Anna Achmatowa: Poem ohne Held

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Anna Achmatowa: Poem ohne Held

Achmatowa-Poem ohne Held

DRITTES KAPITEL

Heiße Brände an Weihnachtstagen,
aaavon den Brücken fielen die Wagen,
aaaaaaund die Stadt trieb im Trauerkleid
auf der Newa – dem Strom entgegen −
aaaauf unbestimmbaren Wegen −
aaaaaavon den Toten… In Dunkelheit
das Galernaja-Tor. Es knarrten
aaaWetterfahnen im Sommergarten.
aaaaaaUnd ein silberner Mond erstarrte
aaaaaaaaaüber der Silbernen Zeit.
Da von allen erdenklichen Stellen
aaaund zu allen erdenklichen Schwellen
aaaaaaein schleichender Schatten kroch,
rupfte der Wind an Plakaten,
aaaließ hüpfen die Rauchschwaden,
aaaaaaund nach Friedhof der Flieder roch.
Verflucht von Awdotja, der Zarin,
aaaist dahin – in den Dunst – gefahren
aaaaaaDostojewskijs besessene Stadt,
und die Trommeln zur Hinrichtung schlugen,
aaaund man sah aus dem Finstern lugen
aaaaaaeinen Flaneur von Format
Fernes Gedröhn durchrauschte
aaadie bedrohliche und berauschte,
aaaaaastickige Winterluft,
doch es brauchte keinen zu stören,
aaawar auch nur schwach zu hören
aaaaaaund schon bald in der Kühle verpufft.
So wie die tobenden Menschen
aaaihr eigenes Bild verwünschen,
aaaaaadas sie auf einmal sahn
im Spiegel der furchtbaren Nächte,
aaafühlte man langsam das echte
aaaaaaNeue Jahrhundert nahn.

 

 

 

Zur Übersetzung

Die Übertragung des Lebenswerks der wohl größten russischen Dichterin des 20. Jahrhunderts kann auch für den Übersetzer zum Lebenswerk werden. Selbst dann, wenn er nicht wie Achmatowa zweiundzwanzig, sondern nur fünf Jahre intensiv daran gearbeitet hat. Die größte Schwierigkeit bereitet dabei die Wiedergabe des spezifischen Tonfalls der Lyrikerin. Dies liegt nicht so sehr daran, daß solch ein Ton im Deutschen prinzipiell nicht nachzuahmen wäre. Das weitaus größere Problem bildet die Erwartungshaltung des deutschen Lesers. Gewöhnt an zahlreiche Übersetzungen, die über das Vehikel der Interlinearübersetzung erfolgten, vermutet er in den Versen Achmatowas eher ein dunkles Raunen als klassizistische Klarheit und Formstrenge. Dennoch handelt es sich gerade dabei um die typischen Merkmale ihrer Dichtung. Deshalb habe ich den Versuch unternommen, diese im Deutschen möglichst getreu nachzubilden. Ich tat es auch auf die Gefahr hin, daß die Sprache meiner Übertragung als „unmodern“ empfunden wird. So wird sich beispielsweise manches Ohr an die mit einem „Luther-e“ endenden Reimwörter wieder gewöhnen müssen. Wenn ein bedeutender deutscher Dichter 1941 (also durchaus in der Zeit der Entstehung des Poems) Zeilen verfaßte, wie:

Die Dinge dringen kalt in die Gesichte
und reißen sich der alten Bindung fort,
es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort…

halte ich es für angemessen, in Analogie dazu Wendungen wie „im Kristalle“, „im Zorne“, „vom stygischen Lenze“ zu benutzen, geht es mir doch darum, Achmatowas Stil zu treffen und nicht so sehr, der literarischen Mode der letzten dreißig Jahre zu entsprechen. Ihr Stil aber hat nicht nur ironische, sondern auch (und nun muß das „verbotene“ Wort fallen) pathetische Züge. Pathetisch ist ihre Thematik, ihre Form und nicht zuletzt ihre Rezitationsweise. Diese Züge in der Übersetzung zu tilgen, hieße einen wesentlichen Moment Achmatowascher Lyrik auszublenden.
Eine Bemerkung zur Form des Poems: Ein Text von der Komplexität des Poems ohne Held verlangt geradezu nach einem Element, das ihn zu „bändigen“ vermag. Dieses Element läßt sich in der strengen Strophik des Gedichtes ausmachen. Die von Achmatowa im Russischen verwendeten Reime sind alles andere als experimentell und als durchaus „glatt“ zu charakterisieren. Arbeitet sie an einigen Stellen mit dem sogenannten „unreinen Reim“, so ist dieser grundsätzlich von seiner deutschen Variante zu trennen: Der russische „unreine Reim“ der Frühmoderne ist eine Verschärfung, nicht eine Abschwächung des einfachen grammatischen Reims. Er strebt eine möglichst große Verschmelzung der Wortstämme an. So ist es kein Zufall, daß in der vorliegenden Übertragung zahlreiche Reime mit homonymer Wirkung benutzt werden: „Regen / sich regen“, „schwarz-weiß / auch ich es weiß“, „Zauberlichter / lichter“, „könnte passieren / jenen Raum passieren“ etc. Andererseits unternehme ich den Versuch, noch weitere für das „Silberne Zeitalter“ typische Reimarten zu verwenden, wie: „Partner / ein Part nur“, „Rufen / dazu von fern“, „wird mich / wirklich“, „befohlen / Solon“, „nehmend / jemand“, deren Effekt auf der klanglichen Angleichung beim natürlichen Sprechen des Textes beruht.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß russische Lyrik ohne die Berücksichtigung ihrer besonderen Form leblos bleibt.

