EPILOG
1
Ich erfuhr, wie Gesichter verfallen,
Wie unter Augenliedern Angst hervorblickt,
Wie die Keilschrift mit harten Seiten
Leid in Wangen eingräbt,
Wie Locken, aschblond und schwarz,
Plötzlich silbern werden,
Das Lächeln verdorrt auf gefügigen Lippen,
Und in trockenem Lachen zittert der Schreck.
Und ich bete nicht für mich allein,
Sondern für jede, die mit mir dort stand,
In grimmiger Kälte, und in des Juli Brand,
An der roten verblichenen Wand.
2
Wieder nähert sich die Stunde der Erinnerung.
Ich sehe, ich höre, ich fühle euch:
Dich, die sie mühsam zum Fenster führten,
Und jene, die nun die Heimat nicht mehr betritt,
Und jene, die mit ihrem schönen Kopf zitternd
Sagte: „Hierher komme ich, wie nach Haus.“
Ich wollte sie alle mit Namen nennen,
Doch man nahm mir die Liste, wer kennt sie noch.
Für sie webte ich ein breites Tuch
Aus armseligen Wörtern, von ihnen gehört.
An sie erinnere ich mich immer und überall,
Auch in neuem Unglück werde ich sie nicht vergessen,
Und wenn man mir meinen gequälten Mund zudrückt,
Mit dem ein Hundertmillionenvolk schreit,
So mögen auch sie sich meiner erinnern
Am Abend, bevor man ins Grab mich senkt.
Und wenn man einmal in diesem Land
Mir ein Denkmal zu errichten gedenkt,
So willige ich zu dieser Feier ein,
Doch nur unter einer Bedingung: es nicht zu erbauen
Am Meer, wo ich geboren:
Die letzte Verbindung zum Meer ist zerrissen,
Nicht im Zarengarten, am verborgenen Stumpf,
Wo ein untröstlicher Schatten mich sucht,
Sondern hier, wo ich dreihundert Stunden gestanden
Und wo kein Tor sich geöffnet fand,
Dies, weil ich fürchte, ich könnte im Tod
Das Poltern der „schwarzen Maruss’“ je vergessen,
Das Schlagen jener verhaßten Tür,
Und das Heulen der Alten, gleich einem verwundeten Tier.
Und möge von den unbeweglichen und steinernen Lidern
Der tauende Schnee als Träne rinnen
Und in der Ferne eine Gefängnistaube gurren –
Und auf der Newa still die Schiffe ziehn.
In den schrecklichen Jahren unter Jeshov habe ich siebzehn Monate schlangestehend vor den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Einmal erkannte mich jemand irgendwie. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die natürlich niemals meinen Namen gehört hatte, aus der uns allen eigenen Erstarrung und fragte mich leise (dort sprachen alle im Flüsterton):
„Und das können Sie beschreiben?“
Und ich sagte:
„Ja.“
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.
Anna Achmatowa, 1. April 1957 Leningrad, Vorwort
Der Gedichtzyklus Requiem ist eine der großen Dichtungen unseres Jahrhunderts, ein literarisches Zeugnis der Ära stalinistischer Gewaltherrschaft.
Er entstand in den Jahren 1935–1943 und wurde bisher in der Sowjetunion nicht veröffentlicht.
Anna Achmatowa (1889–1966) gilt als die bedeutendste russische Lyrikerin. Die schlichten, strengen, eindringlichen Verse dieses Poems machen die Verzweiflung der Mütter, die Folter, die Schrecken der Transporte, der Nächte der Erschießungen, die Angst zur furchtbaren Realität.
Anna Achmatowa hat all dies selbst erlebt; die Erschießung ihres geschiedenen Mannes N. Gumilev 1921, die Verhaftungen ihres Sohnes in den Jahren 1935, 1938, 1948, das Verschwinden von Freunden, Dichtern, Schriftstellern, deren Tod. So erlebte sie den Tod Ossip Mandelstams, der 1938 in einem Konzentrationslager bei Wladiwostok umkam, sowie das tragische Ende Marina Zwetajewas. Anna Achmatowa stand in den Reihen hunderter einfacher Frauen, die Jahre damit verbrachten, eine karge Nachricht über das Schicksal ihrer Männer, Väter und Söhne zu erlangen.
Wie das Requiem als Totenmesse einen strengen Ritus hat, ist die Sprache hier schnörkellos und eindringlich. Es war das Anliegen der Übersetzerin, diese Schlichtheit der Sprache des Requiems deutlich zu machen und es nicht durch gesuchten Reim und zusätzliche Worte zu entstellen.
Rosemarie Düring, Nachwort
brachte in die russische Lyrik die gewaltige Kompliziertheit und den Reichtum des russischen Romans. Ihre poetischen Formen, scharf und eigenwillig, entwickelte sie im Rückblick auf die psychologische Prosa.
Ossip Mandelstam
ist schmal wie ein Lichtstrahl, der in ein dunkles Zimmer fällt. Sie ist schmaler als ein Messerrücken. In ihr ist Abend. Erwachen, Abschied. Eine Welt, die mit Stichen genommen wurde. Wie ein Fernrohr in den Himmel sticht, Sterne auswählt…
Victor Sklovskij
Nonne und Hure zugleich, deren Verse zwischen Bett und Betstuhl entstanden…
Zdanov
eine schöne und mutige Frau, unsere Zeitgenossin – auf diese Worte hat Anna Andrejewna Achmatowa vollen Anspruch. Anna Achmatowa – das ist eine ganze Epoche der Dichtung unseres Landes. Sie war die Weggefährtin einiger Generationen. Ich bin glücklich, daß ich in einer Zeit mit ihr lebte. Großzügig beschenkte sie die Mitlebenden mit ihrer menschlichen Würde, mit ihrer freien und beflügelten Poesie – von den ersten Büchern der Liebe bis zu den Gedichten aus dem Leningrad, das unter Feuer lag. Durch ein schweres Frauenschicksal trug sie ihre Verbundenheit mit den andern und ihre große Dichterbegabung. Ihre Verse werden lebendig bleiben, solange es Dichtung auf russischer Erde geben wird. Anna Andrejewna Achmatowa wurde geboren und starb, wie es jedem bestimmt ist; aber sie lebte ihr Leben stark, glänzend und voll schöpferischer Unruhe. Sie hinterließ es uns als ein Beispiel von Hochherzigkeit, dieses ihr Leben, das so sehr dem Schicksal ihrer Vorgänger und Zeitgenossen unter unseren großen Dichtern gleicht.
