Anne Carson: Irdischer Durst

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anne Carson: Irdischer Durst

Carson-Irdischer Durst

WÜSTENSTADT

Als der Weise zurückkam.
Aus der Wüste.
Richtete er die Schüler wieder auf wie Spatzen.
Auf einer Wäscheleine.
Einige waren in Verzweiflung gefallen was ihn
aaaaaverwirrte.
In der Wüste.
Wo er sein Herz buk.
Gab es weder Schatten noch Auf und Abs nichts erinnerte daran.
Wie sehr sie ihn brauchten ein Junge starb.
In seinen Armen.
Es kostet viel dachte er.
Zurückzukommen.
Er begann sich einzurichten.
In all dem Zugerichteten.
Dieser Welt ein Feuer loderte.
In ihm auf seine Knochen längst in Auflösung und so sah er.
Vor sich.
Nur Warten.
Das Warten selbst.

 

 

 

Anne Carson – eine Dichterin unergründlicher Brillanz

In vier poetischen Streifzügen von außerordentlicher Vorstellungskraft verbindet Carson Rhythmus und Metaphorik der Dichtung mit der schwei­fenden Natur des Essays und der Direktheit des Theaters. Die Lesenden erkennen, dass Geschichten und Mythen unsere Wirklichkeit durchweben. Neben einer modernen Variation auf den Dichter Mimnermos von Kolophon finden sich in diesem Band Kurzvorträge zu so diversen Themen wie Forellen, Rembrandt und Entjungferung; Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Winter und Orangen sowie ein Langgedicht zum Leben des Renaissance­malers Perugino. Schließlich steht unser ganzes komplexes Heute auf dem Spiel. Was sehen und was verstehen wir? Welche Lust ziehen wir gerade aus dem, was wir nicht verstehen und was dennoch da ist? Anne Carson, die wohl aufregendste lebende Dichterin der angloamerika­nischen Welt, findet am Entdecken nicht weniger Freude als am Irren / Irrtum / In­die­Irre­Gehen. Frauen sind stark, sagt diese Dichterin, sie verste­hen etwas von Gefäßen, vom Wasser und vom irdischen Durst.

Matthes & Seitz Berlin, Ankündigung

„Was haben wir hier?“,

mit dieser Befragung der Wirklichkeit beginnt das längste der Gedichte in diesem sorgsam komponierten Band. In vier poetischen Streifzügen verbindet Anne Carson Rhythmus und Metaphorik der Dichtung mit der schweifenden Natur des Essays und der Direktheit des Theaters.
Neben einer modernen Variation auf den Dichter Mimnernos von Kolophon finden sich in diesem Band „Kurze Reden“ zu so diversen Themen wie Forellen, Rembrandt und Entjungferung; Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Winter und Orangen, sowie ein Langgedicht über die Schule der Phänomenologie und den Renaissancemaler Perugino.
Schließlich steht unser ganzes komplexes Heute auf dem Spiel. Was sehen und was verstehen wir? Und: Welche Lust ziehen wir gerade aus dem, was wir nicht verstehen und was dennoch da ist?

Anne Carson, die wohl aufregendste Dichterin der angloamerikanischen Welt, teilt ihre Freude am Entdecken mit ihrer Freude am Irrtum. Frauen sind stark sagt sie über Mona Lisa, sie verstehen etwas von Gefäßen, von Wasser und vom irdischen Durst.

Matthes & Seitz Berlin Klappentext, 2020

 

Fragen in die Mona Lisa gießen

– Rätselhaft schillernde Gedichte von Anne Carson in ihrem neuen Werk: Irdischer Durst. Darin reiht sie Bilder und Worte assoziativ aneinander. –

Was ist das: Irdischer Durst? Der Leser des Bandes mit Gedichten, Essays und Aphorismen der kanadischen Dichterin und Altphilologin Anne Carson muss einige Seiten lang warten, bis er eine für die Autorin bezeichnende Antwort erhält: „Jeden Tag goss er seine Fragen in sie“, heißt es in „Über die Mona Lisa“ und mit „er“ ist offenbar der Maler des Bildes, Leonardo da Vinci, gemeint.

