ERSTER TEIL
ZWEITES KAPITEL
Siehst du etwa jenen vor dir niederknien,
Der für den weißen Tod deinen Kerker verließ?
„Die Stimme der Erinnerung“, 1913
Das Schlafzimmer der Heldin. Eine Wachskerze brennt. Über dem Bett drei Portraits der Hausherrin in verschiedenen Rollen. Rechts ist sie die Ziegenfüßige, in der Mitte die Irritation, links ein Portrait im Schatten. Den einen scheint es Kolumbine zu sein, den anderen Donna Anna (aus „Die Schritte des Komturs“). Vor dem Mansardenfenster kleine Mohren, die mit Schneebällen spielen. Schneesturm. Jahreswende. Die Irritation erwacht zum Leben, tritt aus dem Bild heraus und meint, eine Stimme zu hören, die deklamiert:
Aufgeschlagen sind des Pelzes Schöße!
aSei, mein Täubchen, mir nicht böse,
aaDaß ich trinke aus diesem Gefäß,
aaaNicht dich – mich selbst straf’ ich damit.
Die Rache wird ohnehin kommen,
aSiehst du hinter des Sturmes Toben,
aaWie Meyerholds kleine Mohren
aaaWieder am Lärmen und Balgen sind?
aaaaUnd ringsum die alte Stadt Piter –
aaaaaSie war einst ihrer Bürger Schinder
aaaaaa(So wurde damals im Volk gesagt).
In Mähnen, Geschirren und Fuhren
aVon Mehl, in hingepinselten Blumen,
aaUnter der Wolke des Krähenschwarms.
Doch über des Marinskijs Bühne
aFliegt, scheinbar lächelnd nur, die Prima,1
aaUnfaßbare Schwanen-Ballerina,
aaaEs witzelt ein zu spät gekomm’ner Snob.
Orchesterklang wie aus dem Jenseits
a(Dort huschten irgendwessen Schemen) –
aaGing durch die Reihen nicht ein Beben
aaaAls Vorahnung des Morgenrots?
Und die bekannte Stimme wieder,
aAls hallte Donnergrollen wider, –
aaAls unser Sieg und uns’re Ehr’.
Die Herzen erfüllt sie mit Beben
aUnd erschallt auf verschlammten Wegen
aaÜber dem Land, das sie ernährt.2
Äste in blauweißem Schneekleid…
aDer Gang der Petrinischen Kollegien
aaIst endlos, hallend und gerad’.
Ihn werden jene im Traum noch sehen,
aDie ihn heute hinuntergehen –
aaWas auch immer geschehen mag.
Die Lösung ist lächerlich nahe,
aHinterm Wandschirm Petruschkas Larve,
aaAuf dem Palais die schwarz-gelbe Fahne,
aaUnd um die Fenster der Kutscher Tanz…
Auf ihren Platzen sind die Akteure,
aVom Sommergarten riecht es betörend
aaNach fünftem Akt. – Dort auch der Geist der Hölle
aaaVon Zusima. Seemannsgesang.
Wie festlich der Schlittenkufen Pfeifen,
aSie lassen ein Plaid aus Ziegenhaar schleifen…
aaSchatten, gefehlt! – Er ist allein.
Die Wand zeigt seine strengen Züge.
aWer ist dein Paladin, du Schöne –
aaMephisto oder Gabriel?
Der Dämon selber mit Tamaras Lächeln,
aDoch welch seltsamer Reiz versteckt sich
aaIn diesem Antlitz, grausam, nebulös?
Fleisch, fast schon Geist geworden,
aLockenhaar, antik über den Ohren –
aaDer ganze Ankömmling ist mysteriös!
Er war es, der im überfüllten Saale
aIm Becher jene schwarze Rose sandte,
aaOder war all das nur ein Traum?…
Ist er mit totem Herzen und mit toten
aBlicken hier auf den Komtur gestoßen,
aaAls er eindrang ins verfluchte Haus!
Es ward bekannt durch seine Worte,
aDaß ihr an unbekannten Orten
aaUnd außerhalb der Zeiten wart, –
Angetan mit Kristall vom Nordpol
aUnd dem Glanz von Bernsteinbrocken
aaDort, wo die Lethe mündet – die Newa.
Du stiegst aus dem Bild, der Rahmen
aWird leer bis zum Anbruch des Tages
aaAn der Wand dort warten auf dich.
So mußt du tanzen – ohne Partner!
aDen Part des Schicksalschores aber
aaNehm’ ich bereitwillig auf mich.
Rote Flecken sind auf deinen Wangen,
Wärst besser wohl aufs Bild zurückgegangen,
Ist heute doch so eine Nacht,
Wo Rechnungen beglichen werden…
Die Schläfrigkeit betäubt, ist schwerer
Zu zähmen als des Todes Macht.
… Von nirgendwo bist du gekommen
aNach Rußland, mein Wunder, mein blondes,
aaKolumbine des zweiten Jahrzehnts.
Was schaust du so wachsam und dunkel,
aKomödiantin, Petersburger Puppe,
aaDie du mir so täuschend ähnlich siehst.
Ich füge zu all deinen Titeln
aNoch diesen hinzu. Freundin der Dichter,
aaEinst erb’ ich deines Ruhmes Glanz.
Zur Musik mit dem herrlichen Taktmaß
aDes Petersburger Windes, maßlos
aaUnd wild. Im Zedernschatten
aaaSeh’ ich der höfischen Knochen Tanz…
Die Wachstränen der Kerzen fließen,
aSchultern unterm Brautschleier zum Küssen.
aa„Mein Täubchen, komm“, so dröhnt’s im Dom.
Berge von Veilchen und ein Treffen
aIn der Maltesischen Kapelle
aaSind wie ein Fluch, der in dir tobt.
Ist’s einer goldenen Epoche Ahnung
aOder gar schwarze Freveltat im Chaos
aaDes Schreckens längst vergang’ner Zeit?
Antworte mit sofort:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaIst’s möglich,
Du lebtest irgendwann tatsächlich,
aUnd hat das Holzpflaster der Plätze
aaDein blendend weißer Fuß gestreift?…
Das Haus wie Komödiantengefährte
aSo bunt, Amorfiguren blättern,
aaBewachen der Venus Altar.
Eingesperrt hast du nie einen Vogel,
aHast dir als Schlafraum eine Laube erkoren;
aaDie Tochter des Nachbarn vom Dorfe
aaaErkennt nicht mehr der muntere Skobar.3
In den Wänden verborgener Gänge,
aHeilige an azurblauen Wänden, –
aaHalbwegs gestohlen ist all das wohl…
Wie bei Botticelli, blumenbehangen,
aHast du die Freunde im Bett empfangen,
aaVoll Sehnsucht ein Dragoner-Pierrot, –
Von allen, die in dich verliebt gewesen,
aIst mit dem Opfer-Lächeln jener
aaDer Abergläubischste: Du bist
Magnet für ihn: Durch Tränen und erbleichend
aSieht er, wie sie dir Rosen reichen
aaUnd wie berühmt sein Gegner ist.
Nie hab’ ich einen Mann gesehen,
aIch, die ans Glas gedrückte Kälte.
aaDa ist die Festungsuhr, die schlägt.
Das Haus hab’ ich mit Kreuzen nicht versehen,
aSo komm, tritt mutig mir entgegen,
aaD e i n H o r o s k o p i s t l ä n g s t g e s t e l l t.
Übersetzung: Bettina Eberspächer
– Ein Gespräch mit Jossif Brodskij. –
Statt eines Vorworts
Die Gattung des „Gesprächs“ nimmt eine Sonderstellung ein. Im Westen schon verhältnismäßig lange heimisch, konnte sie sich in Rußland bisher nicht einbürgern. Das ausgezeichnete Buch von Lydia Tschukowskaja über Anna Achmatowa ist, bei all seinem dokumentarischen Wert, in erster Linie das Tagebuch der Tschukowskaja selbst.4
Der russische Leser ist an „Gespräche“ mit seinen Dichtern nicht gewöhnt. Dafür gibt es viele Gründe. Einer von ihnen ist die späte Professionalisierung der Literatur in Rußland. Man schenkte dem Dichter Gehör, brachte ihm aber keine Achtung entgegen. Eckermann gab seine berühmten Gespräche mit Goethe im Jahre 1836 heraus; ein Jahr später rief die Totenrede auf Puschkin, in der es hieß, daß den Dichter „mitten in seiner großen Lebensbahn der Tod getroffen“ habe, den Unmut des russischen Ministers für Volksaufklärung hervor:
Ja was soll denn eine solche Ehre? War Puschkin etwa ein Heerführer, ein Feldherr, ein Minister, ein Staatsmann? Verschen schreiben bedeutet schließlich noch nicht, eine große Lebensbahn zu durchschreiten.
Gegen Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich die Lage mit der Entstehung eines großen Marktes für Gedichte zu ändern. Aber es war zu spät – es kam die Revolution; mit ihr mußte alles, mußten jegliche Gespräche Zuflucht zum resonanzlosen Untergrund nehmen. Und obwohl die Technik der Tonaufnahme bereits existierte, sind keine Tonbandaufnahmen von Gesprächen mit Pasternak oder Sabolozkij oder der Achmatowa auf uns gekommen.
Unterdessen erlebt im Westen die Gattung des Dialogs eine Blüte. Ihr Urahn, die „Gespräche mit Goethe“, steht immer noch einzig da. Ein anderer Gipfel sind die fünf Bücher Gespräche mit Strawinskij, vor noch nicht langer Zeit herausgegeben von Robert Craft; diese glänzende Reihe hat unseren Geschmack in kulturellen Dingen spürbar beeinflußt.
Auch eine Gattungsästhetik hat sich herausgebildet. Hier kann man Brechts „Flüchtlingsgespräche“ nennen sowie bestimmte Stücke von Beckett und Ionesco. Der Erfolg des Films Essen mit André von Louis Malle, der zur Gänze aus dem Gespräch zweier real existierender Personen besteht, zeigt, daß dieses Verfahren auch für ein breites Publikum von Interesse ist. Den ersten Anstoß für die Gespräche mit Jossif Brodskij gaben die Vorlesungen, die der Dichter an der Columbian University (New York) im Herbst des Jahres 1978 hielt. Ich besuchte diese Vorlesungen regelmäßig und schrieb sie mit. Sie machten einen außerordentlich starken Eindruck auf mich. Brodskij sprach über Dichter aus dem englischsprachigen Raum, von denen ich wenig oder nichts wußte. Auch analysierte er auf eine völlig neue Weise russische Dichter, die man doch gut zu kennen vermeinte. Unter ihnen war auch Anna Achmatowa.
Wie das so geht, hegte ich den leidenschaftlichen Wunsch, meine Entdeckungen mit einer möglichst großen Zahl von Menschen zu teilen. Es begann eine fünfjährige Arbeit, deren Resultat ein umfangreiches Manuskript „Gespräche mit Jossif Brodskij“ war. Kapitel dieses Manuskripts erschienen zu verschiedenen Zeiten in der russischen Presse im Ausland. Mit dem hier dem Leser zur Beachtung vorgelegten Kapitel über Anna Achmatowa wird dreierlei beabsichtigt. Zuerst einmal, so viel wie möglich an Details und charakteristischen Zügen, betreffend Anna Achmatowa und ihre Umgebung, zu bewahren. Ferner schien es von Wichtigkeit und Interesse zu sein, das Labor der dichterischen Arbeit vor Augen zu führen und, wenn möglich, einige der Motive zu zeigen, die den Anstoß zur Niederschrift dieses oder jenes Gedichts gaben. (Für sich genommen, ist dies in der russischen Kultur ein traditionelles Thema: vgl. Marina Zwetajewas Zyklen „Der Dichter“ und „Der Tisch“, Anna Achmatowas „Geheimnisse des Handwerks“.)
Und schließlich soll dem Leser die Möglichkeit gegeben werden, einfach dem bemerkenswerten Gespräch zweier Menschen beizuwohnen, zweier neuer Flüchtlinge, ungeachtet der Tatsache, daß der eine von ihnen Dichter, der andere Journalist ist. Denn es handelt sich hier um so etwas wie ein Theaterstück, mit der Schürzung des Knotens, mit unterschwelligem Konfliktstoff, mit Höhepunkt und Finale.
Mir kam die Tatsache zu Hilfe, daß Jossif Brodskijs Denken grundsätzlich dialogisch ist (im Sinne Bachtins). Das ist auch in Brodskijs Gedichten zu spüren, sowie in seiner Prosa und in seinen Theaterstücken.
Dieser dialogische Charakter brachte für die Vorbereitung der Texte zum Druck aber auch gewisse Schwierigkeiten mit sich. Die auf Tonband aufgenommenen Gespräche mußten lange „montiert“ und redigiert werden. Die endgültige Fassung wurde von Brodskij selbst durchgesehen. Wenn, ungeachtet dieser ganzen Vorarbeiten, das Endprodukt dem Leser immer noch spontan, ja fast wie improvisiert vorkommt, dann werde ich das gerne als ein Kompliment auffassen.
Solomon Wolkow
Solomon Wolkow: Ich sehe mich oft mit der Tatsache konfrontiert, daß das menschliche Gedächtnis doch ein recht zerbrechliches Ding ist. Man spricht mit Leuten und sieht, wie gar nicht weit zurückliegende Ereignisse sich auflösen und ihre Umrisse immer verschwommener werden. In dem Gespräch mit Ihnen möchte ich versuchen, einige Details, einige Striche zu einem Porträt von Anna Achmatowa ins Gedächtnis zurückzurufen. Den Versuch machen, diese Details aus dem Nichtsein hervorzuholen.
Jossif Brodskij: Mit Vergnügen, wenn sie dort nicht spurlos verschwunden sind. Nur weiß ich, daß ich nicht auf alle Fragen zu antworten imstande bin. Alles, was Anna Achmatowa betrifft, ist ein Teil des Lebens, und über das Leben zu sprechen ist genauso schwierig wie für die Katze, ihren Schwanz zu fangen. Bedrückend schwierig.
Eins vorneweg: Jede Begegnung mit Anna Andrejewna war für mich ein Erlebnis ganz besonderer Art. Wenn man körperlich spürt, daß man es mit einem Menschen zu tun hat, der besser ist als man selbst. Viel besser. Mit einem Menschen, der einen allein durch seine Intonation verwandelt. Und die Achmatowa verwandelte einen schon mit dem Klang ihrer Stimme oder mit einer Wendung ihres Kopfes in einen homo sapiens. Etwas Ähnliches hat sich mit mir weder zuvor noch, glaube ich, danach je ereignet. Vielleicht auch deshalb, weil ich damals jung war. Die Entwicklungsstadien wiederholen sich nicht.
In den Gesprächen mit ihr, einfach beim Tee oder beim Wodka-Trinken, wurde man rascher zu einem Christen – zu einem Menschen im christlichen Sinn dieses Wortes – als durch das Lesen entsprechender Texte oder einen Kirchenbesuch. In nicht geringem Maße bezeichnet das die Rolle des Dichters in der Gesellschaft.
Wolkow: Unser Anfang galt dem Gedächtnis. Wenn Sie zurückblicken, teilen Sie dann Ihr Leben in bestimmte Perioden ein?
Brodskij: Ich glaube, nein.
Wolkow: Sie haben nie zu sich selbst gesagt: Ein Mal in drei Jahren, oder in fünf Jahren, geschieht mit mir dies oder das; eine bestimmte Jahreszeit ist für mich günstig?
Brodskij: Es ist so, daß ich mich gar nicht mehr erinnere, wann was mit mir geschah. Ich bin völlig rausgekommen. Ich weiß nicht genau: Ist etwas, sagen wir, im Jahre 1979 geschehen oder 1969. Das liegt alles schon so weit zurück, nicht wahr? Das Leben verwandelt sich sehr schnell in eine Art Newskij Prospekt, in dessen Perspektive sich alles ungemein rasch entfernt. Und verlorengeht, und zwar für immer.
Wolkow: Es geht darum, daß Anna Achmatowa der Zyklizität in ihrem Leben, dem wiederholten Sich-Einstellen bestimmter Daten eine außerordentliche Bedeutung beimaß. Ich erinnere mich, daß besonders der August als ein unheilvoller Monat galt:
Und wieder die „unvergeßlichen Daten“,
und alle waren sie verflucht.
Brodskij: Um das Gedächtnis von Anna Andrejewna war es weit besser bestellt. Die Kraft ihrer Erinnerung war erstaunlich. Was man sie auch fragte, immer nannte sie einem ohne große Anstrengung das Jahr, den Monat, den Tag. Sie erinnerte sich, wann wer gestorben war oder geboren wurde. Und tatsächlich waren bestimmte Daten für sie sehr wichtig. Was mich betrifft, so habe ich diesen Dingen niemals irgendeine Bedeutung beigemessen. Ich erinnere mich, daß zwei oder drei Mal in meinem Leben erhebliche Unannehmlichkeiten Ende Januar eingetreten sind. Aber das war reiner Zufall. In diesem Bezug zu Details, zu Einzelheiten, zu Daten kommt offenbar ein Unterschied in der Erziehung – oder in der Selbsterziehung – zum Ausdruck. Soweit ich mich an mich selbst erinnere, habe ich immer danach gestrebt, mich von dieser oder jener Realität freizumachen, anstatt zu versuchen, etwas festzuhalten. Im Endeffekt verwandelte sich diese Tendenz zu einem Instinkt, dessen Opfer, wie sich herausstellte, nicht nur die Umstände des eigenen Lebens waren, sondern auch die eines fremden Lebens, das einem sogar teuer war. Natürlich wurde das von einem Selbstschutzinstinkt diktiert. Aber für alles, diesen Instinkt eingeschlossen, muß man bezahlen. Zusammenfassend muß ich sagen: Das Sich-Erinnern habe ich bei Anna Andrejewna nicht gelernt – wenn man das überhaupt lernen kann.
Wolkow: Wann und unter welchen Umständen haben Sie die Achmatowa kennengelernt?
