Anna Achmatowa: Im Spiegelland

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anna Achmatowa: Im Spiegelland

Achmatowa-Im Spiegelland

REQUIEM

Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden,
Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr.
Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden,
Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war.

April 1957

Statt eines Vorwortes

In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise „erkannte“ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):
„Und Sie können dies beschreiben?“
Und ich sagte:
„Ja.“
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.

1. April 1957 Leningrad

 

Widmung

Hügel müssen fallen, Berge weichen,
Flüsse stauen sich vor diesem Leid.
Doch von keinem Mitleid zu erreichen
Sind die Stätten, wo Gefangne bleichen
In des Todes Hoffnungslosigkeit.
Ob am Morgen frische Winde wehen,
Ob die Sonne glüht im Untergang:
Uns gilt nur, wie sich die Schlüssel drehen,
Wie Soldaten auf und nieder gehen
Schweren Schritts den Korridor entlang. –
Aufgestanden früh, vor Morgengrauen,
Atemlos vor Furcht und Angst und Schmerz,
Treffen wir uns, die verhärmten Frauen,
Als noch überm Fluß die Nebel brauen –
Und noch immer hofft das arme Herz.
Dann das Urteil – und die Tränen fließen.
Schon will niemand mehr ihr nahe sein.
Leben, qualvoll aus der Brust gerissen…
Als ob Fäuste sie zu Boden stießen…
Doch sie geht, sie schwankt, sie ist allein.
Die ihr seit den zwei verfluchten Jahren
Unfreiwillig mir verbunden seid –
Alles Leid, das jenen widerfahren,
Trugt ihr mit in langen zwanzig Jahren:
Euch sei dies als Abschiedsgruß geweiht.

März 1940

 

Einführung

Damals galt nicht der Tod als Verhängnis,
Nein: das Leben in Leningrad.
Real war hier nur das Gefängnis,
Wesenlos die übrige Stadt.
Die Verurteilten zogen in langen
Kolonnen in Reih und Glied,
Und die Lokomotiven nur sangen
Kurz pfeifend ein Abschiedslied.
In den Sternen stand Tod und Verderben,
Rußland wand sich in Qual und Weh.
Unter Fußtritten ließ man uns sterben
Im Gefangnen-Transport-LKW.

1.
Früher Morgen war’s, als sie dich holten.
Die Kinder weinten vor Schreck.
Ich folgte dir wie einem Toten.
Die Kerze zerfloß im Eck.
Eiskalt deine Lippen, die blauen,
Schweiß des Todes auf deinem Gesicht.
Wie einst die Strelitzenfrauen
Werd’ ich heulen beim Blutgericht.

1935

2.
Stille fließt der stille Don.
Gelb tritt in das Haus der Mond.

Schaut in alle Winkel keck:
Sieht: Ein Schatten sitzt im Eck.

Eine Kranke muß das sein,
Eine kranke Frau, allein.

Tot der Mann, im Grabe schon,
Im Gefängnis sitzt der Sohn.

Diese kranke Frau bin ich.
Betet, schreit zu Gott für mich!

3.
Nein – das bin nicht ich, das ist eine andere, die da leidet.
Ich könnte das nicht so. Aber das, was geschehen ist,
Sollen schwarze Tücher bedecken,
Und man soll die Lampen wegtragen…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaNacht.

4.
Ahntest du wohl, du geistreiche Spötterin,
Von so vielen geliebt und begehrt,
Du von all deinen Freunden Vergötterte,
Was dir noch das Leben beschert?!
Daß in endloser Schlange du stehen wirst
Vor Kresty, in der Hand ein Paket,
Daß die Nacht du mit Tränen begehen wirst,
Da das Jahr zu Ende geht.
Übers Los der Gefangenen schweigen sich
Die trostlosen Wände aus.
Nur die Äste der Pappeln neigen sich…

5.
Vor siebzehn Monaten begann
Mein Leid, mein Kampf um ihn.
Ich flehte seinen Henker an,
Lag vor ihm auf den Knien.
Die Welt verdunkelt sich vor mir,
Blind tappe ich herum:
Ist dies ein Mensch? Ist das ein Tier?
Bringt man den Sohn mir um?
Was blieb, sind staub’ge Blumen nur
Und Weihrauchduft und eine Spur
Ins Nirgends – fern, so fern.
Toddrohend, grad ins Aug mir schaut
– So hell, daß es dem Herzen graut –
Ein ungeheurer Stern.

1939

6.
Wochen fliehn mit irrer Schnelle.
Was geschah? Ich fass’ es nicht,
Wie der weißen Nächte Licht,
Sohn, dich fand in dunkler Zelle.
Und jetzt sind sie wieder da,
Deine Seele auszulaugen,
Schaun mit heißen Habichtsaugen,
Künden Kreuz und Golgatha.

1939

7. Das Urteil

Und nun ist das Wort aus Stein gefallen
Auf die immer noch lebend’ge Brust…
Macht nichts! Ich werd’ fertig mit dem allen.
Ich war drauf gefaßt. Ich hab’s gewußt.

Vieles ist mir jetzt zu tun vonnöten:
Meine Seele werde hart wie Stein;
Das Gedächtnis muß ich vollends töten,
Was geschehn ist, muß vergessen sein.

Und wenn nicht?… Ich bin zu Tode bange.
Wie ein Fest sieht dieser Sommer aus.
Ach, ich ahnte es ja schon so lange:
Hell der Tag, verödet ist das Haus.

Sommer 1939

8. Anden Tod
Du kommst ja doch einmal – so komme jetzt zu mir.
Ich kann mein Schicksal nicht mehr tragen.
Ich hab das Licht gelöscht. Ich öffne dir die Tür.
Erlöse mich von meinen Plagen.

Komm, wie es dir gefällt, wähl selber die Gestalt:
Komm als Geschoß, mit Gift geladen,
Komm als Bandit, der Lust hat an Gewalt,
Vergifte mich mit Typhusschwaden.

Komm mit dem Märchen, das du ausgedacht,
Behaupte schlicht, ich spioniere,
Schick, zu verhaften mich in dunkler Nacht,
Soldaten und Geheimdienstoffiziere.

Mir ist jetzt alles gleich. Es rauscht der Jenissej,
Der Nordstern sendet seine Strahlen.
Wenn ich im Geist den Glanz geliebter Augen seh,
So lindern sich die letzten Qualen.

19. August 1939 · Haus an der Fontanka

9.
Halb hüllt er schon die Seele ein,
Der Wahnsinn, läßt das Herz mir stocken,
Tränkt mich mit seinem Feuerwein,
Sucht mich ins dunkle Tal zu locken.
aaaIch weiß es schon: Der Sieg gehört
aaaDem Wahnsinn, er wird hier gewinnen.
aaaSchon weiß mein Geist, im Wahn verstört,
aaaNicht mehr, was außen ist, was innen.
Und nichts von dem, was mir gehört,
Wird mitzunehmen er erlauben;
Mein Flehen läßt ihn ungestört,
Er wird mir alles, alles rauben:
aaaSelbst die Erinnrung an den Sohn,
aaaAn sein Gesicht, versteint im Leiden,
aaaAns letzte Treffen, als wir schon
aaaGewußt, daß wir auf ewig scheiden.
Der Freunde Liebe nimmt er fort,
Den tiefen Schatten blühnder Linden,
Der Dichtung Klang und selbst das Wort,
In dem wir letzte Tröstung finden.

4. Mai 1940 · Haus an der Fontanka

10. Kreuzigung
aaaaaaaaaaaaaa„Weine nicht um Mich, Mutter,
aaaaaaaaaaaaaaWenn Ich im Grabe bin.“

1
Die Engel rühmten Ihn, den Todesblassen,
Der Himmel brannte, als Sein Mund erblich,
Als Er zum Vater schrie, der Ihn verlassen,
Zur Mutter sagte: „Weine nicht um Mich!“

2
Händeringend klagte Magdalene,
Schmerzerstarrt sah man den Jünger stehn.
Doch zur Mutter – schweigend, ohne Träne –
Wagte niemand auch nur hinzusehn.

1940/43

Epilog

1
Ich kannte viele früh gewelkte Frauen,
Von Schrecken, Furcht, Entsetzen ausgeglüht.
Des Leidens Keilschrift sah ich eingehauen
Auf Stirn und Wangen, die noch kaum geblüht.

Ich sah manch junges Haar sich schnell verfärben,
Ein trübes Grau nahm Schwarz und Blond hinweg.
Ich sah manch frohes Lächeln plötzlich sterben –
In trocknem Lachen zitterte der Schreck.

Nun heb’ ich zum Gebete meine Hand,
Nicht nur für mich: Für jede, die dort stand,
In Winterkälte und im Sonnenbrand,
An jener blindgewordnen roten Wand.

1940

2
Der Tag des Gedenkens ist wiederum da,
Ich seh’ euch vor mir, wie ich damals euch sah:

Dich, die nur mit Mühe das Fenster erreicht,
Und dich, die du längst schon vom Tode gebleicht,

Und dich, die so schön, die so lieblich sah aus,
Die sagte: „Ich komme hierher wie nach Haus.“

Ich seh’ euch, auch wenn mancher Name mir schwand
(Man riß uns das kleinste Papier aus der Hand!).

Ich habe für euch diesen Teppich gewebt
Aus dem, was ich damals gehört und erlebt.

Ich denke an euch überall, immerdar,
Vergesse euch auch nicht in neuer Gefahr.

Verstummt einst mein Mund, der zu sagen gewagt,
Was hundert Millionen nur schweigend geklagt,

Dann bitt’ ich, daß ihr nun auch meiner gedenkt
Am Tage, an dem in das Grab man mich senkt.

Und will man dereinst mir ein Denkmal hier weihn,
So willige hiermit ich feierlich ein

Unter einer Bedingung: Dies Mal soll nicht stehn
Dort, wo ich die Sonne zuerst hab’ gesehn –

Am Ufer des Meers, mir so nah, so verwandt,
Denn längst ist zerrissen zum Meere das Band;

Auch nicht in dem Park, den ich innig geliebt,
Wo ein Schatten, mich suchend, dem Gram sich ergibt –

Nein, hier, wo ich dreihundert Stunden einst stand,
Der Sohn hinter Mauern und Riegeln verschwand,

Daß auch noch im Tod ich ihn höre und seh’,
Den schwarzen Gefangnen-Transport-LKW,

Noch zuknallen höre das schreckliche Tor
Und heulend im Jammer die Frauen davor.