So wie man Wasser aus einem Behälter in einen anderen gießt, und es goss zurück. Erzähl mir nicht, dass er seine Mutter malte, oder Lust oder so. Es gibt einen Moment, da ist das Wasser nicht in dem einen und nicht in dem anderen Behälter – ein Durst war das, und er nahm an, dass er fortfahren würde, bis die Leinwand völlig leer wäre. Aber Frauen sind stark. Sie verstand etwas von Behältern, von Wasser und vom irdischen Durst.

Eine rätselhafte, poetische Antwort, die offenbar den schöpferischen Prozess beschreibt. Die an Roland Barthes erinnert, der einmal gesagt haben soll, dass ein gutes Gedicht einen besser versteht als man sich selbst. Nur dass an die Stelle des Gedichts hier das Bild tritt. Und eine Antwort, die auf das elementare Bedürfnis nach dem schöpferischen Prozess hindeutet.
Bereits im ersten Teil von Irdischer Durst hatte Carson Hinweise auf ihr poetisches Verfahren gegeben. Es sind Gedichtfragmente, die an die Fragmente des um 600 vor unserer Zeitrechnung lebenden griechischen Dichters Mimnermos angelehnt sind. Pastiches, die Inhalte des Vorbilds übernehmen und Leerstellen mit eigenem Text füllen.
Mimnermos, erklärt Carson in dem nachfolgenden Essay, „Mimnermos und die Wandlungen des Hedonismus“, hatte kein Interesse an historischen Bezügen. So kann sie auch nur über die Identität des Helden mutmaßen, von dem er in einem der Fragmente sagt, dass er in der Nähe der Heimatstadt Mimnermos’, Kolophon, gekämpft hat.

Doch wer ist dieser unvergleichliche Mann…? Sein Vater? Sein Großvater? Vielleicht frei erfunden?… Er lässt diese glänzende Erscheinung durch die Zeit wandeln wie eine Nadel, welche jene zwei Momente zusammennäht, aus denen Nostalgie gemacht ist. Das Damals und das Jetzt. Sein Thema ist die Tatsache, dass wir nicht mehr im Licht stehen (wenn wir nach ihm suchen).

Das erinnert an Kafka, auf den es mehrere Hinweise in Irdischer Durst gibt. Wie Carson nimmt Kafka eine historische Gegebenheit nur zum Anlass, um eine eigene Geschichte zu erzählen, die eigenen Gedanken, eigenen Absichten folgt. In seinen kurzen, aphoristischen Texten stellt Kafka wie Carson Gegensätze schroff gegeneinander, weist auf deren dialektische Bezüge hin.
Die Gedichte in Irdischer Durst sind nicht leicht zugänglich, reihen sich in die Lyrik der Moderne ein, die durch letztlich nicht ganz entschlüsselbare assoziative Aneinanderreihung vor allem von Bildern und Worten geprägt ist. Aber der Leser wird durch die Beschäftigung mit ihnen belohnt. Denn Carsons Gedichte und Aphorismen stärken seine intellektuelle Souveränität. Sie ermöglichen neue Perspektiven auf die Dinge des Lebens.

Fokke Joel, taz, 25.8.2020

Vier poetische Streifzüge

von außerordentlicher Vorstellungskraft

– In der englischsprachigen Welt ist die 70-Jährige Kanadierin Anne Carson schon lange eine Ikone der modernen Literatur. Wie kaum eine andere Dichterin schert Anne Carson sich in ihren Büchern nicht um Gattungsgrenzen. All ihre Texte arbeiten mit Figuren, Formen und Inhalten der antiken Dichtung, variieren die alten Stoffe jedoch mit Geschichten und Bildern aus dem Jetzt. Vergangenes Jahr ist auf Deutsch Rot erschienen, zwei Versromane, die den Mythos des rotgeflügelten Hirten Geryon als moderne Lovestory erzählen. Jetzt erscheint ihr neues Buch Irdischer Durst.

