Anne Lemonnier-Lemieux: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Monolog drei“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Monolog drei“ aus Wolfgang Hilbig: Werke Band 1 – Gedichte. −

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

Monolog drei

Wie große leere Blätter wandten sich die Tage von uns ab –
und Nacht kam auf uns mit ihrem lärmenden Gefunkel
Nacht auf Nacht…
aaaaaaaaaaaaaaaaasich wendend: vaterlose Finsternis
(und ich weiß nicht wer es war der mich machte…
nein ich kenne dich nicht der du mich geknetet hast
geschaffen und mißgeschaffen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund ich drohte dir ach
vergeblich warf ich meine Faust hinauf in den leeren Raum
vergeblich gegen das verborgene Antlitz eines weißen Tigers…)

Wie Blätter. Groß und kalt und leer.
Wie Lyren eines im Sande verlaufnen Äons
aus dem Nichts über uns – und dennoch verbanden sie uns
einem Feind
aaaaaaaaaaaadem Bildnis eines Vaters: blank
wie Gottes Pflugschar die uns immer weiter wendet.
Wie Lyren die sich immer näher auf ein Ende wenden.
Wie Wasser die sich wenden. Wie November die sich wenden.
Wie Jahreszeiten die sich reihum immer weiter wenden.

Und wenn du vor Abend erwachst unter gestaltlosen Schatten
hinter Gardinen in der ironischen Stille sich schwächenden Lichts
um an Gesprächen teilzunehmen die nicht die deinen sind
dann ist dein eigener Schatten in einem Hausflur
hinterblieben in den du nicht zurückkommen wirst
(im Nebenzimmer
aaaaaaaaaaaaaaaavergeht Vergangenheit… und niemand
der die Sanduhr noch einmal umdreht… eine Rose –
sie war weiß – ist zu Boden gefallen in jenem Nebenzimmer
und wird langsam zu Staub: lautlos wie eine Sanduhr…)
und welcher fruchtlose Zorn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaall unsre Hybris
zerstob mit den Lyren versunkener Epochen.

Ja wir sind die gottlosen Dichter: am Fuß der Treppen
im Minutenlicht der Flure stehn unsere Koffer gefüllt mit Sand.
Ja wir sind die geräuschlosen Dichter in den dunkel geatmeten
in den leer geatmeten Zimmern neben anderen Zimmern mit dem Ohr
am Weltall: doch der Schrei des Tigers bleibt aus…
(ah! diese Klage ist so alt so alt…)
und wir werden gepflügt im Wechsel von Tag und Nacht
und wir werden gewendet
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund entzündet und gelöscht
bis wir zerstreut werden wie der Sand den wir gesät…

Und dann dein langsamer dein lauschender Heimweg 
mit dem Ohr am Weltall – der in falsche Richtungen führt:
du irrst wenn du denkst daß dein Weg noch weit ist.
Wie große unbeschriebne Blätter fielen deine Tage von dir ab
und mattes Licht im Rinnstein spülte sie davon
(und die kahlen Bäume im November stehen besser
und die Wasser in den Brunnen wurzeln fester wenn alles ruht…
und wenn dir dein Fluch mißrät wie deine Klage wie deine Liebe
und wenn dir mißraten alle Gestalt und jegliche Form: und weiß
so weiß wie Alphas deine Haut sich wehrt
vergeblich gegen den Atem eines unsichtbaren Tigers…)

Und alles ruht an deinem Weg: die Fenster alle still
niemand der lauscht und niemand außer dir der wacht und flieht –
nur du der sich duckt unter der Schleuder der Sterne.

 

Die Lebensbilanz eines durch die Wüste irrenden Orpheus

In der im Fischer-Verlag erschienenen Werkausgabe der Gedichte Hilbigs sind sieben Gedichte abgedruckt, die in ihrem Titel das Wort „Monolog“ enthalten und nummeriert sind: „monolog eins“ und „monolog drei“ (beide 1968 verfasst), zwei „monolog zwei“ (1971), „monolog vier“ (1983), „Monolog fünf“ (1986) und „Monolog drei“ (2001).1 Nur drei davon sind zeit seines Lebens erschienen: „monolog eins“, „monolog vier“ und das für diese Untersuchung ausgewählte Gedicht „Monolog drei“ (Werke Band 1, S. 272–273), das letzte dieser hier chronologisch angeordneten Reihenfolge. Die Frage, ob diesen Zahlen eine besondere Bedeutung beizumessen ist, scheint auf den ersten Blick eine relativ einfache Antwort nach sich zu ziehen, da die Aufzählung einigermaßen der Chronologie zu folgen scheint. Die einzigen Monologe, die aus dieser Chronologie fallen, sind die beiden Gedichte „monolog zwei“ (1971) und der oben abgedruckte „Monolog drei“ (2001).
Die Erklärung der Zahlen durch die Chronologie legt den Gedanken nahe, es habe zwischen dem „monolog eins“ und dem „monolog drei“ aus dem Jahre 1968 vielleicht einen „monolog zwei“ aus demselben Jahr gegeben. Eine Annahme, die dadurch bekräftigt werden könnte, dass die drei Jahre später verfassten zwei Gedichte „monolog zwei“ unveröffentlicht geblieben sind und aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten als zwei Varianten desselben Gedichtes aufgefasst werden können. Hilbig scheint, im Hinblick auf diesen „monolog zwei“ ein gewisses Zögern empfunden zu haben. Da der erste „monolog drei“ aus dem Jahre 1968 ebenfalls unveröffentlicht geblieben ist, könnte der schließlich 2001 erschienene „Monolog drei“, um den es hier geht, dazu bestimmt gewesen sein, ihn im Nachhinein in der Reihenfolge der Zahlen zu ersetzen oder zu ergänzen, und das obwohl oder vielleicht gerade deshalb, weil deren Inhalte in entgegengesetzte Richtungen weisen. Der „monolog drei“ des Jahres 1968 beklagt die „monotone[n] wiederholungen“ des Lebens in „dies[em] Land“ und eine ausweglose labyrinthische Trostlosigkeit, aus der die dreimalige Wiederholung der Aufforderung „öffne dich“ nicht zu helfen vermag (Werke Band 1, S. 418). Hilbig war damals 27. Der 33 Jahre später verfasste und veröffentlichte „Monolog drei“ ist das Gedicht eines 60-jährigen Mannes, der das Herannahen der „Nacht“ und das Vergehen der Zeit beschreibt:

Wie große Blätter wandten sich die Tage von uns ab (1,1).2

Der erste „monolog drei“ blickt in die (eintönige, ausweglose) Zukunft, der letzte wendet sich rückblickend dem vergangenen Leben zu.
Diese Unordnung in dem Versuch, durch Zahlen etwas Ordnung in die eigene dichterische Tätigkeit zu bringen, könnte auch ironisch an E.T.A. Hoffmanns Behandlung der Zahlen in seinen Schriften denken lassen, die Franz Fühmann in seinen Hoffmann-Essays3 auf lustige Weise parodiert. Beide sind Hilbig wohl bekannt gewesen: der erste als Wegweiser über die zeitliche Entfernung hinaus,4 der zweite als zeitgenössischer Mutmacher und Beschützer.5
Die Zahlen und die sich daraus ergebende Reihenfolge der Monologe bezeugen aber jenseits jeglicher Hypothese den Eigensinn, mit dem Hilbig seine Poetik der Einsamkeit betrieb. Seiner Dankrede zum Georg  Büchner-Preis 2002 (ein Jahr also nach dem Verfassen von „Monolog drei“) gab Hilbig den bezeichnenden und programmatischen Titel: „Literatur ist Monolog“. In Anlehnung an Hans Erich Nossack, der diesen Preis 1961 erhielt, beschrieb er darin das literarische Schaffen als ein „Geheimnis“, das im „Alleinsein-Wollen“ wurzelt. Als Hilbig – ebenfalls 1961 – Heizer wurde, entdeckte er die Freiheit, die diese einsame Tätigkeit mit sich brachte, und dies umso mehr, als diese schlecht bezahlte Arbeit unter Bedingungen aus dem 19. Jahrhundert ihn unangreifbar machte: Er konnte nicht tiefer sinken, er hatte nichts zu verlieren. Und das war ein Glück. Denn nur das Alleinsein gab ihm die Freiheit, seinen persönlichen Monolog zu entfalten:

In dieser Umwelt [hatte sich mir] plötzlich ein Refugium aufgetan […] – ich wußte auf einmal, ich wollte schreiben. […] Ich sagte es niemandem, es war ein Geheimnis.6

Diese gewollte Isoliertheit hatte nichts Aristokratisches oder Narzisstisches an sich. Es ging ihm im Gegenteil darum, auf diese Weise der Machtinstanz zu entkommen, die das Schreiben bedrohte und sogar zunichtemachen konnte. Zur Zeit der DDR trug diese Machtinstanz den Namen der Staatssicherheit. 2001, zur Zeit des Verfassens von „Monolog drei“, oder 2002, als Hilbig seine Dankrede niederschrieb, nahm die Gefahr andere Formen an: Nun waren eher die überwältigende Dominanz der Massenmedien und die Vermarktung der Literatur zu befürchten, wenn auch aus anderen Gründen. „Die Massenmedien sind Apparate zur Lüftung jedweden Geheimnisses“,7 schrieb Hilbig; außerdem betrachte die Unterhaltungsindustrie die Bücher als Waren, die bald durch andere abgelöst werden sollen.8 In dem Zusammenhang der Marktwirtschaft bedeutete der dichterische Monolog also immer noch Widerstand, wenn auch auf eine andere Art: Widerstand gegen die leere Gesprächigkeit der schnellen Vermarktung durch die Unterhaltungsindustrie. Und Hilbig zitierte in diesem Zusammenhang Hans Erich Nossack noch einmal:

Was von der Literatur unserer Tage übrig bleiben wird, kann nur Monolog sein.9

Aufgrund seines Titels ist also anzunehmen, dass „Monolog drei“ sich ebenfalls mit dem Stellenwert der Literatur und der Thematik des Schreibens auseinandersetzt. Da dieser aber das letzte bekannte Gedicht dieser Monologe-Reihe ist, kann es auch sein, dass damit eine Art Bilanz gezogen wird. Um diesen Hypothesen auf den Grund zu gehen, soll hier analytisch vorgegangen werden und sollen zunächst durch die Untersuchung der unterschwelligen Struktur des Gedichtes dessen thematische Leitfäden herausgearbeitet werden.