Konstantin Paustowskij
– Dichten als Erinnern, Erinnern als Bewahren bei Anna Achmatowa. –
ПАМЯТИ ДРУГА
И в День Победы, нежный и туманный,
когда заря, как зарево, красна,
вдовою у могилы безымянной
хлопочем запоздалая весна.
Она с колен подняться не спешит,
дохнем на почку и траву погладит,
и бабочку с плеча на землю ссадит,
и переый одуванчик распушит.
Eine Gedichtbetrachtung soll am Anfang stehen.
Dazu eine Interlinear-Übersetzung:
DEM ANDENKEN DES (EINES) FREUNDES
Auch am Tag des Sieges, dem zarten und nebligen,
wenn die Morgenröte wie ein Brandschein rot ist,
als Witwe am namenlosen Grab
ist beschäftigt der verspätete Frühling.
Er (sie) beeilt sich nicht, sich von den Knien zu erheben,
haucht auf eine Knospe und streicht (streichelt) das Gras
und setzt den Schmetterling von der Schulter auf die Erde
und pelzt den ersten Löwenzahn auf.
Der Text ist unübersetzbar. Etwa zwanzig verschiedene junge Lyriker haben trotz meiner Warnung ihre Versuche gemacht, das Gedicht nachzudichten, und keinem ist es gelungen: Mit einer Ausnahme: Rosa Damaschke übersetzte es – ins Sorbische. Im Deutschen gelingt es nicht, das maskuline Wort Frühling mit einer Witwe zu assoziieren. Der Lenz, der als junger starker Prinz den schwach gewordenen alten König Winter besiegt und im Namen all der sprießenden Blumen an dessen Stelle tritt – so kann man im Deutschen den Kindern die Abfolge der Jahreszeiten verdeutlichen. Wieviel Tragik erstünde im Italienischen, wenn man sich Botticellis Primavera im leuchtenden Blumenkleid (die Nymphe Chloris, die sich durch die Liebe zur Göttin Flora wandelt) als abgearbeitete, kummervolle alte Frau vorstellte, der der Liebste im Krieg umgekommen ist.
Man hat die vielen Toten in Leningrad während der Belagerung in Massengräber legen müssen auf dem Piskarjow-Friedhof, in namenlose Gräber, die nur eine Jahreszahl tragen, denn für Friedhöfe mit Namen und Grabsteinen gab es weder Zeit noch Platz. Ossip Mandelstam hatte 1937 seine Verse über den unbekannten Soldaten geschrieben, mit Verweisen auf die Völkerschlachten im 19. und 20. Jahrhundert, in denen das Individuum nichts zählte. Nach Mandelstam und Achmatowa wird sich Robert Roshdestwenski in seinem Requiem (1961) seine Gedanken machen über den namenlosen Toten des zweiten Weltkriegs, der doch in Wahrheit einen Namen, ein Schicksal, ein Zuhause hatte.
Neben dem Widerspruch in der Metapher Frühling – Witwe gibt es in dem Gedicht einen zweiten, der selbst in dem unbeholfenen Interlinear-Deutsch spürbar wird: einen syntaktischen. Die beiden Vierzeiler sind als Gegensatz gebaut. Der erste Satz ist in jenem klassizistischen Russisch gehalten, in dem der junge Puschkin geschrieben hat. Eine Zeitbestimmung am Anfang, die durch die in der russischen gehobenen Publizistik üblichen beiden Großbuchstaben an Gewicht bekommt, wird durch zwei Adjektive erweitert, die eigentlich nichts klarer machen. Der anschließende temporale Nebensatz erhält seine Bedeutung erst durch den eingeschobenen Vergleich, der jüngeren Menschen heutzutage nicht mehr so schrecklich scheint: während des Krieges erfuhr man am Morgen durch einen Blick an den Himmel, wo in der Nacht die Bomben eingeschlagen hatten, und noch Jahre später konnte ein Morgenrot an die Schrecknisse erinnern. Die Dichterin wählt zwei Worte mit gleicher Wurzel, das schöne Naturbild wandelt sich zum Entsetzen. Der neuerliche Vergleich in der dritten Zeile, diesmal im Instrumentalis mit der archaisierenden oju-Endung und mit nachgestelltem Adjektiv (das verweist gleichfalls auf die gehobene Schriftsprache), zögert den Hauptsatz mit Prädikat und Subjekt (noch eine Inversion!), zu dem wir erst in der letzten Zeile kommen, weiter hinaus. Die langen Adjektive (drei, vier, gar fünf Silben) sind phonetisch so eingerichtet, daß sie den Reim in der ersten/dritten Zeile akustisch verlängern, getragener klingen lassen.
Ganz anders der zweite Teil: fünf kurze Hauptsätze werden so gleichmäßig mit der einfachsten aller Konjunktionen aneinandergefädelt, daß ein penibler Stilistiklehrer seine Bedenken haben wird. Knospe, Gras, Schmetterling, Erde, Löwenzahn ergeben das Frühlingsbild. Auf Löwenzahn käme ein deutscher Dichter in dem Zusammenhang nicht: die Pflanze gilt als das hartnäckigste Unkraut im Garten, mit unerwünscht hoher Vermehrungsquote. Schneeglöckchen, Krokusse, Narzissen oder gar Hyazinthen – das ginge eher. Doch die Dichterin ist authentisch: Die Stadt Petersburg ist dieser Jahreszeit nicht gewachsen, sie entfaltet ihre Schönheit im Winter, mit dem Blau des Himmels, dem Weiß des Schnees und dem Gold der Spitzen auf der Peter-Pauls-Festung und der Admiralität, oder sie erstrahlt im unwirklichen Licht der weißen Nächte. Es ist nicht ratsam, im Frühling dorthin zu fahren: die Temperaturen bleiben kurz über dem Nullpunkt hängen, das zweifellos hübsche Bild der stromab gleitenden Eisschollen mit den Möven darauf erinnert noch im Juni an den Winter, der Schlammboden, auf dem die Stadt nun mal steht, bedroht die Schuhe, sobald man auf einem Parkweg den Asphalt verläßt. Das Grün läßt lange auf sich warten, und es kommt dann spärlich.
