BECKETTS THEORIE DER TRAGÖDIE
Hegel über das Opfer. Das Tier stirbt. Der Mensch
aaaaaerwacht.
Was lernen wir, wir lernen nun von allem Notiz zu
aaaaanehmen.
Wir lernen zu sagen, er ist ein Held, lasst es ihn
aaaaamachen.
Man sieht wie O sich zum Fenster bewegt.
Was für ein Rauschen was für ein Abend. Oh, kleiner Schauspieler
(dauernd am Leben Bewegen Klagen Trauern und Jaulen)
Zeit dorthin zurückzufliegen, wo man deine Haut aufbewahrt.
Dünn war sie.
Das Geräusch von Rudern, die sich vom Ufer entfernen.
Dieser stechende Geruch von Hundescheiße im Dunkeln.
Das ist deine Sternenkrone.
Runter mit seiner Kapuze.
der letzten Jahre Decreation genannt, ein Ausdruck von Simone Weil für ihr Programm der „Rückschöpfung“. Es ging Simone Weil darum, das Selbst in Frage zu stellen und Erschaffenes in Unerschaffenes zu überführen. Mit dieser Geste wollte sie ein Gespräch mit Gott führen. Auch Anne Carson gibt die Schöpfung zurück, doch als Frage, die sie in ihren Gedichten unablässig formuliert und an den Leser weitergibt: Was ist die Seele, gibt es das Erhabene, welcher Schlaf befreit uns von der Endlichkeit – und ja, für wie lang? Zwischen Sappho und Antonioni, Gertrude Stein, Beckett und Trotzki spannen ihre Gedichte, Libretti und Essays ein beziehungsreiches Geflecht, das vor den Augen des Lesers langsam entsteht und sich zugleich auflöst, wie das Ich, wie die Schöpfung.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2014
– Die Übersetzung von Anne Carsons Decreation. –
Zum ersten Mal bin ich im Jahr 2001 auf Anne Carsons Arbeit aufmerksam geworden, mit dem Buch Glas, Ironie und Gott, der Übersetzung von Alissa Walser und Gerhard Falkner. Anne Carsons Aufsatz zum „Geschlecht des Klanges“ habe ich in meiner Doktorarbeit zitiert, ich habe mir ihre Bücher gekauft, durch ihre Übersetzung „If Not, Winter“ habe ich zum ersten Mal verstanden, was das überhaupt sein soll oder sein könnte: Sappho. Die intellektuelle Anziehungskraft ihrer Arbeit ist enorm, teils unwiderstehlich.
Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, Anne Carson zu übersetzen. Ich hatte sie immer mit all dem gelesen, was in solchen Fällen auftritt: Interesse und Aufmerksamkeit, tiefer Respekt und Gewinn, auch Bewunderung. Aber ich verspürte – um eine Zeile aus der Oper Decreation abzuwandeln – nach ihr keinen Hunger. Man musste mich nicht – wie es im Essay „Decreation“ heißt – davon abhalten, diese Seiten aufzuessen. Nie geriet ich in diesen ungeheuerlichen Zustand, in dem das Gelesene beim Lesen den eigenen Körper, das eigene Denken zu verdauen scheint und man doch in diesem Aufruhr der Aufnahme bei sich ist, in extremis.
Es waren, wie ich nun im Nachhinein meine, die besten Voraussetzungen, um eine Übersetzung zu versuchen. Als der Fischer-Verlag mich anfragte aber, zögerte ich. Darf man eine solche, umfangreiche Arbeit ohne Verliebtheit beginnen? Mein Zögern wagte sich nicht aus der Deckung; schließlich waren da genug andere Dichterinnen und Dichter, die diese Aufgabe an meiner statt hätten übernehmen können – so gut wie ich, die eine oder andere vielleicht besser – und bestimmt auch übernommen hätten. Immerhin ist Carson längst legendär. Vielleicht nicht in Deutschland; vielleicht in Deutschland nur unter den Dichtenden; aber in den meisten anderen Ländern hat man auf breiterer Basis begriffen, was das vermutlich gewesen sein wird: Anne Carson. „Sie hat in ihrem Haus drei Schreibtische“, raunte mir 2013 ein indischer Autor auf einem Festival zu, „three desks! Für jede Arbeit einen – poetry, essay, visual art.“ Er wisperte diese Information – als hätte Carson auch noch ein drittes Ohr, mit dem sie über Kontinente hinweg hören kann, was über sie gesprochen wird. „She’s wonderful.“ Vielleicht kann man hier etwas Erhabenem beim Entstehen zusehen, denn wie Carson in ihrem Essay „Schaum in Decreation“ schreibt, ist das Erhabene nicht zuletzt „eine Dokumentationstechnik“, besteht aus Zitaten und Gerüchten, die sich ausbreiten und wie eine Woge die Hörenden mitnehmen, denen so gestattet wird, an einem „elektrisierenden Lebensüberschuss“ teilzuhaben. 3 Schreibtische!