 

Zur Struktur des Gedichts
Was dem Leser als Erstes auffällt, ist die unterschiedliche Länge der sechs Strophen, aus denen das Gedicht besteht. Die Verse sind ungereimt, manche dieser Verse gliedern sich in zwei Teile, wobei der zweite Teil des Verses stufenartig an das Ende der nächsten Zeile gestellt wird. Diese augenfällige Unordnung, die wohl an die verhältnismäßige Unordnung in der Nummerierung der Monologe erinnern mag, weicht dennoch einigen strukturierenden Prinzipien, sobald die genaue Länge der Strophen betrachtet wird.
Die erste und die zweite Strophe umfassen nämlich beide acht Verse; und die Strophen 3, 4 und 5 bestehen aus jeweils elf, neun und elf Versen. Daraus ergeben sich zwei Arten von Symmetrien im Aufbau des Gedichtes: Die Gleichheit in der Länge der ersten zwei Strophen, die die erste Symmetrie ausmacht, scheint, aus ihnen eine Einheit bilden zu wollen, und dasselbe gilt für die der Strophen 3, 4 und 5, deren Abwechslung in der Länge die zweite Symmetrie bildet. Die letzte und sechste Strophe, die nur aus drei Versen besteht, erscheint als eine Art Schlusswort.
Eine aufmerksame Betrachtung der gebrauchten Pronomina kann auch etwas Licht auf die Struktur des Gedichtes werfen und das unterschwellige Prinzip der Symmetrie durch Abwechslung bestätigen. Die Pronomina sind hier umso interessanter, als in einem Monolog ein Ich erwartet wird, an dessen Stelle hier aber zwei andere Pronomina auftreten: ein Wir und ein Du.
Wenn man von der in Klammern stehenden Textstelle der ersten Strophe und dem Ende der dritten Strophe absieht, strukturiert eben diese Abwechslung von Wir und Du das ganze Gedicht. In den ersten beiden Strophen, von denen aufgrund ihrer Länge angenommen werden kann, dass sie eine Einheit bilden, herrscht das Wir vor. In der darauffolgenden dritten Strophe geht der Dichter zum Du über, bevor er in der vierten Strophe zum Wir zurückkehrt und in den Strophen 5 und 6 wiederum das Du gebraucht. Daraus ergibt sich eine rhythmische Abwechslung (Wir-Du-Wir-Du), die die Einheit der ersten beiden Strophen bestätigt und den symmetrischen Aufbau der drei folgenden Strophen einer regelmäßigen Pendelbewegung zwischen Wir und Du unterwirft.
Der vorletzte Vers der dritten Strophe und die in Klammern stehende Textstelle der ersten Strophe sind die einzigen Stellen, die von diesem Prinzip der Abwechslung zwischen Wir und Du abweichen. Geht es im ersten Fall um einen einfachen Übergang vom Du zum Wir („unsre Hybris“ [3,10]), der die nächste Strophe ankündigt, so fällt die in Klammern stehende Textstelle dagegen umso mehr auf, als dort zum ersten und letzten Mal ein Ich erscheint. Zudem spricht dieses Ich ein Du an, das nicht identisch mit dem späteren Du der weiteren Strophen ist. Das in Klammern stehende Du bezieht sich auf einen abwesenden Gott:

ich kenne dich nicht, der du mich geknetet hast
geschaffen und mißgeschaffen
(1,5–6).

Das Du der folgenden Strophen deutet hingegen auf die Dichterfigur hin, in einer Selbstanrede, die auf paradoxe Weise den monologischen Charakter des Gedichts nur bestätigt:

wenn du vor Abend erwachst unter gestaltlosen Schatten […] (3,1).

Auch das Wir erscheint als Erweiterung des Ich auf eine Dichtergemeinschaft, als eine Vervielfachung des einsamen Du. Dieses Wir wird genau definiert:

Wir sind die gottlosen Dichter (4,1).