Brodskij: Das war, wenn ich nicht irre, im Jahre 1962, ich war demnach um die zweiundzwanzig, Jewgenij Rejn brachte mich zu ihr auf die Datscha. Das Interessanteste dabei ist, daß ich mich an den Beginn dieser Begegnungen nicht sehr deutlich erinnere. Irgendwie kapierte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte. Umso mehr, als die Achmatowa irgendwelche meiner Verse lobte. Lob interessierte mich nicht besonders. So war ich also drei, vier Mal bei ihr auf der Datscha, zusammen mit Rejn und Najman. Und erst, als ich mal wieder in der völlig überfüllten Straßenbahn von der Achmatowa nach Hause zurückfuhr, begriff ich plötzlich – es fiel mir wirklich wie Schuppen von den Augen –, mit wem, genauer, womit ich es zu tun hatte. Ob es ein Satz von ihr war, an den ich mich erinnerte, oder eine Wendung ihres Kopfes – plötzlich war alles an seinem Platz. Nicht, daß ich von nun an ständiger Gast bei ihr gewesen wäre, aber ich sah sie jetzt doch regelmäßig. In einem Winter mietete ich in Komarowo sogar eine Datscha. Damals sahen wir uns buchstäblich jeden Tag. Es ging überhaupt nicht um Literatur, es war ein rein menschliches Verhältnis – ich wage es zu sagen – gegenseitiger Sympathie. Übrigens, einmal gab es die folgende bemerkenswerte Szene. Wir saßen bei ihr auf der Veranda, wo alle Gespräche stattfanden, aber auch Frühstück, Abendessen und alles Sonstige, wie sich’s gehört. Und plötzlich sagte die Achmatowa:
Also Jossif, ich verstehe gar nicht, was los ist; meine Gedichte können Ihnen doch gar nicht gefallen.
Ich erboste mich natürlich und beteuerte, daß es genau umgekehrt sei. Im Rückblick aber muß ich sagen, sie hatte bis zu einem gewissen Grade recht. Und zwar ging es mir bei den ersten Malen, als ich zu ihr fuhr, im großen und ganzen kaum um ihre Gedichte. Ich las sogar wenig. Schließlich war ich ein normaler junger Sowjetmensch. „Der grauäugige König“ war entschieden nichts für mich, und auch nicht „die rechte Hand“ und „der Handschuh von der Linken“ – all diese Dinge stellten für mich nicht gerade besonders große dichterische Errungenschaften dar. So dachte ich, bis ich dann auf andere Gedichte von ihr stieß, auf die späteren.
Wolkow: Welche russischen Dichter lasen Sie zu jener Zeit?
Brodskij: Zwetajewa, Mandelstam.
Wolkow: Sie sagen, Sie seien damals ein „normaler junger Sowjetmensch“ gewesen. Aber Zwetajewa und Mandelstam waren ja auch nicht gerade das Standardmenü jener Jahre. Wann lasen Sie zum ersten Mal Mandelstam?
Brodskij: Das war im Jahre 1960 oder 1961, einer der glücklichsten Abschnitte meines Lebens. Ich trieb mich ohne Arbeit herum, nachdem die Feldforschungssaison der geologischen Expeditionen zuende war. Ich bekam eine Stelle am Institut für Kristallographie an der Leningrader Universität. Das erste Kolleg. Das Institut für Erdwissenschaften. Dort habe ich übrigens tüchtig gebüffelt. Ich habe ihnen Vakuumkammern gebaut und andere Dinge. Mit meinen eigenen Händen. War eine interessante Arbeit. Doch im ganzen hatte das alles einen leicht komischen Anstrich. Der Arbeitstag in der Universität begann um neun Uhr morgens. Ich ging gegen zehn Uhr hin – da machte nämlich die Bibliothek auf. In dieser Bibliothek schrieb ich mich an meinem zweiten Arbeitstag ein. Und da ich nicht als Student, sondern als Mitarbeiter geführt wurde, hatte ich einen begünstigten Zugang zu den Büchern. Ich lieh sie mir massenweise aus. Darunter befand sich besonders Mandelstams Stein (weil ich von diesem Titel hatte läuten hören) und Tristia. Und damit zog ich mich natürlich sofort zurück. Einen besonders starken Eindruck machten zu jener Zeit auf mich „Die Lutheraner“, „Über dem Gelb der Regierungsgebäude“; einige Gedichte prägten sich mir damals fest ein.
Überhaupt hat die erste Lektüre eines großen Dichters etwas ungemein Fesselndes an sich. Man stößt nicht nur auf einen interessanten Inhalt, sondern vor allem auf eine Sprache, der man sich nicht zu entziehen vermag. Das macht ja doch wohl den großen Dichter aus, nicht wahr? Danach spricht man selbst eine andere Sprache.
Nach Stein und Tristia ist mir von Mandelstam zwei oder drei Jahre lang nichts mehr in die Hände gefallen. Sogar nach der Bekanntschaft mit Anna Andrejewna nicht. Die Chefs vom KGB hatten die Achmatowa im Verdacht, daß sie die Jugend verderben würde, indem sie dieser Gedichte verbotener Klassiker gebe. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Mir, zum Beispiel, kam es gar nicht in den Sinn, sie um Gedichte von Mandelstam zu bitten. Und als ich später Gedichte von Mandelstam las, die für mich neu waren, da geschah das auf Umwegen. Irgendwelche halbgebildeten, uneingeweihten Leute – in der Regel Mädchen oder Damen – zogen aus ihren Handtaschen plötzlich weiß Gott was hervor, ganz interessante Dinge. Und es war natürlich angenehm, machte Spaß, diese Gedichte jemand anderem zum Lesen zu geben, von dem man wußte, daß er sich noch nicht kannte. Ich habe diese Gedichte abgetippt, vervielfältigt. Eine normale Reaktion.
Wolkow: Aber waren all diese „Mädchen und Damen“ nicht vorwiegend Verehrerinnen der Achmatowa?
Brodskij: Gut möglich, daß sie’s waren. Aber offenbar glaubten sie, ich sei mit den Werken Anna Andrejewnas sowieso gut vertraut. Was zu glauben gar nicht angebracht war, weil ich nur eine ziemlich kleine Anzahl ihrer Gedichte kannte, zwanzig oder so.
Wolkow: Ich würde gerne über die Leningrader Subkultur Ende der 50er Jahre-Anfang der 60er Jahre sprechen. Sie kamen zusammen, Sie lasen einander Gedichte vor, eben die von Mandelstam?
Brodskij: Nein, ganz und gar nicht. Ich erinnere mich, wir fragten einander:
Hast du das gelesen? Und das?
Von Zeit zu Zeit versammelten wir uns bei jemand in der Wohnung, aber dann trugen wir unsere eigenen Gedichte vor. Das fing an, als ich zweiundzwanzig, dreiundzwanzig war.
Wolkow: Und bei wem haben Sie sich versammelt?
Brodskij: Bei den verschiedensten Leuten. Am Anfang haben wir uns nicht einmal versammelt, da zeigten wir unsere Gedichte einfach jemandem, auf dessen Meinung wir etwas gaben, oder an dessen Hilfe oder Zustimmung uns gelegen war. Und dann begann ein ziemlich hartes Gespräch. Nicht, daß die Gedichte analysiert worden wären. Sowas nicht. Der Gesprächspartner legte das Gedicht einfach auf die Seite und verzog die Visage. Und wenn man Courage hatte, fragte man ihn: Was ist los? und er sagte: Na ja, sieh dir das doch mal an, der reinste Schwachsinn.
Mein hauptsächlicher Lehrer war Rejn. Das ist ein Mensch, dessen Meinung mir bis auf den heutigen Tag wichtig und wertvoll ist. Meiner Ansicht nach besitzt er das absolute Gehör. Wir waren vier: Rejn, Najman, Bobyschew und ich. Anna Andrejewna nannte uns den „Zauberchor“.
Wolkow: „Der Zauberchor“ – ist das ein Zitat von irgendwoher?
Brodskij: Nein, ich glaube, das ist eine Eigenerfindung. Es ist so: Die Achmatowa glaubte, es geschehe eine Wiedergeburt der russischen Poesie. Und damit war sie nicht weit von der Wahrheit entfernt. Vielleicht gehe ich ein bißchen zu weit, aber ich denke, daß gerade wir, gerade dieser „Zauberchor“, einen Anstoß zu dem gegeben hat, was sich heute in der russischen Dichtung tut.
Wenn man regelmäßig neue Gedichte liest, wie ich das tue, dann sieht man, daß das bis zu einem gewissen Grad (vielleicht gehe ich wieder zu weit) eine Nachahmung unserer Gruppe ist, daß es sich um Epigonentum handelt. Ich sage das nicht deshalb, weil ich hinsichtlich unserer Gruppe irgendwelche patriotischen oder nostalgischen Gefühle hegen würde. Aber diese Verfahren, diese Diktion, das ist zum ersten Mal bei uns aufgekommen.
Für Anna Andrejewna war das so etwas wie ein zweites silbernes Zeitalter. Zu Äußerungen dieser Art verhielt ich mich skeptisch. Aber ich kann mich genauso gut auch irren. Aus einem ganz einfachen Grund: Die Achmatowa hatte mit einem weit größeren Kreis von Dichtern bzw. von an Dichtung Interessierten zu tun. In Leningrad kamen nicht nur wir zu ihr. Und nicht nur in Leningrad brachten ihr junge Leute ihre Gedichte, sondern auch in Moskau. Und das war ein sehr unterschiedliches Publikum (fast hätte ich gesagt: ein buntscheckiges).
Wolkow: Stimmt es, daß die Achmatowa Sie alle die „Awwakumiden“ genannt hat?
Brodskij: Ich kann mich nicht erinnern, es aus ihrem Munde gehört zu haben.
Wolkow: Und haben Sie sich selbst einen Namen gegeben?
Brodskij: Nein, das kam uns gar nicht in den Sinn.
Wolkow: Auch eine scherzhafte Selbstbezeichnung hat es nicht gegeben?
Brodskij: Nein, überhaupt keine. Wir waren einfach gut miteinander befreundet. Die Beziehungen unter uns waren recht fest, intellektuell und rein menschlich.
Wolkow: Und jetzt, wenn Sie zurückschauen, könnten Sie sagen, daß das eine bestimmte literarische Gruppe, eine Schule war?
Brodskij: In der Rückschau unbedingt. Als ich Gedichte von Lossjew las, kam mir kürzlich der folgende Gedanke: Seinerzeit entstand in Leningrad eine Gruppe, die in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit der „Plejade“ um Puschkin hatte. […] Zu Beginn unseres Jahrhunderts gab es in Petersburg dann eine ähnliche Situation: Wieder tauchte eine Gruppe auf. Natürlich war das zeitlich alles ein bißchen verstreuter. Aber trotzdem: Blok, Mandelstam… Hier weiß man allerdings nicht, wem man am ehesten die Rolle eines Puschkin zusprechen sollte. Mandelstam war im Prinzip keine Führernatur. Diese Rolle gehörte eher Gumiljow mit seiner „Dichter-Gilde“. Sie nannten sich „Dichter-Gilde“! Man muß uns Gerechtigkeit widerfahren lassen: Zu solchen Höhen haben wir uns nicht aufgeschwungen.
Wolkow: Und was hat die Achmatowa Ihnen vom „ersten“ silbernen Zeitalter erzählt?
Brodskij: Ach, wissen Sie, mich, als einen Menschen mit einer ungenügenden Erziehung und Bildung, hat das alles nicht übermäßig interessiert, all diese Autoren und Begleitumstände. Mit Ausnahme von Mandelstam und später von Anna Andrejewna. Blok zum Beispiel mag ich nicht, heute passiv nicht, früher aktiv nicht.
Wolkow: Weshalb?
Brodskij: Wegen seines schlechten Geschmacks. Meiner Meinung nach ist er in vieler Hinsicht, als Mensch und als Dichter, äußerst abgeschmackt. […] Bei Mandelstam gibt es so etwas nicht! Beachten Sie im übrigen, wie stark bei Mandelstam die von Baratynskij herkommende Strömung ist. Wie Baratynskij war auch er ein überaus funktionaler Dichter. […]
Wolkow: Baratynskij war kein professioneller Literat im Puschkinschen Verständnis dieses Worts. Er konnte es sich leisten, auf einem Gut zu leben und jahrelang nichts zu veröffentlichen.
Brodskij: Nun, wenn die Umstände anders gewesen wären, hätte er es sich vielleicht durchaus geleistet zu veröffentlichen. Aber da die lesende Masse zu der damaligen Zeit keine so große Masse war…
Wolkow: Das kommt uns heute so vor. Im Verhältnis gesehen, war das eine durchaus ansehnliche Masse.[…]
Brodskij: Aber das Auditorium des Dichters machte doch immer bestenfalls ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Nicht mehr.
Wolkow: Der frühe Baratynskij war bei seinem zeitgenössischen Leser genauso populär wie die bekannten Namen unserer Tage.
Brodskij: Aber nicht lange war er populär, nicht lange. Ich möchte aus einem bemerkenswerten Brief Baratynskijs an Puschkin zitieren:
Ich glaube, daß der Dichter bei uns in Rußland nur mit seinem ersten unreifen Versuch auf einen großen Erfolg hoffen kann. Für ihn sind alle jungen Leute, weil sie in ihm fast ihre eigenen, in leuchtende Farben gekleideten Gedanken finden. Der Dichter entwickelt sich, schreibt mit großer Überlegung, mit Gedankentiefe: Und da ist er den Offizieren langweilig, und die Brigadiere schließen nicht Frieden mit ihm, weil seine Gedichte trotz allem keine Prosa sind.
Wolkow: Baratynskij war wegen des Verlusts seiner Popularität enttäuscht und verletzt. Seine Dämmerungen sind ein sehr bitteres und galliges Buch.
Brodskij: Das ist weder Galle noch Bitterkeit. Das ist Nüchternheit.
Wolkow: Nüchternheit, die auf eine tödliche Enttäuschung folgt.
Brodskij: Und wenn? Für einen Dichter ist die Enttäuschung etwas ziemlich Wertvolles. Sofern die Enttäuschung ihn nicht umbringt, macht sie einen wirklich großen Dichter aus ihm. Je weniger Illusionen man hat, desto ernsthafter verhält man sich zu den Wörtern.
[…]
Wolkow: Hat Anna Andrejewna über Baratynskij gesprochen?
Brodskij: Nein, bis zu ihm kamen wir nicht. Und daran war weniger die Achmatowa schuld, als alle um sie herum. Denn in der Sowjetzeit läuft das literarische Leben in hohem Maße unter dem Zeichen der Puschkinistik ab. Diese ist der einzige blühende Zweig der Literaturwissenschaft. Jetzt freilich beginnt sich die Situation leicht zu verändern.
Wolkow: Ebenfalls seltsam erscheint mir das Fehlen eines anderen Dichters in den Gesprächen von Anna Andrejewna – das Fehlen von Tjuttschew.
Brodskij: Ich erinnere mich, daß von Tjuttschew anläßlich des Erscheinens eines Büchleins mit seinen Gedichten die Rede war, mit einem Vorwort von Berlowskij. Nun ja, bei all meiner Zuneigung zu ihm: ein so hervorragender Dichter ist er dann doch nicht. Wir sagen immer: Tjuttschew, Tjuttschew, aber an wirklich guten Gedichten gibt’s bei ihm auch nur zehn oder zwanzig (was freilich schon viel ist). […] Ich erinnere mich weder an Anna Andrejewnas Reaktion auf den Dichter, noch auf den Herausgeber dieses Bandes.
Die Achmatowa sagte gern:
Sie können sagen, was Sie wollen, aber der Symbolismus, das ist die letzte große Strömung in der russischen Literatur.
Nicht nur in der russischen Literatur, glaube ich. Das ist tatsächlich so: sowohl durch eine gewisse Geschlossenheit, als auch von der Dimension her, von dem Umfang seines Beitrags zur Kultur. Aber meiner Meinung nach war es tatsächlich eine Strömung. Wenn ein Wortspiel erlaubt ist: etwas Großes, aber eine Strömung.
Wolkow: Aber hat sie den Akmeismus denn nicht als eine besondere Richtung hervorgehoben? Zu ihrer Zeit haben sich die Akmeisten doch mit aller Deutlichkeit gegen den Symbolismus gewandt.
Brodskij: Völlig richtig. Nur müssen Sie bedenken, daß es das in den 60er Jahren nicht mehr gab, weder in den Gesprächen, noch im Verhalten, und erst recht nicht in den Positionen. Zu jener Zeit war es nicht mehr möglich, das Pathos dieser Gegnerschaft, diese Polemik wieder aufleben zu lassen. All das hatte selbst im Rückblick zu existieren aufgehört. Außerdem war Anna Andrejewna ein ziemlich zurückhaltender, bescheidener Mensch.
Wolkow: Warum hat sich Anna Andrejewna über Kusmin so negativ geäußert? Wodurch war er ihr so unangenehm?
Brodskij: Aber nichts dergleichen! Das ist eine Unwahrheit, ein Mythos. Sie hatte zu Kusmin und zu seinen Gedichten eine sehr positive Einstellung. Ich weiß das deshalb, weil ich zu Kusmins Dichtung eine ablehnendere Haltung einnahm als Anna Andrejewna – weil ich ihn nicht besonders gut kannte – und mich in diesem Sinne äußerte. Und es gibt bei Kusmin auch massenhaft Schlacke. Die Achmatowa nahm diese meine Ausfälle sehr kühl auf.
Wenn es von Seiten Anna Andrejewnas gewisse Reibungen mit Kusmins Dichtung gab, so hing das mit ihrem „Poem ohne Held“ zusammen. Sie schätzte dieses Werk außerordentlich hoch ein. Und natürlich gab es Leute, die auf die Ähnlichkeit der Strophenform des „Poems“ mit derjenigen, die Kusmin als erster in seinem Buch Die Forelle zerschlägt das Eis verwendet hat, hinwiesen. Und dabei die Meinung vertraten, daß die Strophe Kusmins weit avantgardistischer sei.
Wolkow: Aber hat die achmatowsche Strophe ihren Ursprung nicht tatsächlich in Kusmins Forelle?