Anna Achmatowa hat fast ihr ganzes Leben in dieser Stadt gelebt, mit allen Schrecken der „Säuberungen“ und der nachfolgenden Blockade, und da fließen ihr keine Tourismus-Bilder in die Feder. Der Frühling des Jahres 1945 war im doppelten Sinn ein verspäteter, die Kargheit der Landschaft ist Metapher für das Leben. Und die Kargheit wird poetisiert: im russischen Namen der Löwenzahnblume steckt das Wort „pusten“, und das letzte Wort des Gedichts ist ein Neologismus, den ich nur in diesem Text gefunden habe und den es auch nicht im Wörterbuch gibt: „пух“, aus dem „пасcпушит“ entstanden ist, bedeutet „Pelz“ oder „Flaum“, die bäurische Blume bringt diese Schönheit gleich zweimal hervor, die kindlichen und-und-Aufzählungen des Satzbaus enden mit der Kinderfreude an den kleinen Fallschirmchen.
Das Gedicht führt von den Trompetenstößen der hohen Publizistik hin zu den einfachsten Lebensvorgängen. Daß die wieder möglich werden, ist der größte Sieg, der an diesem 9. Mai 1945 zu feiern ist. Und die Feier schließt die Trauer ein. Das war damals nicht die herrschende Stimmung, der Radau des Films Der Fall von Berlin endete in Trompetenstößen, die den Generalissimus in eierschalfarbener Parade-Uniform auf dem Potsdamer Flugplatz begrüßten, mit Morgenrot dahinter. Und doch ist die Achmatowa-Dichtung nicht das einzige Werk jener Zeit, in dem die leise Elegie der Trauer alles andere übertönt. Sergej Prokofjew schrieb über seine 6. Sinfonie (1946):
Nun freuen wir uns über einen großen Sieg, doch in jedem von uns sind geheime Wunden: dem einen kamen nahe Angehörige um, der andere verlor die Gesundheit… das darf man nicht vergessen.1
Der Komponist hatte es schwer mit diesem bemerkenswerten Werk. Andrej Platonows großartige Erzählung Heimkehr (1946) berichtete von den Verlusten, auch von den Schwierigkeiten in einer Familie, die nach den Kriegsschrecken zum normalen Leben zurückkehrt, und der Star-Kritiker jener Zeit betitelte seine Rezension in der Literaturnaja gaseta „Eine verleumderische Erzählung“.2 Leonid Leonow schrieb Die goldene Kutsche, das bedeutendste russische Drama der Nachkriegszeit: das Mädchen Maria, das „zerschossene Glöckchen“, hat die Wahl zwischen einem Drückeberger und einem Krüppel, und der Oberst wird aus Ehrfurcht vor den vielen Toten der Stadt, unter denen er Frau und Tochter weiß, seine Orden in der Tasche tragen. Die Uraufführung des Stücke wurde verboten und fand erst elf Jahre später statt.
Für Anna Achmatowa ist das Trauern um liebe Tote der zentrale Punkt ihrer Lebenshaltung und ihrer Dichtung. Hier liegt das spezifische „Achmatowa-Element“ in der russischen Dichtung, sie sieht sich selbst als „Beweinerin umgekommener Tage“.3 Auf den literarisch-ästhetischen Urgrund für diese Ausrichtung verweist Renate Lachmann in dem Buch Gedächtnis und Literatur (1990), wo sie Achmatowa und Mandelstam als „Gedächtnisschreiber“ behandelt. Diesen Dichtern gehe es nicht, wird ausgeführt, um den Nachvollzug des von früheren Meistern Vorgegebenen, sondern um eine späte Antwort, und sie ihrerseits versenden ihre Botschaft an die geheimen Adressaten der Zukunft per Flaschenpost.4 „Wie im Vergangnen das Künftige reift, so modert im Künftigen noch das Vergangne“ (deutsch von Heinz Czechowski) – so formuliert Achmatowa im Poem ohne Held ihre Dichtungs- und Lebenserfahrung in einem Satz, der durch den Reim im Russischen die Geschlossenheit eines Aphorismus erhält.
Das war von allem Anfang an die Kunstabsicht der Akmeisten gewesen. Nikolai Gumiljow hob schon in seinem von Selbstbewußtsein getragenen Manifest Das Erbe des Symbolismus und der Akmeismus (1913) das als entscheidend hervor: „Die teuren Gräber verbinden die Menschen mehr als alles“,5 und noch ein Jahr früher hatte Michail Kusmin im Vorwort zum Erstling von Achmatowa, dem Gedichtband Abend, das gleich an den Anfang gesetzt: die Erinnerung an konkrete Splitter unseres Lebens, an ein Paar längst vergessene Augen, an ein fremdes blaues Kleid, an eine Wolke am Frühlingshimmel zeichnen die Gedichte aus.6 Auch die starken Anklänge an Puschkin hörte man noch aus ihren ersten gedruckten Gedichten heraus; später wird vor allem Dante hinzutreten. Zu den „Geheimnissen des Handwerks“ zählt Achmatowa (in dem so auch überschriebenen Gedichtzyklus) die Vermutung, die ganze Dichtkunst sei ein einziges großes Zitat. Nicht eine „neue“ Wirklichkeit läßt neue Dichtung entstehen, sondern das Nachsinnen über Früheres unter neuen Verhältnissen.