Und fließt von den ehernen Wimpern mir dann
Der schmelzende Schnee, sieh’s wie Tränen sich an.

Vom Zuchthaus her klingt mir das „Ruckediguh“,
Die Newa eilt rauschend dem Ozean zu.

März 1940

Übersetzung: Ludolf Müller

 

Die Melpomene des 20. Jahrhunderts

Was habt ihr das Wasser verpestet,
Mit Unrat mein Brot untermischt?

Anna Achmatowa

Als 1911 Anna Achmatowas Gedichte über Liebe und Trennung zum erstenmal erschienen, schenkte man ihnen zunächst nicht viel Aufmerksamkeit: Damals, zu Beginn des Jahrhunderts, schrieben viele literaturbeflissene Damen sentimentale Lieder und Romanzen. Bald darauf erkannten jedoch manche Leser, daß sie es mit etwas ganz Unerwartetem und Hervorragendem zu tun hatten: Die kleinen Liebesgeschichten schienen zwar einem lyrischen Tagebuch zu entstammen, waren aber neu in ihrer Aussage. Die Dichter des Symbolismus hatten die irdischen Dinge als bloße Schatten der unsichtbaren Substanzen betrachtet – hier nun ertönte eine frische, diesseitige Stimme; sie nannte jedes Ding bei seinem prosaischen Namen und ließ die Intonationen des Alltagsgesprächs in schlichten, keineswegs melodischen Versen erklingen. 1910 war das Jahr der Krise des russischen Symbolismus. In theoretischen Artikeln forderte die neue Generation Deutlichkeit, Logik, Verständlichkeit. Ossip Mandelstam, der mit Nikolaj Gumiljow und Anna Achmatowa zum Mitbegründer des Akmeismus1 wurde, schrieb in seinem antisymbolistischen Manifest „Über die Natur des Wortes“:

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Nehmen wir als Beispiel die Rose und die Sonne, das Täubchen und das Mädchen. Für den Symbolisten ist keiner dieser Begriffe von eigenständigem Interesse: Die Rose ist nur das Gleichnis der Sonne, die Sonne das Gleichnis der Rose, die Taube das Gleichnis des Mädchens, das Mädchen das Gleichnis der Taube und so weiter. Die Gestalten sind wie Bälge ausgeweidet und mit fremdem Inhalt ausgestopft. Anstatt des symbolistischen Walds der Entsprechungen bloß eine Kürschnerei.

Und Mandelstam fügt hinzu:

So weit führt der Berufssymbolismus… Nichts ist mehr echt. Ein fürchterlicher Tanz symbolischer Entsprechungen. Ewiges Zublinzeln. Kein einziges klares Wort, nur Anspielungen und Verschweigungen. Das Mädchen weist auf die Rose, die Rose auf das Mädchen. Niemand will sich selber treu bleiben.

Da erscheinen diese kleinen Gedichte (oder dramatischen Miniaturen), in denen alles anders ist: Die Substantive sind wörtlich, nicht metaphorisch zu verstehen, die Epitheta unzweideutig und konkret, die Gefühle voneinander isoliert, die Intonation ist lebensgetreu. Die Lyrik steht nun nicht mehr dem Lied, sondern der Prosa nahe. Die Gedichte werden kurz und intensiv, die Worte deutlich und selbständig. Es ist nicht mehr die Musik, die den Vers bestimmt, sondern das Sachliche, der Sinn, es sind die materiellen Eigenschaften des Gegenstands und des Wortes. Ein junger Kritiker, Nikolaj Nedobrowo, schrieb 1915, die lyrischen Miniaturen der Achmatowa seien vom mondänen Leben der Petersburger Salons weit entfernt: Diese Dichtung helfe der Wiederherstellung eines stolzen menschlichen Selbstgefühls“, sie gebe eine „heroische Beleuchtung“ des modernen Menschen.

Wenn man die Verse der Achmatowa liest, empfindet man einen neuen Stolz auf das Leben und auf die Menschen.

Diese Einschätzung schien vielen übertrieben oder auch grundsätzlich falsch zu sein: Wieso sollten solche Liebesminiaturen heroisch sein? Dies seien vielmehr kokette, gefallsüchtige Gedichte, die den Leser zu verführen trachteten.
Nedobrowo hatte jedoch recht: Dort, wo die meisten Leser nur Banales zu erkennen versuchten, entdeckte er die Anfänge einer großen tragischen Dichtung. Mit den Jahren vertiefte sich das tragische Element. Anna Achmatowa blieb die Sängerin der Liebe und der Trennung, wurde aber zugleich zur Stimme ihrer Generation. Als sie dann viel später, in den dreißiger Jahren, in den Gefängnissen von Leningrad Schlange stand, um etwas über ihren Sohn zu erfahren, der verhaftet, vielleicht schon tot war, wurde sie einmal von einer Unbekannten gefragt:

Und Sie können dies beschreiben?

Anna Achmatowa antwortete kurz:

Ja.

Das hat sie in ihrem Requiem getan: In kurzen, eindringlichen Versen, die ein einheitliches tragisches Poem bilden, spricht sie über die Schrecken ihrer Zeit, den Kummer der Mütter und der Frauen, die Verzweiflung der Unschuldigen, die blutigen Nächte der Konzentrationslager und Gefängnisse. Sie, die so oft die Zärtlichkeit besungen hatte, fand die notwendigen Worte, um über die apokalyptische Realität zu berichten – der tragischen Muse Melpomene stand sie näher als der Euterpe. In einem Gedicht sagt Anna Achmatowa von ihrer Muse:

Erwarte nachts ich sehnend ihr Erscheinen,
Dünkt mich, das Leben hängt an dünnem Band.
Ruhm, Jugend, Freiheit wollen nichtig scheinen
Vorm lieben Gast, der die Schalmei umspannt.
Nun tritt sie ein. Sie läßt den Schleier gleiten
Und richtet prüfend ihren Blick auf mich.
Ich frag’: „Warst du es, die der Hölle Seiten diktierte Dante?“
Sie erwidert: „Ich.“
.2

Das Gedicht ist 1924 entstanden, als die Prüfungen erst begonnen hatten: Die Hölle, die nur auf eine danteske Art zu beschreiben war, stand noch bevor. Die Zeitgenossen lächelten: Sollte diese schöne Frau mit ihrem berühmten Profil und dem jugendlichen Stirnhaar der Dante unserer Zeit werden? Oft ist das Verständnis der Zeitgenossen begrenzt, und erst die nachfolgenden Generationen vermögen die Bedeutung eines Dichters ganz zu erkennen: Der lebendige Mensch steht der richtigen Einschätzung seines Werks im Wege. Anna Achmatowa war es bestimmt, unsterbliche Worte über die Tragödie der Epoche zu sagen. In einem Brief schrieb ihr Mann Nikolaj Punin, der 1942 im Krankenhaus lag und der von ihm geschiedenen Anna Achmatowa von seinen letzten Gedanken berichten wollte:

Vor dem Sterben habe ich keine Angst… Der Gedanke, daß es etwas Unsterbliches gibt und daß ich mitten drin sein werde, war so schön und so feierlich. Sie [Anna Achmatowa] schienen mir damals (und auch jetzt noch!) der höchste Ausdruck des Unsterblichen zu sein…

Der höchste Ausdruck des Unsterblichen: so dachten viele schon zu Lebzeiten der Achmatowa.
Um die Tragödie ihrer Zeit in Worten ausdrücken zu können, mußte Anna Achmatowa sie bis zum Ende durchstehen. Diese schlanke, königlich-majestätische Frau schien für das Glück wie geschaffen zu sein, hatte aber alles nur erdenkliche Unglück erlebt.
Sie hatte die Schrecken zweier vernichtender Kriege erfahren. Ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, wurde wegen Teilnahme an einer konterrevolutionären Verschwörung im August 1921 erschossen. Ein anderer, den sie liebte – der Maler Boris Anrep –, wanderte in den Westen aus und wollte sie zu sich holen, sie aber war außerstande, ihr Land zu verlassen. In ihren Augen wäre es eine Schande gewesen, sich selber zu retten und ihr Volk, ihr Rußland im Stich zu lassen:

… mit den Händen, ohne jede
Erregung, schloß ich mein Gehör.
Daß die unehrenhafte Rede
Die bittre Seele nicht entehr
.3

Ein dritter – der Kritiker Nedobrowo, dem sie mehrere erschütternde Gedichte gewidmet hatte – war 1919 im Alter von fünfunddreißig Jahren an der Schwindsucht gestorben. Ihr letzter Mann, Nikolaj Punin, mit dem sie fünfzehn Jahre lang gelebt hatte, war in den Schreckensjahren verhaftet und in ein Lager gesteckt worden. Ihr einziger Sohn, Lew Gumiljow, erlebte das gleiche Schicksal mehrmals: 1935 wurde er festgenommen, dann aus der Haft entlassen, 1938 wieder für einige Jahre inhaftiert, dann 1949 erneut inhaftiert, bis man ihn 1956 endgültig rehabilitierte. Für seine Mutter waren diese Jahre, in denen sie stets gewärtig sein mußte, daß der Sohn zum Tode verurteilt würde, ein unaufhörlicher Alptraum:

Nein, das bin nicht ich, das ist eine andere, die da leidet,
Ich könnte das nicht so
4

Und dann ruft sie den Tod:

Du kommst ja doch einmal – so komme jetzt zu mir.
Ich kann mein Schicksal nicht mehr tragen.
Ich hab’ das Licht gelöscht. Ich öffne dir die Tür.
Erlöse mich von meinen Plagen
5