Meinem Zögern versuchte ich, mit zwei Tests zu begegnen, die wenigstens die Frage nach der prinzipiellen Befähigung zu dieser Aufgabe kläre sollten. Der erste: das Buch irgendwo aufschlagen, die schwierigste Stelle auf dieser Seite nehmen und schauen, ob sich über Nacht drei mögliche Lösungen abzeichnen. Die Problemlotterie hätte besser nicht ausgehen können. Ich landete in „H & A“, einer Szenenfolge zu Heloise und Abelard, Szene 10, 1. Satz: „I feel bad“. Dieser Satz ist unmittelbar verständlich, es fallen einem x Lösungen ein – und alle sind sie keine. Weil die deutschen Wendungen an anderen Stellen und in anderen Körperhaltungen in der Sprache herumliegen als im Englischen. Weil sie eine andere Textur haben. Da braucht man die Nacht gar nicht abwarten, da kann man Panik – alle Wörterbücher, alle Nachschlagequellen, alles komplett sinnlos! – sofort genießen. Ich dimmte meine Erwartungen runter. 1 Nacht, 1 Wendung, 1 Lösung. Ich könnte da eine wichtige kanadische Autorin übersetzen, sagte ich zu einer Freundin am Telefon, aber mir ist nicht recht wohl bei der Sache. Das blieb mir bis zum Morgen und dabei blieb es dann tatsächlich auch im Text:
Mir ist nicht wohl.
Ist nicht dasselbe wie „I feel bad“? Nein, eh nicht. Eben.
Trotzdem war ich erleichtert, dass sich überhaupt etwas Gangbares ergeben hatte, und wertete diese abgespeckte Version des Tests als bestanden. Ich vermutete schon, dass diese Unterschiede in der Textur der Sprachen sich durch die gesamte Übersetzung ziehen und kaum auflösbar sein würden. In einem von Carsons Gedichten aus dem Zyklus „STATIONEN“ heißt es: „Man trifft Eis in verschiedenen Graden“, „man kann nicht darauf stehen“. So habe ich auch Carsons Gedichte wahrgenommen: Man läuft auf ihnen wie über eine Eisfläche, das Gleichgewicht wäre stehend kaum zu halten, man gleitet über das Eis, „seine Farben – blau weiß braun schwarzgrau silber – sind variabel“. Und plötzlich gähnt etwas, sichtbar wird, wie weit es unter der Oberfläche nach unten geht, Schwindel, man stolpert oder sinkt sogar. Um so etwas zu erzeugen – und nicht etwa in einer Paraphrase davon bloß zu erzählen – muss die Sprache transparent, kühl, durchscheinend sein.
Carsons Gebrauch des Englischen ist genau dies.1 Und das Englische erlaubt so etwas. In seinen einsilbigen Wörtern, der strengen Satzordnung, seinen Artikulationsorten, dem Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten. Und in seiner ganz eigenen Begabung zur Abstraktion, die sich aus den verschiedenen Herkunftssprachen und damit Färbungen seiner Wörter ergibt. Das Englische kann Eis.