Wichtig ist, daß Renate Lachmann diese Traditionslinien nicht aufs Wörtliche, aufs Dichterische reduziert, auf die kritische Übernahme und Weiterführung von Metaphern oder prosodischen Entdeckungen. Vielmehr geht es um die „Partizipation an der Kulturkette“, um das Bewußtsein, den alten Meistern in der Lebenshaltung und gar der Erlebniswelt nahezustehen. Zarskoje Selo: die Dichterin steht vor Puschkins Schule, sie kann sich an Bäume anlehnen, unter denen Puschkin ein Bändchen Parny gelesen hat. Die Verbannung Mandelstams nach Woronesh wird von ihm und von Achmatowa vor den Hintergrund der Verbannung Dantes aus Florenz gehalten, und der Leser selbst wird die „Kulturkette“ mit den Namen anderer Verbannter verlängern.7
Freilich scheint mir, daß selbst solche Erweiterung der Schreibintention auf Kulturgeschichtliches noch zu eng ist. Anna Achmatowa ist stärker als alle anderen Großen der Weltliteratur die Dichterin des Andenkens an konkrete Personen. Will sie ihnen auf diese Weise ein Weiterleben schenken? In vielen Fällen sicher, doch hat Jossip Brodski in seinen Achmatowa-Notizen richtig darauf hingewiesen, daß die meisten von ihnen das vor ihrem Tod selbst getan haben, denn es handelt sich vorzugsweise um die bedeutenden russischen Dichter unseres Jahrhunderts.8 Auch in Hausgenossen will sie sie nicht verwandeln, in ein privates Pantheon. Nicht einmal Stilproben sind es in vordergründiger Hinsicht, Versuche, mal für ein Gedicht lang in die Metaphern und den Satzbau des Kollegen zu schlüpfen, um zu ermitteln, was diese andere Weltsicht an Entdeckungen bereithält. Vielmehr setzt sie das fort, was sie auch sonst tut: die ganze Nacht mit ihrem „nicht bezähmbaren Gewissen“ zu verhandeln (so steht es in einem Gedicht von 1935), denn sie spricht ausnahmslos von Menschen mit einem schweren Schicksal. Und immer spielt auch die schwermütige Frage mit, warum es gerade ihr beschieden war, so lange zu leben und als einzige im Leben zurückzubleiben. „Wie konnte es nur geschehen, daß ich allein von ihnen allen lebe?“, fragt sie im Poem ohne Held. Die Frage ergibt sich nicht plausibel aus ihren Lebensdaten (sie starb mit 76 Jahren), eigentlich schwingt das Motiv schon ein Vierteljahrhundert früher in den Texten mit. Zu denken ist vor allem an den sehr frühzeitigen rauschenden Erfolg in den Jahren zwischen 1909 und 1914, dessen Zeugen schon bald nicht mehr lebten. Sie war im Revolutionsjahr erst achtundzwanzig Jahre alt und hatte doch schon einen bedeutenden dichterischen Weg hinter sich. Ziemlich spät erst stellte Achmatowa aus ihren Gedichten einen Totenkranz zusammen, doch seine Teile entstanden über zwanzig Jahre hinweg. Und schon in den dreißiger Jahren wurden Verse geschrieben, die in den Kranz hätten aufgenommen werden können.
Sechs Gedichte und eine längere Prosa-Erinnerung widmet sie Alexander Blok, ihrem Lehrer und Vorbild, den sie gleichsam im Zwiegespräch mit ihm selbst zum „tragischen Tenor der Epoche“ macht.9 Der erste Text im Totenkranz ist Innokenti Annenski gewidmet, der in doppelter Hinsicht (in der Schule und in der Dichtung) ihr Lehrer war, sie sieht ihn, der seinen Ruhm nicht erleben konnte (er starb 1909), als Vorauskünder, als Omen. Gleich nach Bulgakows Tod hebt sie dessen „Atemnot in dumpfen Wänden“ hervor, vermerkt aber auch die „hellen Pläne“ und den Willen des Schriftstellers, der wie kein anderer zu scherzen verstand. Ossip Mandelstam, der sie in dichterischer Freundschaft am längsten begleitete, hat sie kurz vor dessen endgültiger Verhaftung in Woronesh besucht und aus dem Besuch ein Gedicht gemacht, in dem die Angst und die Muse bei der Nachtwache am Bett des Dichters einander ablösen, „und eine Nacht geht hin, die kein Morgendämmern kennt“. Ein zweites Gedicht auf Mandelstam entstand 1957, für den Totenkranz. Prosaerinnerungen an ihn sind unter dem Titel Tagebuchblätter veröffentlicht, dort kommen auch viele der befreundeten Dichter vor: Senkewitsch, Georgi Iwanow, Kusmina-Karawajewa und andere.10
An Boris Pasternak hatte sie sich schon 1936 mit dem Gedicht „Der Dichter“ gewendet, im Totenkranz finden sich dann noch drei Achtzeiler, zwei davon aus den Tagen des Begräbnisses im Juni 1960. Ganz persönliche Erinnerungen und ganz persönlichen Schmerz enthalten die Verse auf Boris Pilnjak, die bald nach seiner Verhaftung entstanden waren, in der Zeit seines Todes (1938), von dem damals niemand etwas erfuhr. Tiefe Tragik spricht aus dem Gedicht auf Sostschenko, den Leidensgenossen nach der berüchtigten Shdanow-Rede vom August 1946. Sie sollten beide durch den Entzug der Lebensmittelkarten und aller Verdienstmöglichkeiten zum Tode gebracht werden. Eine späte Antwort an Marina Zwetajewa wird mit „16.3.1940“ datiert, das Datum bezieht sich auf die Zeit zwischen Rückkehr und Freitod der anderen, und sie wandert mit ihr und mit vielen anderen schweigenden Toten durch die nächtliche Hauptstadt. Ein Gedicht Majakowski im Jahre 1913 ist fast das einzige aus diesem großen Kreis von Todesliedern, das zu der Entstehungszeit auch (in einem Band von Erinnerungen aus Anlaß des zehnten Todestags) im Druck erscheinen konnte,11 es verweist in seiner Welthaltung auf das Poem ohne Held, das damals zu entstehen begann. Ein (Prosa-)Wort auf Losinski erinnert zusammen mit einem lyrischen Text an einen der Begründer der „Dichterwerkstatt“, der Vereinigung der Akmeisten. Er hat als Schwerkranker in den Jahren 1939 bis 1945 Dantes Göttliche Komödie nachgedichtet.