Alle Gefährten – einer nach dem anderen – verschwanden im Nichts… Ihr engster Freund Ossip Mandelstam verhungerte 1938 in einem Konzentrationslager in der Nähe von Wladiwostok. Oft nennt sie die Namen der Freunde, aber es antwortet nur die Stille – so schreibt sie in einem späten Gedicht. Sie kommt sich selbst wie ein Schatten vor, der schon jenseits des Lethe ist…
Schließlich erlebte sie eine späte Liebe zu Isaiah Berlin, den sie 1946 kennenlernte. Der englische Philosoph und Historiker russischer Herkunft, der „Gast aus der Zukunft“, wie sie ihn öfters nannte, war damals Mitarbeiter der britischen Botschaft in Moskau. Anna Achmatowa war überzeugt, diese Begegnung hätte den Shdanow-Skandal von August 1946 und, als unmittelbare Folge, den neuen Terror ausgelöst.
Jedenfalls hat sie Berlin nie mehr in der Sowjetunion treffen können. Ihm sind ihre erschütternden Liebesgedichte der letzten zwanzig Jahre ihres Lebens gewidmet (wir bringen mehrere davon unter dem Titel „Für einen Gast aus der Zukunft“).6 Als Anna Achmatowa im Jahre 1965 in Oxford mit Sir Isaiah zusammenkam, erklärte sie ihm, daß ihres Erachtens (dies berichtet Sir Isaiah) ihrer beider Begegnung (am 6. Januar 1946) den kalten Krieg und auf diese Weise eine entscheidende Wendung der Weltgeschichte heraufbeschworen habe.7 Sowohl Isaiah Berlin als auch ihrer englischen Biographin Amanda Height8 gestand Anna Achmatowa, sie halte sich selbst und ihren britischen Freund für auserwählt, die kosmische Katastrophe auszulösen. Die beiden geben die Prophezeiungen der russischen Kassandra mit leichter Ironie wieder, aber vielleicht irrte sie sich nicht so grundsätzlich, wie es scheinen mag.
Während des Krieges engagierte sich Anna Achmatowa auf der Seite der Patrioten:

Die Feindesfahne
Verblaßt im Krieg.
Unser – die Wahrheit,
Unser – der Sieg.
9

Sie war glücklich, mit ihrem Volk solidarisch sein zu können und ein gemeinsames Ziel mit ihm zu haben. Die Solidarität mit dem Staat war jedoch nicht von langer Dauer. Im August 1946 wurde der berüchtigte ZK-Beschluß getroffen, demzufolge Anna Achmatowa die Sowjetdichtung schändete; ihr wurde vorgeworfen, sie sei Nonne und Hure zugleich, und ihre lyrische Dichtung sei ein Hindernis beim Aufbau des Sozialismus. „Anna Achmatowa“, sagte der ZK-Ideologe Shdanow, „ist eine Vertreterin des prinzipienlosen reaktionären literarischen Sumpfs… Was können die Werke der Achmatowa unserer Jugend an Belehrendem geben? Nichts, sie richten nur Schaden an. Diese Werke können nur Pessimismus, Niedergeschlagenheit, Trostlosigkeit säen, die Absicht einflößen, vor aktuellen Problemen des sozialen Lebens in die winzige Welt persönlicher Empfindungen zu flüchten…“10
Gegen den Krieg konnte man ankämpfen, gegen den ZK-Beschluß hingegen nicht: Es blieb nichts anders übrig, als abzuwarten. Zehn Jahre später war der Spuk vorbei. Der Parteisekretär Andrej Shdanow war tot und vergessen. Auch Stalin war nicht mehr am Leben, und seine Gebeine wurden aus dem Lenin-Mausoleum entfernt. Anna Achmatowa hatte noch zehn Jahre vor sich. Ihr Sohn war heimgekehrt. Ihre Bücher konnten erscheinen, ein Teil ihres Lebenswerks Poem ohne Held (1940/62) wurde publiziert. Sie durfte sogar in den Westen reisen, um den Preis Etna-Taormina in Italien und das Ehrendoktorat in Oxford in Empfang zu nehmen. Zu spät kam das alles. Glücklich konnte sie nie mehr werden. Eines ihrer letzten Erlebnisse war die Verurteilung ihres Schülers und jungen Freundes Jossif Brodski zu fünf Jahren Zwangsarbeit – wegen Schmarotzertum (natürlich war er ein Schmarotzer – er dichtete Lyrik). Sie schrieb damals:

Verlöscht ist meine stolze Fackel,
Doch Gott bewahre mich vorm Los,
Zu sehn des Unglücks goldnen Makel
Auf junger Stirn, noch faltenlos
.11

Vor diesem Los hat Gott sie nicht bewahrt: Sie starb, ohne getröstet zu sein, und mit dem Wissen, daß ein Großteil ihres Werks dem Vergessen preisgegeben war – bis zum heutigen Tage sind das Requiem, ein Teil des Poems ohne Held und zahllose Gedichte von der Sowjetzensur verboten. Doch zweifelt heute niemand mehr daran, daß der Name Anna Achmatowa in einer Reihe steht neben den bedeutendsten Namen der Literatur unserer Zeit. Boris Pasternak hatte mit Recht 1943 in einer Zeitungsbesprechung über die Achmatowa geschrieben:

Zwei blutige Kriege – ihre Spuren sind beinah auf jeder Buchseite zu sehen – und zwischen ihnen die berühmte Silhouette mit dem stolz erhobenen Kopf, das Leben und das Schaffen der unbiegsamen, ergebenen, aufrichtigen Tochter des Volkes und des Jahrhunderts, die gestählt, an Verluste gewöhnt und zu den Prüfungen der Unsterblichkeit mutig bereit ist.12

Efim Etkind, Nachwort

 

Zu diesem Buch

Die hier vorliegende Auswahl aus den Gedichten der unbestritten größten russischen Dichterin, Anna Achmatowa, erschließt weitgehend ihr Gesamtwerk. Sie umfaßt Übersetzungen berühmter Gedichte aus allen Schaffensperioden und Sammlungen sowie die vollständigen Zyklen „Mitternächtliche Verse“, „Nordische Elegien“, „Cinque“ und „Requiem“ und spiegelt so die Entwicklungen, die die Dichterin während ihres langen Schriftstellerlebens durchgemacht hat.
Am Anfang steht die Liebeslyrik, die mit ihrer konkreten, alltägliche Gegenstände verwendenden Motivik den zeitgenössischen Symbolismus hinter sich ließ. Anna Achmatowa weist sich schon hier als Meisterin der kleinen Form und der epigrammatischen Verkürzung aus: Ein Brief, eine bestimmte Gebärde werden zu persönlichen Chiffren für eine komplexe dramatische oder elegische Situation. Im Lauf der Jahre verstärken sich die tragischen Töne, bis das Bild der klagenden Prophetin das der liebenden Frau abgelöst hat. Bei aller Verschiedenartigkeit des Früh- und des Spätwerks ist bei näherer Betrachtung die organische Verwandtschaft aber doch unübersehbar: Die Leidens- und Ausdrucksfähigkeit entfaltet sich aus der ganz intimen in eine welthistorische Sphäre; die persönliche Chiffrensprache verwandelt sich in ein Reden in Zitaten aus der Kultur- und Literaturtradition; aus dem Leiden an der Liebe ist ein Leiden und Sprechen für eine ganze Nation geworden.

R. Piper Verlag, Klappentext, 1982

 

„… Als Antwort nur die Stille mich umfängt.“

– Die einsame große Dame der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. –

Wie tief im Brunnen weiße Steine liegen,
Liegt ein Erinnern tief in meinem Herzen.
Ich kann nicht und ich will es nicht bekriegen:
Es bringt mir Freude und es bringt mir Schmerzen.

Die russische Dichtung des 20. Jahrhunderts kennt viele große Namen und fast alle haben sie sich gegenseitig gekannt, inspiriert und selbst ihre Schicksale weisen ähnliche Komponenten auf, darunter oftmals Exil, Lagerhaft, Bespitzlung, Schreibverbot und sogar Ermordung. Die Grande Dame dieser verlorenen Generation russischer Dichter (als silbernes Zeitalter bezeichnet) war ohne Zweifel die Dichterin Anna Achmatowa, der es Schicksal wurde, die meisten ihrer Freunde im Geiste um manchmal viele Jahre zu überleben. So Mandelstam und Zwetajewa, aber auch Pasternak und Alexander Blok.

Die einen Scherzen in der Nacht und küssen,
Die andern trinken, bis der Tag anbricht.
Mit mir verhandelt nächtens mein Gewissen,
Das klar und unerbittlich zu mir spricht.

Ich sag zu ihm: Wie lang soll ich noch tragen
Die Last von dem, was längst Vergangenheit?
Doch es erwidert: So darfst du nicht fragen,
Denn weder Raum gibt es für mich noch Zeit.

Nachdem sie anfangs vor der Revolution (1912–1917) bereits einige Bände mit Liebes- und anderen Gedichten veröffentlicht hatte, wurde sie im gefestigten Sowjetrussland schnell mit einem Publikationsverbot belegt (1923). Ihre Verse überlebten die lange Zeit der Schweigeklausur, die, bis auf wenige winzige Ausnahmen, bis zu Stalins Tod (1953) gelten sollte, dank ihrer Eingängigkeit und Lebensnähe vor allem in den Köpfen der Menschen – Natürlich eigentlich der Traum eines jeden Dichters, aber eben aus der dunklen Quelle der Umstände gespeist. Dieser Zwiespalt überschattete Achmatowas ganzes Leben in der Sowjetunion, auch nachdem sie wieder publizieren konnte und findet sich auch als wiederkehrendes, unterschwelliges Motiv, als eine Stimmung von Grau, in ihren Versen wieder.

Verließ’ uns schlichtes Fühlen, frisches Wort –
Wär’s nicht als nähm’ dem Maler man das Sehen,
Dem Schauspieler das Sprechen und das Gehen,
Und einer schönen Frau die Schönheit fort?

Doch such nicht zu behalten deinerseits
Die Gaben, die der Himmel dir verliehen:
Wir sind verdammt – wir wissen es – zum Blühen
Und zur Verschwendung – nicht zum Geiz.

Schlicht, bisweilen mit einem Anflug Spott, und auch manchmal nahe am Schmachten und Verzehren, doch eigentlich immer unbewegt, nur träumend oder weisend, kommen ihre Verse daher. Spürbar, unter der Oberfläche, liegen darin Sehnsucht, Abneigung, Angst und Furcht, glattgestrichen; weder Feuer, noch Eis, sondern eher Rauch, Brunnenplätschern, Schifffahrtswellen, Blinzeln und das Aufragen sind die ungefähren Wesenheiten ihrer Dichtung und betonen das Flüchtige, aber auch das Bleibende darin.
Vor allem Liebesgedichte und später viel über das Schicksal, ihre eigenen Händel mit dem Staat (ihr Sohn saß über 15 Jahre in einem Lager, manchmal sogar mit der Gefahr von Exekution) und über die Personen, Dichter und Denker, die sie schätzte, machen den Kern ihres Werkes aus, zusammen mit den speziellen Gedicht-Zyklen und den vielen, meist unbetitelten, nach innen gekehrten Beobachtungen und Betrachtungen; letztere oft schwankend zwischen vollendeter und angeknackster Beherrschung.