Alexander Nitzberg, Anmerkungen des Übersetzers

(…) Die russischen Poeme,

lange epische Versgedichte, „Novellen in Versen“ (Puschkin) zeichnen sich durch den Versuch aus, eine schöpferische Synthese zwischen der individuellen Persönlichkeit des Helden (und dahinter des Autors) und dem historisch-gesellschaftlichen Schicksal des russischen Volkes herzustellen. Viele dieser Poeme sind sehr volkstümlich, ihre Verse (besonders diejenigen Puschkins) sind jedem Russen vertraut, man lernt sie in der Schule auswendig und „lebt“ mit ihnen.
Auch was Achmatowas Poem ohne Held angeht, kann man von der schöpferischen Synthese eines Individuums mit einer historischen Epoche des russischen Volkes sprechen, wie es bei Shirmunskij heißt. Das Poem besitzt zwar, wie sein Titel besagt, keinen Helden, doch der irritierte Leser wird sofort versuchen, diese Leerstelle auszufüllen: Es gibt zahlreiche Vermutungen, wer denn der heimliche Held im Poem ohne Held sei. Am überzeugendsten erscheint die These, daß entweder die Erzählerin, indirekt also Achmatowa selbst, dieser Held sein muß oder die Stadt St. Petersburg als Symbol für die Epoche diesen Platz einnimmt.
Achmatowa wollte eigentlich nicht nur ein Requiem auf Wsewolod Knjasew und die Schauspielerin und Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina schreiben, sondern viel mehr: In ihrer Prosa über das Poem spricht sie von der „Geräumigkeit“ des Textes, der fähig sei, alles Wichtige der Epoche aufzunehmen. Obwohl er kurz ist (die Kürze hat Achmatowa von Puschkin gelernt!), fehlen doch kaum wichtige Zeitbezüge.
Unter anderem spiegeln sich die Parallelen zu den anderen Künsten im Poem wider: Skrjabin, Strawinsky, Schaljapin für die Musik; Wrubel für die Malerei; Meyerhold für das Theater; Pawlowa und Sudejkina für den Tanz. Durch alle diese Bezüge erhält das Poem sein epochales Gewicht.
Achmatowa berührt in ihrer Prosa über das Poem auch die Frage eines „anderen“ Poems, das neben oder hinter dem eigentlichen Poem steht: „… Jetzt habe ich es begriffen: Das Zweite, oder Das Andere (Etwas Anderes will mich begleiten…), das von Beginn an so stört (jedenfalls in Taschkent), sind bloß die Auslassungen, die unausgefüllten Lücken, aus denen sich – manchmal auf eine schier wunderbare Weise – etwas angeln und in den Haupttext einfügen läßt.“ Dieses „andere Poem“ wird von Anna Achmatowa nur sehr vorsichtig erwähnt, z.B. in der ersten Widmung des Poems vom 27. Dezember 1940, wo sie auf Skizzenblättern schreibt und das „fremde Wort“ durch ihren Text „hindurchscheint“ und dann in ihrer Hand „aufzutauen“ beginnt. Hier erscheint der Text wie eine „Textur“, ein Gewebe, das unter anderem Achmatowas ganze zeitgenössische Wirklichkeit sowie die russische Geschichte bis zu Peter dem Großen enthält und aus dem sie für die „Leerstellen“ ihres Poems schöpfen kann und muß, um ihm Leben einzuhauchen; im Grunde ein hochmodernes Verfahren, welches das Nichtsein im Sein verankert, ein permanentes Zitieren aus dem „anderen Poem“, das die Tiefe der Zeiten auslotet.