Brodskij: Mit letzter Bestimmtheit läßt sich das kaum sagen. Auf jeden Fall aber ist die Musik der achmatowschen Strophe absolut eigenständig: Sie verfügt über eine einzigartige zentrifugale Energie. Diese Musik ist die reine Zauberei. Wohingegen die Strophe Kusmins in der Forelle ziemlich stark von der Ratio geprägt ist.
Wolkow: Möglicherweise haben auf das Verhältnis der Achmatowa zu Kusmin gewisse Memoiren eingewirkt, die aus dem russischen Ausland hereinzukommen begannen! Georgij Iwanow, Sergej Makowskij. Dort wurde das Gerücht von der Rolle Kusmins als Lehrer der Achmatowa in Umlauf gesetzt. Das hat Anna Andrejewna sehr erzürnt.
Brodskij: Die Erinnerungen von Georgij Iwanow haben sie sehr wütend gemacht, weil sie voller Erfindungen sind. Und so etwas hat sie tatsächlich immer empört.
Wolkow: Ich erinnere mich auch an ihre Empörung über den „Parnaß des silbernen Zeitalters“ von Makowskij. Sie sagte ungefähr das folgende: Makowskij war ein reicher Herr, der Mandelstam und Gumiljow nicht über die Schwelle ließ, wie man so sagt. In seinen Augen waren das Grünschnäbel von Gymnasiasten, Barfüßler – er selbst hingegen ein großer Dichter und Kenner.
Brodskij: Ja, ein Mäzen. Daran erinnere ich mich.
Wolkow: Die Achmatowa sagte, daß man versuche, sie als Dämchen und Amateurin hinzustellen, die Kusmin und Gumiljow durch einen gemeinsamen Kraftakt in den Rang einer Dichterin erhoben hätten.
Brodskij: Das ist natürlich völliger Schwachsinn. Und Gespräche dieser Art hat es bei der Achmatowa kaum gegeben – das Bild des Originals zeugte für sich selbst. Es war klar, daß das kein Gegenstand einer ernsthaften Erörterung sein konnte. Was Anna Andrejewna nicht ausstehen konnte, das war der Versuch, sie in die 10er und 20er Jahre einzusperren. All dieses Gerede, daß sie aufgehört habe zu schreiben, daß sie in den 30er Jahren geschwiegen habe, brachte sie fürchterlich in Rage. Das ist verständlich! Mich zum Beispiel, als ich später Anna Andrejewna las und wieder las, interessierten bei weitem mehr ihre späten Gedichte, die, in meinen Augen, um einiges bedeutender sind als ihre frühe Lyrik.
Wolkow: Hat Anna Andrejewna je über Kusmins homosexuelle Neigungen gesprochen?
Brodskij: Nicht konkret. In Rußland ist selbst die Intelligenzschicht doch sehr puritanisch. Und überhaupt erinnere ich mich nicht, daß es mit Anna Apdrejewna viele Gespräche auf Klatschniveau gegeben hätte.
Wolkow: Mir scheint, Anna Andrejewna war manchmal gar nicht so abgeneigt zu klatschen und tat es mit großem Genuß.
Brodskij: Natürlich, natürlich. Das geht zu Lasten meines Gedächtnisses.
Wolkow: So seltsam es auch ist, aber Kusmin als Mensch bekam in den „nicht für den Druck bestimmten“ Gesprächen weniger ab als andere. Fast wurde er geschont – vielleicht deshalb, weil er für die Lästerung ein verhältnismäßig leichtes Ziel darstellte.
Brodskij: Völlig richtig. Und ich erinnere mich, daß in den Gesprächen mit der Achmatowa – gleichgültig, worum es ging – immer ein gerüttelt Maß an Ironie vorhanden war. Von ihrer Seite aus war es erworbene Ironie, von unserer Seite aus eine snobistische, d.h. eine voreilige Ironie.
Wolkow: Lag in der Beziehung zwischen Anna Andrejewna und Pasternak nicht auch eine gewisse Ironie?
Brodskij: Doch, doch. Ironie und, in vielen Fällen, so etwas wie eine moralische Verurteilung. Sagen wir so (und das wird ziemlich stimmen): Die Achmatowa konnte Pasternaks Ambitionen absolut nicht billigen. Sie billigte nicht seinen Wunsch, sein Gieren nach dem Nobelpreis. Sie verurteilte Pasternak ziemlich streng. So, wie es ein Dichter dieses Kalibers auch verdient.
Wolkow: Die Achmatowa liebte es, ihre Gedichte vorzutragen – nicht auf der Bühne, sondern im kleinen Kreis. Fragte sie Sie auch nach Ihrer Meinung?
Brodskij: Ja, sie trug Gedichte vor und zeigte, was sie geschrieben hatte. Und interessierte sich immer sehr für unsere Meinung. Wir saßen da und brachten Verbesserungen an: Tolja, Shenja, Dima und ich. Wir sagten, was unserem Empfinden nach nicht gut war. Nicht oft, aber es kam vor.
Wolkow: Und die Achmatowa war einverstanden?
Brodskij: Unbedingt. Sie nahm unsere Erwägungen mit größter Aufmerksamkeit zur Kenntnis.
[…]
Wolkow: Das „Poem ohne Held“ hat sie Ihnen doch auch vorgetragen?
Brodskij: Ja, vielmals. Besonders neue Stücke. Und immer fragte sie, ob es tauge oder nicht. Sie hat es, das „Poem“, ständig fort- und umgeschrieben.
Ich erinnere mich, wie ich das „Poem ohne Held“ in seiner ersten Fassung las. Ich war in höchster Erregung. Später, als das „Poem“ wuchs und wuchs, kam es mir allmählich allzu umfangreich, zu sperrig vor. Meinen Eindruck vom „Poem“ kann ich mit Hilfe eines Ausspruchs, der nicht einmal von mir stammt, ziemlich genau formulieren:
Das Bemerkenswerteste am ,Poem‘ ist, daß es nicht ,für jemand‘, sondern , für sich‘ geschrieben worden ist.
Wolkow: Und ich hatte den Eindruck, daß Anna Andrejewna gerade hinsichtlich des „Poems ohne Held“ in großer Unruhe darüber war, wie dieses Werk von anderen aufgenommen würde.
Brodskij: Mag sein. Aber tatsächlich werden Verse in erster Linie ,für sich’ geschrieben. Natürlich war es für Anna Andrejewna interessant, wie man auf das „Poem“ reagieren würde, sofern man es verstand. Jener ganze Prozeß des Fort- und Umschreibens jedoch hing in höherem Maße mit ihr selbst zusammen, als mit von außen kommenden Reaktionen.
Zuerst einmal befand sich Anna Andrejewna in der Gewalt jener schon erwähnten Strophenform. Ich erinnere mich, wie sie mich unterwies. Sie sagte:
Jossif, wenn Sie einmal ein großes Poem schreiben wollen, finden Sie zuerst Ihre Strophe, so wie die Engländer das tun.
Bei den Engländern geschieht das wirklich in großem Umfang. Fast jeder Dichter denkt sich seine eigene Strophenform aus. Byron, Spencer usw. Die Achmatowa sagte folgendes:
Warum ist Blok mit seiner „Vergeltung“ gescheitert? Das Poem als solches hat vielleicht Qualitäten, nur die Strophe, das ist nicht die seine. Und diese geliehene Strophe verursacht ein Echo, das nicht hierher gehört. Das alles verdunkelt.
Das ist ein überaus vernünftiges Prinzip. Andrerseits befand sich die Achmatowa natürlich in der Gewalt ihrer eigenen Erfindung. Die Sache ist die, daß der Dichter nicht jeden Tag Gedichte schreibt. Und wenn keine Gedichte kommen, wird das Leben, nach Anna Andrejewnas eigenen Worten, „eine ziemlich ungemütliche Sache“. Und da ist es ganz natürlich, daß sie ständig zu der besonderen Sprechweise ihrer eigenen Strophe zurückkehrte. Genauer gesagt, kehrte die Strophe zu ihr zurück. Wie ein Traum – oder wie das Atmen. Und dann begannen all diese Fortschreibungen, Eintragungen usw.
Und dann können sich Verbesserung, Anordnung, Komposition, das Spiel mit späteren Stücken allmählich zu einer „Sache an sich“ verwandeln. Das ist eine verrückt machende, verhexende Beschäftigung. Und natürlich interessiert sie außerordentlich, wie dieser oder jener Leser darauf reagieren wird.
Allmählich stellte sich eine Situation her, in der wir – die nächsten Leser des „Poems“ – und die Achmatowa selbst mehr oder weniger von gleich zu gleich sprachen. D.h., wir waren alle nicht mehr imstande zu beurteilen, ob ein neues Stück im „Poem“ seinen richtigen Platz gefunden hatte oder nicht. Man befindet sich in einer derartigen Abhängigkeit von dieser Musik, daß einem die Proportionen des Ganzen entgleiten. Man verliert das Vermögen, zu diesem Ganzen eine kritische Haltung einzunehmen. Ich glaube, wenn die Achmatowa noch am Leben wäre, sie würde das „Poem“ immer noch weiterschreiben.
Wolkow: Erscheint es Ihnen nicht auch so, daß das „Poem ohne Held“ das folgende Paradox enthält. Erdacht war es vielleicht wirklich ,für sich‘. Für den außenstehenden Leser sind das Sujet und die Anspielungen ziemlich änigmatisch…
Brodskij: Na, all das ist doch leicht zu dechiffrieren!
Wolkow: Trotzdem erfordert das „Poem“ vom Leser eine bestimmte Vorbereitung auf einer höheren Ebene als jedes beliebige andere russische Poem…
Brodskij: In der russischen Dichtung gibt es die Tendenz – hervorgerufen durch die Ausdehnung des Landes, die Bevölkerungszahl u.a. – zu glauben, der Dichter arbeite für ein großes Publikum. Dieser Illusion sind alle ohne Ausnahme erlegen. Auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung jedenfalls verfallen ihr alle. Einmal werden wir alle mehr oder weniger stark von dem Gedanken beherrscht:
Ich habe ein riesiges Publikum.
Von einer solchen Illusion kann einen eine räumliche Veränderung übrigens oftmals befreien.
Ob er will oder nicht, jeder russische Autor fühlt das eindeutig als Druck: für ein großes Publikum zu schreiben. Andrerseits ist sich jeder wirkliche Dichter in seinem Innern dessen bewußt, daß er nicht für das Publikum arbeitet. Daß er schreibt, was die Sprache, in der Umgangssprache Muse genannt, ihm diktiert. Und daß er sich mit dieser Sache eben seiner Sprache wegen abgibt – wegen der Sprachmusik, wegen der Worte, der Suffixe, was weiß ich… Wegen dieser Harmonie, oder? Und nicht wegen des Auditoriums.
So daß ich im Falle des „Poems ohne Held“ keinerlei Widersprüche sehe. Natürlich wollte die Achmatowa die Reaktion der Zuhörer kennenlernen. Aber wenn ihr tatsächlich am meisten auf der Welt das Problem der Zugänglichkeit, der Interpretierbarkeit des „Poems“ am Herzen gelegen hätte, dann hätte sie nicht all diese zusätzlichen Stücke geschrieben. Sicher, gewisse Dinge im „Poem“ hat sie ganz bewußt chiffriert. Dieses Spiel mitzuspielen ist hoch interessant – und in der gegebenen historischen Situation einfach unumgänglich.
Wolkow: Sie haben mich nicht richtig verstanden. Das Paradox besteht gerade darin, daß das „Poem“ sich zu einem Symbol des „silbernen Zeitalters“ und der Epoche vor dem ersten Weltkrieg verwandelt hat. Und so seltsam das ist, diese Epoche betrachten wir nun eben durch das Prisma des chiffrierten „Poems“.
Brodskij: Nun, ich weiß nicht, wen Sie mit „wir“ meinen…
Wolkow: Diejenigen, die das „silberne Zeitalter“ interessiert. Für uns alle ist eine gewisse unglückliche Olga Afanassjewna Sudejkina, die ihre Tage in Frankreich als halb irre alte Frau beendet hat, für immer so geblieben, wie sie die Achmatowa dargestellt hat:
Wie kleine Hufe trappeln die Stiefelchen,
wie Schellen klirren die Ohrringe,
in den hellblonden Locken böse Hörnerchen,
trunken vom verfluchten Tanz –
als sei sie von einer schwarzfigurigen Vase
so festlich entblößt
hierhergekommen zu der meerblauen Welle.
Brodskij: Die Sudejkina, Salomeja Andronikowa, Vera Strawinskaja – in meinem Bewußtsein sind das eben jene Damen, von denen Mandelstam als den „zärtlichen Europäerinnen“ gesprochen hat. […] A propos, kennen Sie Pasternaks Bemerkung zum „Poem ohne Held“? Er sagte, es ähnle einem russischen Tanz, bei dem man sich verhüllend auftritt und sich entblößend abtritt. Diesen Ausspruch Boris Leonidowitschs hat Anna Andrejewna sehr gemocht.
Wolkow: Die Achmatowa spricht vom russischen Tanz in der Ausführung der Sudejkina in ihren Prosaaufzeichnungen zum „Poem“. Überhaupt hat sie viele Jahre über ein Libretto für ein Ballett, beruhend auf dem Material des „Poems“, nachgedacht. Bedauerlicherweise ist das alles Fragment geblieben.
Brodskij: Anna Andrejewna hat ja auch ein Stück geschrieben, offenbar etwas sehr Bemerkenswertes. Scheinbar hat sie’s verbrannt. Einmal hat sie sich in meiner Gegenwart an den Beginn der ersten Szene erinnert: Auf der Bühne ist noch niemand, aber es steht da ein mit rotem Tuch bespannter Tisch für Sitzungen. Ein Bedienter, oder sonst jemand, tritt herein und hängt das Porträt Stalins, wie die Achmatowa sich ausdrückte, „auf eine Fliege“.
Wolkow: Für Anna Andrejewna ist das ein völlig unerwartetes, fast surrealistisches Bild.
Brodskij: Nein, warum, genau umgekehrt. Davon wimmelt es in ihren Gedichten, besonders in den späten, und im Alltag brach dieses surrealistische Gefühl öfters durch. Ich erinnere mich, in der Datscha in Komarowo stand ein Glasschrank mit Porzellangeschirr. In unserem Gespräch entstand eine Pause, und da ich nicht mehr wußte, was ich loben sollte, sagte ich:
Was für ein schöner Schrank.
Die Achmatowa erwiderte:
Was ist das schon für ein Schrank! Das ist ein hochkant gestellter Sarg.
Überhaupt war dieser Übergang zum Absurden charakteristisch für ihre Art von Humor. Das war bei ihr sehr stark entwickelt.
Wolkow: Sie haben erwähnt, daß die Zwetajewa Anna Andrejewna eine „Dame“ genannt hat. Ich denke, daß Sie, mit dem, was Sie so alles gemacht haben: Fabrik, Arbeit im Leichenschauhaus, geologische Expeditionen, in ihrer Umgebung eher die Ausnahme waren. Überhaupt war Ihr Leben in der Heimat für einen russischen Dichter nicht ganz das Übliche: Gefängnis und, wenn auch nicht Puschkins „Bettelsack“, so doch Tagelöhnerarbeit…
Brodskij: Nicht doch, ich habe gelebt wie alle. Die russische Gesellschaft ist, bei all ihren Mängeln, in einem schichtenspezifischen Sinne dennoch sehr demokratisch.
Wolkow: Gewöhnlich gibt sich der russische Dichter in seinen Gedichten demokratischer als im realen Leben. In einem ihrer frühen Verse sagt Anna Andrejewna von sich:
Auf den Knien im Garten
begieße ich den Gänsefuß
Lydia Ginsburg erinnerte sich, daß sich viel später herausstellte, daß die Achmatowa nicht einmal wußte, wie besagter Gänsefuß überhaupt aussieht. Um Anna Andrejewna scharte sich immer ein enger Kreis von höchst intelligenten Personen.
Brodskij: Das ist ganz und gar nicht so. Tatsächlich sondert sich die russische Literatur nie vom Volk ab. Im literarischen Milieu gibt es allerlei Pack, grad genug. […] All die Leute, die zu ihr kamen, das waren nicht unbedingt Dichter. Und schon gar nicht unbedingt Ingenieure, die ihre Gedichte gesammelt hätten, oder Technikspezialisten. Oder Zahnärzte. Und überhaupt, was ist das Volk? Stenotypistinnen, Krankenwärterinnen, Krankenschwestern, all diese alten Mütterchen – was für ein Volk brauchen Sie noch? Nein, das ist eine fiktive Kategorie. Der Literat selbst ist das Volk. Nehmen Sie z.B. die Zwetajewa: ihre Armut, ihre Fahrten mit Säcken in den Bürgerkrieg… Nein, also in der geliebten Heimat ist es dem Dichter noch niemals gelungen, sich vom einfachen Volk loszureißen…
Wolkow: In den letzten Jahren ihres Lebens ist die Achmatowa zugänglicher geworden…
Brodskij: Ja, zu ihr kamen fast täglich Leute, in Leningrad und in Komarowo. Ohne von Moskau zu reden, wo dieser ganze Menschenandrang „Achmatowka“ genannt wurde. […]
Wolkow: Beschreiben Sie diese „Achmatowka“ genauer.
Brodskij: In erster Linie war das ein ununterbrochener Menschenstrom. Und am Abend – der Tisch, an dem der Zar und der Zarjewitsch, der König und der Königssohn saßen. Ardow war, bei all seinen Mängeln, ein außerordentlich geistreicher Mensch. Und das war auch seine ganze Familie: seine Frau, Nina Antonowna, und die Jungen Borja und Mischa. Und ihre Freunde. Das waren alles Moskauer Jungen aus guten Familien. In der Regel waren sie Journalisten und arbeiteten in ausgezeichneten Firmen vom Typ API. Das waren gut angezogene, gewitzte, geriebene, zynische Leute. Und sehr lustig. Erstaunlich geistreich, für mein Gefühl. Geistreicheren Leuten bin ich in meinem Leben nicht mehr begegnet. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mehr gelacht zu haben als damals, bei den Ardows, am Tisch. Das ist so eine meiner glücklichsten Erinnerungen. Oftmals schien es, als wären Witz und Scharfsinn für diese Leute der einzige Lebensinhalt. Ich glaube nicht, daß sie jemals niedergeschlagen waren. Aber vielleicht urteile ich hier nicht richtig. Jedenfalls, Anna Andrejewna vergötterte sie.