Wir und Du werden also nicht einander entgegengesetzt, sondern deuten auf zwei Aspekte desselben Dichterdaseins hin. Mit dem Wir wird der Dichter zum Mitglied einer paradoxen Gemeinschaft von Isolierten, Gottlosen; mit dem Du verschwindet diese Gemeinschaft zugunsten einer Isoliertheit, die keinen anderen Ansprechpartner als sich selbst zulässt.
Das Ich verschwindet also – und unterwandert dabei die zwei anderen Pronomina.10 Sein Verschwinden und die Einverleibung der anderen Pronomina in den Monolog bedeuten die Vervollständigung der Isoliertheit. Da ebenfalls das Wir und das Du monologisch werden, gibt es nicht einmal eine gegenüberliegende, anzusprechende Instanz, sondern nur Leere und Einsamkeit.
Über die äußere Form und die Abwechslung der Pronomina hinaus wirkt sich auch die Themenverteilung strukturierend auf das Gedicht aus. Auch im Hinblick auf die Themenwahl lässt sich ein Unterschied zwischen den Strophen in der Wir-Form und den Strophen in der Du  Form feststellen. Die Gottlosigkeit, oder gar die Gottverlassenheit, des Dichters ist nämlich das Hauptthema aller Strophen in der Wir-Form, während in den Strophen in der Du-Form eher der persönliche Lebensweg des Dichters angesprochen wird. Er erscheint hier in der Gestalt eines „vor Abend […] unter gestaltlosen Schatten“ (3,1) erwachenden Einsamen, der wohl wie die anderen reisenden Dichter seine Koffer gepackt hat, sich aus den Zimmern in den Flur wagt oder am Fuß der Treppen steht (4,1–5), aber der vor allem vergeblich einen „Heimweg“ zurücklegt, der „in falsche Richtungen führt“ (5,2).
Aber beide Ebenen, die metatheologische der Wir-Strophen und die konkret-erzählerische der Du-Strophen, gehen oft ineinander über, was die vielschichtigen Leitmotive möglich machen, die das ganze Gedicht durchziehen. Die Blätter, mit denen die sich von den „gottlosen Dichtern“, dem „Wir“, abwendenden Tage verglichen werden (1,1; 2,1), ziehen in der fünften Strophe die bedauernswerten „unbeschriebne[n] Blätter“ (5,4) des konkreten Dichterdaseins des Du nach sich. Auch die weiße Farbe taucht an mehreren Stellen auf. Der weiße Tiger der ersten Wir  Strophe (1,8) bereitet den Leser auf die weiße Rose der dritten Strophe vor, deren langsames Verstauben dem Du ein Gleichnis für das Vergehen der Zeit ist (3,8), und nimmt die weiße Haut desselben Du in dem Kampf gegen den Tiger in der fünften Strophe vorweg (5,10). Der Sand, in dem sich der „Äon“ der gottlosen Dichter verläuft (2,1), füllt die Sanduhr (3,7–9) des einsamen Du sowie die Koffer des seine Zimmer verlassenden Wir (4,2), bevor dieses Wir zerstreut wird wie der „Sand den [es] gesät“ (4,10). Auch der Tiger erscheint in Verbindung mit allen Pronomen: Der Tiger, gegen dessen verborgenes Antlitz das Ich vergeblich seine Faust „in den leeren Raum“ (1,8) wirft, wird vergeblich sowohl vom Wir er  wartet – sein Schrei bleibt aus (4,5) – als auch vom Du auf Abstand gehalten, das sich gegen dessen Atem wehrt (5,11).
In dieser Vielfalt der Motive zeichnen sich gleich beim Lesen der ersten Strophe insbesondere drei Hauptmotive ab, die immer weitergesponnen werden. Zunächst beschwören die ersten Verse auf Anhieb die Figur des Dichters an seinem Lebensabend herauf, der rückblickend über den Sinn des vergangenen Werks nachdenkt:

Wie große leere Blätter wandten sich die Tage von uns ab –
und Nacht kam auf uns
(1,1–2).

Dann wird dieses autobiographisch anmutende Dichterbild durch ein Partizip mit der Orpheus-Gestalt in Verbindung gebracht: „sich wendend“ (1,3). Als der Dichter sich wie Orpheus auf seinem Rückweg aus dem Totenreich umwendet, erblickt er hinter sich nur die Leere einer „vaterlose[n] Finsternis“ (1,3). Und so wird schließlich in der zweiten Hälfte der ersten Strophe das dritte Hauptthema – das Thema der Gottlosigkeit – aufgegriffen: „ich weiß nicht wer es war der mich machte“ (1,4), gesteht der Dichter, der vergeblich seine Faust hinauf in einen „leeren Raum“ (1,7) warf, der als Metapher der Abwesenheit Gottes verstanden werden muss.
Diesen drei Spuren soll nun nachgegangen werden.

 

Der Dichter in seiner Zeit
Das Motiv des Lebensabends durchzieht das ganze Gedicht. Das Gefühl, dem Ende nah zu sein, wird an mehreren Stellen zum Ausdruck gebracht: Die gefallenen Blätter (1,1; 5,4) und der November (2,7; 5,6) deuten auf den Herbst hin, „die kahlen Bäume“ (5,6) auf den nahenden Winter. Es sind alles Metaphern des Alterns. Aber die Blätter bedeuten auch das Schreiben und werden mit Lyren verglichen, die metonymisch für die Dichtkunst stehen. Auch sie nähern sich einem Ende:

Wie Blätter […]. Wie Lyren die sich immer näher auf ein Ende wenden. (2,1–6)