Zu Entstehung und Inhalt des Poems: Es wurde in den Hauptzügen von 1940 – 1942 geschrieben, ist aber von Achmatowa bis zu ihrem Tod immer wieder bearbeitet und ergänzt worden. Die erste vollständige Veröffentlichung erfolgte 1967 in den USA, in der UdSSR erst 1974 (fast vollständig). Das Versepos beginnt an Silvester 1913, jenem Zeitpunkt, den Achmatowa als das wahre Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet, und reicht über den Terror der Revolution bis in den Zweiten Weltkrieg mit der Zerstörung Leningrads. Es endet mit einem Zug von Gulag-Häftlingen nach Sibirien.
Das Poem besteht aus drei Teilen: „I. Das Jahr 1913“; „II. Die Kehrseite“; „III. Epilog“. Der erste Teil ist als einziger in vier Kapitel und ein Intermedium gegliedert. Jedem der Teile ist wie bei einem Theaterstück eine Orts- und Zeitangabe vorangestellt. Teil I „spielt“ am Silvesterabend im Fontanny-Haus. Das Poem beginnt mit einem karnevalesken Spuk von Schemen und Masken. Achmatowa selbst hat in ihren Anmerkungen manches Pseudonym aufgeschlüsselt, zum Beispiel ist Dapertutto (nach Hoffmanns Erzählungen) der berühmte Regisseur Meyerhold, der „Dämon“ Alexander Blok. Nicht nur Zeitgenossen Achmatowas, sondern auch markante Gestalten der europäischen Literatur wie Don Juan oder Faust treten auf. Das Ganze ist aus der Erinnerung, vom Silvester 1940, also vom Vorabend des Zweiten Weltkrieges her gesehen, was dem wilden Maskenspiel etwas Phantasmagorisches verleiht.
Die Irrealität der dekadenten Theater- und Bohemewelt St. Petersburgs, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges dem Untergang entgegentaumelt, wird dadurch evoziert, daß die Wände des „Weißen Saales“ im Fontanny-Haus, in dem der Maskentanz stattfindet, sich plötzlich auf magische Weise ausweiten und die Decke des Saales wie eine Kuppel emporschwebt.
Deutlich wird die ambivalente Haltung der Erzählerin gegenüber der „Endzeit“-Epoche vor dem Ersten Weltkrieg – in Rußland das „Silberne Zeitalter“ genannt. Bewunderung und Verurteilung halten sich die Waage, auch gegenüber der Schauspielerin Olga Glebowa-Sudejkina, einer engen Freundin Achmatowas. Einerseits bewundert sie Olga für ihre künstlerische Kreativität, andererseits verurteilt sie die Schauspielerin, weil sie den jungen Offizier und Dichter Knjasew aus Verzweiflung über ihre Untreue in den Selbstmord trieb.
Diese Geschichte, die sich tatsächlich 1913 in St. Petersburg ereignete, wird zum Brennpunkt der dramatischen Entwicklung des ersten Teils. Der Selbstmord des jungen Dichters steht symbolisch für die suizidalen Tendenzen der Gesellschaft. Morbide, dekadente Schönheit und ethische Indifferenz der „Alten Welt“, wie Alexander Blok sie in seinem Poem Die Zwölf nennt, werden von Achmatowa kritisch beleuchtet und als dem Untergang geweiht dargestellt, wobei sie ihre eigene Person nicht ausnimmt. Mit der Feststellung „Bin eiserner noch als die…“ übernimmt die Erzählerin hier das Amt eines Conferenciers: Sie gibt eine moralische Bewertung der Personen und Ereignisse, ist zugleich Autorin wie Heldin des Poems sowie eine Art Richter, der sein historisches Urteil spricht.
Was die Figuren im Poem betrifft, so sind sie nicht eindeutig einer bestimmten Person zuzuordnen, oft überlappen sich mehrere Personen, z.B. läßt sich der Figur des Knjasew sowohl der Kritiker Nedobrowo, der Achmatowas Geliebter war und früh an Tuberkulose starb, als auch Gumiljow zuordnen, der ebenfalls früh und tragisch endete wie auch ein Bruder Achmatowas. Zudem ist in der „geräumigen“ Figur des Knjasew auch Mandelstam enthalten, der mit 38 Jahren ums Leben kam. „Wirrnis-Psyche“, das Konterfei der Schauspielerin Sudejkina, ist auch das Abbild der Erzählerin selbst, die ihre Freundin ausdrücklich als ihre „Doppelgängerin“ bezeichnet. – Zur „Verdopplung“, bzw. „Vervielfältigung“ der Personen: Neben ihren Realitätscharakter tritt etwas Zeichenhaftes, das einmal mehr Achmatowas Herkunft aus dem Symbolismus bezeugt.
Knjasews Schicksal ist eigentlich ganz unwichtig, eine banale Boulevardgeschichte. In Wahrheit handelt es sich beim Poem ohne Held um ein Jahrhundertepos – das Selbstmordthema lag schon seit dem „Silbernen Zeitalter“ in der Luft. Aus den „romantischen“ Selbstmorden, zu denen auch Knjasews Tat gehört, werden dann in der Sowjetzeit Selbstmorde mit politischem Hintergrund, man denke etwa an die Selbstmorde Jessenins 1925 und Majakowskijs 1930, die vielleicht auch politisch motivierte Morde waren. Sie alle stehen hinter Knjasew, der gewissermaßen das „Gefäß“ für ein in der Epoche verbreitetes Phänomen darstellt. Majakowskij schrieb übrigens im Schicksalsjahr 1913 ein Selbstmordgedicht.
Die „Kehrseite“ in Teil II zeichnet zunächst unverhüllt, dann mittels vieler literarischer Anspielungen und versteckter Zitate ein Bild der Dichterin vor und während der Blockade Leningrads von 1941–1943. Ohne Angst vor der Zensur spricht sie von „Hinrichtung, Folter, Verbannung“ statt – wie in sowjetischen Ausgaben – von „Krieg, Tod und Geburt“.
In Teil III wendet sich die Erzählerin – im Jahre 1942 unmittelbar an „ihre Stadt“. Das Leid, das der Krieg in Rußland und anderswo gebracht hat, bildet für Achmatowa eine Einheit mit dem Leid, das durch den Terror des Sowjetregimes verursacht wurde. Den Weg nach Sibirien müssen Evakuierte wie Verurteilte gleichermaßen gehen. Bei aller Konkretheit realistischer Details wirkt das Werk orts- und zeitübergreifend, besonders durch die persönliche Anteilnahme der Dichterin, die es auf die Ebene des Allgemeingültigen und Überzeitlichen hebt.
Das Poem ohne Held ist mit anderen Werken der Weltliteratur durch die zahlreichen, den einzelnen Teilen und Kapiteln vorangestellten Motti verknüpft, die Achmatowa bis zu ihrem Tod immer wieder änderte und ergänzte. Nina Shirmunskaja hat sich mit der strukturellen Bedeutung dieser Motti auseinandergesetzt und stellt fest, daß sie aus den verschiedensten Werken stammen und zusammen mit den zahllosen Anspielungen auf berühmte Texte wie „Don Juan“, „Faust“, „Eherner Reiter“, aber z.B. auch die Bibel eine „ununterbrochene kompositionelle Einheit“ des Werkes bewirken, die es in den Gesamtzusammenhang der „Weltkultur“ stellt. „Weltkultur“ wiederum ist ein Schlüsselbegriff bei Mandelstam, Achmatowas engem Freund.