Das sind aber noch längst nicht alle Alters-, Berufs- und Lebensgefährten, deren Andenken sie uns empfiehlt. Sie notiert häufig über ihre Gedichte Widmungen an Bekanntere und auch Unbekanntere aus ihrem Kreis. Mitunter kennt man die Namen: Wladimir Narbut (aus dem Akmeistenkreis, er kam 1938 im Lager um), Jelena Bulgakowa (die Ehefrau des Schriftstellers und Bewahrerin seiner Manuskripte), W.A. Komarowski (ein „Frühakmeist“ wie Annenski). In anderen Fällen müßte man suchen: Natalia Rykowa, W.A. Stschegolewa. Oder die Anfangsbuchstaben reichen der Autorin aus als Erinnerungsbrücke. Leicht entschlüsselt man „D.D.Sch.“, das vor ein Gedicht mit dem Titel „Musik“ gesetzt wird. Mit „An T. W.“ oder „A. K.“ ist das schon schwieriger, und man wird mit der Zeit einen Kommentar brauchen, und auch der wird wieder dazu dienen, daß Schicksale und Personen vor dem Vergessen bewahrt werden.
Anna Achmatowa sieht sich von ihrer Generation beauftragt, sich mit ihrer Dichtung an alles zu erinnern, alles zu bewahren. So ist unser eingangs besprochener Text eine Verallgemeinerung, und er ist in ganz besonderer Weise ein charakteristischer Text dieser Autorin. In den Totenkranz fügt sie eine andere Art von Verallgemeinerung ein, einen Text De profundis. Die da „aus den Tiefen“ rufen, sind wiederum die Angehörigen ihrer Generation. Sie hatten sich aufgemacht, den „Gipfel eines großen Frühlings“ zu erreichen, nur ein Atemzug fehlte noch bis zum „ungestümen Blühen“, doch die Generation hatte zwei Kriege zu bestehen, und nicht nur das, fügen wir hinzu. Allein der Wind heult in der Ferne, er singt das Andenken an die Toten.
*
Eine Verallgemeinerung in größtem Stil, mit besonderer Intensität vorgetragen, ist das Poem ohne Held geworden, das Fritz Mierau in den Mittelpunkt seiner wunderschönen und hochwichtigen Achmatowa-Ausgabe (zuerst Reclam Leipzig 1979, später Steidl in Göttingen) gestellt hat, in der Nachdichtung von Heinz Czechowski, mit einem klugen Mierau-Aufsatz „Gedächtnisse“.
Persönlichstes Erleben wird von der Dichterin mit weitem historischen Blick betrachtet. Das beginnt mit der eigenen Wohnung: 33 Jahre lang, mit Unterbrechungen, wohnte sie zwischen 1919 und 1952 im Fontanny dom („das Haus bei den Springbrunnen“ oder auch „das Haus am Fluß Fontanka“), das sich der Feldherr Scheremetjew für seine zukünftige Ehe mit seiner Geliebten Parascha gebaut hatte. Die junge Frau starb im Kindbett. Das frühe achtzehnte Jahrhundert ist im Bild, die Epoche Peters I., der seinem Feldmarschall das Grundstück im Zentrum der neuen Stadt für seine militärischen Verdienste verliehen hatte. Im Wappen des Hauses steht der Satz „Deus conservat omnia“, und Achmatowa setzt ihn als Motto vor das Vorwort ihres Poems. Im „Weißen Saal“ des Hauses, einem Saal mit großen Spiegeln (hinter denen sich bei einem Fest der schwache Zar Pawel versteckt haben soll, da er die Gespräche belauschen wollte), hat wohl 1913 ein Silvesterball der Petersburger Künstler stattgefunden. Die Dichterin hat die Möglichkeit, „aus dem Jahre vierzig, wie von einem Turm herab, auf alles zu blicken“; in den Silvestertagen 1940 sind wesentliche Stücke des Poems entstanden. Sie wählt einen Satz Michail Losinskis, der sich offenbar auf 1913 bezieht, als Mottto für das dritte Kapitel:
Das war das letzte Jahr.
Gilt das für 1940 auch? Ganz am Anfang schwächt die Verfasserin das ab: Sie habe im Herbst des Jahres einfach mal in ihrem Archiv (das während der Blockade später vernichtet wurde) gekramt und alte Briefe und unveröffentlichte Gedichte gefunden, die die Erinnerungen anregten. In der gleichen Zeit ist aber der Gedichtzyklus „Im Jahre vierzig“ entstanden mit dem großen Trauergedicht am Anfang: „Wird eine Epoche beerdigt, tönt kein Psalm übers Grab“ (deutsch von Sarah Kirsch), und die Epoche ist hier wie eine Mutter, die der Sohn nicht erkennen will, von der der Enkel sich abwendet. Am Ende wird die Stille beschworen, die über dem zugrunde gegangenen Paris liegt. Anna Achmatowa hat sich immer ein wenig als Kassandra gefühlt, und sie hat gewußt, daß Warnungen nichts helfen.
Sie hatten auch damals, 1913, nicht geholfen. Alexander Blok hatte gleich nach der Niederschlagung der ersten Revolution in Reden und Gedichten (Die Schritte des Komturs, 1910–1912) gewarnt, die entstandene Friedhofsstille werde „in noch fernes, aber immer lauter werdendes Grollen“ übergehen, man könne schon jetzt das „allmähliche Erwachen eines Riesen“ 12 empfinden. In einem Brief an Anna Achmatowa schreibt er Forderungen auf, die er vor allem an sich selbst stellte: es müsse alles noch „härter, unansehnlicher, schmerzhafter sein“.13 Und schon zeitig wurde der Freund Andrej Bely darauf hingewiesen, daß die Begrenzung auf die Welt der Kunst, die Abwesenheit äußerer Wirklichkeit eine „Verführung“ darstelle, der „zu entgehen“ sei.14
Der Komtur ist im Poem ohne Held allgegenwärtig. Schon mit dem allerersten Epigraph zitiert die Dichterin aus Mozarts italienischem Don-Giovanni-Text:
Dir wird das Lachen vergehen, noch bevor der Morgen graut.