Aus Stein scheint des Himmels Bogen,
Verwundet von gelbem Glühn.
Oh, sei mir endlich gewogen,
Send ein einziges Wort über ihn.

Der mit Tau Du benetzest die Triebe,
Beleb mit der Kunde mein Herz –
Nicht für Leidenschaften und Scherz,
Für die große irdische Liebe.

Liebe, Liebe, als ein Ding, so groß wie eine Welt, aber so abgewandt und versunken wie deren Nachtseite – und doch auch wieder schön; magisch; unfehlbar. Kaum ein Dichter hat die Liebe in so ambivalente, entsprechende und gleichsam schlichte, in so tiefe und doch so unbewegte Verse gekleidet, wie Anna Achmatowa. Jedes der Gedichte über diese Thema hat seinen eigenen Herzschlag, seine eigene Vorstellung von der Liebe, in der Momentaufnahme der damaligen Empfindung gefangen; die Atmosphären in diesen Zeilen können sanft wie Wasser oder schwer wie Brokat sein, aber immer sind sie Oberfläche und Inhalt zugleich – ein schwieriger Balanceakt und ein sehr kontrastiertes Leseerlebnis.

O zerknülle nicht, Liebster, mein Schreiben.
Nein, mein Freund, ließ es bis zum Schluss.
Ich bin’s Leid, dass ich unbekannt bleiben,
Stets die Fremde dir bleiben muss.

[…]

Dieses Lächeln schenk bewahr ich mir,
Das die Lippen kaum sichtbar bewegt;
Liebe selbst hat es in mich gelegt,
Und ich schenke es keinem als dir.

Wenig Licht herrscht in diesen Gedichten, viel Dunkelheit, aber eine Dunkelheit, die wiederum viele ferne Lichtquellen auf sich zieht wie Sterne, als wären sie Wein, auf den man blickt, während die Lichter eines Saales sich auf Glas und Flüssigkeit brechen und spiegeln.

Unausgesprochene Sätze
Und Worte, nie gesagt.
Die Blicke, die sich nicht trafen,
Wissen nicht wohin.

Man kann es heikel nennen, die gereimte Version aus einer Sprache (und dann noch aus der russischen Sprache, die sehr viel mehr Reimwörter und vielfältigere Kadenzen – und und und – kennt als die deutsche) in eine andere zu übertragen und dabei das gereimte halten zu wollen. Immerhin hat diese Ausgabe insofern einen interessanten Mittelweg gefunden, dass sie ab und an mehrere (2 bis auch mal 4) gereimte Übersetzungen zu ein und demselben Gedicht anbietet. Ansonsten ist es, im Falle von Anna Achmatowa, auf jeden Fall das kleinere Übel, denn ihre Lyrik lebt elementar von Reimen, von dem Charakter des Verses der sich selbst mit den anderen verbindet. Das mag im Deutschen manchmal etwas herunterkonstruiert wirken, hat aber auch den Vorteil, dass man, trotz der Komplexität, die manchmal in der Einfachheit von ihren Zeilen liegt, über den Rhythmus und Klang doch leichter Zugang zu ihren Werken erhalten kann.

Weil er den Rauch Laokoon verglichen,
Die Distel an der Friedhofswand besang,
Weil alles seinem neuen Klang gewichen,
Mit dem er einen neuen Raum errang,

Ward er belohnt mit kindlichem Erfassen,
Mit der Gestirne weitem, scharfem Blick,
Die Erde ward als Erbteil ihm gelassen,
Doch er gab allen andern sie zurück.

(Aus einem Gedicht über Pasternak)

Anna Achmatowa zu lesen hat viel mit Wiederlesen, mit Genaulesen und auch mit Empathie zu tun. Doch es steckt einfach auch eine Größe in ihr, unübersehbar, gleich einem riesigen Schiff, welches glatt, schwarz und langsam durch eine Landschaft in einen Hafen einfährt, vielleicht umjubelt, aber selber still, bis auf das leise Rauschen der Schiffsschraube. Innerliche und doch auch nach außen getragene Größe und aufrechte Haltung, hinter die zarte Sehnsucht schlägt wie das Herz eines Wurmes im Kerngehäuse des Apfels. Man spürt den Herzschlag in den Zeilen, in jeder ein ganz klein bisschen davon.

Man gräme sich nicht so unendlich
Und sei nicht so verschlossen, o nein! –
Um denen, die leben, verständlich
Und angelweit offen zu sein.

[…]

Das wenige, was uns gegeben,
Ist eng von der Zeit umzäunt,
Doch er wird unwandelbar leben,
Des Dichters verborgener Freund.

(Aus einem Gedicht über den Leser)

Timo, amazon.de, 19.5.2013
zu einer späteren Ausgabe

 

Oxforder Studenten in Leningrad

Am 6. März 1953 versammelten sich die Leningrader Schriftsteller im Haus der Literaten, auch Majakowskij-Club genannt, um des einige Tage zuvor verstorbenen Jossif Wissarionowitsch Stalin zu gedenken. Auf dieser Veranstaltung war auch Anna Achmatowa anwesend. Sie war Mitglied des Autorenverbandes, und deshalb wäre ihr Fernbleiben ein ungeheuerlicher Affront gewesen. Zwar teilte sie nicht im geringsten die demonstrative Trauer ihrer zahlreichen Kollegen, doch mit Sicherheit war sie sich der historischen Tragweite des Augenblicks bewußt.
Nach dem Titel einer Erzählung von Ilja Ehrenburg bezeichnete man die Zeit unmittelbar nach Stalins Tod als Phase des Tauwetters. Einige Jahre später nahm der Filmregisseur Grigorij Tschuchraj diese Metapher in seinem Film Reiner Himmel wieder auf. Die riesigen berstenden Eisschollen und der sich gewaltig seine Bahn brechende Fluß prägten das Bewußtsein einer ganzen Generation.
In der Tat hatte der Beginn der Entstalinisierung etwas von einem gewaltigen Naturereignis. Mit dem Tod des Kremlführers war ein Machtvakuum entstanden. Die Kämpfe um die Nachfolge zielten darauf, dieses möglichst schnell zu füllen. Die Ereignisse hatten einen merkwürdigen Doppelcharakter. Einerseits handelten die Protagonisten meist nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern im Sinne der Machtlogik. Andererseits wurden sie von der Eigendynamik des Prozesses häufig selbst eingeholt. So initiierte zum Beispiel Lawrentij Berija bereits Ende März 1953 die Freilassung der jüdischen Ärzte, die man einen Monat zuvor wegen angeblicher politischer Mordtaten und wegen des Verdachts der Spionage verhaftet hatte. Mit diesem Schachzug wollte Berija seine Widersacher bei der Geheimpolizei schwächen; tatsächlich jedoch leitete er seinen eigenen Sturz und die daraus folgende Hinrichtung ein.
„In letzter Zeit bin ich nachts mehrmals vor Glück erwacht“, sagte Anna Achmatowa zu ihrer Freundin Lija Tschukowskaja im April 1953. Das Glücksgefühl rührte aus der Freilassung der jüdischen Ärzte, dieser letzten unglückseligen Opfer einer Stalinschen Hetzkampagne. Tatsächlich war etwas Überwältigendes geschehen: Die Prawda hatte öffentlich die Foltermethoden verurteilt, mit denen die Geständnisse der Mediziner erpreßt worden waren.
Schon allein die Tatsache, daß das Parteiblatt, seinem Namen entsprechend, überraschenderweise die Wahrheit geschrieben hatte, wäre Grund genug zur Freude gewesen. Anna Achmatowa hoffte jedoch auf weitere Wunder – auf die Freilassung ihres Sohnes Lew und ihres ehemaligen Gatten Nikolaj Punin. Schließlich war die Anklage gegen beide ebenso frei erfunden wie der Spionagevorwurf gegen die Kremlärzte. Außerdem kannte Achmatowa damit rechnen, daß das vielversprechende Tauwetter auch den Parteibeschluß vom August des Jahres 1946 aufweichen und hinwegschwemmen würde.
Nicht allein Achmatowa nährte solche Hoffnungen. Kornej Tschukowskij schrieb im Herbst 1953 in sein Tagebuch:

Ich bin bei Fedin gewesen. Er sagt, in der Literatur sei ein neuer Frühling angebrochen. (…) Ein ganzes Bändchen von Achmatowa wird gedruckt, ein ganzes Buch, aus ihren alten und neuen Gedichten zusammengestellt…

Der größte belletristische Staatsverlag, Chudoschestwennaja Literatura, entsandte ein Auto nebst Chauffeur zum Haus der Familie Ardow in der Bolschaja-Ordinka-Straße, wo Anna Achmatowa zu Gast war, wenn sie sich in Moskau aufhielt. Im Verlag empfing man die Dichterin mit dem ihr gebührenden Respekt und gab ihr eine eindeutige Zusage, einen Band mit ihren Gedichten herauszugeben – den ersten seit dem dünnen Büchlein, das 1943 in Taschkent erschienen war.
Spiritus rector dieser Initiative war Aleksej Surkow, seit 1953 Erster Sekretär des sowjetischen Schriftstellerverbands. In den Zeiten, als Anna Achmatowa direkter Verfolgung, Verleumdung und Diskriminierung ausgesetzt gewesen war, hatte Surkow seine Aufgabe im Versuch der Schadensbegrenzung gesehen. Jetzt wünschte er, der Dichterin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Um eine Gestalt wie Surkow begreifen zu können, dürfen Gut und Böse nicht als Antipoden, sondern müssen als untrennbare Ganzheit betrachtet werden. Surkow war ein sowjetischer Spezialfall des Moliéreschen bourgeois gentilhomme. Er diente mit Leib und Seele einem System, das panische Angst vor jedem frei umherschweifenden Wort hatte, folglich vor der Poesie eo ipso. Gleichzeitig verfügte er über ein gewisses, wenn auch nicht absolutes Gehör für wahre große Dichtung. Mit der Zeit entwickelte er sich zu einem Doppelagenten: einerseits Spion der Poesie in der Machtsphäre, gleichzeitig knallharter Vertreter der Parteiinteressen in der Literatur. Diese Doppelrolle spielte er, gerade wenn es um Anna Achmatowa ging, mit einem kaum zu leugnenden Charme. Wann immer er die Dichterin aufsuchte, brachte er Blumen mit, so daß sie ihn, wenn sie über ihn sprach, nur „der Bräutigam“ nannte. Aber dieser Bräutigam hatte als Mitgift eine ähnliche Botschaft wie seinerzeit Zar Nikolai gegenüber Aleksandr Puschkin:

Ich werde dein Zensor sein.