Es kamen auch andere Leute: Koma Iwanow, der geniale Simon Markisch, Lektorinnen, Theaterwissenschaftler, Ingenieure, Übersetzer, Kritiker, Witwen – ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Um sieben oder acht Uhr abends tauchten auf dem Tisch Flaschen auf.
Wolkow: Anna Andrejewna trank gern. Ein bißchen, aber…
Brodskij: Ja, am Abend. 200 Gramm Wodka. Wein trank sie aus dem einfachen Grunde nicht, aus dem auch ich ihn nicht trinke: Die Harze verengen die Blutbahnen. Während der Wodka sie erweitert und die Blutzirkulation verbessert. Anna Andrejewna war infarktgefährdet. Zu der Zeit hatte sie bereits zwei Infarkte hinter sich. Dann kam der dritte.
Anna Andrejewna trank wunderbar. Wenn jemand zu trinken verstand, dann sie und Auden. Ich erinnere mich an einen Winter, den ich in Komarowo verbrachte. Jeden Abend schickte sie mal mich, mal jemand andern nach einer Flasche Wodka. Natürlich gab es in ihrer Umgebung Leute, die das nicht ertrugen. Z.B. Lydia Tschukowskaja. Sobald sie sich näherte, verschwand der Wodka, und auf den Gesichtern lag ein lammfrommer Ausdruck. Der Abend ging überaus zivilisiert und intelligent weiter. Nach dem Fortgang eines solchen nicht trinkenden Menschen wurde der Wodka wieder unter dem Tisch hervorgeholt. Gewöhnlich stand er neben dem Heizkörper. Und Anna Andrejewna sprach den immer gleichbleibenden Satz:
Er ist warm.
Ich erinnere mich an unsere endlosen Diskussionen über leer werdende und nicht leer werdende Flaschen. Zeitweise entstanden in unseren Gesprächen quälende Pausen: Man sitzt einem bedeutenden Menschen gegenüber und weiß nicht, was man sagen soll. Man begreift, daß man ihm seine Zeit stiehlt. Und dann fragt man etwas, einfach so, um die Pause zu überbrücken. Ich weiß noch ganz genau, wie ich sie etwas über Sologub fragte: in welchem Jahr ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hatte. Die Achmatowa führte in diesem Augenblick gerade ihr Wodkaglas zum Mund und wollte trinken. Sie vernahm meine Frage, nippte und antwortete: „Am 17. August 1921“, oder so ähnlich. Und trank ihr Glas leer.
Wolkow: […] Sie sagten, daß die verschiedensten Leute zur Achmatowa kamen. Wahrscheinlich baten viele – nach russischem Brauch – nicht nur um dichterische Ratschläge, sondern auch um welche für ihr Leben?
Brodskij: Ich erinnere mich an eine solche Episode, an eine sehr typische. Es war im Winter, ich sitze bei Anna Andrejewna, in Komarowo. Wir trinken, unterhalten uns. Da erscheint eine Dichterin mit dem bemerkenswerten weiblichen Ausruf:
O je, ich bin gar nicht frisiert!
Und sofort führte Anna Andrejewna sie in so eine Kammer, die es da gab. Und dann hörte man ein Schluchzen. Offensichtlich war diese Dichterin nicht gekommen, um Verse zu rezitieren. Es verging eine halbe Stunde. Anna Andrejewna und die Dame kamen hinter dem Vorhang hervor. Als die Dame fort war, fragte ich: „Anna Andrejewna, was ist los?“ Sie erwiderte:
Eine normale Situation, Jossif. Ich leiste erste Hilfe.
Viele Menschen kamen also zur Achmatowa mit ihren Kümmernissen. Besonders Frauen. Und Anna Andrejewna tröstete sie, beruhigte sie. Gab ihnen praktische Ratschläge. Ich weiß nicht, was für Ratschläge das waren. Aber allein, daß diese Menschen die Möglichkeit bekamen, ihr all ihre Probleme darzulegen, war für sie schon eine ausreichende Therapie.
Wolkow: Ich wollte Sie nach einer Kleinigkeit fragen: Ich habe niemals ein Foto gesehen, auf dem Sie zusammen mit Anna Andrejewna gewesen wären.
Brodskij: Ja, so ein Foto gibt es nicht. Das ist komisch. […]
Wolkow: In dem Buch von Amanda Haight über Anna Andrejewna5 ist das folgende Foto wiedergegeben: Sie und Najman in tiefen Gedanken; Sie, Jossif, halten eine „Spidola“ auf den Knien…
Brodskij: Wahrscheinlich hörten wir BBC. Ich kann nicht mehr sagen, wer das aufgenommen hat. Entweder Shenja Rejn (weil beide zu mir nach Norenskaja kamen). Oder ich stellte die Kamera auf Selbstauslöser. Auf derselben Seite befindet sich das von mir gemachte Porträt der Achmatowa. Ich habe sie mehrmals fotografiert. Und dann stammt auch die Aufnahme von ihrem Arbeitstisch in Komarowo von mir.
Wolkow: Wann haben Sie in Komarowo gelebt?
Brodskij: Ich glaube, das war Herbst und Winter 62 bis 63. Ich hatte die Datscha des verstorbenen Akademiemitglieds Berg gemietet, bei dem mein Vater einstmals studiert hatte.
Wolkow: Gibt es eigentlich eine „Mystik“ von Komarowo? Oder ist dieser Ort an und für sich nicht weiter bemerkenswert und wurde nur dank der Achmatowa berühmt?
Brodskij: In Komarowo befand sich ganz einfach das Schriftstellerhaus. Dort lebte Viktor Shirmunskij, den wir ziemlich häufig sahen. Neben Anna Andrejewna ließ sich ein lieber Mensch nieder, ein für mein Empfinden ausgezeichneter Übersetzer, vor allem aus östlichen Sprachen: der Dichter Alexander Gitowitsch. Es kamen eine Masse Leute gefahren, und im Sommer wurden auf Anna Andrejewnas Datscha, in ihrer „Bude“, große Essen veranstaltet. Im Haushalt half eine bemerkenswerte Frau, die gewöhnlich, in der Sommerzeit, bei Anna Andrejewna wohnte: Ranna Gorenko. Viele Jahre galt sie als Strohwitwe von Anna Andrejewnas Bruder, der hier, in den Vereinigten Staaten, gelebt hat und hier gestorben ist. Einmal zeigte mir Anna Andrejewna ein Foto dieses Mannes: breite Schultern, Fliege – wie ein Senator. Und sie sagte: „Hübsch“ – kleine Pause – „dieser Amerikaner…“. Er hat eine unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit der Achmatowa: dieselben grauen Haare, dieselbe Nase und Stirn. A propos: Auch Ljowa Gumiljow6 sieht hauptsächlich der Mutter ähnlich, und nicht dem Vater.
[…]
Wolkow: Was erzählte Anna Andrejewna über ihren Vater?
Brodskij: Andrej Gorenko war Offizier zur See, er unterrichtete im Marinekorps Mathematik. Er war übrigens mit Dostojewskij bekannt. Das hat niemand gewußt. Doch im Jahre 1964 kamen zwei Bände mit Erinnerungen Dostojewskijs heraus. Und die enthielten die Erinnerungen der Tochter von Anna Filosofowa, und zwar daran, wie Gorenko und Dostojewskij ihr beim Lösen der arithmetischen Aufgabe vom Hasen und der Schildkröte halfen. Ich lebte damals auf dem Land, las diese Erinnerungen, schloß, daß es sich um den Vater der Achmatowa handeln müsse, und schrieb ihr darüber. Sie war mir dafür sehr dankbar. Und dann, als wir uns trafen, bereits nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis, sagte sie ungefähr das Folgende:
Also, Jossif, früher gab es nur eine Familienlegende über Dostojewskij, nämlich, daß die Schwester meiner Mutter, die damals auf den Smolnyj ging, einmal, nachdem sie das Tagebuch eines Schriftstellers gelesen hatte, bei Dostojewskij zu Hause erschien. Alles ging, wie es sich gehörte: Sie stieg die Treppe hinauf und klingelte. Die Köchin öffnete die Tür. Unsere höhere Tochter vom Smolnyj sagt: „Ich würde gern den gnädigen Herrn sprechen.“ Die Köchin entfernt sich mit einem „Ich rufe ihn gleich.“ Sie steht in der dunklen Diele und sieht – langsam nähert sich ein Licht. Es erscheint der Herr mit einer Kerze in der Hand. Im Morgenrock, äußerst unwirsch. Entweder wurde er aus dem Schlaf gerissen, oder man hatte ihn von der heiligen Arbeit weggeholt. Und mit schneidender Stimme sagt er: „Was wollen Sie?“ Da dreht sie sich auf dem Absatz um und flüchtet Hals über Kopf auf die Straße.
Und Anna Andrejewna fügte hinzu:
Bis jetzt war das unsere einzige Familienlegende über eine Bekanntschaft mit Dostojewskij. Nun erzähle ich allen, daß meine Mutter auf meinen Vater wegen derselben Dame eifersüchtig war, der auch Dostojewskij den Hof gemacht hat.
Wolkow: In diesem ihrem Kommentar ist eine gute Prise Selbstironie enthalten. Weil das Erfinden von Legenden ihrem Charakter entsprach. Oder täusche ich mich?
Brodskij: Nein, im Gegenteil, sie liebte es, alles bis zum letzten zu klären. Obwohl es solche und solche Legenden gibt. Nicht alle Legenden waren ihr unangenehm. Aber das Verdunkeln mochte sie nicht.
Wolkow: Gegen eine Legende – an deren Entstehung sie, wie mir heute scheint, nicht ganz unbeteiligt war – hat die Achmatowa ihr Leben lang protestiert.
Brodskij: Ja, gegen die Legende, ein Verhältnis mit Blok gehabt zu haben. Die Achmatowa sagte, das seien „Erwartungen des Volks“ gewesen. So ein volkstümlicher Traum von etwas, das es, wie sie immer wieder betonte, nie gegeben hat. Und Sie wissen, die Achmatowa ist ein Mensch, dem ich in allem uneingeschränkt Glauben schenke.
Wolkow: Wahrscheinlich war das das, was man ein „literarisches“ Verhältnis nennt. Jedenfalls von ihr aus gesehen. Es genügt, ihre an Blok gerichteten Gedichte zu lesen. Am Ende ihres Lebens waren ihre Gefühle Blok gegenüber ambivalent: Im „Poem ohne Held“ beschreibt sie ihn als einen Menschen „mit einem toten Herzen und einem toten Blick“. In einem ihrer Gedichte aus den 60er Jahren nennt sie Blok den „tragischen Tenor der Epoche“. Wenn man’s recht bedenkt, dann ist das nicht gerade ein Kompliment.
Brodskij: Aber in Bachs „Matthäus-Passion“ ist der Evangelist ein Tenor. Die Partie des Evangelisten singt ein Tenor.
Wolkow: Darauf bin ich noch gar nicht gekommen!
Brodskij: Und diese Gedichte hat sie gerade zu der Zeit geschrieben, als ich ihr Schallplatten von Bach brachte.
Wolkow: In den Gedichten der Achmatowa, besonders in den späten, kommt oft Musik vor: Bach, Vivaldi, Chopin. Es schien mir immer, als habe Anna Andrejewna ein feines musikalisches Gespür. Aber von Menschen, die sie gut kannten, ihr aber wahrscheinlich nicht besonders wohlgesonnen waren, habe ich gehört, die Achmatowa habe von Musik nichts verstanden, sondern nur aufmerksam auf die Meinung ihrer Umgebung gehört. Sie sagten ungefähr das Folgende: Die Äußerungen der Achmatowa über Tschaikowskij oder Schostakowitsch stammen von Punin, die über Bach und Vivaldi von Brodskij.
Brodskij: Na ja, also das ist natürlich Unsinn. Eine Dummheit von vorn bis hinten. Als wir uns kennenlernten, hatte Anna Andrejewna einfach keinen Plattenspieler und keine Schallplatten auf ihrer Datscha, und zwar nur deshalb, weil sich keiner damit beschäftigte. Es kam einfach nicht dazu, das ist alles.
Wolkow: Anna Andrejewna hat über die elfte Sinfonie von Schostakowitsch eine erstaunlich feinsinnige Bemerkung gemacht. Über diese Sinfonie muß man sich ja, weil der Komponist ihr die Bezeichnung „Das Jahr 1905“ gegeben hat, ziemlich abfällige Äußerungen anhören. Die Achmatowa aber sagte, daß dort „Lieder durch den Himmel fliegen, wie schwarze Wolken“. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie genau das gehört ist. Dabei hat sie die Schönheit des „jüdischen“ Gesangszyklus von Schostakowitsch nicht wahrgenommen. Dort hat sie nur – vom poetischen Gesichtspunkt aus – schreckliche Worte vernommen. Was die Worte betrifft, so ist sie natürlich im Recht, aber.
Brodskij: Nun, das ist verständlich, da sie Dichterin ist. Ihre Aufmerksamkeit gilt in erster Linie den Versen, dem Inhalt.
Wolkow: Aber im Falle der elften Sinfonie hörte die Achmatowa hinter dem rein äußerlichen Programm den echten, musikalischen Gehalt…
Brodskij: Vielleicht ist es im „jüdischen“ Zyklus Schostakowitschs Fehler, daß die Worte an die Oberfläche getreten sind. Wahrscheinlich hat die Musik sie nicht richtig aufgesaugt, sie nicht so eingehüllt, wie es notwendig gewesen wäre.
Wolkow: Schostakowitsch, der mit der Achmatowa bekannt war, lieferte ein hohes musikalisches „Porträt“ von ihr in seinem Vokalzyklus „6 Gedichte Marina Zwetajewas“. Hat Anna Andrejewna mit Ihnen über Schostakowitsch gesprochen?
Brodskij: Kann sein, sie hat ihn mehrfach erwähnt. Häufiger haben wir über Strawinskij gesprochen und die sowjetische „Raub“-Platte der „Psalmensinfonie“ angehört. Ich erinnere mich an eine Bemerkung der Achmatowa über Strawinskij. Das war im Jahre 1962, als Strawinskij die Sowjetunion besuchte. Ich war da gerade in Moskau. Und aus dem Taxi heraus, auf dem Wege zu Anna Andrejewna, sah ich Strawinskij, seine Frau Vera Arturowna und Robert Craft: Sie kamen aus dem „Metropol“ und setzten sich ins Auto. Ich wußte, daß die Strawinskijs am Abend zuvor Anna Andrejewna einen Besuch abgestattet hatten. Und als ich bei ihr ankam, sagte ich:
Raten Sie mal, wen ich gerade auf der Straße gesehen habe – Strawinskij!
Und ich fing an, ihn zu beschreiben: klein, bucklig, vortrefflicher Hut. Und überhaupt, so sagte ich, blieb von Strawinskij nur die Nase. „Ja“, fügte Anna Andrejewna hinzu, „und das Genie.“
Wolkow: Ich hatte Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, daß die Urteile Anna Andrejewnas über Musik Entschiedenheit und Gewicht besaßen, ob über Vivaldi, Bach oder Purcell…
Brodskij: Purcell schleppte ich ihr ständig an.
Wolkow: Das meine ich gerade…
Brodskij: Auch über Mozart sprachen wir viel.
Wolkow: Und trotz ihrer Puschkinverehrung vertrat sie sogar den wissenschaftlich progressiven Standpunkt, daß Salieri mit Mozarts Tod nichts zu tun habe.
Brodskij: Na ja, was soll das auch… Übrigens, wissen Sie, daß sie Kussewizkij sehr gemocht hat? Bei ihr habe ich den Namen dieses Dirigenten zum ersten Mal gehört.
Wolkow: Die „Psalmensinfonie“ hat Kussewizkij in Auftrag gegeben. Haben Sie mit Anna Andrejewna über dieses Werk gesprochen?
Brodskij: Zu der Zeit diskutierten wir gerade die Idee einer Übertragung der Psalmen und der ganzen Bibel in Verse. Es kam der Gedanke auf, daß es gar nicht schlecht wäre, all diese biblischen Geschichten in eine Versgestalt zu bringen, die dem breiten Publikum zugänglich wäre. Und wir berieten, ob sich das lohnen würde oder nicht. Und wenn ja, dann würden wir’s machen. Und wer hätte das von allen am besten machen können, damit es nicht schlechter würde als bei Pasternak…
Wolkow: Anna Andrejewna meinte, daß es Pasternak gelungen wäre?
Brodskij: Uns gefiel’s, ihr und mir.
Wolkow: Apropos, im Zusammenhang mit der Idee einer Versifizierung der Bibel: Was halten Sie von Faworskijs Holzschnitten zu dem Buch „Ruth“?
Brodskij: Sie sind sehr schön. Überhaupt ist Faworskij ein ausgezeichneter Künstler. Ich habe ihn lange hoch geschätzt. Aber das letzte Mal habe ich seine Arbeiten vor vielen Jahren gesehen. Faworskij gehört eher der Erinnerung an, als meiner Seh-Realität.
Wolkow: Finden Sie nicht, daß Faworskij und die Achmatowa ähnliche Menschen sind? Und daß es zwischen seinen Holzschnitten und, sagen wir, ihren biblischen Versen Berührungspunkte gibt?
Brodskij: Ja, in der Manier gibt es eine gewisse Ähnlichkeit, aber nur, insofern die bildende Kunst und die Wortkunst einander angenähert werden können – im Grunde genommen geht es aber nicht. Es gibt da ein verbindendes Moment, nicht so sehr mit der Achmatowa, als mit der Literatur überhaupt: Faworskij arbeitet in Schwarz-weiß, er ist Graphiker. Und ganz allgemein würde ich sagen, daß er ein literarischer Künstler ist, in dem Sinne, wie die formalen Verfahren, deren er sich bedient, recht literarisch sind.