Und das Deutsche tut sich schwer damit.2 Das Deutsche ist fleischig. Nehmen Sie z.B. das Wort ,Fleisch‘ selbst. Sprechen Sie es aus. Die Zähne reiben sich an der Lippe, dann rutscht das Wort nach hinten, Zunge an Gaumen, der Mund bricht auf, in ein weites ,a‘, das in etwas zwischen ,e‘ und ,i‘ verengt wird und alles schließt auf ein sattes, verwischtes Gezische. Dieses Wort spricht sich, als hätte man sich einen dicken Brocken Fleisch in den Mund gesteckt und würde nun mit einer ersten, ausgreifenden Kaubewegung darauf losgehen. Das ist großartig; und liegt vor allem im Diphthong, in der Bewegung des Öffnens und Schließens, von hinten nach vorn – das englische ,flesh‘, abgesehen davon, dass es auch semantisch schmaler ist, klingt demgegenüber windig, zerfasert. Und es liegt an der lautlich-semantischen Nachbarschaft, die mit ,flash‘ und ,flush‘ im Englischen völlig anders ausfällt. Und erst ,meat‘! Da hat man das Fleisch noch vor sich, von dünnen Strängen Fett durchzogen wie von bereiften Zweigen; gleich wird es mit spitzer Gabel aufgespießt. Und wo der Vorgang als tatsächliches Essen konkret würde, verabschiedet sich das Englische mit ,veal‘ und ,beef‘ in den romanischen Sprachraum. Das ist selbstverständlich nur ein Beispiel, das sich so nicht verallgemeinern lässt; aber es bildet die Problematik, wie ich sie erlebt habe, gut ab: wie das in Carsons Texten dünn geschabte, gefriergetrocknete Fleisch im Deutschen immer noch tropft und dampft.
Diese Überlegung selbst ist sehr fleischlich. Und findet in einem gewissen Abstand zu Carson statt, die im Essay „Decreation“ erst die „kompositorische Einheit aus Klang und Gedanken“ im Sappho-Fragment 31 konstatiert, um sich dann von der Lautlichkeit umgehend wieder abzuwenden:
wir wollen den gedanklichen Aspekt betrachten.
In der Übersetzung (auch der Prosa) aber war genau das nötig: eine Konzentration (auch) auf die klanglichen Aspekte – wie sie nicht nur im einzelnen Wort, sondern nicht zuletzt in den grammatikalischen Ordnungen stecken –, ebenso eine Hinwendung auf die Interaktion klanglich-semantischer Elemente im Satzbau. Nur sie konnten verhindern, dass das Deutsche Carsons Klarheit in der Gedankenführung zudeckt – und dass die „kompositorische“ und klangliche „Einheit“ des Bandes verloren geht.
Denn was auf dem Umschlag der englischen Taschenbuchausgabe von Decreation steht, ist irreführend: „One of the most interesting gatherings of material that any poet has published within living memory“, heißt es dort. Als habe man es nicht mit einer Komposition zu tun, sondern mit einem Gewühl aus den Textsorten Gedicht, Essay und Opernlibretto, die zufällig gemeinsam in einen Kessel gefallen sind. Und als könne der Leser sich nun an dieser „Kochstelle“ aus den unverbundenen „Bröckchen“ beliebig etwas herauspicken, zum Beispiel die „Ode an den Schlaf“, au der die zitierten Wörter stammen.
Ich muss zugeben, dass ich bei der ersten Bekanntschaft mit diesem Buch ebenfalls den Verdacht hatte, es könnte eine Art Sammelstelle für Disparates sein. Erst mit der Zeit ist mir klar geworden, wie eng diese Texte verwoben sind, wie sehr sie aufeinander verweisen. An der Oberfläche, natürlich, wenn z.B. im ersten Zyklus Beckett vorkommt und später ein ganzer Text sich mit Becketts „Quad“ auseinandersetzt. Aber bei weitem nicht nur dort. Im Essay „Ein Lob des Schlafs“, der zusammen mir dem Gedichtzyklus „STATIONEN“ die Eröffnungssequenz des Buches bildet, schreibt Carson über Telemachos’ Weg durch die Odyssee: „wie ein Kräuseln durchläuft das Wissen um den Sex die gesamte Geschichte“. In der weiteren Bewegung durch Carsons Buch zeigt sich dann langsam, dass dieser Satz ein erstes Antippen war: Denn auch durch Decreation läuft der Sex; weniger als explizit verhandeltes Thema, denn als subkutanes Kräuseln. Und auch seine Verwandten, Liebe und Hunger, gehen wie ein „Schaudern“ („Ode an den Schlaf“) durch diese Texte; immer auch in ihrer Verneinung, als Abwesenheit, Versagung, Versiegen.
Iss deine Suppe, Mutter, wo immer du in deinem Kopf auch bist („STATIONEN“).
Auf einer etwas abstrakteren Ebene durchziehen die Texte Fragen wie die nach verschiedenen Formen von Wissen und Erkenntnis, nach Formen des Möglichen und Unmöglichen (in Konditionalen oder bestimmten logischen Konstellationen), die bestimmte Denkbewegungen hervorbringen oder verschwinden lassen. Solche abstrakteren Zusammenhänge formen den Lektüreprozess – die Texte nennen sie aber nicht, denn sie sind literarische Texte, die nie in einer simplen Abstraktion stecken bleiben.