Irgendwo, wahrscheinlich im Himmel, gibt es eine geheime Schaltzentrale, in der das gesamte Weltwissen miteinander im Gespräch ist: über antike Dichtung, über Forellen, über die Wahrheit, die man in Träumen findet, über Brigitte Bardot. Es ist der Ort, an dem die „eigentliche“ Literatur stattfindet. Denn die Gespräche in dieser Schaltzentrale überstrahlen ganze Regalkilometer linear erzählender Gegenwartsliteratur. Der Regie führende Mastermind dieser Vorstellung ist Anne Carson.

Schweiß. Nichts als Schweiß. Aber ich beobachte sie gern. Die Jugend ist ein Traum, den ich jede Nacht aufsuche, dann liege ich wach mit nichts als diesem kleinen hüpfenden Strauß Adern in meiner Hand. Hart, Liebling, so hinter deren Grenzen verbannt. In jedem Auge einen Stein zu tragen.

Der in vier Teile aufgebaute Band Irdischer Durst, im Original Short Talks, beginnt mit Variationen auf einige Fragmente des griechischen Dichters Mimnermos. Die Streitkräfte seiner Texte, Jugend und Alter, Sex und Licht untersucht Anne Carson in einer Analyse, die selbst zur Dichtung wird.

Wenn du in seinen Gedichten von der Sonne in den Schatten wechselst, kannst du spüren, dass dir der Unterschied wie kaltes Wasser den Schädel herabläuft.

In einem der Fragmente öffnet jemand einen Uhrrücken und tritt in die Uhr ein. Dieses Bild verweist, wie so viele in diesem Buch, auf Anne Carsons geniale Arbeitsweise. Die Gefährten und Motive der Altphilologin kommen aus tiefster Vergangenheit, bewegen sich jedoch, wie selbstverständlich, durch die Gegenwart. Mimnermos wird von einem New Yorker Journalisten interviewt. Ob Mimnermos an das Unbewusste glaube, fragt ihn dieser. Mimnermos’ Antwort:

Morgens mit dem ersten Bläuen des Himmels sehe ich die Menschheit die über Abermillionen Menschen bis zu einer Zeit noch vor meinem Großvater zurückreicht durch meine Wohnung strömen.

Über seine Geliebte Nanno, für die er seine Klagelieder schrieb, will Mimnermos hingegen keine Auskunft geben. Diese Leerstelle füllt Anne Carson mit einem Langgedicht über die Geliebte des italienischen Renaissancemalers Perugino, Anna. Diese Anna, nicht weit von Anne und Nanno, nimmt gemeinsam mit Anne Carson an einer Konferenz von Phänomenologen teil.

Der Phänomenologe aus Paris hasst Mücken und hat ein kleines elektronisches Gerät dabei, das durch Simulation eines männlichen Liebesschreis das Weibchen in den Tod lockt. Gegen das Wimmern hat er sich rosa Ohrstöpsel zugelegt. Mitten im Gespräch mit dem Phänomenologen aus Sussex sehen sie eine Mücke hereinfliegen.

Es ist fast schon unverschämt, wie spielerisch leicht Carson Mimnermos’ Leitthemen Sex und Licht in Gattungen und Zeitströmen variiert. Und nicht nur das! Sie bildet aus dem Zusammenspiel der Künste, Wort, Malerei, Musik, ein neues synästhetisches Kunstwerk. Die Geräusche werden sichtbar in den Bildern Peruginos. Der Klang wird zu einem Lachen und riecht nach Blut. Anne Carsons Montagetechnik ist nicht dem filmischen Montieren entlehnt, sondern erschafft sich ganz aus den Mitteln der Sprache heraus. Ihre Lust daran, die Regeln zu brechen, einen Gedanken aufzunehmen und ihn für einen neuen wieder zu verlassen, ihr Mut, durch den Uhrrücken in die Zeit einzutreten und im Innern eine Essenz von Dichtung zusammenzuschmelzen, machen sie zur Göttin der Gegenwartsliteratur. Und diese Göttin liebt uns. Überall in ihren Texten ist es sichtbar, das „du“. Sie meint uns, sie will, dass wir lachen – und sie lädt uns ein, zu sich nach oben in den Himmel zu reisen