Wolkow: Und die biblischen Verse der Achmatowa bildnerisch.
Brodskij: Alles, was die Achmatowa schreibt, ist bildnerisch. So, wie alles, was Faworskij darstellt, didaktisch ist.
Wolkow: Die „biblische“ Achmatowa ist für mich didaktischer als der „biblische“ Pasternak.
Brodskij: Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Überhaupt aber gefallen mir Pasternaks Gedichte aus dem Roman sehr. Außerordentliche Verse, besonders „Der Stern der Geburt“. Ich muß oft an sie denken. […]
Wolkow: Anna Achmatowas Gedichte werden immer häufiger vertont. Eines der größten Werke dieser Art ist das „Requiem“ des englischen Komponisten John Tavener; es wurde in London aufgeführt, und dann auf dem Festival von Edinburgh.
Brodskij: Klar, man kann sich geschmeichelt fühlen, daß ein Komponist zu den Gedichten Musik geschrieben hat. Aber wenn es einem wirklich um die Reaktion des Publikums auf den Text geht – und darum geht es einem doch, wenn man mit einem Werk beginnt, darauf läuft es schließlich hinaus –, dann ist das überhaupt kein Anlaß zum Triumphieren. Selbst, wenn man es mit dem besten Komponisten der Welt zu tun hat. Die Musik transportiert die Gedichte in eine völlig andere Dimension.
Wolkow: Natürlich, beim Kontakt mit der Musik verlieren Gedichte. Aber jene neue Dimension, von der Sie sprechen, verleiht dieser Wechselwirkung doch ein besonderes Interesse. Nehmen wir das „Requiem“ – ein bemerkenswerter, aber doch recht eindeutiger, einsinniger Text. Die Musik kann diese Einsinnigkeit vertiefen, kann in den Versen ganz unerwartet eine neue Bedeutungsschicht ans Licht heben.
Brodskij: Nun, in Wirklichkeit ist der Text des „Requiems“ aber gar nicht einsinnig.
Wolkow: Natürlich, es gibt da zwei Ebenen: die reale, biographische: Anna Achmatowa und das Schicksal ihres verhafteten Sohnes; und die symbolische: Maria mit dem Jesuskind.
Brodskij: Für mich ist das Wichtige im „Requiem“ das Thema der Gespaltenheit, das Thema der Unfähigkeit des Autors zu einer adäquaten Reaktion. Es ist verständlich, daß die Achmatowa im „Requiem“ die ganzen Schrecken des „großen Terrors“ beschreibt. Gleichzeitig aber spricht sie die ganze Zeit davon, daß sie nahe am Wahnsinn sei. Erinnern Sie sich:
Schon hat der Wahnsinn mit seinem Flügel
mir halb die Seele eingehüllt,
er tränkt mich mit seinem Feuerwein
und lockt mich ins dunkle Tal.
Und ich habe begriffen, daß ich ihm
den Sieg überlassen muß,
ich höre meine Stimme,
als wär es fremdes Irrereden.
Diese zweite Strophe ist vielleicht das Beste im ganzen „Requiem“. Hier wird die größte Wahrheit ausgesprochen:
ich höre meine Stimme,
als wär es fremdes Irrereden
Die Achmatowa beschreibt die Situation des Dichters, der alles, was mit ihm geschieht, wie von außen betrachtet.
Wolkow: Das ist wie bei Sascha Tschornyj:
Die Frau des Dichters ist gestorben.
Brodskij: Teilweise. Denn wenn der Dichter schreibt, so ist das für ihn kein geringeres Ereignis als jenes, das er beschreibt. Daher die Selbstvorwürfe, besonders, wenn von solchen Dingen die Rede ist wie von der Haft des Sohnes oder von einem sonstigen Kummer. Es setzt ein schlimmer Selbstvorwurf ein: Was bist du nur für ein Monster, wenn du diesen ganzen albtraumhaften Schrecken auch noch von außen betrachten kannst! Und wirklich, solche Situationen – Verhaftung, Tod (und im „Requiem“ riecht es die ganze Zeit nach Tod, die Menschen befinden sich ständig auf der Schwelle zum Tod) –, also solche Situationen schließen jegliche Möglichkeit einer adäquaten Reaktion aus. Wenn ein Mensch weint, dann ist das die persönliche Angelegenheit des Weinenden. Wenn ein schreibender Mensch weint, wenn er leidet, dann hat er sogar in einem gewissen Sinne einen Vorteil davon, daß er leidet. Der schreibende Mensch kann sein Leid auf eine echte, authentische Art und Weise erleben. Die Beschreibung dieses Leids jedoch – das sind keine echten Tränen, keine echten weißen Haare. Das ist lediglich eine Annäherung an eine echte Reaktion. Und das Bewußtsein dieser Verschiebung schafft eine tatsächlich verrückte Situation. Das „Requiem“ ist ein Werk, das ständig auf der Grenze zum Wahnsinn balanciert, der seinerseits nicht durch die Katastrophe selbst, nicht durch den Verlust des Sohnes herbeigeführt wird, sondern durch eben diese Schizophrenie im moralischen Bereich durch diese Spaltung – nicht des Bewußtseins, sondern des Gewissens. Durch eine Aufspaltung in einen Leidenden und in einen Schreibenden. Das zeichnet das Werk in so hervorragendem Maße aus. Natürlich entfaltet sich Anna Achmatowas „Requiem“ wie ein richtiges Drama: als echte Vielstimmigkeit. Wir vernehmen die ganze Zeit verschiedene Stimmen: mal die einer einfachen Frau, mal plötzlich die der Dichterin, und dann erscheint Maria vor uns. Das ist alles so gebaut, wie sich’s gehört, in Übereinstimmung mit den Gattungsgesetzen eines Requiems. In Wirklichkeit aber hat sich die Achmatowa nicht darum bemüht, eine Volkstragödie zu schaffen. Das „Requiem“ ist trotz allem eine Autobiographie der Dichterin, weil alles Beschriebene ihr zugestoßen ist. Die Rationalität des dichterischen Prozesses bedingt auch eine gewisse Rationalität der Emotionen. Womöglich eine gewisse Kälte der Reaktionen. Und genau das bringt den Autor um den Verstand.
Wolkow: Aber ist in diesem Sinne das „Requiem“ nicht gerade ein autobiographisches Abbild der Situation, an der, wenn ich es richtig sehe, eine gewisse Gleichgültigkeit der Achmatowa gegenüber dem Schicksal ihres Sohnes beteiligt war?
Brodskij: Nein, gerade Gleichgültigkeit hat es in ihrem Leben nie gegeben. Gleichgültigkeit – wenn dieses Wort hier überhaupt am Platz ist – kam mit dem Werk. Anna Andrejewna hat wegen des Schicksals ihres Sohnes unglaubliche Qualen und Leiden durchgemacht. Als jedoch die Dichterin Anna Andrejewna zu schreiben anfing… Wenn man schreibt, so versucht man, dies so gut wie möglich zu tun. Das heißt, man unterwirft sich den Forderungen der Muse, der Sprache, den Forderungen der Literatur. Aber gut ist nicht immer gleichbedeutend mit wahr. Oder: Es handelt sich hier um eine Wahrheit, die größer ist als die Wahrheit der Erfahrung. Das bedeutet, man strebt danach, auf diese oder jene Weise, durch diese oder jene Zeile eine tragische Wirkung zu erzielen, und unwillkürlich versündigt man sich gegen die Wahrheit: gegen den eigenen Schmerz.
Wolkow: Lew Nikolajewitsch Gumiljow, Anna Achmatowas Sohn, hat ihr wiederholt den Vorwurf gemacht, sie hätte sich nicht genügend um ihn gekümmert, sowohl in der Kindheit als auch in den Lagerjahren. Ich erinnere mich, wie ich einmal einen alten lettischen Künstler gesprochen habe, der zusammen mit Ljowa Gumiljow ins Lager geraten war: Als ich die Achmatowa erwähnte, wurde sein Gesicht zu Stein, und er sagte:
Von ihr kamen die kleinsten Pakete.
Es war, als hätte ich die vorwurfsvolle Stimme von Gumiljow selbst gehört.
Brodskij: Das sind natürlich alles Familienangelegenheiten, aber was wahr ist, muß wahr bleiben: Er hat ihr Vorwürfe gemacht. Und er hat einen Satz zu ihr gesagt, der sie sehr gequält hat. Ich bin geneigt zu glauben, daß dieser Satz der Grund für ihren Infarkt war, einer seiner Gründe. Es ist kein genaues Zitat, aber der Sinn von Gumiljows Worten war der folgende:
Für dich wäre es sogar besser gewesen, wenn ich im Lager gestorben wäre.
Das heißt, er meint:
für dich als Dichterin.
[…] Lew Nikolajewitsch war achtzehn Jahre lang in Haft, und diese Jahre haben ihn kaputt gemacht. Er hat bei sich entschieden, daß ihm, nach allem, was er dort durchgemacht hat, alles erlaubt sei und im voraus verziehen würde. So etwas geht manchmal in Lagerinsassen vor. Aber die mit und die ohne Gefängniserfahrung stehen unter demselben menschlichen Gesetz:
Verletze mich nicht!
Im Falle von Lew Nikolajewitsch kommen wahrscheinlich noch alle möglichen psychologischen Nuancen hinzu. Zuerst einmal war er – da der Vater fehlte – der Mann in der Familie. Und sie, auch als Mutter, auch als Dichterin, auch als Anna Achmatowa, war trotz allem eine Frau. Und deshalb kann er ihr sozusagen alles sagen, was ihm einfällt. All das ist natürlich Freud für die Armen, aber so hat er offenbar sein männliches Prinzip zur Geltung gebracht. Ich habe darüber, über diese ganze Geschichte und über das „Requiem“, seinerzeit ziemlich viel nachgedacht. Bei all diesen unseren Gesprächen über dieses Thema ist mir’s ganz und gar nicht wohl – und Anna Andrejewna hätte mir’s als erste nicht verziehen, daß ich mich hier einmische –, aber der Sohn war der Situation nicht gewachsen. Mit diesem Satz „für dich wäre es besser gewesen“ zeigte er, daß er es zugelassen hatte, daß die Lager ihn kaputt machten, daß das System ihn am Ende doch untergekriegt hat.
Wolkow: Ich denke, daß die Versuche, das „Requiem“ zu vertonen, weitergehen werden.
Brodskij: Ich fürchte, die Musik kann diesem Text nur den Anstrich eines Melodrams geben. Die Dramatik des „Requiems“ besteht nicht in der Beschreibung von schrecklichen Ereignissen, sondern in dem, wozu diese Ereignisse dein persönliches Bewußtsein, deine Vorstellung von dir selbst verwandeln. Das Tragische des „Requiems“ besteht nicht im Untergang von Menschen, sondern in der Unmöglichkeit des Davongekommenen, diesen Untergang voll ins Bewußtsein zu heben. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, daß die Kunst in einer bestimmten Weise auf die Ereignisse des realen Lebens reagiert. Aber nicht nur auf Hiroshima ist eine Reaktion ausgeschlossen, sondern auch auf kleinere Vorgänge. Bisweilen gelingt es, eine bestimmte Formel zu finden, die den Schockzustand angesichts des Schreckens der Realität zum Ausdruck bringt. Doch das ist ein Glücksfall, und glücklich auch nur für das Renommee des Autors. So etwas wie ein „Guernica“, zum Beispiel.
Wolkow: Im Jahre 1910 lernte die junge Anna Achmatowa Amedeo Modigliani kennen. Sie war erst eine Dichterin im Werden, er hingegen ein gereifter Künstler. Aber aus den Erinnerungen der Achmatowa an diese Liebesgeschichte geht hervor, daß ihr die Bedeutung dessen, was Modigliani gemacht hat, erst später auf gegangen ist.
Brodskij: Das ist durchaus möglich. Aber so muß es in der Liebe ja auch sein. Das ist viel besser, viel natürlicher, als wenn es umgekehrt gewesen wäre. In den Erinnerungen der Achmatowa an Modigliani wird von Malerei nicht geredet. Da gibt es nur die persönlichen Beziehungen zweier Menschen zueinander.
Wolkow: Es gibt eine Zeichnung Modiglianis (wahrscheinlich aus dem Jahre 1911), die die Achmatowa darstellt. Nach den Worten der Achmatowa waren es einmal sechzehn solcher Zeichnungen. In ihren Erinnerungen heißt es über das Schicksal der Zeichnungen nicht ganz klar:
Sie wurden im Haus in Zarskoje Selo in den ersten Jahren der Revolution vernichtet.
Hat sich Anna Andrejewna darüber genauer geäußert?
Brodskij: Natürlich, das hat sie getan. In jenem Haus waren Rotarmisten einquartiert, und die rauchten Modiglianis Zeichnungen. Sie machten sich Selbstgedrehte aus ihnen.
Wolkow: In der achmatowschen Beschreibung dieser Episode spürt man ein gewisses, für Anna Andrejewna ungewöhnliches Ausweichen. Haben sie den Wert dieser Zeichnungen begriffen? Vielleicht hat sie sie selbst davonfliegen lassen?
Brodskij: Wie käme sie dazu? Papier hat es bei ihr im Hause immer genug gegeben, denke ich – schließlich schrieb sie Gedichte. Nein, das ist offensichtlich in ihrer Abwesenheit geschehen.
Wolkow: Glauben Sie, daß die Beziehungen zwischen der Achmatowa und Modigliani wichtig für sie waren?
Brodskij: Als eine glückliche Erinnerung auf jeden Fall. Nachdem Anna Andrejewna mir ihre Notizen über Modigliani gegeben hatte, fragte sie:
Jossif, was denken Sie darüber?
Ich erwiderte:
Nun, Anna Andrejewna… Das ist Romeo und Julia, gespielt von den Mitgliedern des Herrscherhauses.
Was sie sehr amüsiert hat.
Die damaligen Beziehungen der Achmatowa zu Modigliani heute zu beurteilen, ist schwierig, vor allem auch gar nicht notwendig. Die junge Achmatowa, das Leben im Ausland. Zu jener Zeit hatte sie von sich selbst recht verschwommene Vorstellungen. Man lebt ganz einfach und macht sich über die Zukunft keine Gedanken. In der Zeit ihres Paris-Aufenthalts machte ihr nicht nur Modigliani den Hof. Kein anderer als der berühmte Flieger Blériot…
Kennen Sie diese Geschichte? Ich erinnere mich nicht mehr, wo in Paris sie zu dritt speisten: Gumiljow, Anna Andrejewna und Blériot, Anna Andrejewna erzählte:
An jenem Tag hatte ich mir neue Schuhe gekauft, die mich ein bißchen drückten. Und unter dem Tisch streifte ich sie von den Füßen. Nach dem Essen gehen Gumiljow und ich nach Hause, ich ziehe die Schuhe aus – und finde in einem ein Zettelchen mit der Adresse von Blériot.
Wolkow: Das nennt man, einen kühlen Kopf behalten!
Brodskij: Ein Franzose, ein Flieger.
Wolkow: Haben Sie nicht den Eindruck, daß im Leben der Achmatowa ausländische Männer einen relativ großen Platz einnahmen: Modigliani, Józef Czapski, Issaja Berlin? Für eine russische Dichterin ist das doch recht ungewöhnlich.
Brodskij: Was sind denn das für Ausländer? Sir Issaja stammt aus Riga (das der Welt übrigens zahlreiche ausgezeichnete Menschen geschenkt hat). Czapski ist Pole, ein Mensch mit slawischer Kultur. Was für ein Ausländer soll er für eine russische Dichterin sein? Im übrigen konnte es zu Czapski nur ganz vorsichtige Beziehungen geben. Denn soviel ich weiß, war er in der Spionageabwehr von General Anders tätig. Wovon konnte da schon groß die Rede sein, besonders in jenen so lastenden Zeiten! In Taschkent folgte jedem ihrer Schritte sicher eine ganze Horde. Und die meisten Gespräche der Achmatowa mit Sir Issaja beschränkten sich, wenn ich recht sehe, auf ein Wer? Was? Wo? Wie? Sie versuchte – zwanzig Jahre danach –, etwas über Boris Anrep, Arthur Lurje, die Sudejkina und andere ihrer Jugendfreunde zu erfahren. Über alle, die sich im Westen befanden. Seit über zwanzig Jahren war er der erste Mensch von dort – und sechs von diesen zwanzig Jahren waren für den zweiten Weltkrieg draufgegangen.
Wolkow: Sir Issaja ließ seine Erinnerungen an die Begegnungen mit der Achmatowa in den Jahren 1943–46 drucken. Von diesen Begegnungen ist in vielen Gedichten der Achmatowa die Rede. Vergleicht man diese beiden Versionen miteinander, so hat man den Eindruck, als werde von zwei verschiedenen Ereignissen gesprochen. In Anna Andrejewnas Deutung war ihre Begegnung einer der Gründe für den Beginn des „kalten Krieges“. Und auf der rein emotionalen Ebene – urteilen Sie selbst:
Er wird mir nicht mein lieber Ehemann werden,
doch wir beide werden etwas derartiges abbekommen,
daß das zwanzigste Jahrhundert in Verwirrung geraten wird
Nichts dergleichen lesen Sie bei Sir Issaja.7
Brodskij: Ich denke, daß die Achmatowa bei der Bewertung der Folgen ihrer im Jahre 1945 stattgefundenen Begegnung mit Sir Issaja gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Jedenfalls war sie näher bei der Wahrheit, als viele glauben. Was die Erinnerungen Berlins betrifft, so sind auch sie ziemlich beredt, aber wenn man auf englisch schreibt, kann man seine Emotionen nicht über den Tisch schwappen lassen. Obwohl Sie darin recht haben, daß er der Begegnung mit der Achmatowa nicht eine derart globale Bedeutung gegeben hat.