Es versteht sich, dass die gedankliche Textur von Decreation nicht Problem, sondern Grund und Motivation für die Übersetzung war. Zu einer Schwierigkeit wurde sie aber dort, wo die Entwicklung der Überlegungen stark in ein einzelnes, unter verschiedenen Perspektiven wiederholtes Wort gebunden ist. Z.B. in das Wort ,Spill‘ im Essay „Foam“ („Schaum“). ,spill‘ ist ein flüssiges Verb, es geht ums Verschütten, Überquellen, Ausgießen; in einer übertragenen Bedeutung kann es davon reden, dass jemand sein Herz ausschüttet, oder zusieht, dass ein hübsches Stück Klatsch sich schön verbreitet. Vor allem die letzte Bedeutung zeigt: ,spill‘ lappt ins Schmutzige, quillt gewissermaßen über die schicklichen Grenzen hinaus. „Foam“ hat ,spill‘ vor allem als die Verbreitung von Zitaten. Aber es geht um mehr – es geht ums Erhabene, um eine Erde, die sich selbst ausspeit, um Lava, die sich ausbreitet und – naturgemäß – jeden physischen Rahmen überschreitet, um psychische Grenzen, die man in der Teilhabe an fremden Gedanken überwindet. Ich wollte im Deutschen ebenfalls ein einziges Verb setzen, dessen verschiedene semantische Beugungszustände die Lesenden verfolgen könnten. Die plastischeren und ebenfalls flüssigen Verben, die z.B. aus ,quellen‘ oder ,strömen‘ oder ,fließen‘ ableitbar waren, ließen sich nicht durch den Text ziehen. Übrig blieb am Ende die blasseste Variante: „sich ausbreiten“, „Ausbreitung“. Dieses Wort konnte in verschiedenen Kontexten problemlos wiederholt werden und trug wenigstens die passivisch-negative Komponente einer nicht kontrollierbaren Verbreitung, etwa von Krankheiten. Innerhalb des Textes „Schaum“ funktioniert diese Lösung – einigermaßen –, aber die Einbettung dieses Essays in das ganze Buch ließ sich nicht aufrechterhalten.
Der nächste Abschnitt nämlich – „SUBLIMES“ („ERHABENES“) – beginnt mit einem Bild aus „Il Deserto Rosso“: Monica Vitti, zwei Männer, an den weißen Wänden große, teils verschmierte Flecken. Am rechten Bildrand stehen Farbeimer, aber die Assoziation ist: Blutflecken. Unter dem Bild steht: „Everything might spill.“ ,Spill‘ in Decreation blendet die Dimension des Blutvergießens nicht aus; Ausbreitung hingegen sehr wohl. ,spill‘ als Blutvergießen wirkt auf den – durchaus nicht gewaltfreien – Essay „Foam“ zurück. Und es wird gewiss erinnert werden in einem weiteren Text, „LOTS OF GUNS“, in dem nun nicht nur ein Wort, ,gun‘, sondern die Waffe als Konzept und Gegenstand in einer Reihe von Textsorten durchdekliniert wird; nicht ohne Absurdität und Aberwitz. Da reicht die ,Ausbreitung‘ nicht hin; und ich habe es auch nicht geschafft, diese Berührung doch noch irgendwie herzustellen.
Lediglich etwas anderes ist uns im Lektorat noch gelungen: Das deutsche Wort für ,spill‘ konnte mit dem Titelwort ,Schaum‘ verschränkt werden – mit ,überschäumen‘ ließ sich das ,ausbreiten‘ an manchen Stellen gewissermaßen verflüssigen. ,Überschäumen‘ hat mehr Dynamik und Vehemenz – und obwohl die Verbesserung klein ist, schaue ich im Moment etwas verliebt auf sie. Und vielleicht kann sie damit sogar Gegenstand für zukünftige Tests werden –
Denn das war der zweite Test, mit dem ich herausfinden wollte, ob ich dieser Übersetzung gewachsen sein würde – und auch dieser zweite Test wurde modifiziert, während er schon lief: Ich schaute mir die Übersetzung von ein paar Carson-Gedichten, die ich für die Neue Rundschau gemacht hatte, aus der Distanz von einigen Jahren neu an. Die meisten Texte schienen mir akzeptabel übersetzt; aber das, stellte sich heraus, war nicht die wichtigste Information. Denn ein Text war nicht akzeptabel übersetzt. Ich erinnerte mich daran, dass dies der Text gewesen war, für den ich damals sofort entflammt war. Er war mir großartig erschienen, so wonderful, so nah.