1959 entwickelte Achmatowa aus dem Poem ein Ballettlibretto, das ihre künstlerischen Intentionen noch deutlicher erkennen läßt als das Poem. Sie setzt ihr Ballettszenarium in Beziehung zu Puschkins „Ehernem Reiter“, zu den Novellen E.T.A. Hoffmanns und zur Stadtlandschaft St. Petersburgs sie nennt es eine „Petersburger Hoffmanniade“. Auch Dostojewskis gespenstischer Roman „Der Doppelgänger“ und Andrej Belyjs phantasmagorischer Roman Petersburg haben laut ihrem Zeugnis Spuren in diesem Libretto hinterlassen.
Wie Puschkin für sein berühmtes Versepos Ewgenij Onegin seine spezielle „Oneginstrophe“ schuf, so erfand Achmatowa für ihr Poem die heute schon so genannte „Achmatowastrophe“, deren Grundlage ein dreihebiger Vers mit einer wechselnden Anzahl von unbetonten Silben („Dolnik“) bildet. Im Poem sind die „Dolniks“ regelmäßiger als in den Gedichten. Man kann dieses Versmaß jambisch-anapästisch nennen, wobei die dreisilbigen, jeweils endbetonten Anapäste überwiegen. Wie schon Pasternak festgestellt hat, bewirken die Anapäste, besonders am Zeilenanfang, eine „beflügelnde rhythmische Bewegung“.
Auch die Struktur der Strophen ist neu. Es sind parallel gebaute Versreihen von wechselndem Umfang, die durch weibliche Reime verbunden sind. Sie können zwei, drei oder auch viermal wiederholt werden. Darauf folgt dann eine Versreihe mit männlichem Reim, der erst in der nächsten Strophe als abschließende Zeile wiederholt wird. Gelegentlich folgt darauf noch eine dritte Strophe mit männlichen Reimen. Dies ergibt eine äußerst elastische Form, wie Shirmunskij schreibt, einen „von Strophe zu Strophe wechselnden rhythmischen Hintergrund schnellerer oder langsamerer Bewegung“, der keine Einförmigkeit zuläßt.
Man kann übrigens die Form der Achmatowa-Strophe selbst als Zitat ansehen: Achmatowa fand sie in dem Poem „Die Forelle bricht das Eis“ des einflußreichen „dekadenten“ Dichters Michail Kusmin, der die Einleitung zu ihrem ersten Gedichtband Abend schrieb. Achmatowa hat ihn im Poem ohne Held unter anderem als „eleganten Teufel“ verewigt, dessen Faszination sich niemand zu entziehen vermochte.
Noch ein paar Worte zur neuen Übersetzung des Poems durch Alexander Nitzberg. Es ist die zweite vollständige deutsche Übersetzung, die erste hat Heinz Czechowski 1989 vorgelegt. Sie ist aus einer Interlinear-Übersetzung entstanden, die Czechowski in Verse gefaßt hat. In der früheren DDR sind sehr viele Nachdichtungen auf diese Weise vorgenommen worden (s. Arbeiten von Sarah und Rainer Kirsch, Uwe Grüning u.a.). Diese Übersetzungspraxis ist insofern anfechtbar, als einem Übersetzer, der des Russischen nur wenig mächtig ist, sehr leicht sprachliche Feinheiten und vor allem die authentische Atmosphäre eines Textes entgehen können.
Die neue Übersetzung Nitzbergs hat den Vorteil, daß sie von einem absolut zweisprachigen Übersetzer stammt, der sich zudem schon durch eine Reihe von Übersetzungen Puschkins wie der russischen Moderne (Sewerjanin, Majakowskij, Burliuk, Senkewitsch) einen Namen gemacht hat. Nitzbergs Übersetzung kommt dem Original sehr nahe und vermittelt den Glanz des „Silbernen Zeitalters“, dessen Bedeutung für die gesamte europäische Literatur im Westen noch immer viel zu wenig wahrgenommen wird. – Im übrigen ist Nitzbergs Übersetzung auch vollständiger: Den sieben von Czechowski bereits übersetzten „Ausgelassenen Strophen“ des Poems fügt er ganze sechsundzwanzig weitere hinzu, was der Authentizität des Textes zugutekommt.
Bei Roman Timentschik heißt es: „,Erkenntnis‘ und ,Selbsterkenntnis‘ ist letzten Endes auch das wichtigste Thema dieses themenreichen Werkes. Und das in ihm Vorüberhuschende Bild Fausts… erinnert uns noch einmal daran, welche Tiefen des Seins das Poem Achmatowas berührt, das mit der Beschreibung einer Neujahrsmaskerade beginnt, das mit nichts auf Erden vergleichbar ist und von so vielem zugleich spricht.“
Fritz Mierau sieht den wesentlichen Zug des Poems ohne Held in seiner „Rätselhaftigkeit“: „Daß Anna Achmatowa das Poem selber für ein Rätsel hielt und nach langen Versuchen, es im Mittelteil, dann in einer besonderen Prosa, gar als Ballett zu enträtseln, schließlich sich seiner Rätselhaftigkeit ergab, zeigt das Unerhörte dieses Auftritts. Denn das Rätsel des Gedichts ist das Rätsel der Dichterin.“
Für Roberta Reeder liegt das Grundthema des Poems ohne Held im „Sündencharakter“ von Achmatowas Generation, sie betont also die religiöse Komponente des Werkes: „… implizit ist in Poem ohne Held Achmatowas Glaube enthalten, daß das Gute schließlich triumphieren wird in einer Welt, die ein gerechter Gott regiert. Wenn Achmatowa auf ihr Leben und das ihrer Generation vor der Revolution zurückblickte, dann beurteilte sie deren Verhalten als falsch und Strafe verdienend. Aber sie glaubte auch, daß durch Sühne Strafe vermieden werden könne – Sünden konnten gesühnt werden, weil ein gerechter Gott auch ein vergebender Gott ist, und sie glaubte, Rußland und sein Volk könnten erneuert werden. Das Poem wird dadurch zu einem Ritual der Sühne.“
Timentschik hebt „Erkenntnis und Selbsterkenntnis“ als Hauptthema des Poems hervor, Mierau seine „Rätselhaftigkeit“, Reeder den „Sündencharakter“ von Achmatowas Generation. Ein Thema, das mir besonders wichtig erscheint, ist die Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner Epoche, die dessen Schicksal bedeutet. Wie alle großen Kunstwerke ist das Versepos, worauf fast alle Interpretationen hinweisen, außerordentlich vielschichtig angelegt, letzten Endes nicht zu ergründen, wie Achmatowa selbst es mit dem treffenden Bild vom bodenlosen Brunnen ausdrückt:

Noch nie hat eine hineingeworfene Fackel seinen Grund erhellen können. (…)

Johanne Peters, Nachwort, September 2000

 

Zum Inhalt:

In der Lyrik Anna Achmatowas, der wohl bedeutendsten russischen Dichterin des 20. Jahrhunderts, nimmt das Poem ohne Held einen ganz besonderen Platz ein: Es ist ihr geistiges Testament, ihr Lebenswerk, an dem sie über zwei Jahrzehnte lang (1940–1962) gearbeitet hat. Das Poem steht in einer Reihe mit den großen europäischen Dichtungen, wie Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien oder Ezra Pounds Cantos.
Die Neuübertragung von Alexander Nitzberg berücksichtigt zum erstenmal in der deutschen Sprache die eigenwillige Form des Poems, die Achmatowa in langer Arbeit speziell für dieses Werk entwickelte.
Wie in einem zerbrochenen Spiegel überschneiden sich dichterische Visionen mit biographischen Details: In einer grotesken und zugleich melancholischen commedia dell’arte ziehen die Zeitgenossen der Dichterin an ihrem geistigen Auge vorbei. Alles Konkrete wird in subtile Chiffren aufgelöst, und doch bleiben auch die feinsten Andeutungen – gemäß dem akmeistischen Konzept – stets irdisch und lebendig. Ein großartiger Abschied von einer der schillerndsten und fruchtbarsten Epochen Rußlands und – nicht zuletzt – Europas.

Grupello Verlag, Ankündigung

 

Fakten und Vermutungen zu Poem ohne Held

 