Die Doppeldeutigkeit des Worts „Blatt“, das sich sowohl auf das Laub als auch auf das Papier bezieht, schlägt eine Brücke zwischen dem Leben und dem Werk, die beide auf das Ende zugehen. Hier darf nebenbei mit Vilém Flusser11 daran erinnert werden, dass diese Doppeldeutigkeit des Wortes „Blatt“ auf dessen Ursprung hindeutet: Stammt das Blatt – auch das beschriebene – vom Baum, so stammt ebenfalls das Buch von der Buche, und es kann auch die klangliche Nähe des Wortes „Pappe“ mit den „Pappeln“ unterstrichen werden, deren Umrisse sich schon im Gedicht „monolog eins“ vor einem leeren Himmel abzeichneten.12
Am Abend seines Lebens zieht der Dichter eine Art Bilanz. Er blickt zurück, „sich wendend“ (1,3). Bevor sich die Nacht über alles legt, kommt er wieder zu sich und erwacht „unter der ironischen Stille sich schwächenden Lichts“ (3,1–2). Er stellt sich Fragen über den Sinn des Schreibens. Die fallenden Blätter sind aber nun „groß und kalt und leer“ (2,1) oder „unbeschrieben“ (5,4): Vielleicht ist die ganze Mühe umsonst gewesen, wie es die dreimalige Wiederholung des Wortes „vergeblich“ (1,7–8; 5,11) andeutet, oder „fruchtlos“ (3,10). Er habe nur „Sand gesät“ (4, 9), wird also keine Früchte tragen. Es kann sein, dass ihm alles missrät, sein „Fluch […] wie [s]eine Klage wie [s]eine Liebe […] alle Gestalt und jegliche Form“ (5,8–9).
Es geht aber nicht nur um ein persönliches existentielles Gefühl des Scheiterns. Über den scheiternden Dichter oder die existentielle Vergeblichkeit aller Mühe hinaus wird auch die Zeit, die Epoche, kritisch ins Visier genommen. Das synästhetische „lärmende Gefunkel“ (1,2) der ersten Strophe kann als Hinweis auf die abendländische Kultur, ihre „lärmenden“ Massenmedien und ihre „funkelnde“ Unterhaltungsindustrie verstanden werden, die der Dichtkunst wenig Platz übrig lassen. Dieses „lärmende“ funkelnde Zeitalter, sein „Äon“ (2,2), hat sich „im Sand verlaufen“ (2,2), ein Scheitern, das in Verbindung mit „dem Nichts über uns“ (2,3) steht. Diese Assoziation der lärmenden Lichter mit der Religion des Nichts muss hier an Hilbigs Kritik der Aufklärung in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Abriss der Kritik aus dem Jahre 1995 erinnern. Aufklärung, „Licht“ (3,2) und „Gefunkel“ (2,1) gehören nämlich demselben semantischen Feld an:

Die Aufklärung begann mit der Kritik an der Religion und das Bewegungselement dieses Zeitabschnitts griff nach und nach auf alle anderen Bereiche über […], bis die Kritik schließlich selbst zu einer Art Religion wurde. Um das Ganze metaphorisch zu fassen: dem positiven weißen Gott der Religion wurde die schwarze Gottheit der Negation entgegengesetzt.13

Hier lassen sich Motive wiedererkennen, die auch im Gedicht auftreten. Das Wort „Zeitabschnitt“ wird in Monolog drei durch das lyrische und goethesche Wort „Äon“ ersetzt, aber die Gegenüberstellung der Farben Weiß und Schwarz ist im Gedicht erhalten geblieben. Der alles zersetzende Geist der Kritik habe den „positiven weißen Gott der Religion“ zerstört, heißt es in dem oben zitierten Ausschnitt aus Abriss der Kritik, was die Deutung des ebenfalls weißen Tigers des Gedichts (1,8) als metaphorische Verkörperung Gottes bestätigt. Und „die schwarze Gottheit der Negation“, die der Verallgemeinerung der Kritik entsprungen ist, mag ihrerseits die „vaterlose Finsternis“ (1,3) erklären, die das Dasein des alternden Dichters umschwebt. Das Zeitalter der Kritik und dessen zerstörerische Folgen werden hier, sowohl in Abriss der Kritik als auch im Gedicht, an den Pranger gestellt. „Ja, wir sind die gottlosen Dichter“ (4,1), ruft der Dichter aus, was einerseits als Feststellung eines Desasters, andererseits als Ausdruck eines endgültigen Misstrauens allem Göttlichen gegenüber interpretiert werden kann, je nachdem, ob der „weiße Gott der Religion“ oder „die schwarze Gottheit der Negation“ in Betracht gezogen werden. Eins steht dennoch fest: Die Finsternis nimmt zu. Wollte der Dichter früher dagegen ankämpfen, so ist ihm diese Möglichkeit kaum noch gegeben, denn „all unsere Hybris / zerstob mit den Lyren versunkener Epochen“ (3,10–11). Der Dichter, der hier seine Klage hören lässt, ist ein postmoderner Dichter,14 der kaum noch an die Sendung der Literatur glaubt, denn ein solcher Glaube wurde bereits vom schwarzen Geist der Kritik zerstört.

