die grosse Mystifikatorin Achmatowa habe vielmehr den Rekonstruktions- und Fragmentgedanken zum poetischen Prinzip gemacht, um eine Einheit zwischen Kunstwerk und Künstlerin vorzutäuschen. Die These wirkt bestechend, doch der Lektüreeindruck bleibt zwiespältig.
Sollte dieses Alterswerk wirklich die Summa von Achmatowas Schaffen sein? Die grand old lady der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts, 1889 in der Nähe von Odessa geboren, hat unter schwierigsten Umständen ein grosses und grossartiges Œuvre hervorgebracht. Anders als Marina Zwetajewa ging Achmatowa nicht in die Emigration, sondern blieb in Russland, genauer in Leningrad. 1921 wurde ihr Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, als angeblicher Monarchist von der Tscheka erschossen. Zur Zeit des stalinistischen Terrors erlebte sie die mehrmalige Verhaftung ihres einzigen Sohns, Lew Gumiljow. Die Angst und Verzweiflung jener Tage hielt sie in ihrem später berühmt gewordenen Gedichtzyklus „Requiem“ fest. Ans Publizieren war schon lange nicht mehr zu denken. Zwischen 1922 und 1940 erschien von Achmatowa kein einziges Buch. Während ihre frühe Liebeslyrik in weite Ferne rückte, veröffentlichte sie vereinzelte Aufsätze über Puschkin und schrieb in die Schublade. Völlig klandestin entstand auch ihr weitgefächertes poetisches Triptychon „Poem ohne Held“, das aus der Lyrikerin der Intimität eine Geschichtsdichterin machte. Achmatowa arbeitete zweiundzwanzig Jahre – von 1940 bis 1962 – an diesem Vermächtnis, im belagerten Leningrad und in Taschkent, wohin sie evakuiert worden war, anschliessend wieder in Leningrad, wo sie 1946 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und 1949 erneut mit der Inhaftierung ihres Sohns konfrontiert wurde. Das Poem beschwört den Aufstand der Zeit, der längst vergangenen des Jahres 1913 und der kriegsversehrten von 1941 – in einem Reigen, der Karneval und Totentanz zugleich ist, hoffmannesker Schattenspuk und tragisches Epochenbild. Mit seinen vielfältigen Anspielungen und versteckten Zitaten, seinen Verspiegelungen und Doppelbödigkeiten verkörpert dieses elegische Epos einen eigentlichen Gedächtnisraum, der die vorrevolutionäre Zeit ebenso einschliesst wie Puschkin, Byron und Dante, und der wundersam zusammenführt, was von Stalins Terrorregime gewaltsam gekappt wurde.
Mit „Enuma elisch“ nun knüpfte Achmatowa sichtlich an das „Poem ohne Held“ an. Verwandt ist der epische Atem, die ausladende Anlage, das Spiel mit Mystifikation und Maskerade, mit verschiedenen Gattungselementen und Zitaten. Und wieder geht es um Geschichte, Zeit und Gedächtnis, um die Rolle der Erinnerung und die Last persönlicher Schuld, um politische Unterdrückung und das gefährdete, verfemte Kunstwerk. Der Titel „Enuma elisch“ geht auf einen altbabylonischen Schöpfungsmythos zurück und bedeutet „Als droben“. Achmatowa allerdings verstand die Worte anders, nämlich als „Die da oben“, und wandte sie ironisch auf Stalins Schergen an. Doch benutzte sie für ihr dreiteiliges Drama auch andere Titel wie „Prolog“, „Traum im Traum“ und – besonders aufschlussreich – „Die Grosse Beichte“.
Um ein bekenntnishaftes Vermächtnis geht es ohne Zweifel. Im Zentrum steht die verträumte Heldin X (und ihre beiden Doppelgängerinnen), im Gespräch mit der „Sekretärin von nicht menschlicher Schönheit“, der „Rivalin“, dem „Redakteur mit assyrischem Bart“, aber auch mit der „Stimme“, dem „Schatten“ und dem „Gast aus der Zukunft“. Zum Figurenrepertoire gehören ferner Adler und Raben, ein Papagei und jener „Allerdickste“, hinter dem man Parteisekretär Schdanow, Achmatowas wüsten Verunglimpfer, erahnt. Geredet wird meist in Andeutungen, knapp und rätselhaft, in einem spukhaften Wortballett. Wobei die Heldin öfter ins Monologisieren gerät, vor allem wenn sie sich elegischen Erinnerungen hingibt. Da tauchen – wie ferne Echos – lyrische Selbstzitate der Achmatowa auf, und das konfuse Drama entfaltet poetische Tiefenschärfe.