Augenblicke höchster Gefahr

Anna Achmatowas Poem ohne Held, das die große russische Dichterin im belagerten Leningrad begann und an dem sie beinahe bis zu ihrem Lebensende arbeitete, gilt als ihr lyrisch-episch-philosophisches Hauptwerk. Hier zieht sie souverän die Summe ihres Lebens und Schaffens.
Der an ein Mysterienspiel erinnernde, visionäre Bilderlose variierende Aufbau des Werkes, der ihm den Vergleich mit dem zweiten Teil von Goethes Faust eingetragen hat, ist zugleich verantwortlich dafür, daß ihm selbst in der lyrikbegeisterten Heimat eine nachhaltige Rezeption und lebendige Präsenz im literarischen Kanon versagt blieb. Der Text ist bis heute ein Geheimtip unter Intellektuellen, in welchem Kenner eine diffizil verschlüsselte Abrechnung der klassizistischen Dichterin mit sich und ihrer Epoche goutieren können.
Deutsche Leser hatten bisher vor allem dank der philologisch sorgfältigen Prosaübertragung und Kommentare von Fritz Mierau die Möglichkeit, sich auf die lyrische Odyssee mitnehmen zu lassen. Nun hat der deutsch-russische Schriftsteller Alexander Nitzberg eine eigene Version des schwierigen Werks herausgebracht, welche sich durch rhythmischen Schwung und frische Sprachphantasie empfiehlt.
Das Poem ist ein hochartifizieller Ausdruck einer radikalen Erfahrung von Selbstverlust beziehungsweise Selbsthistorisierung. Aus der Sicht des Kriegsjahres 1940 erblickt die Autorin das Schauspiel der Petersburger Kulturszene vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, jener „Silbernes Zeitalter“ genannten Hochblüte, von der Anna Achmatowa selbst inspiriert und geprägt wurde. Doch die erinnerten Bilder machen sich selbständig. Sie beschleunigen sich wie ein Lebensrückblick in Augenblicken höchster Gefahr.
Die Zentrifuge der schöpferischen Einbildungskraft wirbelt historische Figuren und kulturelle Archetypen durcheinander und läßt sie die Identitäten wechseln wie Masken im Karneval. Es ergibt sich eine Hommage an den Kunstreichtum der vorrevolutionären Epoche, zugleich aber eine Art Härtetest, der ihr Erbe anhand der folgenden historischen Katastrophen auf Dauerhaftigkeit überprüft. Achmatowas poetisch-philosophische Diagnose destilliert aus dem phantasmagorischen Treiben ein tragisch farcehaftes Liebesdreieck, außerdem das in vielfältigen Gestalten durchdeklinierte Bild des Dichters beziehungsweise der schöpferischen Persönlichkeit, in welchem die Autorin im neuplatonischen Geist den Wirklichkeitsgehalt des von ihr Erlebten zu sortieren versucht.
So teilt sich die Welt, aber auch das eigene Ich in gespenstische Trugbilder und geistig Dauerhaftes. Der ästhetische Reiz, die erotische Raffinesse der Belle Époque kristallisieren sich im Porträt der umschwärmten Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina, in welchem die Autorin durchaus auch Teile ihres eigenen früheren Selbst wiedererkennt. Wie sie den dämonischen Fürsten der Kunstbohème ihre Gunst erweist, während sich ein romantischer junger Dichter aus unerwiderter Liebe zu ihr entleibt, das gerinnt bei Achmatowa zum Sammelbild der Commedia-dell’-arte-Konstellation Arlecchino-Colombina-Pierrot, welche die Dekadenzkultur so sehr schätzte. Die an ihr zugrunde gehende zarte Seele wird zum Symbol der moralischen Schuld der Kulturelite, welche auch die Autorin auf sich zu nehmen bereit ist. Die Vergeltung ist jedoch schon im Anmarsch: Auf die Szenerie des letzten Vorkriegsjahrs fallen in Achmatowas retrospektiver Vision bereits die Schatten der bevorstehenden Katastrophen, welche auch für sie den Beginn des „eigentlichen“ zwanzigsten Jahrhunderts markieren.
Auch die übermenschlichen Schicksalsmächte können menschliche Gestalt annehmen. Bei Achmatowa erscheinen sie als gespenstischer, an den Don-Juan-Komtur erinnernder Gast aus der Zukunft, als beschworene Geister, aber auch als Figur des „wahren“ Dichters, dessen Zeugnis in ihren Augen die Zeitläufte überdauert und in welchem sie nicht ohne Stolz eines ihrer Ebenbilder erkennt.
Das poetische Prinzip, alle lebensweltlichen Gegenstände in Chiffren aus dem Katalog kultureller Sinnstiftung umzuwandeln, hat sie in diesem Werk zu einem imponierend kondensierfähigen Altersstil gesteigert. Deswegen gehört ein umfangreicher Anmerkungsapparat, dessen Grundstock schon die Dichterin selbst gelegt hat, obligatorisch zu jeder Ausgabe.
Das Hauptproblem bleibt natürlich die Übertragung des kryptischen, beiläufige Umgangssprache mit avantgardistischer Groteske und klassischem Pathos verschränkenden Textes ins Deutsche. Alexander Nitzberg hat den Versuch unternommen, nicht nur Achmatowas Bilderfindungen, sondern auch Reim und Metrum, die eigenwillig tanzende, sich aus drei dreihebigen Zeilen zusammensetzende Strophenform zu wiederholen. Sein respektgebietendes Unterfangen macht den drängenden, stolpernden Rhythmus und die spröden Schüttelreime des Originals auch im Deutschen erfahrbar. Furchtlos verrührt er derbe und pathetisch getragene Töne. Das tat auch Achmatowa, deren Sprache sich dabei jedoch durch einen ganz subtilen Grundton auszeichnet, welcher bei Nitzberg, der ja kein deutscher Dichter ist, fehlt. Man vernimmt ihn am ehesten in Mieraus Interlinearübersetzung, auf die manch dankbarer Leser zur Ergänzung zurückgreifen dürfte.