Und so hatte ich ihn auch übersetzt: nah – an mir, und in der Tat ein Wunderwerk – der ,spill‘, mit der meine eigene Phantasie manche Stellen des Gedichts überspülte. Die bestimmt etwas zufällige Textauswahl von damals lieferte mir nun die entscheidende Information: die „Ferne“ – um ein Zitat Carsons von Margarete Porete abzuwandeln – diese Ferne, in der ich Carsons Texte sah, könnte in der Übersetzung „das größere Nah“ werden.
Und ich hoffe, dass die Zuneigung, die während der Übersetzungsarbeit zu diesen Texten gewachsen ist – unwiderstehlich –, diese Ferne nicht zu sehr überwuchert hat.
Anja Utler, Neue Rundschau, Heft 2, 2014
– Mit ihrem vielgestaltigen und anspielungsreichen Œuvre weckt die 1950 geborene Anne Carson Begeisterung, aber gelegentlich auch wütende Abwehrreflexe. Die unlängst erschienene deutsche Übersetzung ihres Lyrik- und Essaybandes Decreation ist Anlass für den Versuch einer Annäherung an ihr Schaffen. –
Du kannst nie genug wissen, nie genug arbeiten, niemals die Infinitive und Partizipien auf genügend befremdliche Art verwenden, nie die Bewegung brüsk genug ausbremsen, nie den Geist schnell genug hinter dir lassen.
Schlag auf Schlag fixiert Anne Carson, was man recht gut als poetisches Programm der 1950 in Toronto geborenen Dichterin bezeichnen könnte.
Die studierte Gräzistin, die Werke von Euripides, Sophokles, Äschylus und Sappho ins Englische übertragen hat, wird für den weitgespannten kulturellen Horizont ihres Schaffens ebenso gerühmt (und im Stillen wohl auch gefürchtet) wie für ihre formale Experimentierfreude: Ihre Dichtungen können sich an Filmdrehbuch und Dramolett ausrichten, sich zu mehrseitigen oder ein ganzes Buch umfassenden Erzählungen auswachsen, als achsensymmetrische Textfigur auf der Seite prangen und dann wieder in wildem Zickzack übers Papier laufen; in einem Zyklus über Edward Hopper finden sich sogar Gedichte, deren Gestalt sich an den Bildaufbau des verhandelten Gemäldes anzulehnen scheint. Fingierte Interviews und Kontrafakturen antiker Dichtungen begegnen dem Leser ebenso wie persönliche Journale und kryptische Kurzprosa; ihre assoziative Technik, die Ideen und Persönlichkeiten über eine Distanz von Jahrhunderten oder Jahrtausenden kurzschliesst, verwendet Carson auch in ihren Essays – dort freilich manchmal auf Kosten der Stringenz und inneren Logik. Um dieses Werk wenigstens in Kontur vorzustellen, sollen im Folgenden einige konzentrisch um die Person der Dichterin angeordnete Themenkreise beleuchtet werden.
Die Nächsten
Ist es Zufall, dass zwei der bisher drei ins Deutsche übersetzten Bände von Anne Carson – Glas, Ironie und Gott und der neu bei Fischer erschienene, im Original 2005 publizierte Band Decreation – mit Gedichtfolgen beginnen, in denen die Mutter präsent ist? „Die Liebe meines Lebens“ wird sie in der späteren Sequenz genannt, die behutsam und – diesen starken Worten zum Trotz – ganz ohne Gefühlsseligkeit oder Pathos um Sterben und Abschied kreist. In Glas, Ironie und Gott war jener der Mutter zugebilligte, zentrale Herzensort gerade erst gewaltsam geräumt worden: Dort flüchtet sich das lyrische Ich nach der quälenden Trennung vom Geliebten (die in Carsons Werk immer wieder nachhallen wird) zur im hohen Norden lebenden Mutter. Das umliegende Moor schafft den Assoziationsraum, aus dem als dritte Frauengestalt Emily Brontë ins Geschehen tritt; zwischen den zerklüfteten Seelenlandschaften, die deren Œuvre entwirft, und der Geborgenheit der mütterlichen Küche findet die Sprecherin der Gedichtfolge den Schutzraum, in dem sie die eigenen, erschreckenden, als „nackte Figuren der Seele“ begriffenen Visionen nochmals evozieren kann, die sie nach dem Scheitern ihrer Liebesbeziehung heimsuchten.