Es ist kein Leichtes, sich im labyrinthischen Textgefüge von „Enuma elisch“ zurechtzufinden. Ob fragmentarisch oder nicht, das Ganze wirkt zerfasert, unkohärent und bleibt – trotz Nitzbergs Kommentaren – ziemlich kryptisch. Achmatowa selbst hat die einzelnen Teile und Szenen des Stücks nicht fest verbunden, sie hinterliess ein Textmosaik, ein auf verschiedene Kuverts verteiltes Manuskript. Die aktuelle Fassung ist eine Konstruktion post festum. Und besser, man grübelt nicht über mögliche andere Varianten, sondern zieht aus der bestehenden optimalen Gewinn. Zu entdecken gibt es nämlich immer wieder Erstaunliches. So etwa die groteske Schilderung einer Kommunalwohnung, in der es – wovon Achmatowa persönlich ein Liedchen zu singen wusste – drunter und drüber geht:
„In der Wohnung Nr. 113 wurde dreimal jemand verrückt: die ehemalige Haushälterin des alten Ehepaars Wenaw, die zu ihren Stiefkindern nach Polen ausgereist waren und von dort ungute Neuigkeiten schickten; der General-Leutnant des MGB Samowarow, der aufgrund des zu ,humanen Verhaltens‘ entlassen wurde, und der Künstler Fedja, der zwei Jahre lang als Genie gegolten hatte, bis irgendjemand von irgendwoher gekommen ist und sich daraufhin alles schlagartig änderte. Das hat Fedja ganz verwirrt und umgeworfen. Die übrigen Parteien der Wohnung Nr. 113 erfreuten sich einer blühenden Gesundheit, prügelten sich in der Küche, so dass die Miliz und der Ambulanzwagen kommen mussten, denunzierten sich gegenseitig (sowohl kollektiv als auch einzeln), prozessierten zwischen sieben und siebzig Mal pro Jahr wegen des Lichtes, das in der Toilette nicht ordnungsgemäss gelöscht wurde, und erreichten, dass schliesslich zur allgemeinen Begeisterung die Toilette und für alle Fälle auch noch die Wasserleitung bis auf weiteres geschlossen wurden. – Dann aber sollte die Friedenstaube mit einem Ölzweig im Schnabel über die Wohnung Nr. 113 schweben, denn sie (die Wohnung) bekam irgendeine Lobesurkunde verliehen, die im Flur neben dem Fahrradgestell und der Kinderbadewanne aufgehängt wurde.“
Prosaisch und ironisch zugleich beschreibt Achmatowa hier die Misere des Alltagslebens, wie es dem Sowjetbürger (und ihr selbst) jahrzehntelang zugemutet wurde. Allein schon vor dem Hintergrund solcher Zustände, vom politischen Terror ganz zu schweigen, erscheint Achmatowas Schaffen als eine grandiose Leistung. Das enigmatische Spätwerk „Enuma elisch“ mit eingeschlossen.
− „Enuma elisch. Traum im Traum“, ein wenig bekanntes Schlüsselwerk Anna Achmatowas. −
Anna Achmatowa (1889-1966) bedarf nicht unbedingt einer langen Vorstellung. Als eine der beiden großen Frauengestalten der russischen Literatur neben Marina Zwetajewa hat sie auch im Ausland ein beachtliches Publikum. Dabei scheint man aber von dieser Dichterin nach wie vor in erster Linie das frühe Werk und besonders ihre Liebeslyrik bis zur Revolution oder allenfalls bis in die frühen 20er Jahre wahrzunehmen. Die Ausnahme hiervon bildet freilich ihr Opus magnum, das „Poem ohne Held“, das sie über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte ihres Lebens ständig beschäftigte. Weniger bekannt ist hingegen die späte Lyrik nach dem Krieg, und fast schon gänzlich unbekannt ihr Werk „Enuma elisch“.