Kerstin Holm, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2001

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Michaela Willeke: Gedenken und Erinnern
literaturkritik.de, Mai 2004

 

 

„Es überlebt das königliche Wort“

– Anna Achmatowa zu Ehren. –

Ich bin im gleichen Jahr geboren wie Charlie Chaplin, wie Tolstojs „Kreutzer-Sonate“, der Eiffel-Turm und wohl Eliot. In jenem Sommer feierte Paris die hundertste Wiederkehr des Sturms auf die Bastille – 1889. In der Nacht meiner Geburt wurde und wird die Johannisnacht gefeiert. Anna nannte man mich zu Ehren meiner Großmutter Anna Jegorowna Motowilowa. Ihre Mutter, die tatarische Fürstin Achmatowa, stammte aus dem Geschlecht der Tschingisiden; ohne zu ahnen, daß ich eine russische Dichterin werden würde, nahm ich mir ihren Namen als mein literarisches Pseudonym.

So beginnt Anna Achmatowa ihre autobiographischen Skizzen „Pro domo mea“. Als sie dies schreibt, gilt sie längst als die russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, zusammen mit der frühverstorbenen, so gegensätzlichen Marina Zwetajewa.
Anders als Marina Zwetajewa war Anna Achmatowa dezidiert nichtavantgardistisch. Mit Puschkin und der russischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts groß geworden, eine gute Kennerin von Baudelaire, Verlaine, von Dante und der Bibel, strebte sie von Anfang an nach klassischer Zurückhaltung und Klarheit. Strenge Metren, genaue Reime, kurze Sätze, ein Hang zur Narration. Der erzählerische Charakter vor allem ihrer frühen Lyrik äußert sich darin, daß Eifersucht oder Liebeskummer in Episoden veranschaulicht, zu Sujets konkretisiert werden. So entstehen gleichsam Kürzestnovellen von großer Lakonie, persönlich und doch sparsam im Ausdruck der Gefühle. Das lyrische Ich spricht in einem Atemzug über die Tiefe seiner Empfindung, über Stachelbeerblüten und darüber, daß es den linken Handschuh über die rechte Hand zieht, doch nur wer sich auf den leisen Ton dieses fast beiläufigen Sprechens einstellt, erkennt die subtile Komplexität der Situation, die Höhen und Tiefen der Emotion, das Leiden durch Leidenschaft.
„Muse der Klage“ hat die junge Zwetajewa Anna Achmatowa genannt und damit auf den elegischen Grundzug ihrer Dichtung hingewiesen. Die Klage ist still und konstant, ohne je zur pathetischen Anklage zu werden. Das gilt selbst für den Gedichtzyklus „Requiem“, der wegen seiner herben Entlarvung des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion erst 1987 erscheinen konnte. Anna Achmatowa geht immer auf Distanz, verbirgt sich hinter Masken und Schleiern, liefert Spiegelbilder von Spiegelbildern, mitunter „Scherben“. Doch selbst wo die Trauer auf Grund gerät, erzeugt sie kein Gefühl von Tragik. Sie ist im Vers aufgehoben und verklärt.
Achmatowa wurde als Anna Andrejewna Gorenko am 23. Juni 1889 in der Nähe von Odessa geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend im idyllischen Zarskoje Selo bei St. Petersburg. „Eine grüngemusterte Stille in des Jahrhundertanfangs kühlem Kinderzimmer.“ Nach der Trennung der Eltern, 1905, zieht sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern auf die Krim, später nach Kiew, wo sie ein Jura-Studium beginnt. Als sie 1910 den Dichter Nikolaj Gumiljow heiratet, hat sie sich bereits für die Literatur entschieden. Zusammen mit Gumiljow und Ossip Mandelstam wird sie Akmeistin, verschreibt sich einem auf das Visuelle bezogenen, konzisen, unmetaphorischen Stil.
Reisen führen sie nach Paris; wo sie sich mit Modigliani befreundet, und nach Italien; 1912 erscheint ihr erster Gedichtband, Abend. Ein überwältigendes Debut. Mit den folgenden, in politischen Krisenzeiten entstandenen Gedichtbänden Rosenkranz (1914) und Weiße Schar (1917) wird Anna Achmatowa vollends zum Mythos: Man bewundert ihren souveränen Stil und ihre Erscheinung von herber Schönheit und großer Noblesse, die sich so selbstverständlich gegen die Vulgarität der Zeit behaupten; man malt, modelliert, photographiert und besingt sie wie keine andere. Nach Joseph Brodsky würden „die ihr gewidmeten Gedichte mehr Bände füllen als ihre eigenen gesammelten Werke“, und was die Achmatowa-Porträts betrifft, so stammen sie aus den geübten Händen von Amedeo Modigliani, Jurij Annenkow, Kusma Petrow-Wodkin, Natan Altman und vielen andern.
Im August 1921 wird Nikolaj Gumiljow wegen angeblicher Teilnahme an einer monarchistischen Verschwörung von der Tscheka erschossen. Die Signale der Bedrohung häufen sich. 1922 veröffentlicht Anna Achmatowa ihren Gedichtband Anno Domini, in dem sie sich – trotz allem – klar für ihre Heimat und gegen die Emigration entscheidet; danach kann sie, von der Parteikritik als konservativ verschrien, bis 1940 kein Buch mehr herausgeben. Sie schreibt unter ärmlichen Lebensbedingungen Aufsätze über Puschkin und die Architektur des alten Petersburg, die Gedichte notiert sie ins Heft. 1938, als ihr enger Freund Ossip Mandelstam im Stalinschen Gulag umkommt, wird ihr einziger Sohn Lew verhaftet. Achmatowa steht siebzehn Monate Schlange vor den Gefängnissen von Leningrad; in dieser extrem schwierigen Zeit, die Lidia Tschukowskaja sorgfältig protokolliert hat, entstehen große Teile des Zyklus „Requiem“, in dem Achmatowa stellvertretend für andere Mütter spricht und mit gebethafter Eindringlichkeit die Greuel des Terrors entlarvt.
Anna Achmatowa ist zur Geschichtsdichterin geworden. In ihren „Nördlichen Elegien“, vor allem aber im Gedicht-Triptychon Poem ohne Held (1940–1962) entfaltet sie eine verwirrende Stimmen-Polyphonie, um Vergangenes heraufzubeschwören, dem Vergessen zu entreißen. Ihre Themen sind: die Zeit, die Erinnerung, der Tod, wobei sie um das Paradox weiß, daß das Vergehen der Zeit in der Prosodie des Verses zum Stillstand kommt, vorausgesetzt, „jedes Wort in der Zeile steht an seiner Stelle, als stünde es dort schon tausend Jahre, aber der Leser hört es zum erstenmal. Der Weg ist schwer, aber wenn er gelingt, sagen die Leute: ,Das geht um mich, als hätte ich das geschrieben.‘“
Anna Achmatowa hat genau das erreicht: den Eindruck kunstvoller Einfachheit, ja, Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Und dies trotz ihrer enormen Belesenheit, trotz der mannigfaltigen intertextuellen Bezüge ihrer Poeme, trotz des palimpsestartigen Charakters ihrer späten Lyrik. Der poetische Impuls folgt gleichsam einem Diktat:

Doch da schon Worte, wie geboren, kaum,
Signal: der zarte Klingelton des Reims –
Und nun Beginn, fast, ich versteh, hör, seh:
Es legen sich die vordiktierten Zeilen
Einfach und schwarz aufs reine Weiß des Hefts.
(Übersetzung: Rainer Kirsch)

Mit l’art pour l’art hat das nichts zu tun, denn eben diesem Diktat folgend, hat Achmatowa auch ihre vaterländischen Gedichte während des Zweiten Weltkrieges geschrieben. Trotzdem geschieht 1946 das Ungeheuerliche: Anna Achmatowa wird von Parteisekretär Schdanow als „Nonne und Hure“ beschimpft und im Rahmen des ZK-Beschlusses vom 14. August zusammen mit Michail Soschtschenko aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; zwei Gedichtbände werden eingestampft. Als 1949 ihr Sohn zum drittenmal deportiert wird, vernichtet sie aus Angst mehrere Prosamanuskripte und Theaterstücke. Ihre Rehabilitierung erfolgt 1956, die Aufhebung des ZK-Beschlusses jedoch erst über zwanzig Jahre nach ihrem Tod, unter Gorbatschow, der auch die Publikation des „Requiems“ freigegeben und die Gründung eines Achmatowa-Museums in St. Petersburg ermöglicht hat.
Immerhin erlebt Anna Achmatowa nach 1956 das Erscheinen mehrerer Gedichtausgaben sowohl in der Heimat als auch im Ausland, wird als Symbolfigur des geistigen Widerstands umringt und bewundert und mit internationalen Auszeichnungen bedacht: 1964 erhält sie in Oxford – in Gegenwart von Isaiah Berlin – die Ehrendoktorwürde. Bei dieser Gelegenheit sieht sie Paris und alte Freunde wieder, Kreise schließen sich. Auf der Datscha in Komarowo entstehen Altersgedichte von heiterer Abgeklärtheit sowie autobiographische Prosaerinnerungen, dort auch empfängt Achmatowa die Besuche von jungen Lyrikern wie Joseph Brodsky. Sie stirbt am 5. März 1966 an Herzversagen; ihr Grab zwischen den karelischen Föhren von Komarowo hat seither nicht aufgehört, ein Pilgerort zu sein.
Anna Achmatowa, die während der Stalinzeit viele ihrer Gedichte nur dem Gedächtnis naher Freunde anvertraut hat, ist längst zur Klassikerin geworden, ihre Dichtung zum vielzitierten „Volksgut“. Im ruhigen, gleichsam zeitlosen Duktus ihrer Verse, der nur feine Brechungen kennt, erscheinen ganze historische Epochen aufgehoben und individuelle Traumen in kollektive Erinnerung umgewandelt.

Gold rostet, Stahl verwest zu Staub,
Marmor zerbröckelt. Alles ist bereit zum Tod.
Am dauerhaftesten auf Erden ist die Trauer.
Es überlebt: das königliche Wort.
(Übersetzung: Rainer Kirsch)

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1989

 

Moritz Fehrle im Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Alexander Nitzberg: Man muß Sprache Gewalt antun.

Anne-Cathrine Simon und Eduard Steiner im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Ich übersetze lieber politisch unkorrekt“.

Michael Wurmitzer im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Sprache hat viele Schatzkammern“.

 

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Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

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Anna Achmatowa Begräbnis.

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