 

Der irrende Orpheus
Der – wenn auch flüchtige oder verneinte – Bezug auf die „Lyren vergangener Epochen“, der übrigens zum Teil den goetheschen oder gar biblischen Anklang des Worts „Äon“
15 erklären mag, ruft darüber hinaus eine sehr alte Figur des abendländischen Dichters wieder wach. Hinter der Darstellung des Dichters als eines Reisenden zeichnet sich nämlich die Gestalt eines irrenden Orpheus ab.16
Zunächst steht der Dichter wie ein Reisender „am Fuß der Treppen“ (4,1) mit seinen mit Sand gefüllten Koffern (4,2), eine Bezeichnung des Lebenswerks, die nicht gerade beglückend ist, zumal dieser Sand mit dem Staub der Rose in Verbindung gebracht werden kann (3,8). Aber die Reise, auf die er sich begibt, führt ihn „in falsche Richtungen“ (5,2), wobei der Plural auf wiederholte vergebliche Versuche der Heimkehr hinweist.
Und dieser Reisende weist Züge auf, die an Orpheus denken lassen. Drei Themen lassen die Anspielung auf Orpheus als unbestreitbar erkennen: die Lyren, die Schatten und der vielfache Gebrauch des Verbs „wenden“.
Die Lyren (2,2; 2,6) sind das Kennzeichen der Orpheus-Gestalt überhaupt. Die Sage des Orpheus wirft die Frage nach der Macht der Musik und der mit ihr verwandten Dichtkunst auf, um ins Totenreich zu gelangen und eine geliebte Person ins Leben zurückzuholen, oder anders formuliert: um den Tod zu besiegen.
Diesem ewigen Motiv der Dichtkunst wird hier ein zeitbezogenes beigemengt. Denn die Lyren werden in Monolog drei mit „Gottes Pflugschar“ (2,5) verglichen, ein Vergleich, der die Erinnerung an das Motto der Friedensbewegung der 1980er-Jahre in der DDR wachrufen könnte:

Schwerter gegen Pflugscharen.

Dieses Motto ist u.a. auf den Propheten Micha in der Bibel zurückzuführen, der den Frieden so verkündete:

[Große Völker und Heiden] werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen (Micha 4, 3).

Der „November“, der zwei Verse danach ebenfalls wie die Lyren und Gottes Pflugschar umgewendet wird, ist nicht nur ein Gleichnis für den Lebensabend, sondern gehört auch in das semantische Feld der friedlichen Revolution vom November 1989. Doch diese Lyren, Gottes Pflugschar und der November werden so oft umgewendet, dass sowohl auf existentieller als auch auf politischer Ebene an deren erlösender Bedeutung gezweifelt werden muss.
Der Dichter befindet sich hier schon unter den Schatten und sucht nach einem „Heimweg“, wie Orpheus es einst versuchte. Er führt ein Schattendasein, nimmt an Gesprächen teil, „die nicht die seinen sind“ (3,3) und hat sogar wie Chamissos Peter Schlemihl, der dem Teufel seinen Schatten verkaufte, den eigenen Schatten in einem Hausflur zurückgelassen (3,4–5). Die Schatten stehen hier als Ausdruck der Gespensterhaftigkeit des eigenen Daseins, lassen aber darüber hinaus die eigene Umwelt mit dem Totenreich zusammenfallen, in welches Orpheus sich begibt, um nach der Geliebten zu suchen, die er ins Leben zurückrufen möchte. Dass der Dichter sich im Totenreich befindet, wird dadurch bestätigt, dass die Zeit nicht mehr vergeht, dass es „niemand[en gibt] / der die Sanduhr noch einmal umdreht“ (3,6–7), und dass „alles ruht“ (5,7), ein Verb, das den Tod in sich birgt.
Auf seinem Heimweg begeht der Dichter denselben Fehler wie einst Orpheus: Er wendet sich um (1,3). Was er dann erblickt, ist nicht die geliebte Eurydike, sondern eine „vaterlose Finsternis“ (1,3), was andeuten mag, dass die in dem Totenreich von ihm gesuchte Person ein Vater ist, „jemand der ihn machte, knetete, schuf“ (1,4–5–6). Hier färbt sich die antike Reise des Orpheus in die Unterwelt autobiographisch: Aus gutem Grund stellt Birgit Dahlke Hilbigs Kindheit und späteres Werk unter das Zeichen einer Vaterlosigkeit, die gerade vom Gedicht „Monolog drei“ artikuliert wird.17 Hilbig hatte sein Leben lang unter der Abwesenheit des 1942 bei Stalingrad gefallenen Vaters zu leiden. Dichtung als Kampf gegen den Tod musste unter diesen Bedingungen mit der Suche nach dem verstorbenen Vater übereinstimmen. Doch es ist niemand da. Der „geräuschlose Dichter“ (4,3) kommt „mit dem Ohr am Weltall“ (4,4–5) weiter, aber kein Laut deutet an, wo dieser Vater bleiben könnte. Die Zweideutigkeit des Wortes „Vater“, das auch auf eine göttliche Instanz verweisen kann, schlägt eine Brücke zwischen dem Autobiographischen und dem Theologischen. So vermengen sich hier das antike Motiv der Orpheus  Reise mit dem persönlichen Vaterverlust und dem postmodernen Verzicht auf jegliche Form des Glaubens an eine Rechtfertigung der Existenz, die hier noch Gott genannt wird. In seinen Poetikvorlesungen rief Hilbig die Protagonisten von Beckett auf den Plan, um zu zeigen, wie es in einem postkritischen Zeitalter, in einer Welt der völligen Zerstörung jeglichen teleologischen Denkens durch die Kritik, mit den Menschen zugeht. Die am Ende des Zeitalters der Kritik sedierten Invaliden von Beckett seien „die Ausgestoßenen der Moderne“, „Überbleibsel, die in einer reinen Jetztzeit verharren, in einem Jetzt ohne Zukunft, und beinahe auch ohne Vergangenheit“:18 ein Zustand, der mit der „vaterlosen Finsternis“ dieses Gedichts in Verbindung gebracht werden kann.
Die zahlreichen Variationen mit dem Verb „wenden“ – es wird ins  gesamt sieben Mal gebraucht – stehen im Zusammenhang mit der Orientierungslosigkeit und den Verirrungen des postmodernen Orpheus. Leben und Literatur wenden sich von ihm ab (1,1), auch er wendet sich wie Orpheus um (1,3), um in der Vergangenheit nach Verlorenem zu suchen, etwas später wird er von Gottes Pflugschar gewendet (2,5), seine Lyren wenden „sich immer näher auf ein Ende“ (2,6), auch „die Wasser, die November, die Jahreszeiten wenden sich“ (2,7–8), bis er vor lauter Wendungen aller Arten „gewendet und entzündet und gelöscht“ wird, und „zerstreut wie der Sand den [er] gesät“ (4,8–9). Diese Wendungen gipfeln in dem Bild der „Schleuder“ des letzten Verses: Das Universum bietet keinen Rückweg ins Leben, nur noch eine ungeheure Zentrifuge. Der postmoderne Orpheus irrt mit dem Ohr am Weltall, seine Koffer sind mit unfruchtbarem Sand gefüllt und er lauscht vergebens nach dem Schrei eines Gottes in der Gestalt eines weißen Tigers.