Wolkow: In seinen Erinnerungen beharrt Berlin darauf, daß er ein Spion – ein solcher zu sein, hatte Stalin ihn beschuldigt – niemals gewesen sei. Aber seine Berichte aus der englischen Botschaft in Moskau – und vorher aus der englischen Botschaft in Washington – entsprechen ganz genau den sowjetischen Vorstellungen einer Spionagetätigkeit.
Brodskij: Den sowjetischen, nicht aber den achmatowschen. Obwohl der Umgang mit einem Diplomaten immer gefährlich ist und die Achmatowa, nehme ich an, sich von den dienstlichen Obliegenheiten Berlins durchaus ein Bild zu machen verstand. Ich meine, seine ein wenig skeptische Einschätzung der achmatowschen Version ist noch auf folgendes zurückzuführen: Als Diplomat im Dienste des British Empire hatte es Berlin mit Leuten zu tun, die bei ihrer Tätigkeit für den Staat keinerlei Launen ausgesetzt waren. Wohingegen das Verhalten Stalins manchmal von völlig nebensächlichen Erwägungen diktiert wurde.
Wolkow: Jener Wutausbruch, mit dem Stalin auf die Nachricht von einem Treffen zwischen der Achmatowa und Berlin reagierte, erscheint heute vollkommen irrational. Den Aussagen der Achmatowa zufolge soll er unflätig geflucht haben. Man hat den Eindruck, als habe sie bei ihm einen sehr empfindlichen Punkt berührt. Man könnte geradezu meinen, Stalin sei auf die Achmatowa eifersüchtig gewesen.
Brodskij: Und warum nicht? Aber weniger in Richtung von Issaja Berlin, als, denke ich, in Richtung von Randolph Churchill, dem Sohn von Winston, der Berlin auf dieser Reise als Journalist begleitete. Durchaus möglich, daß Stalin der Meinung war, Randolph Churchill habe sich mit ihm und nur mit ihm zu treffen, daß er in Rußland die Show Nr. 1 sei.
Wolkow: Diese ganze Geschichte erinnert stark an die Romane von Dumas-Père. In denen es im Gebälk eines Imperiums wegen eines unvorsichtigen Blicks der Königin zu knistern beginnt.
Brodskij: Völlig richtig, so muß es auch sein, so muß es auch sein. Denn was war Rußland im Jahre 1945? Ein klassisches Imperium. Und überhaupt ist die Situation „Dichter und Zar“ eine imperiale Situation. Heute ändert sich das alles sogar in Rußland ein bißchen. Und trotzdem sind dort imperiale Manieren immer noch im Schwange.
Wolkow: Die Achmatowa beschrieb die Entwicklung der Ereignisse etwa so: Ihre sich bis zum Morgen hinziehende Begegnung mit Berlin brachte Stalin in Wut. Er rächte sich an ihr mit einem Sondererlaß des ZK WKP (b), der, nach Anna Andrejewnas fester Überzeugung, von Stalin selbst geschrieben worden war. (Lydia Tschukowskaja bemerkt, „aus jedem Absatz ragt der allerkaiserlichste Schnurrbart hervor“). Dieser Erlaß (der übrigens formal bis heute nicht aufgehoben wurde)8 hatte, als er im Jahre 1946 veröffentlicht wurde, auf die Intelligenz des Westens eine starke Wirkung. Bisher hatte diese sehr wohlwollend auf die Sowjetunion geblickt. Nun war die Atmosphäre vergiftet, und zwar für immer. Es begann der „kalte Krieg“. Sind Sie mit dieser Interpretation der Ereignisse einverstanden?
Brodskij: Ja, so ziemlich. Natürlich glaube ich nicht, daß der „kalte Krieg“ nur wegen der Begegnung der Achmatowa mit Berlin entstanden ist. Aber daß die Hetzjagd auf die Achmatowa und auf Soschtschenko die Atmosphäre vergiftet hat – in dieser Hinsicht gibt es für mich gar keinen Zweifel.
Wolkow: Erst hier, im Westen, habe ich geklärt, daß Anna Andrejewna mindestens in einem Punkt absolut recht hatte: Der Erlaß von 1946 hat die Intelligenz des Westens aus der Fassung gebracht, es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alle wollten sie mit der Sowjetunion gut Freund sein, und jetzt dies… Nebenbei: Gefällt Ihnen Anna Andrejewnas Berlin gewidmeter Zyklus „Die Heckenrose blüht“?
Brodskij: Das sind ausgezeichnete Gedichte. Auch in ihnen ist dieses ,Romeo und Julia, gespielt von den Mitgliedern des Herrscherhauses‘. Obwohl das natürlich eher „Dido und Äneas“ ist, als „Romeo und Julia“. Mit seinem tragischen Charakter hat dieser Zyklus in der russischen Dichtung nicht seinesgleichen. Man könnte noch an Tjuttschews „Denissjewa“-Zyklus denken. Aber in der „Heckenrose“ hört man durch seine Ungeheuerlichkeiten hindurch etwas Neues: Man hört die Stimme der Geschichte.
Wolkow: Es gibt eine interessante Anekdote darüber, wie Anna Andrejewna von dem gegen sie und Soschtschenko gerichteten Erlaß von 1946 erfuhr. Sie hatte an jenem Tag die Zeitung nicht gelesen und traf auf der Straße aber Soschtschenko, der sie fragte:
Was soll man jetzt tun, Anna Andrejewna?
Die Achmatowa, die nicht verstand, worauf Soschtschenko konkret hinauswollte, nahm an, seine Frage sei metaphysisch gemeint, und erwiderte:
Durchhalten.
Und damit trennten sie sich. Leningrad ist doch eine kleine Stadt.
Brodskij: Sie mochte Soschtschenko sehr. Sie erzählte viel von ihm. Er konnte in den letzten Jahren nicht essen – er hatte Angst, vergiftet zu werden. Anna Andrejewna war der Ansicht, Soschtschenko habe den Verstand verloren. Und sie erklärte sein Ende als mögliche Folge seiner eigenen Unvorsichtigkeit. Man organisierte für sie beide ein Treffen mit einer Gruppe englischer Studenten, die sich in Leningrad aufhielten. Und einer der Studenten stellte die äußerst taktlose Frage, wie sich die Achmatowa und Soschtschenko zu dem Erlaß des Jahres 1946 verhielten. Die Achmatowa stand auf und antwortete kurz, sie sei mit diesem Erlaß einverstanden, Schluß. Soschtschenko hingegen begann zu erklären:
Zuerst habe ich den Erlaß nicht verstanden, dann war ich mit einigem einverstanden, mit anderem nicht.
Im Endeffekt ermöglichte man der Achmatowa eine Existenz durch literarische Arbeiten, Übersetzungen usw. Während man Soschtschenko endgültig alles nahm.
Wolkow: Die Achmatowa sagte gern, daß sie auf den Erlaß von 1946 schon deshalb vorbereitet gewesen sei, weil das nicht der erste sie betreffende Parteibeschluß war: Der erste war der des Jahres 1935. Und das ist tatsächlich so, nur hatten es alle vergessen. Und dann sagte sie noch, Stalin sei wegen ihres Gedichtes „Verleumdung“ gekränkt gewesen, ohne auf das Datum, nämlich das Jahr 1921, geachtet zu haben. Er faßte es als eine persönliche Beleidigung auf. Ein weiterer Beweis dafür, wie sehr Stalin seine Beziehungen zu den Dichtern „persönlich“ auffaßte. Stalin sah sich von ihnen in seinen schönsten Hoffnungen enttäuscht.
Brodskij: Ja, ich denke, auch Mandelstam, zum Beispiel, hat ihn mit seiner Ode enttäuscht. Sein Gedicht über Stalin ist genial. Vielleicht sind die Verse dieser an Jossif Wissarjonowitsch gerichteten Ode die erschütterndsten, die Mandelstam geschrieben hat. Ich glaube, Stalin hat begriffen, um was es ging. Stalin begriff plötzlich, daß nicht Mandelstam sein Namensvetter ist, sondern er, Stalin, der Namensvetter von Mandelstam.9
Wolkow: Er verstand, wer wessen Zeitgenosse ist.10
Brodskij: Ja, ich glaube, genau das hat Stalin plötzlich kapiert. Und das diente ihm als Anlaß, Mandelstam zu vernichten. Offensichtlich spürte Jossif Wissarjonowitsch, daß ihm hier jemand zu nahe kam.
Wolkow: Ist Anna Andrejewnas Vierzeiler „Über das Meine will ich nicht weinen…“ Ihnen gewidmet?
Brodskij: Ich weiß es nicht. Man sagt’s, es hat mich aber nie interessiert.
[…]
Wolkow: Haben Sie mit Anna Andrejewna über die Erschießung von Gumiljow gesprochen?
Brodskij: Nein, speziell darüber wurde nicht gesprochen.
Wolkow: Und überhaupt über Gumiljow?
Brodskij: Wir sprachen über den Dichter. Ich erinnere mich, unser letztes Gespräch über Gumiljow handelte davon, daß jemand der Achmatowa Gedichte gebracht hatte, die Gumiljow angeblich in der Zelle geschrieben haben sollte. Und wir versuchten herauszufinden, ob die Gedichte wirklich von ihm seien oder nicht.
Wolkow: Anna Andrejewna sagte immer, das Material gegen Gumiljow sei konstruiert und daß er an keinerlei Verschwörung beteiligt gewesen sei. Sie rechnete Gumiljow zu den größten russischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Sind Sie hier mit ihr einverstanden?
Brodskij: Gumiljow gefällt mir nicht und hat mir nie gefallen. Und als ich mit Anna Andrejewna über ihn diskutierte, hielt ich mich, um sie nicht zu erzürnen, mit meiner wahren Meinung zurück. Weil ihr Gefühl hinsichtlich Gumiljows von einem Wort bestimmt wurde – von Liebe. Obwohl ich nicht verbarg, daß meiner Ansicht nach Gumiljows Gedichte nicht Gott weiß was seien. Ich erinnere mich an ein ziemlich langes Gespräch mit der Achmatowa über Gumiljows Mikrokosmos, der sich im Augenblick seiner Verhaftung und Erschießung zu festigen begann, zu seiner eigenen Mythologie wurde. Es ist überdeutlich: Wenn jemand zur Unzeit umgebracht wurde, dann ist das Gumiljow. Etwas in der Art sagte ich zu Anna Andrejewna.
Wolkow: Das Verfahren gegen Gumiljow wurde von der sogenannten „Petrograder Kampforganisation“ durchgeführt. Die Untersuchung nahm Jakow Agranow vor, der spätere gute Freund von Majakowskij und den Briks. Lilja Brik erinnerte sich, daß die Achmatowa nach Majakowskijs Tod manchmal zu den Briks zum Essen ging. Ich erinnere mich an meine Verwunderung, als ich das hörte. Weil sich Anna Andrejewna über die Briks ziemlich scharf äußerte. Sie sagte, daß am Ende der 20er Jahre, als die Kunst in Rußland, nach ihren Worten, „abgeschlachtet“ wurde, die Machtorgane nur den Salon der Briks weiterbestehen ließen „wo es Billard, Karten und Tschekisten gab“.
Brodskij: Das ist richtig, wie es scheint. Zu den Briks hatte die Achmatowa ein äußerst schlechtes Verhältnis. Wir waren hierin völlig einer Meinung. Aber Anna Andrejewna sagte wiederholt, daß es oftmals sinnvoll sei, mit offensichtlichen Schurken, insonderheit mit professionellen Denunzianten, Kontakt zu haben. Besonders, wenn man etwas „nach oben“, den Machtorganen, mitzuteilen habe. Denn der professionelle Denunziant gibt alles ihm Mitgeteilte genau und ohne Entstellungen weiter, worauf man sich im Falle eines furchtsamen oder neurasthenischen Menschen nicht verlassen könne.
Wolkow: Haben Sie mit Anna Andrejewna über Boris Pilnjak gesprochen, dem ihr Gedicht „Enträtseln wirst dies alles du allein…“ gewidmet ist?
Brodskij: Es gab ein recht kurzes Gespräch, und zwar darüber, daß ich in Moskau, im „National“, einem Menschen begegnet war, der sich als Sohn von Pilnjak herausstellte: ein schöner Mann, ein östlicher Typ. Und es bedrückte mich etwas, daß Anna Andrejewna für Pilnjak große Sympathien hegte. Ich war damals ein böser Junge. Wir alle suchten unseren Weg auf Kosten der Vorgänger – so ist das ja immer, nicht wahr? Hier habe ich Pilnjak wiedergelesen, und ich sah keinen Grund, meine Haltung ihm gegenüber zu ändern. Der einzige Autor, hinsichtlich dessen sich meine Vorstellungen zum Besseren verändert haben, ist Samjatin. Ich meine nicht „Wir“, sondern seine kurzen Sachen.
Wolkow: Samjatin war auch ein brillanter Essayist.
Brodskij: Ja, das habe ich hier auch an ihm schätzen gelernt.
Wolkow: Warum hat sich Anna Andrejewna so vernichtend über die späten Gedichte von Sabolozkij geäußert?
Brodskij: Das stimmt nicht. Die Achmatowa sagte: „Sabolozkij mag mich nicht, trotzdem…“ und so weiter.
Wolkow: Sie argwöhnte in Sabolozkij den eingefleischten Frauenfeind, und sie sollte recht behalten. Sabolozkij soll sich etwa folgendermaßen geäußert haben:
Das Weib hat in der Kunst nichts zu suchen.
Brodskij: All diese Zitate sind keinen Pfifferling wert. Wenn einem Menschen nicht die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu seinen Lebzeiten ohne Einschränkung auszusprechen, dann benutzen wir, die Nachfahren, unweigerlich irgendwelche Bruchstücke aus denen etwas zu konstruieren aber unzulässig ist. Sabolozkij konnte heute dies sagen und morgen das. Das Schicksal hat ihn in einen bestimmten Rahmen gepreßt. Aber er war mehr als dieser Rahmen.
Wolkow: Wie haben die Beziehungen zwischen der Achmatowa und Pasternak ausgesehen?
Brodskij: Sie waren überaus eng, überaus freundschaftlich. Übrigens hat Pasternak der Achmatowa zwei Mal einen Heiratsantrag gemacht.
Wolkow: Und wie hat die Achmatowa dieses Faktum kommentiert?
Brodskij: Also erstens – was ist das schon für ein Antrag, wenn seine Frau noch da ist. Und zweitens… Pasternak war immerhin kleiner von Wuchs als die Achmatowa, wenn man von allem anderen einmal absieht. Und jünger. So daß daraus nichts wurde. Außerdem glaube ich, daß sie die lyrische Seite ihrer Beziehung zu Pasternak nie wirklich ernst genommen hat. Sie wußte natürlich, daß Sinaida Nikolajewna, Pasternaks Frau, sie ingrimmig haßte. […]
Wolkow: Nadjeshda Mandelstam schreibt in ihren Memoiren von der „phantastischen Hinterlassenschaft“ Anna Achmatowas und von den Erbstreitigkeiten. Einerseits erhob ihr Sohn, Lew Gumiljow, Ansprüche, andrerseits die Familie Punin, mit der sie zusammengelebt hatte.
Brodskij: Naja, also ich weiß nicht, was in Nadjeshda Jakowljewnas Vorstellung ein „phantastisches Vermögen“ ist. Sie hinterließ ein paar Dinge, Bilder. Hab und Gut im eigentlichen Sinne gab es gar nicht. Die Achmatowa gehörte nicht zu den Besitzenden. Alles, was sie hatte, hätte in einer 16-Quadratmeter-Wohnung Platz gefunden, und dabei wäre noch viel Platz leer geblieben. Das Wichtigste war ihr literarisches Archiv, das die Punins verkauft haben, wobei sie ein wahnsinniges Geld verdienten.
Wolkow: Sie meinen, daß sich in dem Streit um das Archiv der Achmatowa das Recht auf Seiten Gumiljows befand?
Brodskij: Natürlich. Die Punins, das ist so ziemlich das Schändlichste, was mir in meinem Leben begegnet ist.
Wolkow: Warum war die Achmatowa so eng mit ihnen liiert?
Brodskij: Sie war mit ihnen zusammen, als Punin noch lebte. Dann, als Punin verhaftet wurde und umkam, meinte sie, daß sie, wenn sie auch nicht die Schuld daran trug, das Unglück doch herbeigerufen habe:
Den Untergang rief ich meinen Lieben herbei,
und sie starben nacheinander
Die Achmatowa hielt es für ihre Pflicht, sich um Irina, Punins Tochter, zu kümmern. Und später um sein Enkelkind, um Anjka. Die, so seltsam das ist, im Profil ein wenig Anna Andrejewna ähnlich sah, aber nicht der jungen, sondern der alten.
Lew war all die Jahre über im Lager. Als er entlassen wurde, erwartete er, daß man ihn sofort rehabilitieren würde, wonach er mit seiner Mutter zusammenziehen würde. Sie lebte solange bei den Punins. Irina Punina war daran interessiert, da sie erheblich von den Einkünften der Achmatowa abhängig waren. Und ich verstehe da die Achmatowa: Sie ging von der normalen, ganz praktischen Überlegung aus: Es konnte gut sein, daß man Gumiljow nach der Rehabilitierung eine große Wohnung geben würde. Wären sie aber zu zweit – womit konnte sie dann rechnen? Und Irina hetzte sie auf:
Laß, Akuma, warte, bis Ljowa rehabilitiert wird.
(Sie nannte sie Akuma. Dieses Wort hat scheinbar Punin aus Japan mitgebracht, es bedeutet „Hexe“.) Im Prinzip horchte die Achmatowa auf Irina. Und sagte zu ihrem Sohn, daß es besser wäre, wenn sie noch nicht zusammenzögen, sondern warteten, bis man ihm einen einzelnen Wohnraum zuteilte. Woraufhin Lew Nikolajewitsch außer sich geriet und aufbrauste. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Menschen, nur ist er mit dem Mangel behaftet, von dem ich schon sprach: Er glaubte, nach dem Lager sei ihm alles erlaubt. Also schrie er sie an, wie gesagt. In den letzten Jahren vor Anna Andrejewnas Tod haben sie sich nicht mehr gesehen. In Angst um ihr eigenes Wohlergehen haben die Punins systematisch versucht, Zwietracht zwischen ihnen zu säen. Worin sie überaus erfolgreich waren.