Als junger Student in Moskau 1963/64 erlebte ich Aleksej Surkow mehrmals auf den gutbesuchten Leseabenden im Haus der Literaten in der Worowskij-Straße. Er saß im Präsidium wie aus dem Ei gepellt, mit rötlich-gesunder Gesichtsfarbe und schlohweißen Haaren, neben sich bekannte sowjetische und ausländische Schriftsteller – so die Russin Margarita Aliger, die Bulgarin Elisawera Bagrjana, den jungen Deutschen Hans Magnus Enzensberger, den pakistanischen Dichter Fais Ahmad Fais und meinen Landsmann Ferenc Juhász. Surkow moderierte solche Versammlungen sichtlich zufrieden, in der Pose eines Tamada, eines kaukasischen Gastgebers. Wahrscheinlich freute er sich sogar, daß er für einige Stunden nicht als höchster Kulturdiplomat seines Landes öffentlich Lügen verbreiten, Jossif Brodskijs Verbannung gutheißen oder gar Lew Gumiljows Erschießung rechtfertigen mußte.
In den ersten Jahren nach Stalins Tod wuchs das europäische Interesse an der Sowjetunion, und die Außenpolitik des Kreml reagierte darauf recht aktiv. Die mit den Waffenstillständen in Korea und Vietnam sowie mit dem ersten Gipfeltreffen in Genf einhergehende bescheidene Entspannungspolitik sollte auch mit den Mitteln der Kultur gefördert werden. Die ersten Gastspiele des Bolschoi-Balletts, die ersten Auslandskonzerte der berühmtesten Musiker des Landes sollten dessen neues Image befördern und den Eindruck erwecken, innenpolitisch und wirtschaftlich sei „alles normal“.
Auch das Interesse des Auslands an Dichtern wie Achmatowa, Pasternak oder Soschtschenko hätte theoretisch propagandistische Pluspunkte für das sowjetische System einbringen können. Gleichzeitig gab es jedoch die Gefahr, daß der Klassenfeind nur das herauspickte, was gerade in sein Arsenal des Kalten Krieges paßte, nicht jedoch bereit war, das von den kommunistischen Machthabern erwünschte Gesamtbild sowjetischer Literatur zu akzeptieren. Der Propagandaapparat bestand fast ausschließlich aus Ideologen der klassischen Stalinzeit und war auf diese heikle Situation gänzlich unvorbereitet. Dies war der Grund für den nächsten Tiefschlag, der Anna Achmatowas Laufbahn beeinträchtigen sollte.

Bald nach Stalins Tod stattete eine von Aleksej Surkow geleitete sowjetische Schriftstellerdelegation der Literarischen Hochschule in Leipzig einen Besuch ab. Die Studenten, sichtlich angeregt von dem durch den 17. Juni erzwungenen „Neuen Kurs“ der SED, stellten der Abordnung aus dem Land des Großen Bruders einige heikle Fragen.
Mehr als zwanzig Jahre später wurde der DDR-Dichter Adolf Endler von diesem Ereignis zu einem Gedicht inspiriert, und er widmete es der zur Entstehungszeit des Gedichtes verfemten Liedermacherin Bettina Wegner.

BESUCH AUS MOSKAU 1954
ODER NACH ACHMATOWA FRAGEN

Fadejew! – Paustowski! – Kornejtschuk!
Issakowski! – Baschan! – Schtschipatschow!
Ketlinskaja! Kassil! Katajew!
„Ach, lebt die Achmatowa noch?“

Bek! – Lebedew-Kumatsch! – Sjomuschkin!
Scholochow! – Polewoj! – Lugowskoj!
Surkow! – Schaginjan!- Libedinski!
„Und lebt die Achmatowa noch?“

Perwomajski! – Fedin! – Lukonin!
Ja, sie lebt!, nun hören Sie doch!
Assejew! – Aschajew! – Fadejew!

Sie lebt, die Achmatowa, noch?“

„Lebt die Achmatowa noch?“ – diese Frage stellten sich auch die Mitglieder jener britischen Studentengruppe, die, aus mehreren Hochschulen des Landes zusammengestellt, einer Einladung des Antifaschistischen Komitees der Sowjetischen Jugend und der Allunionsgesellschaft für Kulturkontakte folgten. Ihre zweiwöchige Rundfahrt durch die „Heimat aller Werktätigen“ gehörte zu jenen halb touristischen, halb propagandistischen Aktionen, mit denen die Sowjets sich bei ausländischen Intellektuellen beliebt machen wollten.
„Wir wohnten in Moskau im Hotel Metropol“ berichtet 1995 der Oxford-Professor Harry Shukman, damals Literaturstudent an der Nottinghamer Universität.

Jedes Essen, jedes Mittagsmahl war ein Bankett. Und die Menschen lebten armselig damals. Das war zehn Jahre nach Kriegsende (…). Die Leute sprachen auch nur sehr vorsichtig mit uns.

Die etwa zwanzig Jugendlichen, von denen Shukman als einziger Russisch sprach, schöpften Argwohn. Zuerst bestürmten sie mit ihren Fragen die Dolmetscherin Swetlana, dann gingen sie im Gespräch mit den offiziellen Gastgebern zu Provokationen über. Fast zum Eklat kam es anläßlich eines Besuchs in der Lenin-Bibliothek.

Uns interessierten nicht Lenins Werke, sondern diejenigen von Orwell und Trotzkij. „Wo ist Dosrojewskiji“ fragten wir. Also wir provozierten unaufhörlich, so daß ich denke, ihre Haltung gegenüber Leuten wie uns veränderte sich stark nach dem Treffen. Wir haben sie angestänkert, ja, mächtig angestänkert.

Nach solcherart spannungsvollen Gesprächen kam die Gruppe Anfang Mai in Leningrad an. Dort bestanden die jungen Revolutionstouristen darauf, mit den beiden in Ungnade gefallenen Literaten Achmatowa und Soschtschenko sprechen zu dürfen. Die sowjetische Seite entschloß sich daraufhin zu einem Treffen am 5. Mai 1954 im Majakowskij-Club.

Im Sommer 1953 traf sich Anna Achmatowa bei der Beerdigung des Malers Osmerkin in Moskau mit dem berühmten Architekten Lew Rudnjew, der wiederum persönlich mit dem Staatschef Marschall Woroschilow befreundet war. Rudnjew, unter anderem Erbauer der Moskauer Universität, versprach, Achmatowas Gnadengesuch in Sachen Lew Gumiljow dem hochkarätigen Funktionär zukommen zu lassen. Dieses Versprechen löste er spätestens im Februar 1954 auch tatsächlich ein.
Anna Achmatowa fuhr zu dieser Zeit regelmäßig nach Moskau, um die Freilassung ihres Sohnes zu erwirken. Zugkarten konnte sie nur über den Schriftstellerverband bekommen. Deshalb rief sie dort am 4. Mai 1954 an. Ein Referent bat sie daraufhin, am nächsten Tag zu einer Begegnung mit englischen Studenten ins Schriftstellerhaus zu kommen. Eine Stunde später meldete sich der Funktionär Katerli mit demselben Anliegen. Achmatowa suchte zunächst nach Vorwänden, um der Einladung auszuweichen, doch Katerli erwies sich als hartnäckig:

Sie müssen unbedingt kommen, sonst werden die sagen, man habe sie erwürgt.

Vier Tage später, anläßlich eines Besuchs in Moskau, erzählte Achmatowa ihrer Freundin Tschukowskaja:

Um mich abzuholen, hat man ein Auto geschickt, mich hingefahren. Der Rote Saal, wie wir ihn kennen. Eine Menge Engländer, ganz wenige Russen. Da sitzen Sajanow, Soschtschenko, Dymschitz und so… ja. Und noch die Dolmetscherin, ein Mädel aus dem WOKS – jawohl, alles wie es sich gehört. Ich sitze da, betrachte sie alle, schaue in die Gesichter: Wer ist wer? Ich weiß, daß sich für mich eine Katastrophe anbahnt, ich weiß nur noch nicht: Wer wird die Fragen stellen? Zuerst fragen sie nach der Veröffentlichung von Büchern: Welche Behörde erteilt die Genehmigung? Dauert die Veröffentlichung lange? Was verlangt die Zensur? Kann man Bücher im Selbstverlag veröffentlichen, wenn sie von den Verlagen abgelehnt werden? Die Antworten gibt Sajanow. Dann stellen sie die Frage, ob sich jetzt die Literaturpolitik im Verhältnis zum Jahr 1946 verändert habe. Ob man von der Rede (Schdanows, G. D.), von dem Beschluß abgekehrt sei. Für mich war es interessant zu hören, daß die Antwort „Nein“ lautete – sie seien in nichts abgewichen. Dann gehen die mutigen Piraten zum Angriff über und bitten Mr. Soschtschenko zu sagen, wie er sich zum ZK-Beschluß des Jahres 46 verhalten habe. Michail Michailowitsch antwortet, daß der Beschluß ihn zuerst durch seine Ungerechtigkeit schockiert habe, er habe sogar einen Brief in diesem Sinne an Jossif Wissarionowitsch geschrieben, später habe er jedoch verstanden, daß vieles in diesem Dokument richtig gewesen sei. Man applaudiert ein bißchen. Ich warte. Jemand mit einer schwarzen Brille stellt die Fragen. Kann sein, daß er gar keine Brille trug, es kam mir nur so vor. Er fragt, wie sich Mme. Achmatowa zu dem Beschluß verhalten habe. Er schlägt mir vor, selbst zu antworten. Ich stehe auf und sage: „Beide Dokumente – sowohl die Rede des Gen. Schdanow als auch den Beschluß des Zentralkomitees der Partei – halte ich für absolut richtig.“
Schweigen.
(…) Dann wendet sich einer der Russen an die Dolmetscherin: „Bitte fragen Sie die Leute, warum sie Soschtschenko applaudiert haben und Mme. Achmatowa nicht.“ Daraufhin entgegnen die Studenten: „Ihre Antwort gefiel uns nicht, oder, anders ausgedrückt: Sie ist uns unangenehm.“