Der Verleger Urs Engeler und der Übersetzer Alexander Nitzberg haben nun eine zweisprachige Ausgabe dieses recht eigenartigen und auch von der akademischen Forschung bisher stiefmütterlich behandelten Stücks vorgelegt. Damit ermöglichen sie der deutschsprachigen Leserschaft zum ersten Mal überhaupt den Zugang zu diesem Werk.
„Enuma elisch“ („Als droben“) lauten die Eröffnungsworte eines altbabylonischen Schöpfungsmythos. Achmatowas zweiter Ehemann, der Wissenschaftler und Dichter Wladimir Schileiko (1891–1930), hat an einer russischen Übersetzung dieser Kosmogonie gearbeitet, die allerdings verschollen ist. Man weiß jedoch, dass Achmatowa den Text zur Kenntnis genommen hat. Entstanden ist eine erste Version von „Enuma elisch“ in den Jahren 1942–1944 im usbekischen Taschkent, wohin Achmatowa aus dem belagerten Leningrad evakuiert worden war. Nach ihrer Rückkehr aus dem exotisch-orientalischen Süden an den Finnischen Meerbusen hat die Dichterin das Werk jedoch verbrannt und um das Stück herum eine eigentliche Legende geschaffen. Sie hat in Notizen, Interviews und Gesprächen immer wieder auf das Stück und seinen Inhalt verwiesen, hat Informationen gestreut, wie es genau ausgesehen hat und warum sie es verbrannt hat. Achmatowa hat einige Spuren gelegt, welche die Leserschaft bei der Interpretation anleiten sollten. Und wie so oft im Hinblick auf ihr Werk hat die Dichterin dabei durchaus widersprüchliche Angaben gemacht, um ihre Leser (darunter die Zensoren!) zu verwirren.
In den 60er Jahren ist Achmatowa zum Projekt zurückgekehrt und hat das Stück „rekonstruiert“, dabei aber gleichzeitig verändert und in seiner Konzeption ausgeweitet. Während der letzten vier Lebensjahre wurde es zu ihrer literarischen Hauptbeschäftigung. Zu Lebzeiten der Dichterin wurden allerdings nur ein paar Ausschnitte aus dem Stück veröffentlicht, eine abgeschlossene Version gibt es nicht. Man kennt immerhin inzwischen eine ganze Reihe von Fragmenten, die sich bisweilen stark ähneln. Manche davon sind in Prosa, andere in Versen verfasst. Achmatowa selbst maß dem Werk erhebliche Bedeutung bei.
Worum aber geht es im Stück? Über eine Dichterin wird in bruchstückhaften, manchmal traumartigen Szenen Gericht gehalten. Welches Vergehens sie angeklagt ist, wird dabei auch für die Dichterin nicht klar, aber hinter den Anklägern kann man zum Teil bös karikierte Vertreter der Sowjetmacht erkennen. Zugleich beschwört das Stück eine Liebe, welche sich über Raum und Zeiten erhebt: Immer wieder werden die Dichterin und ein „Gast aus der Zukunft“ in Dialogen und in schicksalhaften Begegnungen miteinander konfrontiert. Den Gast aus der Zukunft kennt man bereits aus dem „Poem ohne Held“, ebenso wie die sehr ausgeprägte Doppelgänger- und Spiegelthematik.
Das Stück steht in enger Beziehung zu Achmatowas Hauptwerk „Poem ohne Held“, das übrigens derselbe Nitzberg vor wenigen Jahren neu ins Deutsche übersetzt hat. Achmatowa selbst hat „Enuma elisch“ eine „Wegbegleiterin“ des Poems genannt. Angesichts der fragmentarischen Gestalt des Stücks und der vielfältigen Verweise auf das seinerseits komplexe „Poem ohne Held“ ist offensichtlich, dass eine Lektüre des Stücks ohne eine gewisse Hilfestellung schwierig wäre. Nitzberg ergänzt seine Übertragung deshalb mit Anmerkungen und einem sehr hilfreichen Nachwort, in dem er wichtige Informationen zum Kontext bereitstellt.