In diese „Versuch über das Glas“ betitelte Sequenz ist auch die Schilderung eines Besuchs beim demenzkranken Vater eingeflochten; wie der ganze „Versuch“ dürfte die Episode auf selbst Erlebtes rekurrieren. So nennt Carson anderweitig das Leiden des Vaters als Anstoss zu ihrer Pilgerreise auf dem Jakobsweg, die in Form eines Journals in den 1995 erschienenen Band Plainwater eingegangen ist. In den Gedichten findet der Vater zwar nicht häufig, aber in berührenden Worten Erwähnung. So etwa, wenn er in jener Szene im „Versuch über das Glas“ das von der Tochter mitgebrachte Obst verzehrt; riesig wirken die Hände des ausgemergelten Kranken, „jede inzwischen so gross wie ein Stiefel bei van Gogh / wandern sie schwerfällig den Trauben in seinem Schoss nach“.
Die zuvor erwähnte, zu Bruch gegangene Liebesbeziehung verhandelt Carson in The Beauty of the Husband (2001) in direkten, ja messerscharfen Texten – die nachmodellierten Streitgespräche des Paars etwa wären eine Zierde für jede Schauspielbühne. Die als „fictional essay in 29 tangos“ präsentierte Gedichtsequenz zählt zu Carsons zugänglichsten Arbeiten; der Buchtitel wie auch die den „Tangos“ vorangestellten Keats-Zitate markieren allerdings auch hier einen weiteren kulturellen Rahmen. Sie verweisen indirekt auf das wohl berühmteste Diktum des britischen Romantikers: dass Schönheit Wahrheit sei und Wahrheit Schönheit. Raffiniert ist die Unaufdringlichkeit, mit der Carson diese These ins Bewusstsein hebt, um sie dann mit ihrem Porträt des so schönen wie krankhaft lügnerischen Gatten zu demontieren.
Den entgegengesetzten Weg, nämlich den der Rekonstruktion, geht Nox (2010): ein bibliophiles Kunstwerk zur Erinnerung an Carsons älteren Bruder Michael, der früh die Familie verliess und nach einem rastlosen, wohl mehrheitlich unglücklichen Leben im Jahr 2000 in Kopenhagen starb. Rückgrat des Buchs ist das berühmte „Carmen 101“, das Catull seinem ebenfalls in der Fremde verstorbenen Bruder gewidmet hat: Das eingangs auf Lateinisch abgedruckte Gedicht wird in der Folge auf den links liegenden Seiten Wort für Wort anhand scheinbar direkt aus dem Wörterbuch übernommener Einträge aufgeschlüsselt, in die Carson jedoch immer wieder eigene Elemente – die meist das Titelwort nox (Nacht) mitführen – einschliesst. Rechter Hand wechseln sich die öfters auf die Antike rekurrierenden Reflexionen der Dichterin ab mit Familienfotografien und den spärlichen Reminiszenzen an den Bruder, der den Kontakt mit der Familie bis auf rare Anrufe, Kartengrüsse und einen einzigen Brief unterbunden hatte; dazu kommen Zeichnungen, eingeklebte Fragmente jenes Briefes, eine Collage aus Briefmarken. Aus wenigem schafft Carson so nicht nur die Kontur des Verstorbenen, sondern eine subtile Meditation über Verlust und Abwesenheit; die als persönliches Notizbuch entstandene Arbeit ist in einer wunderschön faksimilierten Ausgabe beim Verlag New Directions erschienen.
Zwischen Zeiten, zwischen Künsten
Nox ist bei weitem nicht das einzige Werk, in dem die Dichterin Antike und Gegenwart in einen Dialog treten lässt. Im 2001 erschienenen, noch unübersetzten Lyrik- und Prosaband Men in the Off Hours etwa greift Carson ebenfalls auf Catulls „Carmina“ zurück; von einer Handvoll dieser Gedichte wird jeweils die erste Zeile zitiert und ein knappes Résumé des Inhalts gegeben, bevor die Lyrikerin mit einer sehr freien modernen Variation aufs Thema antwortet. Ähnliche Kontrafakturen widmet sie in Plainwater dem um 650 v. Chr. geborenen Dichter Mimnermos von Kolophon und ergänzt diesen poetischen Dialog durch einen Essay sowie drei fiktive, mit beissender Ironie unterfütterte „Interviews“ mit Mimnermos, der sich zunehmend erschöpft der Neugier der modernen Zunftgenossin zu erwehren sucht.