Lisa Kreißler, NDR, 2.7.2020

Vitales Archiv

– Die Dichterin Anne Carson spricht in Irdischer Durst zu uns aus weiter Ferne mitten ins Herz der Gegenwart. –

Es sind Städte, die man am besten ganz schnell wieder verlässt. Der Tod streift durch die Gassen, derweil zerbrechen nur wenige Meter weiter ein paar Hoffnungen:

Hätte er mich geliebt hätte er gesehen wie ich.
Im oberen Stockwerk mit der Stirn gegen das Glas wummerte.

Wohin man in Orten mit ironischen Namen wie „Glücksstadt“ sieht, herrscht Einsamkeit. In diesen „most saddest and creepy cities“ darf natürlich die „Freudstadt“ nicht fehlen. Hier, in der Finsternis des Unbewussten, ist erst recht niemand zu Hause und bei sich selbst. Denn „der Geist. / Ist ein fremder Gast“.
Wer nun ganz in Schwindel gerät, dem seien genauere Koordinaten über unseren Standort mitgeteilt. Wir befinden uns in den albtraumartigen Gefilden der 1950 geborenen kanadischen Autorin Anne Carson. Ihr neuer Band Irdischer Durst hält allerdings noch mehr als jene dunklen Sphären bereit. Zum Beispiel eine Tour d’horizon in eine alte Zeit. Etwa im Rahmen von poetischen Dialogen mit dem heute vergessenen antiken Dichter Mimnermos von Kolophon. Hineingeboren in eine Zeit der Aufstände kleinasiatscher Städte gegen die Könige des Mittelmeers, beklagt das lyrische Ich in seinen Elegien entweder die Vergänglichkeit allen Seins oder flüchtet sich in die Feier der süßen Jugend.
Auch von der Sonnenanbetung scheint es angetan. Alles schaut hinauf zum leuchtenden Himmelskörper, „rosenplötzlich ausgesandt von jemands / schon morgen er geht Sein tagseitig goldwärts geneigtes Bett / reiten er streift dahin / über Schlafländer von West nach Ost bis plötzlich / rosengestoppt jemands / schon frühmorgens den Uhrrücken öffnet. Er / tritt hinein“. Es geht in dieser kryptischen Passage selbstredend nicht nur um Begeisterung für das lebensspendende Gestirn. Carson strebt danach, uns gleichsam in die Texte des Dichters zu entführen, die sie selbst wie eine Sonne anziehen. Indem wir in die buchstäblich leuchtenden Gedichte hineingehen, öffnen wir die bildlich mehrfach angeführte Rosenblüte, die ein traditionelles Symbol für den unter Blättern verborgenen Eintritt in unbekannte Welten darstellt. Dort angekommen, im grenzenlosen Bezirk unserer Reverien, vermag das Ich binnen Sekunden Osten und Westen zu durchqueren und überdies immer tiefer in zurückliegende Epochen vorzudringen, ja, eben die Hinterseite einer Uhr zu öffnen und eine Zeitreise zu beginnen.
Tatsächlich war Anne Carson, vielleicht eine der letzten oder eben neuen Universalgelehrten unserer Tage, die Gegenwart in all ihren Werken nie genug. In Decreation (2014) schreibt sie sich den so ludischen Arrangements der antiken Liebesdichterin Sappho ein, in Rot. Zwei Romane in Versen (2019) nähert sie sich den skrupellosen amourösen Tiraden des Herkules an. Was all diesen Texten innewohnt, ist der Versuch eines vitalen Archivs. Schreiben bedeutet darin, die Erinnerung in die Gegenwart zu versetzen.
Wie kaum eine andere Autorin ihrer Generation verfügt sie über ein reiches Wissen über die Antike. Die Altphilologin übersetzte Klassiker von Euripides bis Sophokles ins Englische und sucht in deren Texten das Hier und Heute besser zu verstehen. Mit der Durchbrechung von zeitlichen Grenzen gehen in ihren Gedichten daher stets neue Potenziale der Wahrnehmung einher. Immer wieder werden darin Laute zu Farben und Klänge zu Gerüchen. Entsprechend dieser alle Sinne verwirbelnden Synästhesien durchkreuzt die Autorin Genrekonventionen. In einem Band können Reden, Vorträge, Operntexte und Vorlagen für den zeitgenössischen Tanz gleichberechtigt mit Poemen Platz finden. „Ich denke, es ist eine Art Leidenschaft von mir, von allen Informationen wegzukommen, auf denen ich mich ausruhe (…) poetische Aktivität ist eine Methode dafür – Sie springen aus dem Gebäude, wenn Sie poetisch denken (…). Daran ist etwas Befreiendes,“ sagte Carson über ihre Arbeiten einmal in einem Interview.
Dass sie sich bislang allen Kategorisierungsbestrebungen verweigerte und sich mit jedem literarischen Projekt neu erfand, trug dazu bei, dass sie beständig als eine Favoritin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Obwohl von ihren knapp zwanzig Werken lediglich eine Handvoll in deutscher Sprache vorliegt, nimmt die Bekanntheit der aus Toronto stammenden Schriftstellerin, die lange Zeit eher als ein Geheimtipp der Lyrik-Community galt, daher auch hierzulande zu. Dies mag mithin dem steten Bemühen ihrer Übersetzerin Marie Luise Knott zu verdanken sein. Sie bewahrt für hiesige LeserInnen zum einen den Sound der Poetin, zum anderen fungiert sie seit Jahren als deren wichtigste Vermittlerin im deutschsprachigen Raum.
Trotz wachsenden Ruhms und trotz allen Lobs ist an ihren aktuellen Entwürfen aus Irdischer Durst durchaus Kritik angebracht. Denn die qualitative Fallhöhe der poetischen Miniaturen erweist sich als enorm. Zwischen den Retrospektiven auf zurückliegende Zeiten und den Traum(stadt)gedichten tauchen allerlei Banalitäten auf. Wir erfahren:

Alles in allem gibt es mehr Hauptsachen als Nebensachen, dennoch gibt es mehr Nebensachen, als ich hier notiert habe, aber sie aufzulisten entmutigt.

Von ähnlich begrenztem Erkenntniswert sind Gleichungen à la „Lernen ist Leben (…). Lernen hat die gleiche Farbe wie Leben.“

Jene Neigung zum Plappern und zum Floskelhaften untergräbt die ansonsten starke Ambition, Dichtung als Möglichkeitsform zu etablieren, in der zeitlichen und räumlichen Barrieren keine Bedeutung mehr zukommt. Während manche Texte die LeserInnen in faszinierende Bild- und Wissensgebiete einführen, fehlt es anderen an Idee, Charme und Konzentration. Carsons Band gleicht daher einer Sinuskurve. Der Ratschlag: Man halte sich schlichtweg an die Amplituden und überspringe die Talsenken. Dadurch verbleibt man in jenen Höhen des losgelösten Geistes, wie sie nur die Poesie bieten kann.

Björn Hayer, der Freitag, 8.10.2020

Wenn man die Wörter lässt, tun sie, was sie wollen

– In gleich vier neuen Übersetzungen kann man die kalauernde Gelehrsamkeit der siebzigjährigen kanadischen Lyrikerin Anne Carson kennenlernen. –

In Anne Carsons Doppelroman-Langgedicht Rot schreibt eine Figur namens Frau von Hirn im Auftrag ihrer Erfinderin:

Sie kennen die alten Analogien die Prosa
ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der
ziemlich schnell hindurch rennt.