Die Unstimmigkeiten mit ihrem Sohn ertrug die Achmatowa äußerst schlecht. Und als sie bereits mit dem dritten Infarkt im Krankenhaus lag, fuhr Gumiljow zu ihr nach Moskau. Weil er wohl begriff, was der dritte Infarkt bedeutet. Aber da schickte die Punina ihre Anjka zu ihm, und diese hinterbrachte ihm angebliche Worte von Anna Andrejewna (die sie aber in Wirklichkeit nie gesagt hatte): nämlich, daß er „jetzt, wo ich mit dem dritten Infarkt im Krankenhaus liege, zu mir gekrochen kommt“. Worauf Ljowa nicht zu Anna Andrejewna ins Krankenhaus ging.
Als sie entlassen wurde, ließ sie sich bei den Ardows nieder, wohnte dort, glaube ich, zwei Wochen oder so, und fuhr nach Malejewka, wo sie starb. Najman überbrachte mir ihre letzten Worte, er war dabei gewesen:
Mir ist ziemlich schlecht.
Sie sagte das, als man ihr gerade Kampfer spritzen wollte. Ich sollte so etwas nicht sagen, aber als Herzkranker erkenne ich diese Worte. Man stößt sie hervor, wenn das Herz schlecht ist.
Wolkow: Und was war das Schicksal des achmatowschen Archivs?
Brodskij: Es geriet ganz und gar in die Fänge der Punins. […] Und offensichtlich wurde der Verkauf, unter Umgehung Ljowas, sanktioniert. Die Punins hatten dabei gar keine besondere Idee. Das einzige, was sie interessierte, war das Geld. So war es immer, das ganze Leben. Und dieses Geld gab man den Punins weniger für das Archiv selbst, als vielmehr, so nehme ich an, dafür, daß seine Nutzung für eine bestimmte Zeit verboten wurde. Jetzt ist das Archiv, scheint es, für fünfundzwanzig Jahre gesperrt. Die Organe wußten, daß Ljowa die Nutzung des Archivs nicht verbieten würde. Er war ja selber daran interessiert, sich darin umzusehen. Den Punins war das alles schnuppe, und dafür wurden sie entsprechend belohnt.
Wolkow: Wie im Falle Pasternak, wurden auch die Erbschaftsangelegenheiten der Achmatowa und ihr Begräbnis zu einem Politikum…
Brodskij: Die Punins hatten nicht die geringste Lust, sich mit Anna Andrejewnas Begräbnis zu befassen. Sie drückten mir den Totenschein in die Hand und sagten:
Jossif, finden Sie einen Friedhof.
Schließlich fand ich einen Platz – in Komarowo. Ich muß sagen, ich habe im Zusammenhang damit so allerlei zu sehen bekommen. Die Leningrader Behörden weigerten sich, einen Platz auf einem der städtischen Friedhöfe herauszugeben. Die Behörden des Kurortgebiets – unter dessen Zuständigkeit Komarowo fällt – waren ebenfalls entschieden dagegen. Niemand wollte eine Erlaubnis erteilen, alle sträubten sich; es begannen endlose Verhandlungen. Sehr hat mir S.B. Tomaschewskaja geholfen: Sie kannte Leute, die in dieser Sache behilflich sein konnten, Architekten usw.
Anna Andrejewnas Körper war schon in der Kathedrale des Heiligen Nikolaj aufgebahrt, die Totenmesse wurde schon gelesen – und ich stand noch auf dem Friedhof von Komarowo und wußte nicht, ob sie hier beerdigt werden würde oder nicht. Noch die Erinnerung daran macht mir das Herz schwer. Sobald man mir sagte, daß die Erlaubnis erteilt worden sei und die Totengräber jeder eine Flasche bekommen hatten, sprangen wir ins Auto und jagten nach Leningrad. Wir kamen noch zur Totenmesse. Draußen waren Polizeisperren, und in der Kathedrale lief Ljowa herum und riß den Fotografierenden die Filme aus den Apparaten. Dann wurde Anna Andrejewna zum Schriftstellerverband, zum bürgerlichen Begräbnis, überführt, und von dort nach Komarowo. Im ganzen war das Begräbnis und alles, was darauf folgte, eine düstere Angelegenheit. […] Anna Andrejewna war, kurz gesagt, unbehaust und – ihrem eigenen Ausdruck zufolge – ohne Hirte. Ihre nahen Bekannten nannten sie die „königliche Bettlerin“; und wirklich, auf ihrem Antlitz, besonders, wenn sie sich in irgendeiner Wohnung zur Begrüßung vor einem erhob, lag etwas von einer umherziehenden, obdachlosen Herrin. Etwa vier Mal pro Jahr wechselte sie ihren Wohnsitz: Moskau, Leningrad, Komarowo, wieder Leningrad, wieder Moskau, usw. Das durch die fehlende Familie entstandene Vakuum wurde von Freunden und Bekannten aufgefüllt, die sich um sie kümmerten und sie, nach Maßgabe ihrer Kräfte, betreuten. Sie war außerordentlich anspruchslos, und immer wieder, wenn ich sie aufsuchte, wenn sie irgendwo zu Besuch war, besonders bei den Punins, traf ich sie hungrig an, obwohl sie gerade dort, bei den Punins, „in jeder Minute alles bezahlte“.
Eine solche Existenzform war nicht besonders bequem, dennoch aber glücklich, in dem Sinne, als alle sie sehr liebten. Und sie liebte viele. D.h. unwillkürlich entstand um sie herum immer eine Art Feld in das kein Schmutz hineinkommen durfte. Und die Zugehörigkeit zu diesem Feld, zu diesem Kreis bestimmte für viele Jahre im voraus Charakter, Verhalten, Lebenseinstellung vieler – fast aller – Bewohner dieses Feldes. Auf uns allen liegt, wie eine Art seelischer Bräune, der Widerschein dieses Herzens, dieses Verstandes, dieser moralischen Kraft und dieser ungewöhnlichen Großmut, die sie besaß.
Wir gingen nicht des Lobes wegen zu ihr, wir suchten nicht literarische Anerkennung oder Beifall für unsere Opera. Zumindest trifft das auf die meisten von uns zu. Wir gingen zu ihr, weil sie unsere Seelen in Gang setzte; weil man sich in ihrer Gegenwart gleichsam von sich selbst befreite, von jenem seelischen, geistigen – oder wie ich es nennen soll – Niveau, auf dem man sich befand, von der „Sprache“ in der man mit der Wirklichkeit sprach, zugunsten jener „Sprache“, die sie verwendete. Natürlich diskutierten wir über Literatur, natürlich klatschten wir, natürlich gingen wir Wodka holen, hörten Mozart und spotteten über die Regierung. Wenn ich aber zurückschaue, höre und sehe ich nicht dies. In meinem Bewußtsein erscheint eine Zeile aus der schon erwähnten „Heckenrose“:
Du weißt nicht, daß man dir verzieh.
Diese Zeile ist weniger aus dem Kontext gerissen, sie reißt sich selbst vom Kontext los, weil das von der Stimme der Seele gesagt ist, weil der Verzeihende immer mehr ist als die Kränkung und als der Kränkende. Denn diese an einen Menschen gerichtete Zeile ist in Wirklichkeit an die ganze Welt gerichtet, sie ist die Antwort der Seele auf die Existenz.
Das ungefähr – und nicht Fertigkeiten des Dichtens – haben wir bei ihr gelernt. „Jossif, wir beide kennen alle Reime der russischen Sprache“, sagte sie. Andrerseits ist das Dichten eben ein Sich-Losreißen vom Kontext. Und wir, die wir mit ihr bekannt waren, hatten, so will es mir scheinen, riesiges Glück – ein größeres, denke ich, als wenn wir, sagen wir, mit Pasternak bekannt gewesen wären. Wenn wir eins bei ihr gelernt haben, dann, zu verzeihen. Vielleicht sollte ich mit diesem Pronomen „wir“ vorsichtiger sein… Obwohl ich mich erinnere, daß, als Arsenij Tarkowskij seine Totenrede mit den Worten begann: „Mit dem Fortgang Anna Achmatowas endete…“, sich alles in mir widersetzte: Nichts endete, nichts konnte und kann enden, solange wir existieren. Ob wir nun ein Zauberchor sind oder nicht. Nicht, weil wir uns ihrer Gedichte erinnern oder selber schreiben, sondern weil sie Teil unserer selbst geworden ist, ein Teil unserer Seelen. Ich würde noch hinzufügen: Auch wenn ich kaum an die Existenz einer jenseitigen Welt und an ein ewiges Leben glaube, so befällt mich doch oftmals das Gefühl, als beobachte sie uns von irgendwo außerhalb, als wache sie dort oben über uns, so wie sie es zu ihren Lebzeiten getan hat… Und es ist weniger ein Wachen als ein Beschützen.
Aus dem Russischen von Kay Borowsky
Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich Anna Andrejewna zum ersten Mal sah. Wahrscheinlich war das etwa zwei Jahre vor dem ersten Weltkrieg, im Romanisch-Germanischen Seminar der Petersburger Universität. Als Student hatte ich zu diesem Seminar keine direkte Beziehung, war aber häufig dort: Es war so etwas wie das Stabsquartier des jungen, erst kürzlich geborenen Akmeismus und gleichzeitig der Treffpunkt der ersten Formalisten, die sich ihrer Sache noch nicht sicher waren und ihre Theorien eher aufgrund einer Abgrenzung von jeglicher Art Neo-Skabitschewskijs, als auf einer festen eigenen Überzeugung ruhend ausarbeiteten. Auf die russische Abteilung der Historisch-Philologischen Fakultät blickten die Romanogermanen von oben herab, und nicht ganz unbegründet. Gumiljow beispielsweise erzählte gern mit spöttischer Gereiztheit, daß ihn beim Examen in russischer Literatur – bei dem er durch sein Wissen und die Schärfe seines Urteils zu glänzen beabsichtigt hatte – Professor Schljapkin12 fragte:
Sagen Sie, was hätte Ihrer Meinung nach Onegin getan, wenn Tatjana einverstanden gewesen wäre, ihren Mann zu verlassen?
Im Romanisch-Germanischen Seminar wurden Gespräche und Meinungsstreit auf einem anderen Niveau geführt, und für mich persönlich war es von einer besonderen, geheimnisvollen, unwiderstehlich-magischen Aureole umgeben. Ein paar Mal im Jahr wurden dort Dichterabende veranstaltet – nicht fürs Publikum, sondern für die „Eingeweihten“ –, und zu den „Eingeweihten“ gezählt zu werden, auch wenn das nicht ohne Herablassung geschah, erschien einem wie ein großes Glück. Einmal sagte K.W. Motschulskij, mein künftiger naher Pariser Freund, der, von der ungestümen und ein wenig schwankenden Beschaffenheit seiner Seele und seiner krankhaften Sensibilität her kaum zum echten Formalisten prädestiniert war:
Heute müssen Sie unbedingt kommen… Die Achmatowa tritt auf. Haben Sie die Achmatowa gelesen?
Ob ich die Achmatowa gelesen habe! Von den ersten Zeilen an, die mir unter die Augen kamen, von der Anrede an den Wind:
Wie du, so war ich frei
Und doch vom Leben gefangen.
Hier liegt nun mein Leichnam, Wind –
Wer legt mir die Hände zusammen?…13
war ich von dem leicht unregelmäßigen Versmaß wie verzaubert und von ihren Versen, wie man sich damals auszudrücken liebte, „durchbohrt“ – so, wie ich mich einige Jahre zuvor, noch auf dem Gymnasium, verzaubert und „durchbohrt“ fühlte, als ich zum ersten Mal Bloks14 Zeilen in „Die Erde im Schnee“ zu Gesicht bekam:
O Lenz, du ohne Grenzen,
Du grenzenloser Traum…
Die Achmatowa war bereits berühmt – berühmt in dem Sinne jedenfalls, in dem Mallarmé dieses Wort in einem Gespräch mit Freunden hinsichtlich von Villiers de l’Isle-Adam verwendete:
Sie kennen ihn, ich kenne ihn… was will man mehr?
In dem engen Kreis der Anhänger der neuen Poesie sprach man von ihr mit Bewunderung. Ihr Mann, Gumiljow, verhielt sich anfangs ihren Gedichten gegenüber scharf ablehnend, scheinbar hat er sie sogar „bekniet“, nicht zu schreiben; sehr gut möglich, daß bei seiner Einschätzung unbewußt ganz persönliche Vorstellungen und Argumente mit einflossen, die nicht aus der Literatur, sondern aus dem Leben kamen. Kein Kollegenneid, nein, sondern eine unüberwindliche, skeptische Haltung, Feindseligkeit, hervorgerufen durch das Gefühl eines tiefen, grundsätzlichen Unterschiedes zwischen ihrer und seiner poetischen Sprechweise. Erst einige Jahre nach ihrer Heirat erkannte er sie als Dichterin voll und ganz, ohne jede Einschränkung, an. „Unter die Leute gebracht“, wenn man sich in dem gegebenen Fall einen solchen Ausdruck erlauben darf, hat sie Kusmin,15 der mit sicherem Instinkt die Originalität und den Reiz der frühen achmatowschen Verse erkannte, wie übrigens auch Georgij Tschulkow, der „mystische Anarchist“, Freund und Nachbeter von Wjatscheslaw Iwanow,16 der seinerzeit halb Rußland durch den Einleitungssatz zu einem großen programmatischen Artikel belustigt hatte:
Ein echter Dichter kann nur Anarchist sein – was denn sonst?
Die Autorität Kusmins war natürlich weit bedeutender als die Tschulkows, und im wesentlichen hat er den Ruhm der Achmatowa möglich gemacht. Ich erinnere mich an die Widmung, die ihm Anna Andrejewna, es war schon in der nachrevolutionären Zeit, in einen ihrer Gedichtbände schrieb, der ihm zugesandt werden sollte, in den Wegerich oder in Anno Domini:
Für Michail Alexejewitsch, meinen wunderbaren Lehrer.
Gegen Ende seines Lebens jedoch, in den dreißiger Jahren, hat sie ihn nicht mehr aufgesucht, aus welchem Grunde, weiß ich nicht.
Anna Andrejewna überraschte mich durch ihre äußere Erscheinung. Heute, in den Erinnerungen an sie, bezeichnet man sie bisweilen als Schönheit; nein, eine Schönheit war sie nicht. Niemals habe ich eine Frau erlebt, deren Gesicht, deren ganze Gestalt überall, unter allen beliebigen Schönheiten, durch ihre Ausdruckskraft, ihre ungekünstelte Beseeltheit, durch ein bestimmtes Etwas die Aufmerksamkeit derart auf sich gezogen hätte. Später machte sich in ihrer Erscheinung deutlicher ein tragischer Zug bemerkbar: die Rachel17 in der „Phèdre“, wie Mandelstam in dem bekannten Achtzeiler nach einer ihrer Lesungen im Streunenden Hund gesagt hat, als sie, auf der Bühne stehend, mit ihrem „klassiknachempfundenen“ Schal, der „von den Schultern niederhing“, ihre ganze Umgebung zu veredeln und zu erheben schien. Mein erster Eindruck jedoch war ein anderer. Anna Andrejewna lächelte oder schmunzelte ständig und tuschelte fröhlich und verschmitzt mit Michail Leonidowitsch Losinskij,18 der sie offenbar ermahnte, ernsthafter zu sein, so, wie es sich für eine bekannte Dichterin gehöre, und den vorgetragenen Gedichten aufmerksamer zuzuhören. Ein, zwei Minuten schwieg sie, und dann begann sie von neuem, ihre Späße zu treiben und zu tuscheln. Als dann schließlich auch sie aufgefordert wurde zu lesen, ging sofort eine Veränderung mit ihr vor, ja, sie schien sogar zu erblassen: In der „Spötterin“, in der „fröhlichen Sünderin von Zarskoje Selo“, wie die Achmatowa im vorgerückten Alter im „Requiem“ sich selbst charakterisierte, erschien die künftige Phädra. Doch nicht für lange. Beim Verlassen des Seminars wurde ich ihr vorgestellt. Anna Andrejewna sagte:
Entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe Sie heute alle bei der Lesung gestört. Man wird mich hier bald nicht mehr zulassen…
Und zu Losinskij gewandt, brach sie wieder in Lachen aus. Danach bin ich Anna Andrejewna ziemlich oft begegnet, meist in eben jenem Streunenden Hund, wo sie sich ständig aufhielt. Dieser kleine Keller am Michaelsplatz, mit Wandmalereien der Sudejkina, ist dank zahlloser Erzählungen und Erinnerungen in die Überlieferung eingegangen. Die Achmatowa hat ihm zwei Gedichte gewidmet: „Wie wir buhlend, verschwendend leben“19 und „Ja, ich habe es gemocht, jenes nächtliche Gewühl“.20 Und ein nächtliches Gewühl gab es tatsächlich: Man fuhr in den Streunenden Hund nach dem Theater, nach einer Abendveranstaltung oder einem Disput, und fast erst in der Morgendämmerung ging man auseinander. Der Hausherr, der Direktor, Boris Pronin, begleitete all jene unbarmherzig wieder zur Tür, in denen er mit seiner scharfen Witterung „Pharmazeuten“ erkannte, d.h. Leute, die weder mit Literatur noch mit Kunst etwas am Hut hatten. Allerdings hing alles von seiner Stimmung ab: Es konnte vorkommen, daß auch offensichtlichen „Pharmazeuten“ ein warmherziger Empfang zuteil wurde, voraussehen konnte man das nie. Es war sehr eng, sehr stickig, sehr laut und – nein, nicht fröhlich: Ich habe Mühe, zur Kennzeichnung der im Streunenden Hund herrschenden Atmosphäre das passende Wort zu finden. Es ist aber kein Zufall, daß bis heute keiner der damaligen Stammgäste diese Atmosphäre vergessen hat.