Nitzberg stand zunächst vor der Aufgabe, den Text als solchen überhaupt erst einmal zu konstituieren. Er hielt sich beim Abdruck an die „Rekonstruktion“ des Stücks durch Michail Kralin, einem der Herausgeber von Achmatowas Werk. Kralin hat die existierenden Teile zusammengetragen und eine mögliche Abfolge vorgeschlagen. Absolut richtig erscheint hier Nitzbergs Entscheidung, im Gegensatz zu Kralin auf eine Nummerierung der einzelnen Fragmente zu verzichten. Damit lässt er nämlich ausdrücklich auch andere Anordnungen zu. Dies wäre mit Sicherheit auch im Sinne der Dichterin. Denn: Achmatowa hat in den letzten Jahren eine eigentliche „Poetik des Anderen Texts“ entwickelt. Sie gibt in ihrem Werk etwa mit Hilfe alternativer Anordnungen von Gedichtzyklen, ja überhaupt durch das Schaffen immer weiterer Varianten ihrer Texte zu verstehen, dass sie stets wieder eine andere Spielart vorlegen könnte. Keine Variante scheint mehr endgültig. Mit „Enuma elisch“ bringt sie diese Poetik zur Perfektion: Der Text strebt nicht einmal mehr in Ansätzen eine (vermeintlich) letzte Version an. Der Mythos um den verbrannten Text, den Achmatowa später gleichwohl aber wieder rekonstruiert, wird zum wichtigen Bestandteil dieser Poetik: Auch ein abwesender Text ist letztlich doch wiederum anwesend. Achmatowa suggeriert schließlich ihrer Leserschaft, dass auch andere abwesende Texte als vielleicht doch existent zu denken sind. Stets könnte eine alternative Textvariante angenommen werden. Man kann diese Poetik auch als eine direkte Antwort auf Bestrebungen der Leserschaft verstehen, die Dichterin endgültig auf bestimmte Varianten hin zu kanonisieren. Gleichzeitig schlug Achmatowa damit aber auch der Zensur immer wieder ein Schnippchen.
Ein Wort zur Übersetzung ist angebracht: Alexander Nitzberg hat schon viel russische Lyrik ins Deutsche übertragen, vorwiegend aus dem 20. Jahrhundert, aber auch Alexander Puschkin. Er ist selbst Lyriker, und dies merkt man seinen Übersetzungen auch an, beherrscht und verwendet er doch die klassische deutsche Metrik. Insgesamt ist die Übersetzung sehr schön und lesbar geraten. Dort, wo Achmatowa im Original Verstext verwendet, hat sich Nitzberg dafür entschieden, der Form ganz genau zu folgen. Er wählt dasselbe Versmaß und behält sogar das Reimschema bei. Dies ist eine Wahl, für die es gute Gründe gibt. Allerdings bringt sie auch mit sich, dass sich ab und zu ein Wort in die Übersetzung hineinschleicht, das im Original nicht vorhanden ist. So spricht Nitzberg an einer Stelle von „gezündetem Benzin“, während im Original lediglich von Feuer die Rede ist. Auch ist die Verwendung einiger deutscher Wörter wohl diskutabel, etwa im Fall des Adjektivs „krass“, dessen Stilebene allzu sehr von der gegenwärtigen Jugendsprache geprägt ist und deshalb nicht so recht in diesen Text passen will. Oder bei der „High Society“, wenn von der höheren Gesellschaft des Petersburg von 1913 die Rede ist. Warum Nitzberg schließlich den „jurodiwyj“, den „Narr in Christo“, eine ganz eigene und typische Figur der russischen Kulturgeschichte, nüchtern mit „Bettler“ übersetzt, dafür lassen sich kaum Gründe anführen. Hier gehen doch einige Konnotationen verloren.
Prächtig sind die Gedichtbände aus Urs Engelers Verlag gestaltet, auch wenn im vorliegenden Fall noch anzumerken ist, dass in der Übersetzung manchmal eine Zeile herausgefallen ist. „Enuma elisch“ darf mit Fug und Recht als ein Schlüsselwerk für das Verständnis von Werk und Poetik Anna Achmatowas bezeichnet werden. Aber es ist dies weniger durch seinen Inhalt oder die literarische Bedeutung, als vielmehr durch die darin implizit zum Ausdruck gelangende Poetik der Dichterin.
Moritz Fehrle im Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Alexander Nitzberg: Man muß Sprache Gewalt antun.
Anne-Cathrine Simon und Eduard Steiner im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Ich übersetze lieber politisch unkorrekt“.
Michael Wurmitzer im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Sprache hat viele Schatzkammern“.
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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