Die Bedrohung steht über allem. Byrons Don Juan klingt im Titel an: „es fehlt ein Held“ war Byrons Thema. Eine der Masken erscheint zum Silvesterball als Don Juan – man könnte meinen, der Gast wisse nicht, was er damit tut. Und ausführlich wird auf Mejercholds große Inszenierung des Don Juan eingegangen. Eine der drei wichtigsten Personen des Poems, eine große Gestalt „ohne Gesicht und Name“, wird in den Interpretationen des Poems gern mit Alexander Blok benannt. Ich möchte eher meinen, hier ist Blok in der Gestalt seines eigenen Komturs gemeint, die hehre Reinheit des Gewissens im Verbund mit Warnung und Bedrohung – die personifizierte historische Verantwortung.
Die Künstler aber spielen – was sollten sie auch anderes tun? Wieder beginnt die Dichterin bei Persönlichstem. Alte Fotos zeigen ihr eine berühmte Schauspielerin der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, Olga Glebowa-Sudejkina, in großen Rollen. Vor allem die der Colombina (aus Bloks Schaubühne, die Mejerchold zweimal, 1906 und 1914, auf die Bühne gebracht hatte) paßt wegen des Puppenspielhaften hierher. Pierrot ist ihr unglücklicher Liebhaber, er erschießt sich aus Eifersucht des Harlekins wegen, der auch nicht erfolgreicher ist, auf ihrer Schwelle. Blok kam es in seinem Jahrmarktsstück auf die „possenhafte Ungeschicklichkeit“ der handelnden Personen an. Wie die Sage geht, hatte sich der junge Dichter Wsewolod Knjasew aus Liebe zu der Schauspielerin erschossen, und Achmatowa, die zwischenzeitlich auch mal mit ihr in einem Haus am Marsfeld (in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fontanny dom) gewohnt hatte, hat die Tragödie aus nächster Nähe beobachtet. Das große Talent des Dichters stellte sich erst heraus, als man 1914 seine Gedicht postum veröffentlichte.
Es geht hier aber nicht um einzelne Schicksale und um individuelle Verantwortung. Eine in sich geschlossene Welt des Theaters war entstanden, der flüchtigsten und unwirklichsten aller Künste, die Welt einer offensichtlich „gemachten“ Kunst, die noch dazu ins Marionettenhafte und in die Maskerade übergeht, und wenn Mejerchold wiederholt mit seinem Spitznamen Dapertutto genannt wird, dann ist er der Begabteste in dieser improvisierten Realität, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Masken sind keine Menschen, und die großen Spiegel (im „Weißen Saal“) zeigen Schemen, die auch unvermittelt hinter den Spiegeln hervortreten können. Daß E.T.A. Hoffmanns Name fällt, hat seine Richtigkeit. Die Dichterin nennt den ersten Teil ihres Poems eine „Petersburger Erzählung“; das verweist auf die Hoffmann-Klänge in den „Petersburger Erzählungen“ Puschkins, Gogols, Dostojewskis.
Hinzu treten die Beschreibungen der Nachtsitzungen in dem berühmten Künstlercafé Streunender Hund, über die die Autorin kein böses Wort sagt – sie hatte vermutlich auch hier viele ihrer Erfolge und Verehrer – und doch wird das Vorgefühl einer Katastrophe und das Ausgeliefertsein der hilflosen Künstler in solchem Milieu noch verstärkt. „Ich sandte dir eine schwarze Rose im Kelch mit himmelgoldenem Ai“(-Champagner) zitiert Achmatowa, vermutlich aus Knjasew. Ein schöner Vers über eine Geste „possenhafter Ungeschicklichkeit“. Nicht erwähnt wird, daß Majakowski in eben diesem Streunenden Hund einen seiner wichtigsten Auftritte hatte, als er ein Antikriegsgedicht las und sich auch nicht durch die anwesende Staatsgewalt von der Bühne vertreiben ließ.
Das Schicksal einer Generation wird beschworen, „die höllische Harlekinade des Jahres dreizehn“. Das Andenken an ihr Leben, ihre Leistungen, ihre Irrungen soll bewahrt werden, da alles bewahrt werden muß. Und wieder und wieder wird die Generation in die großen Geschichtsabläufe gestellt, etwa mit der Puschkinzeile ganz am Anfang:
Manche sind nicht mehr, andere ganz fern.
So hatte Puschkin über die hingerichteten oder verbannten Dekabristen geschrieben. Andererseits widmet Achmatowa ihr Poem „dem Andenken seiner ersten Zuhörer, meinen Freunden und Mitbürgern, die während der Belagerung in Leningrad den Tod gefunden haben“. So hieß es doch:
Wie im Vergangnen das Künftige reift, so modert im Künftigen noch das Vergangne.
*
Anna Achmatowas Requiem ist eins der bedeutendsten Werke der russischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, es überschreitet alle Maßstäbe, die sie selbst mit ihrer Erinnerungs- und Bewahrungsdichtung gesetzt hatte. Und es ist nicht vermessen zu behaupten, daß man in einhundert Jahren die Atmosphäre der Stalinzeit am authentischsten aus diesem Werk erfahren wird. Dabei ist es thematisch nicht in erster Linie den Opfern selbst gewidmet, den Hunderttausenden unschuldigen Erschossenen und Erschlagenen. Das hatten Alexander Solshenizyn mit dem Tag des Iwan Denissowitsch und Warlam Schalamow mit den Erzählungen aus Kolyma getan. Achmatowa leistet anderes: „Requiem aeternam dona eis, Domine!“, der liturgische Text mit der Bitte um ewige Ruhe, aus dem sich das Akkusativ-Objekt zur selbständigen Genre-Bezeichnung entwickelt hat, meint hier die zahllosen Ehefrauen und Mütter, denen über Jahre hinweg das Los zuteil war, in einer endlosen Schlange mit anderen Frauen vor den Gefängnissen zu stehen, um ein Päckchen zu übergeben oder wenigstens eine Nachricht zu erhalten.