Vieles spricht dafür, dass es Carson selbst ist, die da in Flammen durch das Haus der etablierten Literatur rennt und alles anzündet, was ihr in die Quere kommt. Wobei das Feuer in diesem Falle ein olympisches wäre, denn Carson ist von Haus aus Altphilologin und dieser Einfluss ist in ihren Gedichten, Essays, Reden, Übersetzungen und Opernlibretti überall zu spüren.
Neben Rot, das bereits letztes Jahr herauskam, ist die seit Jahren als Nobelpreisträgerin gehandelte Carson in diesem Spätsommer nun gleich in drei Neuerscheinungen zu entdecken, flüssig und elegant übersetzt von Marie Luise Knott, Christina Dongowski und – herausragend – Anja Utler. Den Anfang macht Der bittersüße Eros, ihr brillanter Debütessay aus dem Jahr 1986 über den „glieder-schmelzenden“ griechischen Gott. Gleich bei Erscheinen sammelte der Text die einhellige Begeisterung der Kritik ein und fand, überraschend für das eher randständige Genre, erstaunlich viele Leser.

Es war Sappho, die Eros als erste ,bittersüß‘ genannt hat. Niemand, der je geliebt hat, widerspricht ihr.

Was auf die scheinbar harmlosen Eingangsworte folgt, ist ein wilder Ritt nicht nur durch die antike Literaturgeschichte. Von Sophokles und Homer über Kafka bis Kundera schauen wir dem bittersüßen Eros über die Flügel, wie er überall sein „süßes Feuer“ versprüht und die Liebenden in einem Wechselbad aus Lust und Verzweiflung „mit Honig verbrennt“.
Mit kleinbürgerlichen Sentimentalitäten hat Carsons Wühlen im Eros-Archiv dabei wenig zu tun, vielmehr geht es bereits hier wie in späteren Werken um Leidenschaft ohne Romantik, um Erregung ohne Psychologie. Die komplizierte Choreografie der erotischen Körper, von denen in den oft überraschend schrulligen Texten der Antike unaufhörlich die Rede ist, wird direkt umgemünzt in eine Erotik des Lesens, ganz so wie es Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Against Interpretation“ gefordert hatte.
Neben der lesbischen Dichterin Sappho als wichtigster Stichwortgeberin dieses literarischen Großprojekts ist in diesem Anfang auch schon die ganze Methode von Carson erkennbar. In der leidenschaftlichen Versenkung in ein einziges Wort (glukupikron, eigentlich: süßbitter) spielt Anne Carson die ganz großen Fragen von Kunst, Literatur und Leben durch und wühlt dabei unermüdlich nach Elementen, die Antike und Gegenwart unmittelbar kurzschließen.

Wenn man Wörter lässt, tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen.

Carsons Lektüren strotzen vor Gelehrsamkeit und Detailwissen. Langweilig sind sie trotzdem nicht, denn es geht ihr nicht um die bildungsbürgerliche Synthese von Wissensbeständen, sondern um das Abenteuer des Lesens, in dem sich das klassische Begehrensparadox ebenso zeigt wie im außerliterarischen Leben: im flammenden Wunsch, alles verstehen, alles verschlingen zu wollen – und in der bittersüßen Erfahrung, sich dabei immer wieder den Mund zu verbrennen.
Das ist bei Carson immer mindestens unernst bis vollkommen albern, was nicht zuletzt an Carsons diesjährigen Berliner Rede zur Poesie zu sehen ist, die sie den allseits bekannten Umständen geschuldet auf Youtube hielt. Mit wechselnden Kopfbedeckungen – Strandhut, Fedora, Fliegermütze – tritt sie da wie ein Helge Schneider mit Graecum notdürftig selbstgefilmt vor dem verschwommenen Hintergrund ihrer Einbauküche auf, wirft dreizehn sehr eigensinnige „Blickwinkel auf einige Worte“ (Forellen, Kopfschmerzen, Flaubert etc.), nur um am Ende wieder bei ihrem komplizierten Eingangsthema zu landen, dem Begehren:

Hätten Sie nicht auch manchmal gern ein Wort, das der Liebe die Handgelenke bricht und sie die Treppe hinunterwirft?