Andere reale und fiktive Gestalten der Antike – Hektor von Troja, Sokrates, Sappho, Antigone – werden in den „TV Men“ betitelten Gedichtserien in moderne Filmszenarien versetzt, wo ihre Identitäten sich im grellen Scheinwerferlicht auflösen, ihre Aussagen vom Cutter zu Hackfleisch verarbeitet werden. Mit ähnlicher Kühnheit entreisst Carson das rote, geflügelte Monster Geryon dem Herakles-Mythos: In ihrer Autobiography of Red (1998, deutsch Rot) ist Geryon ein scheuer, versponnener Vierzehnjähriger, dem das Flügelpaar und die rote Hautfarbe zwar zugeschrieben werden – aber vorab als Chiffre für die Verwirrung und Einsamkeit, welche die Entdeckung von Leidenschaft und (Homo-)Sexualität und der erlittene Liebesverrat über den Heranwachsenden bringen. Hinreissend gerät Carson in dem fliessend vorgetragenen Gedicht-Roman die Gestalt der Mutter, die ihre zärtliche Sorge für den kleinen Aussenseiter klug unter einem Habitus cooler Kameradschaft verbirgt; sie wird, als Sterbende, am Ende von Red Doc wieder auftauchen, dem wild experimentellen und mit seiner fast schon comichaft phantastischen Storyline nicht wirklich überzeugenden Buchprojekt, mit dem Carson 2013 an die erfolgreiche Autobiography of Red anzuschliessen versuchte.
Nicht nur Sujets aus der Antike, sondern auch spätere Epochen zieht die Dichterin in ihre immer neu ausgesteckten geistigen Spannungsfelder. Die in Plainwater zu findenden „Caniculi di Anna“ etwa, eine in 53 Gedichte gefasste Erzählung, handeln in Perugia: Während sich dortselbst auf der Gegenwartsebene ein Phänomenologen-Kongress durch seine geistigen Exerzitien hampelt, blendet der Text immer wieder zurück ins frühe 16. Jahrhundert und in die „innere Stadt“ – eine zur Verteidigung gegen die Streitmacht des Papstes in den Fels geschlagene Festung, an deren Fuss tolle Hunde heulen und in deren Gängen Perugino aus seltsamen Ingredienzien seine Farben mischt. Verbunden sind die beiden Ebenen durch die Figur des Künstlers wie auch die rätselhafte, auf beiden Zeitebenen auftretende weibliche Titelgestalt, die den leicht abgewandelten Vornamen der Dichterin trägt. Der Umgang mit der historischen Substanz ist frei – so wurde die Zitadelle, auf die das Gedicht anspielt, erst rund 20 Jahre nach Peruginos Tod errichtet, und zwar nicht als Bollwerk gegen den Papst, sondern vielmehr auf dessen Geheiss. Mit Leichtigkeit, Sinnlichkeit und Witz verbindet Carsons poetische Invention ihr (pseudo)historisches Substrat, kunstgeschichtliche Exkurse und den philosophisch-intellektuellen Überbau.
Solche Dialoge zwischen Zeiten und Künsten scheinen sich der Lyrik allerdings besser anzudienen als dem Essay, der – auch wortgetreu als „Versuch“ verstanden – doch ein Mass an konsequenter Gedankenführung verlangt. Schon im Aufsatz „Das Geschlecht des Klanges“, der den Band Glas, Ironie und Gott abschloss, hatten der erratische Duktus, die teilweise wenig fundierten Vergleiche irritiert; ähnliches Unbehagen stellt sich ein, wenn Carson in Decreation, dem soeben auf Deutsch erschienenen Buch, die Gedanken des antiken Rhetorikers Longinus über das Sublime auf das Schaffen Michelangelo Antonionis projizieren will. Da werden Parallelen eher suggeriert als nachgezeichnet, und im entscheidenden Moment lässt Carson den Vergleich gänzlich kollabieren, indem sie nach Longinus’ vulkanisch-eruptiver Beschwörung des genialisch Erhabenen ausgerechnet filmische Momente herbeizitiert, in denen Antonioni das Periphere, Stille, Zufällige ins Bild setzt.