 

Gott, der weiße Tiger
Das ganze Gedicht beruht auf der wiederholten Behauptung, dass es keinen Gott gibt, so dass dieser paradoxe Gott, von dem stets die Rede ist, zunächst als Abwesenheit verstanden werden soll, im Gegenteil zum Gott der Bibel, dessen Name auf Hebräisch „ich bin, der ich bin“ bedeutet. Es beginnt mit einem Unwissen: „ich weiß nicht, wer es war, der mich machte / nein ich kenne dich nicht der du mich geknetet hast“ (1,4–5), wobei das Verb „machen“ des vierten Verses an einen menschlichen Erzeuger – vielleicht den fehlenden, in Stalingrad gefallenen Vater – und das Verb „kneten“ des fünften Verses an die Erschaffung Adams in der Genesis anknüpft. Dieser göttliche Vater ist nirgends zu finden: Der Raum ist „leer“ (1,7) – das Adjektiv „leer“ kommt vier Mal vor –, die Zimmer sind „leer geatmet“ (4,3–4), es gibt nur ein „Nichts über uns“ (2,3). Gott taucht hier also als absolute Abwesenheit auf, denn der Leere, durch welche er sich dem Sehen entzieht (der Tiger bleibt „unsichtbar“(5,11)), fügt sich eine „ironische Stille“ hinzu (3,2), durch die er sich auch dem Hören entzieht: Vergeblich horcht der Dichter auf ihn, auch „der Schrei des Tigers bleibt aus…“ (4,5).
Doch diese Abwesenheit schafft auf die Dauer eine Form von paradoxer Anwesenheit. Gott ist nicht nur ein Nichts, sondern nimmt auch eine Form, eine Gestalt, an: die des weißen Tigers. Und in zwei von den drei Fällen, in denen sie erwähnt wird, kann diese weiße Farbe als Anspielung auf das Alte Testament verstanden werden, wo die Farbe „weiß“ in Verbindung mit Gottes Zorn steht, wenn das jüdische Volk sich von ihm abwendet. In der ersten Stelle geht es um „das verborgene Antlitz des weißen Tigers“ (1,8) und in der zweiten um das griechische Wort „Alphas“ in den Versen:

und weiß
so weiß wie Alphas deine Haut sich wehrt
vergeblich gegen den Atem eines unsichtbaren Tigers
… (5,8–10).