Es gab auch namhafte Gäste aus dem Ausland: Marinetti, gewandt, mit geröteten Wangen, in komischer Weise ganz dem „Mann aus dem Restaurant“ gleichend, es fehlte nur das schneeweiße Tuch über dem Arm; Paul Fort, der bejahrte „König“ der französischen Dichter; Verhaeren, Richard Strauss und andere. Für Strauss spielte Artur Lurje,21 der in unserem Kreis als aufgehender Stern am Himmel der Musik galt, auf beharrliches Drängen von Pronin die Gavotte von Gluck in seiner modernistischen Bearbeitung, worauf Strauss sich erhob, ans Klavier trat und, zu Lurje gewandt, einige überaus schmeichelhafte Worte sagte, selbst zu spielen aber sich strikt weigerte.
Es waren alle Petersburger Dichter da, Symbolisten, Akmeisten, Futuristen, letztere noch aufgeteilt in „Kubo-“, angeführt von Majakowskij in gelber Jacke und Chlebnikow, und „Ego-“, die Anhänger Igor Sewerjanins, denen man aus dem Wege zu gehen und die man leicht zu verachten hatte. Chlebnikow machte schon damals einen rätselhaften Eindruck. Schweigend saß er mit gesenktem Kopf da, ohne jemanden wahrzunehmen, ganz in seine geheimnisvollen Gedanken oder Träume versunken. Seine Gegenwart strahlte Bedeutsamkeit aus, die so unbegreiflich wie unbezweifelbar war. Ich erinnere mich, wie Mandelstam, ein von Natur aus fröhlicher und geselliger Mensch, über irgend etwas lebhaft redete und redete – sich plötzlich umschaute, als ob er jemand suchte, stockte und sagte:
Nein, ich kann nicht sprechen, wenn Chlebnikow dort schweigt!
Dabei befand sich Chlebnikow nicht einmal in der Nähe, sondern hinter der Wand, die den Keller in zwei Hälften teilte – die zweite lag im Halbdunkel und wies weder eine Bühne noch Tischchen auf, es war sozusagen der „intime“ Teil.
Niemals ist Blok im Streunenden Hund gewesen, trotz gegenteiliger, unter den Emigranten verbreiteter Behauptungen. Apropos: Es gilt, auch noch andere Phantastereien, die in der Emigration aufkamen und sich bis heute hartnäckig gehalten haben, kategorisch zu dementieren: zum Beispiel die angebliche „Romanze“ von Blok und Anna Achmatowa, die „amitié amoureuse“, die es zwischen ihnen gegeben haben soll. Niemals ist etwas dergleichen vorgefallen, niemand in Petersburg hat über eine derartige gegenseitige Neigung jemals etwas gehört oder selbst etwas verbreitet. Ich weiß nicht, worauf diese Erfindung sich gründet. Wahrscheinlich ganz einfach darauf, daß es ungemein verlockend ist, sich ein solches Liebespaar vorzustellen: Blok und Anna Achmatowa, und widerspräche es auch der Wirklichkeit.
Anna Andrejewna war im Streunenden Hund immer von Menschen umgeben, aber so lachlustig wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah, schien sie mir nicht mehr zu sein. Vielleicht nahm sie sich zusammen, weil sie spürte, daß Fremde sie neugierig und aufmerksam ansahen; vielleicht ging aber auch in ihrem Charakter, in ihrem ganzen Wesen ganz allmählich eine Veränderung vor. Ständig traten Bekannte und Unbekannte auf sie zu und berührten „halb zärtlich und halb träge“ ihre Hand, darunter auch Majakowskij. Einmal, als er ihre feine, schmale Hand in seiner Riesenpranke hielt, rief er mit spöttischer Begeisterung, so daß es alle hören konnten:
Was für Fingerchen, mein Gott, was für Fingerchen!
Die Achmatowa machte eine finstere Miene und wandte sich ab. Es konnte geschehen, daß ihr ein Mann, der ihr eben erst vorgestellt worden war, seine Liebe erklärte. Ich erinnere mich, wie Anna Andrejewna über einen solchen Wagehals sagte:
Merkwürdig, er hat gar nichts von den Pyramiden gesagt!.. Gewöhnlich sagt man in solchen Fällen doch, daß man sich angeblich schon bei den Pyramiden, unter Ramses II., begegnet sei – erinnern Sie sich denn nicht?
Sie hatte zwei enge Freundinnen, die ebenfalls zu den ständigen Besuchern des Streunenden Hunds gehörten: die Fürstin Salomeja Andronikowa und Olga Afanasjewna Glebowa-Sudejkina, „Oletschka“, eine Tänzerin und Schauspielerin, eine der seltenen russischen Schauspielerinnen, die imstande war, Gedichte zu rezitieren.
In die erste Dichter-Gilde wurde ich kurz vor ihrer Schließung aufgenommen, und ich besuchte fünf oder sechs ihrer Versammlungen, nicht mehr. Aber wechselnde Lesungen wurden auch außerhalb der Gilde veranstaltet, mal in Zarskoje Selo, bei den Gumiljows, mal auch bei mir zu Hause, wo, in Abwesenheit meiner Mutter, die diese ihr fremden Gäste nicht mochte und ins Theater oder zu Freunden fuhr, als Gastgeberin meine jüngere Schwester fungierte. Gumiljow machte ihr stark den Hof, er widmete ihr den Band Koltschan22 (Der Köcher). Anna Andrejewna stand sich mit meiner Schwester sehr freundschaftlich.
Auf jedes vorgetragene Gedicht folgte seine Beurteilung. Gumiljow forderte hierbei immer „Zusätzliches“, wie er sich gern ausdrückte, d.h. nicht Ausrufe, nicht unbegründete Behauptungen, daß das eine gut, das andere schlecht sei, sondern begründende Erläuterungen, warum man es für gut oder für schlecht hielt. Er selbst sprach gewöhnlich als erster, er sprach lange und lieferte eine detaillierte und zumeist absolut zutreffende Beurteilung. Er hatte ein außergewöhnliches Gehör für Gedichte, ein außergewöhnliches Gespür für das Gewebe ihrer Worte; nur, das muß ich doch gestehen, wollte es mir schon damals scheinen, als sei er fremden Versen gegenüber bei weitem scharfsichtiger als im Falle seiner eigenen. Einen gewissen faden Geschmack, eine äußerliche, dekorative Schönheit seines Werks, mit einem leichten Nachhall aus parnassischer Zeit, schien er nicht wahrzunehmen. Anna Andrejewna sprach wenig und wurde eigentlich nur dann lebhaft, wenn Mandelstam las. Sie bekannte wiederholt, daß man niemanden mit Mandelstam vergleichen könne, und einmal verblüffte sie mich, nach einer Versammlung der Gilde bei Sergej Gorodjezkij, mit folgendem:
Mandelstam ist natürlich unser erster Dichter…
Was bedeutete dieses „unser“? War Mandelstam für sie etwa höher, war er ihr teurer als Blok? Das denke ich nicht. Bloks königliche Vorherrschaft, auch wenn wir mit seiner Poetik nicht einig gingen, erkannten wir alle fraglos, ohne zu zögern und ohne Einschränkungen an, und Anna Andrejewna machte da keine Ausnahme. Doch unter der unmittelbaren Wirkung soeben gehörter mandelstamscher Strophen und Zeilen, die dahinflossen wie ein dichter Strom geschmolzenen Goldes, konnte sie selbst Blok vergessen.
Mandelstam war von ihr begeistert, nicht nur von ihren Gedichten, auch von ihr selbst, ihrer Persönlichkeit, ihrem Äußeren, und ein früher Tribut dieser sein ganzes Leben andauernden Begeisterung war der Achtzeiler über Rachel – Phädra. Ich erinnere mich an eine Kleinigkeit, die heute kaum mehr jemandem bekannt sein dürfte: Die vorletzte Zeile dieses Gedichts sprach ursprünglich nicht von der „unwilligen Phädra“, sondern von der „Giftmörderin Phädra“. Jemand, wenn ich nicht irre, Walerian Tschudowskij,23 fragte den Dichter:
Ossip Emiljewitsch, warum Giftmörderin Phädra? Ich versichere Ihnen, weder bei Euripides noch bei Racine hat Phädra jemanden vergiftet.
Mandelstam geriet in Verwirrung und konnte darauf nichts erwidern: In der Tat, Phädra war keine Giftmörderin. Irgendwie war er da nachlässig gewesen, hatte etwas verwechselt, aber offensichtlich aus Zerstreutheit, denn Racine kannte er selbstverständlich.24 Am nächsten Tag verwandelte sich die „Giftmörderin Phädra“ in die „unwillige Phädra“. […]
Nach der Revolution änderte sich alles in unserem Leben. Allerdings nicht sofort. Am Anfang schien es, als müßte sich der politische Umsturz nicht notwendigerweise auf das Privatleben auswirken. Doch diese Illusionen dauerten nicht lange. Im übrigen ist das alles genügend bekannt, und davon zu erzählen, macht keinen Sinn. Die Achmatowa und Gumiljow trennten sich, die Existenz der ersten Dichter-Gilde nahm ein Ende, der Streunende Hund wurde geschlossen, und an seine Stelle, ohne ihn ersetzen zu können, trat der Rastplatz der Komödianten im Hause der Dobytschina am Marsfeld, wo zuerst Sawinkow, der Kriegsgouverneur der Hauptstadt, verkehrte und dann Lunatscharskij, die andere hohe Persönlichkeit, aus- und einging. Blok starb, Gumiljow wurde verhaftet und erschossen. Es begannen schwere, dunkle Zeiten, die Hungerjahre. Meine Familie, mit einem lettischen Phantasiepaß ausgestattet, fuhr ins Ausland, ich verbrachte fast zwei Jahre in Noworshew…25
Georgij Adamowitsch26
Aus dem Russischen von Kay Borowsky
[Der Druck der Erinnerungen von Georgij Adamowitsch erfolgt nach dem Text im Almanach Vozdušnye puti (Luftwege), New York 1967, Nr. 5.]
Poema bes geroja, Achmatowas längstes Werk, wurde über einen Zeitraum von 22 Jahren geschrieben und umgeschrieben. Auszüge und Varianten während der Entstehung des Gedichts wurden in der Sowjetunion und andernorts veröffentlicht. Deswegen gibt es heute beträchtliche Verwirrung darüber, welche Fassung die endgültige ist und ob eine Endfassung überhaupt existiert.
J. van der Eng-Liedmeiers und K. Verheuls Tale Without a Hero and Twenty-two Poems by Anna Akhmatova (1973), S. 116–130, enthält wahrscheinlich die erste vollständige Fassung des Gedichts. Abschnitte von Varianten von Teil I wurden in der Sowjetunion in Leningradskij almanach (1945); Literaturnaja Moskwa Nr. 1, 1956; Antologija russkoj sowjetskoj poesii 1917–57, I (1957); A. Achmatowa: Stichotworenija (1958); Moskwa, VII, 1959; A. Achmatowa: Stichotworenija 1909–1960 (1961); Den poesii (Moskau – Leningrad, 1962 und Moskau, 1963) veröffentlicht. A. Achmatowa: Beg wremeni (1965) enthält Teil I ganz, mit Ausnahme von drei Zeilen in der dritten Widmung und zwei Zeilen in Teil I. Außerhalb der Sowjetunion wurden unvollständige Fassungen von Teil I zweimal, 1960 und 1961, in Wosduschnye puti (New York) abgedruckt. Ein Ausschnitt aus Teil II wurde 1962 in Den Poesii veröffentlicht. Teil II wurde 1960 und 1961 auch in Wosduschnye puti publiziert, war aber unvollständig. Ein Auszug aus einer früheren Fassung von Teil III erschien in A. Achmatowa: Stichotworenija 1909–1960. Die zwei Fassungen von Teil III in Wosduschnye puti, 1960 und 1961, sind unvollständig.
Im Januar 1964 habe ich den Text von 1961 aus Wosduschnye puti in Moskau korrigiert. Ich stützte mich auf Achmatowas Manuskript, welches das Datum 1962 trug. Im Juni 1965 billigte die Dichterin meinen maschinengeschriebenen Text in London und bestätigte, daß dies die Endfassung sei. Achmatowa hat aber nie behauptet, eine gute Korrektorin zu sein, und empfahl mir, mich zu allen Zeiten von Lidija Tschukowskaja beraten zu lassen, wenn ich Fragen zu ihrem Text hätte. Ich habe daher letztere gebeten, meinen Text des Gedichtes, der in der Slavonic and East European Review (London), Nr. 105, 1967, erschien, zu überprüfen. Tschukowskaja korrigierte meinen Text, und eine Fotokopie der Korrekturen in ihrer Handschrift befindet sich in meiner Dissertation.
Dort befinden sich auch die Zeilen, die die Dichterin durch Ellipsen ersetzte. Ich glaube nicht, daß sie die Zeilen, die durch Ellipsen ersetzt wurden, statt der Ellipsen gedruckt haben wollte, sondern daß sie getrennt existieren sollten und man doch wissen sollte, daß sie daher stammten – eine Idee, die vielleicht nicht so merkwürdig ist, wie man zuerst annimmt, wenn man sie im Licht von Achmatowas Leben und der Art, wie sie sprach und schrieb, betrachtet.
1967 veröffentlichte C. Ricci einen Text und eine italienische Übersetzung in Poema senza Eroe e altre Poesie (Turin, 1966). Riccis Text enthält eine Anzahl unwesentlicher Abweichungen von meinem Text.
Er enthält Vers XXII von „Reschka“ und die Kursivschrift im „Epilog“ nicht. Auch enthält er verschiedene Zeilen, die die Dichterin später herausnahm.
Im Juni 1968 schickte ich Tschukowskajas Korrekturen an die Herausgeber, um sie in Sotsch. II mit aufzunehmen. Leider willigten sie nicht ein, alle zu übernehmen, darunter eine, die ich in der Handschrift der Dichterin gesehen hatte. Korrekturen, die im Text von Sotsch. II gemacht werden sollten, sind:
S. 95 Das Zitat aus Don Giovanni sollte gestrichen werden – es bezieht sich nur auf Teil I, nicht auf das ganze Gedicht.
S. 97–98 Am 13. Mai 1962 aus dem Gedicht herausgenommen.
S. 99 Deus conservat omnia etc. sollte auf einer eigenen Seite stehen. Es bezieht sich auf das ganze Gedicht.
S. 100 Das Stück, welches das Datum „Leningrad 1944“ trägt, sollte herausgenommen werden.
S. 105 Zeilen 33–34 gestrichen.
S. 108 In Zeile 136 existiert eine Variante „No bespetschna, prjana…“
S. 110 Die drei einführenden Zeilen zu Tscheres ploschtschadku (Gdeto wokrug…) sollten gestrichen werden.
S. 111 Eine Variante existiert in Zeile 203: „smirenniza“ für „Satejniza“,
S. 112 Zeile 236 sollte lauten „Nad Marinskoju…“
S. 122 Der Untertitel Intermezzo sollte gestrichen werden. In dem einführenden Prosatext sollten die Worte in der zweitletzten Zeile, „Sledujuschtschie strofy“ gestrichen werden und durch die Worte „Otschen gluboko i otschen umelo sprjatannye obrywki Rekwiema“ ersetzt werden.
S. 124 Eine Variante für die letzte Zeile von Vers X gibt es, „W etom ushase ne mogu“.
S. 125 Strophe XI hier ist eine verworfene Variante am falschen Ort und sollte gestrichen werden. Es ist nicht der Vers, für den die Ellipse steht. In Strophe XV, Zeile 2 sollte „moglo“, nicht „moshet“ stehen.
S. 128 Nach dem Wort „dom“ sollte ein Semikolon stehen und das darauffolgende Wort, „i“, sollte gestrichen werden.
1970 veröffentlichte J. Rude in Poème sans Héros einen Text, der viele kleine Fehler und Varianten zu meinem Text und zu dem von Ricci aufweist. Er enthält Zeilen, die aus der Endfassung herausgenommen worden waren, und einige der Zeilen, die durch Ellipsen dargestellt werden, erscheinen in der falschen Reihenfolge. Er behält Achmatowas ironische Notiz über das Nachahmen von Puschkin mit „propuschtschennye strofi“ (S. 112) bei, die sich auf Zeilen bezieht, die jetzt hier abgedruckt sind, mit der Ausnahme derer, die am Anfang ihrer Strophe XIII (Strophe X in meinem Text) stehen, und die sie ohne ersichtlichen Grund ausließ, außer daß sie sie vielleicht nicht mehr besaß. Strophe XII steht hier für nicht-existenten Text. Wenn Achmatowas ironischer Kommentar bleiben soll, müssen die Zeilen, die durch Ellipsen im Text ersetzt wurden, in den Fußnoten gegeben werden.
Amanda Haight, aus Amanda Haight: Anna Achmatowa. Eine Biographie, Arnold & Geitzner, Lucas Press, Oberbaum Verlag, 1994
aaaaaaaaaaIn Erinnerung an Anna Achmatowa
Aus einem alten Bild auf meinem Tisch
treten Sie selbst mir, leicht und einsam, näher.
Allein die Zeit ist müßiggängerisch –
was sind ihr Ahnungen? was sind ihr Seher?
Ich weiß noch, wie Sie schauten und wohin:
Noch durch den Raum hindurch, in etwas Fernes.
Zu hoch zu springen, macht doch keinen Sinn,
und auch der Raum besitzt nicht immer Fairness.
Beizeiten habe ich Ihr Wort im Ohr
und wende schüchtern meinen Blick zur Erde,
denn Nimmermehr bedeutet Nevermore,
und alles sagt Es war und nicht Es werde.
Und seit die Nacht im Hintergrund begann,
unwiederbringlich ihre Zeit zu zählen,
da boten Sie allein mir Hilfe an,
doch diese Hilfe ähnelte Querelen.
Dank dieser Hilfe habe ich die Frist
der Hoffnung und der Buße überwunden
und bin mit Ihrem Bild nicht mehr so trist.
Was sind mir da noch feierliche Stunden?
Jewgenij Rejn
Übersetzung Alexander Nitzberg
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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