Recht ähnlich beschreibt der damalige Parteisekretär des Kreises Leningrad, Kasmin, in seinem Bericht, den er auf Anforderung der ZK-Kulturabteilung nach Moskau schickte, die Begegnung mit den Studenten:

Das Gespräch dauerte dreieinhalb Stunden. Im Verlauf des Gesprächs erklärte einer der englischen Studenten, daß er kein Anhänger des sowjetischen Systems sei. Des weiteren wurde eine Reihe Fragen mit provokativem Charakter gestellt. So zum Beispiel: Warum hängen in der Sowjetunion überall die Bilder der Führer sowie Plakate, die zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit, zu sportlichen Spitzenleistungen usw. aufrufen? Ob das alles das Volk nicht anöde? Warum werden die Werke von so großen Schriftstellern wie Dostojewskij nicht veröffentlicht? Wie sind die Beziehungen zwischen den Schriftstellern und der Regierung? Wie werden die literarischen Werke geschrieben – im Auftrag oder so, wie die Autoren es wollen? Warum kennen die sowjetischen Studenten so wenig englische Literatur? (…) Auf alle diese Fragen erfolgten präzise und zutreffende Antworten, man zeigte auch die letzte sowjetische Ausgabe der Werke von Dostojewskij.
Dann stellte man eine Frage an Achmatowa und Soschtschenko in folgender Form: „In Schdanows Bericht sind Sie kritisiert worden. Was meinen Sie, ohne mit Ihrem Gewissen in Konflikt zu kommen – war diese Kritik richtig oder nicht?“ Soschtschenko antwortete, daß er mit der Kritik nicht einverstanden gewesen sei und deshalb seinerzeit einen Brief an J.W. Stalin geschrieben habe. Dann versuchte er, in einer ziemlich wirren Rede zu begründen, warum er mit der Kritik nicht einverstanden gewesen sei.
(…) Soschtschenkos Antwort wurde von der englischen Delegation mit Applaus entgegengenommen. Dann sprach die Achmatowa. Sie erklärte lakonisch, der Beschluß des ZK und auch die Kritik seien richtig gewesen. „So habe ich es damals verstanden. So verstehe ich es heute noch.“ Als Antwort darauf gab es keinen Applaus.

„Ich weiß, daß sich für mich eine Katastrophe anbahnt“, hatte Anna Achmatowa über diese Begegnung gesagt. Tatsächlich aber sollten sich gleich zwei Katastrophen ereignen: die ihre und die noch größere von Michail Soschtschenko. Das, was mit Achmatowa an diesem Spätnachmittag geschah, war im Grunde eine Wiederholung. Ebenso wie schon 1940 oder 1949, glaubte sie auch in diesem Frühjahr 1954, symbolisch ihre Loyalität mit dem System demonstrieren zu müssen und erhoffte dadurch die Freilassung oder zumindest Hafterleichterung für ihren Sohn zu erlangen. Und jedesmal täuschte sie sich, denn Lew Gumiljow war für den Machtapparat kein Handelsobjekt, sondern eine Geisel. Auch diesmal führten Achmatowas informelle Vorstöße nicht zum gewünschten Ergebnis: Kliment Woroschilow zog es vor, sich nicht für den Sohn der Dichterin einzusetzen, sondern leitete ihren Antrag auf den Rechtsweg um – wenn dieses Wort an jenem Ort und zu jener Zeit nicht überhaupt pure Absurdität war.
Anders als bei ihren früheren Zugeständnissen gegenüber dem System geriet Achmatowa diesmal durch ihren Versuch einer Loyalitätsbekundung geradezu ins Zwielicht. Das Ausbleiben des Beifalls für ihre Worte signalisierte, daß die ausländischen Zuhörer enttäuscht waren. Obwohl Achmatowa von der Unabdingbarkeit ihrer Antwort überzeugt war, konnte sie angesichts der Haltung ihres Kollegen und Leidensgenossen Soschtschenko einem gewissen Rechtfertigungsdruck nicht entgehen.
Emma Gerstejn erinnert sich an ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit seitens der Dichterin. Schließlich, sagt sie ganz richtig, doch beinahe entschuldigend, hatten die beiden, die Lyrikerin und der Humorist, literarisch kaum etwas miteinander zu tun, und erst der ZK-Beschluß vom August 1946 stellte zwischen ihnen einen Zusammenhang her.

Acht Jahre später wurden sie beide zu einem Gespräch mit Oxforder Studenten eingeladen, die als Touristen in die Sowjetunion gekommen waren. (…) Anna Andrejewna war, versteht sich, hinterher sehr aufgeregt über den krassen Gegensatz zwischen ihrer und Soschtschenkos Haltung.
„Er hat aber auch keinen Sohn im Lager“, wiederholte sie mehrmals. Als sie von ihrem Auftritt erzählte, betonte sie dessen nachlässige Form, sie führte vor, wie sie „halb abgewandt“ zum Publikum gesessen und diesem kurz mitgeteilt habe, daß sie „sowohl mit dem Beschluß als auch mit dem Bericht des Gen. Schdanow völlig einverstanden“ gewesen sei. Damit hatte sie, so schien es ihr wenigstens, zu verstehen gegeben, daß sie mit den angereisten Studenten über ihre politische Situation nicht zu reden gedachte.

Im Sommer 1955, als Soschtschenko aufgrund der erneuten, diesmal nur halböffentlichen Schikanen seitens der Parteigremien nur noch ein seelisches Wrack war, sagte Achmatowa zu Lidija Tschukowskaja:

Michail Michajlowitsch ist viel naiver, als ich gedacht habe. Er hat sich eingebildet, ihnen in dieser Situation noch etwas erklären zu können.(…). In solchen Fällen kann man nur so antworten, wie ich geantwortet habe. Kann man und muß man. Nur so. (…) Wir haben kein Glück gehabt. Hätte ich als erste antworten können und er als zweiter, so hätte er, glaube ich, begriffen, was er antworten soll. Keine Nuancen, keine Psychologie. Dann hätte ihn das Verhängnis gemieden. Aber er wurde als erster gefragt.

Ich glaube nicht, daß Anna Achmatowa imstande gewesen wäre, Soschtschenkos Antwort auf die Frage der Studenten zu beeinflussen. Wie er später in seiner wundervollen, heftigen Selbstverteidigungsrede behauptete, war sein offener Affront gegenüber den Organisatoren der ganzen Inszenierung eine reine Affekthandlung:

Was hätte ich antworten können? Was hätte ich sagen sollen? Anna Andrejewna Achmatowa sagte „Ich bin einverstanden.“ Sie hatte andere Anklagepunkte. Wahrscheinlich hätte ich an ihrer Stelle genau wie sie geantwortet. Was soll ich antworten, wenn man mich fragt, ob ich ein nichtsowjetischer Schriftsteller bin, der mit den Sowjetmenschen Spott treibt – wenn man mich fragt, ob ich ein Schurke bin? (…) Was bedeutet diese Frage – „Wie verhalten Sie sich dazu, daß man Sie einen Heuchler genannt hat?“
Vielleicht hatte diese Frage provokativen Charakter? Vielleicht wollten sie mich dazu bringen, damit einverstanden zu sein und zu sagen: „Ja, ich bin ein Betrüger, ich bin kein sowjetischer Schriftsteller.“
(…) Ich gebe nichts mehr auf mein Leben! Ich werde euch um nichts bitten! Ich brauche nicht eure Gnade, ich brauche weder eure Beschimpfungen noch euer Geschrei! Ich bin mehr als müde! Ich nehme jedes Schicksal auf mich als das mir Gegebene!

Es gibt Grenzsituationen, die alternative moralische Handlungen ermöglichen. Sicherlich war der Auftritt von Soschtschenko im Majakowskij-Club und auch danach auf der Schriftstellerversammlung heroisch. Es geschah überhaupt zum ersten Mal seit den zwanziger Jahren, daß sich ein Autor frontal gegen die menschenverachtende Kulturbürokratie stellte und offensiv seine Persönlichkeitsrechte in Anspruch nahm. In diesem Sinne erwies sich Soschtschenko als direkter Vorläufer all jener Schriftsteller, die in den darauffolgenden Jahrzehnten die demütigenden Rituale der Selbstkritik von sich wiesen, später die moralische Legitimation des Systems in Frage stellten.
Die Anerkennung von Soschtschenkos Heldentum schmälert jedoch Achmatowas Mut nicht im geringsten. Dies muß besonders betont werden, weil Jahrzehnte später, bereits unter der Sonne der Perestrojka, merkwürdige Legenden erblühten. So behauptete der Autor Andrej Bitow, Soschtschenko habe nach jenem Gespräch mit den Engländern über seine Kollegin gesagt:

Wie hat sie mich im Stich gelassen!

Selbst wenn es diesen Satz tatsächlich gegeben haben sollte, wäre er absolut unbegründet. Soschtschenko und Achmatowa hatten keine gemeinsame verbindliche Linie vereinbaren können. Der Satz stammt wahrscheinlich aus dem Gewissen der ewigen Voyeure fremder Katastrophen. Weder von Soschtschenkos noch von Achmatowas Seite gab es bis zu ihrem Tod ein Anzeichen dafür, daß sie die gegenseitige persönliche Solidarität aufgegeben hätten.

Nadeschda Mandelstam beschreibt in ihrem zweiten Buch – die Quelle ist vermutlich wieder Anna Achmatowa – die für Soschtschenko so fatale Begegnung und verurteilt dabei die beteiligten Studenten:

Man sagt, sie wurden von Berlin geschickt, von dem Oxforder „Gast aus der Zukunft“, der die Achmatowa kurz vor ihrer Katastrophe besucht hatte. (…) Ob die Oxforder Studenten Achmatowas Benehmen verstanden haben? (…) Diese netten englischen Jungs, die man von Kindheit an gelehrt hatte, die Wahrheit zu sagen und ihre Überzeugungen zu verteidigen, waren wahrscheinlich irritiert, als sie Achmatowas Worte hörten, der Beschluß habe ihr einen großen Nutzen gebracht. Wenn sie dies mit den Gedichten aus dem Ogonjok verglichen, dann mußten sie mit Sicherheit die Russen zu einem völlig korrupten Volk erklären, das man mit Almosen kaufen kann. Oder sie ahnten etwas von der geheimnisvollen und asiatischen russischen Seele mit ihrer Vorliebe zu Parteibeschlüssen (…), Lagern und Erschießungen.(…) Sie verstehen uns etwa so gut, wie wir die Chinesen verstehen.