Die dritte Carson-Publikation dieses Jahres schließlich versammelt unter dem passend erotischen Titel Irdischer Durst frühe Gedichte und aufmüpfige Prosa: Protokolle von Therapiesitzungen mit einem antiken Elegiendichter, verrätselte Stadtporträts und eine wunderbar stimmungsvolle Episodendichtung um einen Philosophenkongress und den Renaissancekünstler Perugino.
Obwohl Perugino als einer der ersten in Italien mit doppeltem Fluchtpunkt malte, blieb ihm der ganz große Erfolg verwehrt, weil ihn das unglückliche Schicksal traf, in derselben Zeit wie Michelangelo Buonarroti zu leben. Als er von einem Kloster mit einem monumentalen Freskenprojekt beauftragt wurde, die geizigen Mönche aber nicht genug vom teuren Ultramarinpigment herausrücken wollten, verfiel der umbrische Meister auf eine rachsüchtige List:

Durch konstantes Waschen der Pinsel gewann
Perugino
einen heimlichen Vorrat der Farbe,
den er später
dem Prior übergab,
um dessen Geiz zu beschämen.

Die Perugino-Episode zeugt nicht nur von Carsons notorischer Vorliebe für die Zufrüh- und Zuspätgekommenen, für die Zweit- und Drittbekannten der Kulturgeschichte des Westens, sondern mehr noch von der Überzeugung, dass Sprache ein rares und kostbares Gut ist. So kann man überall und zuletzt in der Berliner Poesierede einer begnadeten Sprachkünstlerin dabei zusehen, wie sie unermüdlich ihre Pinsel wäscht, um frische Farbpigmente für ihre immer wieder neu arrangierten Tableaus zu gewinnen. Dabei wird deutlich, dass die Poesie vor der Philosophie einen entscheidenden Vorteil hat. Sie kann sich die philosophischen Ideen in loser Folge wie wechselnde Kleider oder eben Kopfbedeckungen anziehen, um sie ungehemmt und unter freiem Himmel zur Schau zu tragen. Es geht bei Carson, das ist das Verlockende und Herausfordernde, also immer ums Ganze: die ganze Literatur, das ganze Begehren, die ganze Kultur, die ganze Antike. Und doch klafft in der Mitte dieses Werks eine Legimitationslücke, die in den letzten Jahren noch deutlicher hervortritt, da aus Carsons Pinseln nicht mehr ganz so freimütig brauchbare Farbreste herausfließen.
Obwohl ihre kombinationswütigen und gendersensiblen Aneignungen der Antike einen wuchtigen Gegenpol zu den Griechenlanden der Winckelmanns, Hölderlins und Nietzsches liefert, stellt sich daher zunehmend die Frage: Warum überhaupt noch Griechenland? Woher noch das Vertrauen in die Antike? Sind denn aus der historisch-philologischen Beschäftigung mit einer Kultur von Päderasten und Sklavenhaltern überhaupt noch Deutungsmuster für die Gegenwart zu gewinnen?
Es wäre der siebzigjährigen Carson zu wünschen, dass sie sich dieser Herausforderung zum Ende hin noch einmal entschieden stellt. Dem alten europäischen Geist noch einmal so richtig die Handgelenke brechen und ihn gewaltig die Treppe hinunterstoßen – das wäre doch ein würdiger letzter Akt eines Werks, dem man auch so schon jetzt eine Krone aufsetzen muss.

Samir Sellami, Süddeutsche Zeitung, 12.10.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jonis Hartmann: Zerinnern
fixpoetry.com, 30.7.2020

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin + Facebook + Kalliope

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + IMDbPIA
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Anne Carson liest aus Red Doc im Lesesaal der British Library.

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