„Das verborgene Antlitz“ verweist auf das biblische Buch Deutoronomium (31,16–18), in dem Gott Mose seinen Zorn über die Untreue seines Volkes kundgibt und sein Antlitz verbirgt, um dieses zu bestrafen:

Und der Herr sprach zu Mose: […] dies Volk wird sich erheben und nachlaufen den fremden Göttern […]. Da wird mein Zorn entbrennen über sie […], und ich werde sie verlassen und mein Antlitz verbergen, so dass sie völlig verzehrt werden. (Deuteronomium 31,16–17)

Diese im Ausdruck des „verborgene[n] Antlitz[es]“ enthaltene Anspielung auf Moses Zug durch die Wüste in der ersten Strophe wird in der fünften Strophe durch das Wort „Alphos“ bestätigt. Dieses Wort, das auf Griechisch „weiß“ bedeutet, bezeichnet eine heilige Krankheit, mit der Gott die Schwester Moses in der Wüste befällt, als sie anfängt, an Moses Bündnis mit ihm zu zweifeln. (Numeri 12,10) Die Krankheit wird so bezeichnet, weil die Haut dabei weiße Flecken bekommt (5,9–10–11). Die weiße Farbe steht also in beiden Fällen in Verbindung mit einem Zustand der Gottverlassenheit, der schlimmsten Strafe, die Gott in der Bibel dem untreu gewordenen Menschen zufügen kann. In beiden Stellen wird infolgedessen die Gottlosigkeit des Dichters zu einer Gottverlassenheit, einem Zustand, der einen ursprünglichen Glauben und deshalb auch einen Verlust voraussetzt. Beide Stellen verweisen außerdem auf die Geschichte Moses, der sein Volk durch das Rote Meer und die Wüste heimführte. Die sich wendenden „Wasser“ (2,7) und der „Heimweg“ (5,1) erhalten hier eine zusätzliche Bedeutung: Der Sand, der die Koffer des Dichters füllt, ist nicht nur der Sand der stehengebliebenen Sanduhr der dritten Strophe, sondern womöglich auch etwas vom Sand der Wüste, in der Mose und sein Volk 40 Jahre lang herumirren mussten.
Die gute Kenntnis der Bibel, die diese beiden Anspielungen voraussetzen, ist biographisch belegt: Der Pfarrer, bei dem er konfirmierte, sei, sagte Hilbig später in einem Interview mit Peter Gaus, „der Erste gewesen, der ihm eine Zukunft als Schriftsteller vorausgesagt habe, nach der Lektüre einer Strafarbeit: einer kleinen Abhandlung zum Auszug der Israeliten über das Rote Meer“.19 Was das Schuldgefühl angeht, auf welches die Strafe Gottes hinweisen könnte, so ist dies auch biographisch belegt: Denn der Dichter Hilbig musste sich sein Leben lang vor dem inneren Großvater rechtfertigen, der als Analphabet seinem Enkel das Lesen und das Schreiben verbot. Hier vermengt sich also wiederum Autobiographisches mit Theologischem, die drohende Strafe des Großvaters mit der Gottverlassenheit.
Gegen diesen Gott lehnte sich der Dichter sein Leben lang auf: Er „drohte“ ihm (1,7), „warf [s]eine Faust hinauf“ (1,8), ließ seinem „Zorn“ freien Lauf (3,10), stieß einen „Fluch“ aus (5,8). Er scheint, die „weiße Gottheit“ der Religion zu bedauern, die es im Zeitalter der Kritik noch gab und gegen welche die Dichter sich noch empören konnten, jenen noch bestehenden „Feind“ (2,4), jenes „Bildnis eines Vaters“ (2,4), mit dem früher die Lyren die Dichter verbanden (2,3–4). Im postkritischen Zeitalter kann sich der Dichter nur noch gegen die Leere des Himmels auflehnen: Er „wirft seine Faust in den leeren Himmel“ (1,7), sein Zorn ist „fruchtlos“ (3,10), sein Fluch „mißrät“ (5,8) und, wenn er erkennt, dass selbst die Auflehnung „vergeblich“ (1,6) ist, dass kein Gott heraufbeschworen werden kann, bleibt ihm nur noch das Lauschen (5,2) übrig.
Und doch bleibt er tapfer auf dem Weg: Am Ende des Gedichts ist der Dichter der einzige, der noch „lauscht“, „wacht“ und „flieht“ (6,2). Der tapfere Dichter mag noch so gottverlassen durch die Wüste gehen, etwas vom Geist des Widerstands bleibt in diesem Monolog schließlich unangefochten, wie es die Dankrede zum Georg-Büchner-Preis andeutete. Es gibt schlimmere Lebensbilanzen. „Monolog drei“ zeugt trotz allem zur Schau gestellten Zweifel an sich selbst und trotz der Erkenntnis der eigenen Schwäche, der eigenen Unfähigkeit, seine vergangenen Dämonen loszuwerden und wortwörtlich über seinen Schatten zu springen, von dem Willen, doch Spuren zu hinterlassen, die nicht nur Sand sind. Der Rückgriff auf einen religiösen Wortschatz, die Wiedereinführung der großen Buchstaben am Anfang der Substantive und die klassisch anmutenden Rhythmen der Verse heben sich hier von Hilbigs sonstiger Manier ab, um ihn auf seine Art schließlich doch auch unter die bleibenden Dichter einzureihen.

Anne Lemonnier-Lemieux, aus Bernard Banoun, Bénédicte Terrisse, Sylvie Arlaud und Stephan Pabst (Hrsg.): Wolfgang Hilbigs Lyrik. Eine Werkexpedition, Verbrecher Verlag, 2021

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