Noch galliger äußert sich Lidija Tschukowskaja über die neugierigen Gäste aus Albion:

Was für Engländer sind das – komplette Ignoranten, Dummköpfe, Blinde oder Schurken? Wozu hatten sie es nötig, mit ihren Fingern in fremdem Schmerz herumzuwühlen? Hier wurden Menschen verprügelt und erniedrigt, und sie fragten noch: „Gefällt es euch, daß man euch verprügelt? Zeigt uns bitte eure gebrochenen Knochen!“ Nur die britische Biographin und Vertraute Achmatowas, Amanda Height, scheint etwas mehr Gnade walten zu lassen, als sie im Zusammenhang mit dem Treffen im Majakowskij-Club betont, daß die „Mitglieder der Oxforder Delegation“ bei ihrem „nicht ganz adäquaten Wohlwollen (…) keine Ahnung von der Situation innerhalb des Landes hatten.

Diese summarischen Verurteilungen sind übertrieben, wenn nicht überhaupt völlig ungerecht. Die jungen Briten waren weder „reaktionär und antisowjetisch“, wie die Gastgeber später behaupteten, noch wollten sie „in fremdem Schmerz herumwühlen“, wie Lidija Tschukowskaja ihnen unterstellt. Sie verhielten sich entsprechend den ihnen einzig bekannten Normen der freien Welt und dem ihnen eigenen studentischen Temperament – im übrigen demselben, das John Osbornes „zornige junge Männer“ einige Jahre später dem britischen Establishment gegenüberstellten. Sie sahen, vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben, die Chance, Unterdrückung und freien Geist eigenhändig voneinander trennen zu können – und welcher normale junge Mensch kann einer solchen Versuchung widerstehen? Selbstverständlich hatte ihr Wunsch, hier und jetzt die ganze Wahrheit herauszubekommen, etwas Naives und Tragikomisches. Das lag jedoch nicht an ihnen, sondern an der Perversität einer ihnen unbekannten Welt und an den Spielregeln, von denen sie keine Ahnung hatten.
Wie aber wurde die Begegnung und Anna Achmatowas Haltung von ihnen selbst gesehen? Harry Shukman teilte mir im August 1995 Erstaunliches mit:

Die Situation im Haus der Literaten war absolut künstlich. Es gab keinen Meinungsaustausch zwischen uns und den Schriftstellern. (…) Achmatowa sagte nichts. Und dann habe ich die Frage gestellt: „Vielleicht möchte auch Madame Achmatowa etwas sagen?“ Sie wollte nicht. Man sah ihr an, daß sie nichts sagen wollte, sie war nervös. Ich fragte wieder: „Was denken Sie über das, was Soschtschenko gesagt hat?“. Sie sagte: „Ich bin mit ihm einverstanden.“ Für uns klang das doppeldeutig, denn dieses „ss njim“ konnte gleichermaßen bedeuten, sie sei mit Soschtschenko oder mit dem Beschluß einverstanden. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern oder heute gewesen. Sie wollte keine präzise Antwort geben, ob sie mit Soschtschenko oder aber mit dem Beschluß einverstanden sei. (…) Die Atmosphäre dieser Versammlung war leidlich – wie soll ich sagen – angespannt.

Elf Jahre später, als Anna Achmatowa den Ehrendoktortitel der Universität Oxford erhielt, befand sich unter den Hunderten von Verehrern auch Harry Shukman, der ehemalige Student der Universität Nottingham. „Sie wohnte in diesem Hotel hier“, erinnerte er sich im Foyer des Hotels Randolph, wo wir uns verabredet hatten.

Ich war zu ihrem Empfang eingeladen. Gastgeberin war die Universität, aber Isaiah Berlin spielte diesbezüglich die Hauptrolle. (…) Berlin hatte zu diesem Abend alle Slawisten Oxfords eingeladen. Sehr viele Leute, auch mich. Sie saß allein auf einem Diwan, und Berlin hat es so organisiert, daß jeder, der mit ihr sprechen wollte, sagen wir, fünf Minuten hatte. Dann kam der nächste an die Reihe. Es wurde eine Art inoffizieller Warteschlange gebildet. Ich stand da, und ich muß Ihnen sagen, daß es mir nicht besonders gut ging. Aber ich wußte, wenn ich nichts sage, dann kann ich auch nicht mit mir selbst ins Reine kommen.
Ich sagte ihr, daß ich bei jenem Treffen in Leningrad anwesend gewesen sei und fragte, ob sie sich noch daran erinnere. „Wie sollte ich mich nicht erinnern?“ fragte sie zurück. „Soschtschenko hat dieses Treffen nicht überlebt.“ – „Mein Gott“, sagte ich. Sie schaute mich an, und ich sagte: „Ich habe die Frage gestellt.“ Sie fragte: „Und warum haben Sie sie gestellt?“ Ich antwortete: „Aus Naivität, aus dem Wunsch heraus, einen vielleicht nicht dissidentischen, aber sehr frei denkenden Schriftsteller mit den halboffiziellen Autoren vergleichen zu können.“ Sie sagte: „Ich verstehe.“ Das war alles.

Hier möchte ich mit Nachdruck auf etwas hinweisen, was sonst vielleicht der Aufmerksamkeit des Lesers entgehen könnte. Sowohl die beiden engen Freundinnen Achmatowas als auch die Biographin Amanda Height sprechen bei der Erörterung dieser Affäre von „Oxforder Studenten“, „Studenten aus Oxford“, „Oxforder Delegation“, und Nadeschda Mandelstam vertritt sogar die Auffassung, sie seien gewissermaßen von Isaiah Berlin geschickt und womöglich entsprechend instruiert worden. Viele Zeitzeugen teilen diese Ansicht, allein Tschukowskaja beharrt auf dem Attribut „englische“ Studenten.
Harry Shukman sagt, daß in der etwa zwanzigköpfigen Delegation des Nationalen Studentenverbands alle wichtigen Universitäten Englands repräsentiert waren – bis auf Oxford und Cambridge.
Diese waren vermutlich im Nationalen Studentenverband nicht einmal vertreten. Ein vorbereitendes Gespräch mit Professor Berlin konnte Shukman schon allein deshalb nicht geführt haben, weil die beiden Männer sich erst 1958 kennenlernten.
Während meines Gesprächs mit Sir Isaiah in einem Londoner Café verneinte dieser jeglichen Zusammenhang zwischen seiner Person und den studentischen Teilnehmern des Leningrader Treffens. Von letzterem habe er erst im Nachhinein gehört. Nach dem ZK-Beschluß vom August 1946 habe Berlin jeden weiteren Kontakt zu Achmatowa vermieden, aus Angst, ihr weiteren Schaden zuzufügen.
Dies alles mag die objektive Wahrheit sein, bedeutet jedoch nichts, was den subjektiven Hintergrund jenes fatalen „Gesprächs“ anbelangt. Die falsche Version „Oxforder Studenten “ konnte vermutlich, wie mir Lidija Tschukowskaja im November 1995 sagte, nur von Achmatowa selbst stammen. Wenn auch ihre Annahme, die angereisten Studenten seien aus der berühmten Universitätsstadt gekommen, ganz offensichtlich ein Fehler war, so war sie doch – ich entschuldige mich für den romantischen Ausdruck – ein Fehler des Herzens.
Für Achmatowa wie für jeden Russen mit vorrevolutionärer Bildung hatte der Name „Oxford “ einen hinreißenden Klang. Er stand für die vornehme Wissenschaftskultur der britischen Aristokratie. In dieser Stadt Professor zu sein war gleichbedeutend mit dem höchstmöglichen geistigen Prestige. Auch der Status des „honoris causa“ war Achmatowa offensichtlich bekannt. So berichtet ihr literarischer Sekretär und, wie sich später herausstellte, persönlicher Spitzel Pawel Luknizkij, wie sie 1926 ihrem zweiten Mann, dem Assyrologen Schileiko, beim Abschreiben assyrischer Tontafeln half und angesichts der anstrengenden Arbeit bemerkte:

Wenn man Ihnen einmal den Hermelinmantel der Oxforder Universität umhängt, dann schließen Sie mich in Ihr Gebet ein!

Nach dem November 1945 ergänzte Achmatowa diesen gewöhnlichen Oxford-Mythos um die neue mythische Formel „Oxford = Isaiah Berlin“. Wenn der Kulturfunktionär Katerli von „englischen Studenten“ redete, dann assoziierte Achmatowa dies sofort mit „Oxford“ und konnte nicht der Versuchung widerstehen, diesen jungen Leuten, die dieselbe freie Luft wie Isaiah Berlin atmen durften und schon allein deshalb Botschafter des „Gastes aus der Zukunft“ waren, in die Augen zu schauen. Und obwohl Achmatowa zu Beginn des Telefongesprächs mit dem Funktionär den traurig-scherzhaften Vorschlag machte, die Genossen sollten statt ihrer den Ausländern irgendein anderes altes Weib präsentieren, so brachte sie es doch nicht über sich, die Einladung auszuschlagen.
So müssen für Anna Achmatowa jene drei Stunden, die sie zwischen den Parteimarionetten Dymschitz und Sajanow verbrachte, doppelt qualvoll gewesen sein. Wieder einmal zwang sie sich dazu, die stolze Rolle der aufrechten Widerstandskämpferin, in der Isaiah Berlin sie kennengelernt hatte, abzulegen. Und erneue war sie vor die schmerzhafte und obszöne Alternative gestellt, sich zwischen Berlin, dem geliebten Mann, und ihrem Sohn entscheiden zu müssen. Ersterer war für sie die Inkarnation des Lebens, wie es sein sollte, der Sohn die Verkörperung dessen, wie das Leben tatsächlich war.
Aus offizieller Sicht handelte es sich bei dem Treffen im Leningrader Schriftstellerclub um einen Betriebsunfall. Das für diese Begegnung notwendige Potemkinsche Dorf war zu hastig aufgebaut worden und brach ebenso schnell wieder in sich zusammen. Die Organisatoren hatten das versäumt, was bis dahin zu ihrem unentbehrlichen Instrumentarium gehört hatte: Die ideologische Vorbereitung der Opfer auf ihre Rolle. Deshalb mußte sich der Genosse Kasmin in seinem Rechenschaftsbericht vom 27. Mai 1954 die Hände in Unschuld waschen – zumal er wußte, daß Pannen ähnlicher Art einige Leningrader Funktionäre bereits teuer zu stehen gekommen waren:

Es ist notwendig anzumerken, daß die Parteiorganisation des Vorstands der Leningrader Abteilung des Verbands der Sowjetischen Schriftsteller in der Frage der Organisation des Treffens der Autoren Soschtschenko und Achmatowa mit der antisowjetisch eingestellten Delegation der englischen Studenten eine verantwortungslose Haltung an den Tag legte. Dieses Treffen ist mit dem Kreiskomitee der Partei nicht abgestimmt worden. Obwohl den Mitarbeitern des Kreiskomitees des Komsomols die Stimmung innerhalb der englischen Studentendelegation bekannt war, verhielten sie sich ebenfalls verantwortungslos zur Organisation des Treffens. In Zukunft empfiehlt es sich, eine strengere Kontrolle durchzuführen in bezug auf alle Veranstaltungen, die mit dem Empfang ausländischer Gäste zusammenhängen.