Sie selbst hat in der Vorkriegszeit siebzehn Monate in solcher Gemeinschaft mit anderen Frauen zugebracht. Ihr Mann in dritter Ehe, der Kunsthistoriker Punin, war 1938 verhaftet worden und bald danach im Gefängnis gestorben, der Sohn Lew Gumiljow war wohl noch früher ins Gefängnis gekommen und dann in ein Lager abtransportiert worden, er wurde nach Shdanows Rede noch einmal verhaftet, für lange Jahre. Wir werden dabei nicht vergessen, daß der Lyriker Nikolai Gumiljow, ihr erster Mann (die Ehe dauerte von 1910 bis 1918) und Vater ihres Sohns im Jahre 1921 unter auch heute noch unklaren Umständen wegen konterrevolutionärer Umtriebe erschossen wurde. Den Sohn trafen die Verhaftungen, muß man vermuten, „ersatzweise“ für die Mutter. Olga Iwinskaja, die Geliebte Pasternaks, hatte man 1948 für ein Jahr ins Gefängnis geholt, um ihn zu treffen. Hatte der Diktator Angst vor zu viel internationalem Aufsehen? Oder war eine Verehrung für die beiden großen Dichter im grausamen Spiel?
Wiederum verbindet sich in diesem Werk Persönlichstes mit einem allgemeinen Schicksal, das diesmal nicht mehr das Schicksal ihrer eigenen Künstlergeneration ist; jetzt schreit aus ihrem gequälten Mund das Einhundert-Millionen-Volk, wie sie selbst hervorhebt. Mehr noch: ein kurzes Prosastück am Beginn des Requiems enthält die Frage einer Frau neben ihr, die offenbar fern von aller Dichtung lebte, ob sie „das hier“ auch beschreiben könne. Die Antwort „Ich kann“ klingt im russischen „Mory“ wie ein Schwur. Ein „sozialer Auftrag“ wird der Dichterin erteilt. Jetzt erfüllt sich das, was in dem Gedicht „Die Muse“ von 1924 wie eine Selbstprophezeiung gesetzt war: In finsterer Nacht tritt die Muse ins Zimmer, und weder Ruhm noch Freiheit noch Jugend gelten in dem Moment. Die Dichterin fragt, ob die Muse die gleiche sei, die Dante die Seiten der Hölle diktiert habe. Sie ist es.
Zwei lyrische Stücke am Anfang des Requiems (eine Widmung und eine Einführung) gehen auf dieses allgemeine Schreckenserlebnis des Volkes ein; zwei Epilogstücke am Ende führen in das Allgemeine zurück, dazwischen liegen zehn kurze Gedichte, Schmerzschreie ganz individueller Art. Doch schon in der Widmung trifft den Leser das Entsetzen. Mein erster Leningrad-Aufenthalt lag im Jahr 1952 – da gab es das alles noch, die festen Gefängnistore mit den „Katorga-Pritschen“ dahinter (die Metapher steht als Puschkin-Zitat hier in Anführungszeichen, und unsereins hätte die Quelle, die Dekabristenverse Puschkins, benennen können), und beim Morgennebel über der Newa dachten wir nicht an die Frauen, die „weniger atmeten als die Toten“, und das widerliche Kreischen der Schlüssel hörten wir nicht, und die Menschenschlangen hatte keiner von uns gesehen. Mich trifft die bissige Ironie, mit der Achmatowa die vorgezeigte Zeitatmosphäre verspottet, wo für den einen ein „frischer Wind weht“ – das könnte ein Dunajewski-Lied sein mit Versen von Dolmatowski, und so etwas haben wir in jener Zeit gesungen, in der der Dichterin und ihren Leidensgefährtinnen Leningrad als ein „unnützes Anhängsel an seinen eigenen Gefängnissen“ erscheinen mußte.
Nicht alle vierzehn Stücke des Poems sind datiert; vermutlich sind die allgemeineren Teile am Anfang und am Ende als letzte im Jahre 1940 entstanden, zeitgleich mit dem Poem ohne Held. Die zehn zentralen Texte sind zwischen 1935 und 1940 geschrieben, möglicherweise in der Reihenfolge, in der sie gedruckt werden. Die Schlußredaktion des ganzen Werks ist wohl 1961 gemacht worden. Die Verse deuten das Schicksal eines jüngeren Mannes an, von der Verhaftung über die Ungewißheit hin zu dem „steinernen Wort“ des Urteils und der Kreuzigung am Ende, wo wir den Weg des einzelnen Mannes verlassen haben und zu Bibel-Bildern aufgestiegen sind. Die religiösen Motive sind so weit gefaßt, daß sie Russisch-Orthodoxes ebenso einschließen wie andere christliche Vorstellungen, und selbst dem Schmerz von Menschen, die nicht an das Christentum gebunden sind, geben sie Ausdruck. Die Geschichte des Sohnes wird vom Blickpunkt der Mutter aus gesehen, ihr Schmerz steht im Mittelpunkt. Ganz sparsam wird eigene Biographie der Dichterin eingefügt, ihr Dasein als „Spötterin“ im Kreis der Akmeisten-Freunde, als „fröhliche Sünderin aus Zarskoje Selo“. Im Epilog wird noch an die Kindheit am Schwarzen Meer erinnert und wieder an die Jugendzeit in Puschkins Nähe.