Wahrheiten über Gott
Decreation hält freilich auch den Beweis bereit, dass der Dichterin der Griff nach dem Sublimen sehr wohl gelingen kann. Schon in Glas, Ironie und Gott hatte Carson religiöse Themen angesprochen und in einem Gedichtzyklus gar die „Wahrheit über Gott“ verheissen: Bald ironisch, bald tief skeptisch, dann wieder in wunderbar erleuchtenden Momenten – wenn etwa der Schöpfer sich niedersetzt, die Gerechtigkeit zu schaffen, und sich stattdessen in der Feinarbeit an einer Libelle verliert – präsentierte sich diese Annäherung an das Göttliche, die Anne Carson in Decreation auf eigenwilligste Weise fortschreibt.
Hier stellt sie ein Liebesgedicht der antiken Dichterin Sappho, die Erweckungsschrift „Le mirouer des simples âmes anienties et qui seulement demourent en vouloir et desir d’amour“ der 1310 als Ketzerin verbrannten Französin Marguerite Porète und Ideen der Philosophin Simone Weil in einen überraschenden und stringent ausgelegten Bezugsrahmen. Wie Sappho in jenem Gedicht, wo sie die Geliebte in vertraulichem Zwiegespräch mit einem Mann beobachtet, sich überflüssig, ja der Auslöschung nah fühlt, so empfand sich auch Simone Weil nur als störende Dritte im Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung; deshalb prägte die Denkerin den Begriff der „décréation“ als Idee einer bewusst betriebenen „Zerstörung des Ich“, die erst den Weg zu Gott ermöglicht. Ganz ähnlich zeigte Marguerite Porète auf, wie die Seele zuerst durch die absolute Negation alles Eigenen gehen, zur „âme anientie“ (= anéantie) werden muss, bevor sie in Gott ein- und aufgehen kann.
Den packenden Kurzporträts dieser Frauen folgt eine „Oper“, deren drei Teile sich in unterschiedlicher Distanz zu den Protagonistinnen bewegen. Der erste variiert und verfremdet Sapphos Eifersuchts-Motiv anhand einer Episode aus der antiken Mythologie, in welcher der bucklige Schmied Hephaistos seine schöne, treulose Gattin Aphrodite und den Kriegsgott Ares mittels eines feingesponnenen Netzes in flagranti beim Liebesspiel einfängt; diesen Stoff modelt Carson zu einem poetischen Vaudeville, dessen lässiger Ton auf einer schneidend traurigen Note endet. Auch in den Simone Weil gewidmeten dritten Teil des Librettos mischt sich eine Art Tragikomik, die aus dem Kontrast zwischen der kleinkarierten Fürsorglichkeit des Elternpaars und Weils radikaler intellektueller Konsequenz resultiert: einer letztlich auch selbstzerstörerischen Energie, die zum frühen Tod der Hochbegabten führte.
In noch härterem Gegenschnitt, häufig auf originale Zitate zurückgreifend, konfrontiert Carson im Mittelteil des Librettos die „Ketzerin“ Porète mit den Religionsgelehrten, die sie am Ende dem Scheiterhaufen überantworten; quälend klar wird, wo in diesem ungleichen Streit Wahrheit und Grösse zu finden sind. Und wunderbar ist die Volte, mit der die Sterbende in ihrer finalen „Flammenarie“ noch die Grenzen ihres eigenen Denkens überwindet:
Für mich ist Gott keine Gefahr mehr
Gänzlich braucht Gott mich –
wohin sonst
soll Gott
Gottes Nacktheit tun,
wohin sonst
soll Gott
Gottes Leere tun,
wohin sonst
soll Gott
Gottes Nichts tun
wohin sonst
soll Gott
Gottes endloses Ende tun,
als
in
mich?
Dirk Uwe Hansen: alles soll gewagt werden
signaturen-magazin.de
Elke Engelhardt: „aber alles soll gewagt werden…“
satt.org, 5.10.2014
Elke Engelhardt: Brücken von Marguerite Porete zu Monica Vitti
fixpoetry.com, 7.9.2014
Günter Nawe: Die Liebe ist immer du
glarean-magazin.ch, 13.8.2014
Christina Dongowski: Fußnoten zu Sappho. Anne Carsons hybrides Schreiben, Merkur, Heft 822, November 2017
Anja Utler liest beim ersten Wales International Poetry Festival in Bangor am 6.10.2012.
Anne Carson liest aus Red Doc im Lesesaal der British Library.
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