Die Parteiführung witterte einen Skandal: Nach ihrer Rückkehr würden die Studenten in England das mißlungene kulturpropagandistische Manöver an die Öffentlichkeit bringen. Deshalb wurde zunächst noch vorsichtig verfahren. Zwar wurde Soschtschenko vor das Plenum der Schriftsteller zitiert, um ihn möglichst zu einem Rückzieher zu zwingen. Doch dachte man nicht daran, den unmittelbaren Anlaß, der zu dem ganzen Theater geführt hatte, der Öffentlichkeit preiszugeben. So verstand der durchschnittliche Leser der lokalen Leningradskaja Prawda (28. Mai 1954) kaum ein Wort von W. Drusins fulminantem Bericht:

Die Teilnehmer der Parteiversammlung sind der Meinung, daß es auch unter den Leningrader Autoren Leute gibt, die einen eindeutig unrichtigen Standpunkt vertreten. (…) So hat Soschtschenko bis heute keine Schlußfolgerungen aus dem Beschluß des ZKAKP(b) „Über die Zeitschriften Swesda und Leningrad“ gezogen. Die Tatsachen der letzten Zeit zeugen davon, daß M. Soschtschenko sein wahres Verhältnis zu diesem Beschluß verheimlicht hatte und nach wie vor auf seinem faulen Standpunkt beharrt.

Die Leidenschaften um die mißlungene Inszenierung beruhigten sich erst nach dem 7. August, als plötzlich in der Londoner Zeitschrift New Statesman and Nation ein Bericht über die Delegationsreise der britischen Studenten erschien, und zwar unter dem Titel „A Student in the U.S.S.R.“. Der Autor, der chilenische Student Claudia Veliz – Harry Shukman bezeichnet ihn als „einzigen Marxisten in unserer Delegation“ – schrieb unter anderem über seinen Besuch in der Lenin-Bibliothek:

Die berühmte Lenin-Bibliothek in Moskau beherbergt mehr als siebzehn Millionen Bände. Die Bücher zeugen von der Zensur, die der durchschnittliche sowjetische Leser erleiden muß. Der englischsprachige Katalog enthält nicht ein einziges Werk von James Joyce, Virginia Woolf und selbstverständlich auch nichts von Koestler, Orwell oder Isaac Deutscher. Ein Bibliothekar hat mir allerdings den Katalog auf der vierzehnten Etage gezeigt. Hier habe ich nicht nur Joyce und Forster, sondern auch Die Farm der Tiere, und Mein Katalonien, sowie Deutschers Stalin gefunden – allesamt Bücher, von denen man denken könnte, daß sie von den sowjetischen Behörden verboten worden seien. Dieser Katalog, so sagte mir der Bibliothekar, sei nur für „Spezialisten“ zugänglich.

Insgesamt war Veliz bei aller Kritik mit der Sowjetunion doch recht zufrieden. Besonders hatte ihm imponiert, daß es keine tabuisierten Gesprächsthemen mehr gab: Ein Student hatte den zu diesem Zeitpunkt bereits hingerichteten Berija scharf kritisiert, ein anderer hatte sogar gewagt, den Beschluß des ebenfalls toten Schdanow für „blöde“ zu erklären. Veliz verlor kein Wort über Soschtschenko und Achmatowa, kein Wort darüber, daß in dem besuchten Land nach wie vor Millionen Menschen die Straflager füllten. Er bediente sich desselben objektivistisch-verlogenen Tons wie Lion Feuchtwanger in seinem Bericht „Moskau 1937“.

Entsprechend zufrieden war die Moskauer Zeitung „Isvestija“ mit Veliz intellektueller Leistung. Die Londoner Korrespondentin W. Matwejewa widmete am 7. September 1954 dem Reisebericht ihrerseits einen Artikel:

Die Gespräche mit den Sowjetmenschen haben dem englischen Studenten gezeigt, daß die Behauptung, in der Sowjetunion gäbe es keine freie, ungezwungene Diskussion, nur eine Erfindung ist. Im Gegenteil – Veliz hat mit allen Sowjetmenschen, die er traf, lebendige Gespräche geführt, und es wurden alle ihn interessierenden Fragen eingehend erörtert.

Die Erleichterung über das ausgebliebene Debakel stimmte die Herren der Kultur beinahe großzügig. Wenig später erhielt der seelisch zerstörte Michail Soschtschenko eine einmonatige Einweisung in ein Sanatorium bei Sotschi. Im Herbst 1956 erschien ein Band mit seinen Erzählungen. Doch dies alles geschah zu spät. Er hatte noch zwei Jahre zu leben.
Michail Michailowitsch Soschtschenko war, viel stärker als Anna Achmatowa, auf eine breite Öffentlichkeit angewiesen. Dies lag in seinem feuilletonistischen Talent begründet. In den zwanziger und dreißiger Jahren arbeitete er manchmal auf Honorarbasis für Dutzende von Zeitungen und Zeitschriften gleichzeitig. Seine Glossen waren am nächsten Tag schon Volksmund. Als er im Herbst 1953 wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen wurde, hegte er ähnliche Hoffnungen wie Anna Achmatowa. Am stärksten fixierte er sich auf die bereits zugesicherte Publikation eines Novellenzyklus in der Moskauer Zeitschrift Oktjabr.
Mit dem schicksalhaften Abend im Majakowskij-Club brach für Soschtschenko eine Welt zusammen. Gleich nach der Junisitzung des Schriftstellerverbands erhielt er aus der Redaktion des Oktjabr ein höfliches Telegramm mit der Mitteilung:

Ihre Erzählungen sind zu unserem großen Bedauern für unsere Zeitschrift ungeeignet.

Als er sich darüber beim Leningrader Schriftstellerverband beschwerte, teilte man ihm mit – oder dies war sein Eindruck –, daß man von nun an nichts mehr von ihm publizieren werde, und zwar „unabhängig von der Qualität“ seiner Arbeit. Gleichzeitig legte man ihm die Zweckmäßigkeit eines „klärenden Briefs“ an das ZK nahe, einer neuen Selbsterniedrigung. So erlebte er eine Situation, die der vom August 1946 gespenstisch ähnlich war. Und „der arme Mischenka“, so sagte damals Achmatowa, „hat die zweite Runde nicht ausgehalten.“
Als Lidija Tschukowskaja ihn im Spätsommer 1955 in Leningrad besuchte, um ihm Geld von ihrem Vater zu übergeben, traf sie Soschtschenko in einem äußerst kläglichen Zustand an.

Er ist bis zur Unkenntlichkeit dünn geworden, alles hängt an ihm herunter. Das Verblüffendste an ihm ist das Fehlen jeglichen Lebensalters, er ist ein Schatten seiner selbst, und Schatten haben kein Alter. (…) In seiner Stimme höre ich keinen Klang. (…) Über sich selbst sagt er: „Das am meisten Demütigende in meiner Lage ist, daß man mir keine Arbeit gibt. Alles andere ist mir gleichgültig.“

Das Fazit ist ebenso grotesk wie trostlos: Die Partei provoziert eine völlig sinnlose lokale Propagandaaktion, die zwar mißlingt, aber für sie selbst keine negativen Folgen hat. Der Skandal ist drei Monate später sang- und klanglos vorbei, man kann sagen: Es ist praktisch nichts passiert. Trotzdem werden zwei Menschenleben beinahe zerstört, eines von ihnen irreversibel. Ein Jahr später ist von der ganzen Geschichte nur noch eine verspätete Lüge übrig.
Im März 1955 besuchte der junge Schriftsteller und Parteipropagandist Sergej Saligin ein Straflager in Omsk, um die Gefangenen über die neueste Entwicklung der sowjetischen Literatur aufzuklären. Nach Stalins Tod fanden im Gulag viel häufiger politische und kulturelle Veranstaltungen als vorher statt. Der anwesende Lagerinsasse Lew Gumiljow berichtete später seiner Freundin Emma Gerstejn über Saligins Vortrag:

Ich fragte ihn nach Mama. Er sagte, sie befinde sich in einem „schöpferischen Aufschwung“, und englische Studenten hätten sie besucht, um sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen.

Da Gumiljow der Meinung war, seine Mutter kümmere sich zu wenig um ihn, bedeutete dieser Satz einen weiteren Tropfen Gift für die ohnehin schlechte Beziehung zwischen ihm und Anna Achmatowa.
Wäre Saligins Äußerung für westlich-liberale Zeitungen wie New Statesman and Nation bestimmt gewesen, dann hätten wir es hier mit einer neuen frechen und zynischen Lüge der sowjetischen Meinungsmacher zu tun. Der beschwichtigende Satz galt jedoch einem Strafgefangenen, einem Bürger bestenfalls dritter Klasse, und stellte somit eine Besonderheit dar. Man schrieb das Jahr 1955. Niemand wußte, ob einer, der heute noch im Gulag darbte, nicht morgen freigelassen und eine hochrangige Position bekleiden würde. Gerade begann die massenhafte Entlassung politischer Gefangener. Jeder Tag brachte den Augenblick näher, in dem sich, um mit Achmatowas Worten zu sprechen, zwei Rußlands gegenüberstehen würden: Eines, das einsaß und ein anderes, das einsitzen ließ. In diesem Sinne war Saligins Zwecklüge ein erstes bescheidenes Zeichen jener Schwäche des Systems, die sich im Frühjahr 1956 in der Kritik an Stalin offenbarte und in den späten achtziger Jahren schließlich zum Kollaps führen sollte.

(…)

György Dalos, aus György Dalos: Der Gast aus der Zukunft. Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte, Europäische Verlagsanstalt, 1996

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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