Ansonsten liegt eine Pieta-Dichtung vor uns, Michelangelos Figur in schmerzerfüllten Versen. Alexander Blok hatte in seinem Gedicht „Der Geier“ (1916) die Bedrohung betont, die über der Mutter-Sohn-Szene liegt; er hatte den Krieg gemeint und die Mutterfigur dadurch zu einem Bild Rußlands erhoben. Ihr wird die Aufgabe zuteil, den Sohn zu schützen und ihn großzuziehen. In der alljährlichen Weihnachtsfreude wird gewöhnlich die Bedrohung vergessen, die über dem Neugeborenen und seinen Eltern in der Bibel liegt: der Kindermord von Bethlehem, die Flucht der kleinen Familie nach Ägypten. Ähnliche metaphorische Größe hat Gorkis Nilowna in dem Roman Die Mutter, auch dieses Werk stützt sich auf die uralten Menschheitslegenden. Anna Achmatowa verallgemeinert ihr Erleben auf die russische Geschichte: die Strelitzen-Frauen mußten nach dem Mordbefehl Peters I. ihre Toten beweinen, und das Folklorebild vom Stillen Don verweist auf die Geschichte des Kosakenvolkes. Doch dann ist es gleich wieder der individuellste Schmerz der Mutter, der im dritten Gedicht im Zerbrechen der Verse auch die Stimme brechen läßt; die Frau wirft sich dem Henker vor die Füße, sie erbittet den Tod, und sie spürt, wie der Irrsinn seine Flügel über ihre Seele legt. Dreimal künden helle Sterne das noch immer ansteigende Grauen, schon bald ist von der Kreuzigung die Rede.
Doch „der blaue Glanz der geliebten Augen verdeckt den letzten Schrecken“, und es bleibt der Mutter in ihrem Schmerz, es bleibt der Dichterin die Aufgabe, sich zu erinnern an das, was geschehen ist: an die Kühle der Ikone auf den Lippen des Sohnes bei der Verhaftung, an den Todesschweiß auf seiner Stirn, an die „erregten Schatten der Linden“ vor dem Haus des Grauens. Besonders intensiv erinnert sie sich an Klänge: an das Gurren der Gefängnistaube, die schweren Schritte der Soldaten, das Signal der Lokomotive beim Abtransport, das Poltern der schwarzen Marusjas (der Gefängnisautos), an den Schrei einer alten Frau. Das unablässige Knallen einer hölzernen Eingangstür kann zum Albtraum werden: Als automatische Türschließer verwendete man damals straffe Metallspiralen, und nicht besser wurde das, wenn man zum Abmildern des Geräuschs einen Lederflecken dazwischennagelte oder ein straffes Lumpenbündel. Die Dichterin hatte sich in der Verzweiflung die Aufgabe gestellt, ihr Gedächtnis „umzubringen“ und ihre Seele zu versteinern – das konnte nicht gelingen. Im Gegenteil: es ist nicht möglich zu vergessen, wie Gesichter zerfallen können, wie ein Lächeln auf gehorsamen Lippen welkt und wie in einem trockenen Auflachen die Angst zittert. Und so kommt sie denn am Schluß ihres großen Werks zum Thema des Denkmals, das auch Puschkins Thema gewesen war in jenem großen Gedicht, einem seiner letzten. Sie kann sich ein solches Denkmal, das die Nachwelt zur Erinnerung, zur Bewahrung brauchen wird, nur an jenem Platz vor dem Gefängnis vorstellen, wo sie dreihundert Stunden lang mit all den vielen unbekannten Frauen gestanden hat. Das Denkmal der Dichterin kann nur das Denkmal der vielen Namenlosen sein.
So ist das intensive emotionale Erleben zum Monumentalen erhoben worden, und doch kann der Text nicht im monumentalen Ton gesprochen werden. Die Diktion der Verse ist still, verhalten, selbst noch im schärfsten Schmerz. Es fehlt jeder Versuch, Schuldige auszumachen und anzuprangern, Ursachen hervorzuheben. Die Getragenheit, die ihre Verse, Verse des Erinnerns, immer schon auszeichnete, hat sich hier zum Flüstern gesteigert: die Frauen flüstern bei ihren Gesprächen vor dem Gefängnis, und im Flüstern ist das Werk auch entstanden. Es wird berichtet, daß die Verfasserin ihre Texte von sechs oder sieben Bekannten auswendig lernen ließ, von Zeit zu Zeit wurde repetiert – flüsternd, da auch im Fontanny dom die Wände Ohren hatten. Keiner hat sie verraten. Hätte man bei einer eventuellen Haussuchung ein Manuskript des Requiems gefunden, wäre die Dichterin verloren gewesen.
Handschriften des Textes wurden vor allem nach ihrem Tod (1966) verbreitet. Einige drangen ins Ausland. Viktor Shirmunski veröffentlichte am Anfang der siebziger Jahre Abschnitte aus dem Requiem, die, aus dem Zusammenhang gerissen, zwar ihre emotionale Stärke nicht verloren, aber ihre politische Brisanz. Bei der Verleihung des Dr.h.c. der Oxford University im Jahre 1965 hob der Dekan in seiner Laudatio hervor, man zeichne hier eine Muse aus, die die Vergangenheit gegenwärtig mache, die Gegenwart beleuchte und Hoffnungen für die Zukunft anbiete.15
Nein, einen Nobelpreis hat Anna Achmatowa nicht erhalten.
Roland Opitz, aus Peter Gosse, Roland Opitz und Klaus Werner (Hrsg.): Was ist das Bleibende? Zwanzig Einmischungen von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, edition ost, 1999
ANNA ACHMATOWA
Zum Schweigen verurteilt
siebzehn Jahre und sieben
wer sprach ihr da zu
Es war der Wind denn sie hörte
was er sprach und verschwieg
es war die Nessel mit ihrem Knisterwort
die wild wachsenden Kletten
in ihrem Beharren
die silberblättrige Weide
mit ihren zweihäusigen Blüten
am Bach sie hüteten das Wort
Gern stünd ich im Säulensaal
im Dom Sojusow ganz hinten
und hörte der Dichterin zu
Sie las und die Leute standen auf
und stehend hörten sie ihre Verse
und glaubten an das Gedicht
und an das Wort
Therese Chromik
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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