PORTRÄT
Meine Kindheit ist Erinnerung: ein Patio in Sevilla
und ein heller Garten, ein Zitronenbaum reift still;
meine Jugend: auf Kastiliens Erde zwanzig Jahre;
und mein Leben: ein paar Wendungen, die ich
aaaaaerzählen will.
Nicht verführerisch: Mañara nicht noch Bradomín
aaaaaglich ich
− konntet meine schlichte Tracht mit eignen Augen
aaaaaschauen −,
doch der Pfeil, den mir Cupido zumaß, traf auch mich,
und ich liebte, was den Gast beglückt an Frauen.
Mancher Tropfen Jakobinerblut tief in mir brennt,
doch mein Vers entspringt dem heitren Quell als klare Flut;
mehr als einer, der dem Brauch gemäß sein Dogma kennt,
mehr als er bin ich im besten Sinn des Wortes gut.
Ein Bewunderer der Schönheit, brach ich der Ästhetik
der Moderne doch die alten Rosen des Ronsard:
fremd ist mir der kahle Putz der heutigen Kosmetik,
süd- und nordwärts zieh ich nicht als zwitschernd heitrer Star.
Ich verabscheu die Romanzen spießiger Tenöre
und den mit Gezirp zum Mond gewandten Grillenchor.
Bleib, zu unterscheiden stehn, daß ich die Echos höre,
eine nur von all den Stimmen trifft mein Ohr.
Klassiker, Romantiker? Weiß nicht. Gern hinterließe
meine Verse ich so wie ein Kämpe seinen Degen:
Nicht, daß seinetwillen man des Schmieds gelehrtes Handwerk priese,
nein, gerühmt sei es der Hand, die ihn einst führte, wegen.
Immer red ich mit dem Mann, der meinen Weg begleitet
− wer allein spricht, hofft, im Zwiegespräch sich Gott zu nahn −;
Wechselwort mit diesem Freund mein Selbstgespräch bedeutet,
der mir die geheime Tür der Menschenliebe aufgetan.
Zum Beschluß: ich schuld euch nichts, ihr schuldet für mein Werk mir Lohn.
Meine Arbeit ist mir Zuflucht, und mein eignes Geld gewährt
mir den Anzug, den ich trag, das Haus, in dem ich wohn,
gibt das Bett, auf dem ich lieg, das Brot, das mich ernährt.
Bricht für mich dereinst der Tag der letzten Reise an,
liegt das Schiff, das niemals wiederkehrt, seeklar im Wind,
findet ihr auch mich an Bord mit leichtem Bündel dann
und fast nackt, wie es des Meeres Söhne sind.
Übertragen von Uwe Grüning
Die Niederlage der spanischen Republik war besiegelt. Als einer ihrer führenden Denker von den Faschisten verfolgt, starb der Sprachlehrer und Dichter Antonio Machado 1939 auf der Flucht. Seine Gedichte sind auf einzigartige Weise mit der spanischen Kultur, der kastilischen Landschaft verwoben, kommen aus dem tiefen Wissen um den geschichtlichen Grund aller Existenz und einer äußersten Sensibilität für das Befinden des Menschen in der Welt. In schmuckloser Schönheit ordnet sich Einzelnes zum Ganzen einer universellen Dichtung.
Aus Manfred Streubel: Poesiealbum 228, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1986
aber er wird kein Dichter Andalusiens, er wird der Dichter Kastiliens, einer harten, versteinerten, mondhaften Landschaft.
Man wird begreifen, warum Machado Nüchternheit wählt und Schwelgen verwirft, warum man bei ihm harte, zarte Konturen findet statt chromatischer Effekte. Er, dessen erster Gedichtband Einsamkeiten heißt, sagt irgendwo: „Ein einsames Herz − ist kein Herz“ und es ist klar, daß seine Einsamkeit anderer Art ist als jene, die nur um ihrer selbst willen empfunden wird.
Machados Dichtung geht auf den Romancero, die Volksdichtung zurück. Sie demonstriert den Satz von Eugenio de Nora, demzufolge „Dichtung eine unvermeidlich soziale Sache ist wie die Arbeit oder das Recht“.
Stephan Hermlin, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1986
Meine Kindheit sind Bilder eines Patios in Sevilla
und eines lichten Gartens voll reifender Zitronen;
die Jugend: zwanzig Jahre in der Landschaft Castilla;
meine Geschichte: Daten, die kein Erinnern lohnen.
Antonio Machado, der Herkunft und der Gesinnung nach ein Liberaler, doch durch emotionale Bedürfnisse ein Metaphysiker, hat sein fast anonymes Leben in spanischen Provinzstädten dazu genutzt, ein paradigmatisches Werk zu schaffen. In einem Prozeß subtiler Selbstzergliederung brachte dieser Autor es fertig, das Ungenügen seines Milieus durch das Arsenal existentieller Rollen, durch das Repertoire facettierter Möglichkeiten zu bereichern, gemäß seiner Überzeugung: „auch die Wahrheit wird erfunden“.
Machado, der 1875 in Sevilla geboren wurde und der im Alter von acht Jahren nach Madrid kam, hätte als ein von urbanen Eindrücken geprägter Mensch vermutlich keinen Sinn für ländliche Poesieformen entwickelt, wäre er nicht durch seinen Bildungsweg – er besuchte die berühmte Institución Libre de Enseñanza – sowie durch seinen Vater, einen leidenschaftlichen Folkloristen, frühzeitig mit populären Liedern, vor allem mit coplas, vertraut gemacht worden.
Nach dem empfindsamen Auftakt eines ersten Versbandes, der 1903 unter dem Titel Soledades erschien und der Sehnsuchtsbilder vom Südspanien der frühen Lebensjahre enthielt, erklärte der Dichter, der seine zweite, 1912 publizierte Gedichtsammlung Campos de Castilla nannte, das herbe iberische Zentralgebiet aus Übereinstimmung psychischer und gesellschaftlicher Umstände zu seiner favorisierten Landschaft.
Spanien, nach dem Verlust seiner überseeischen Besitzungen in eine tiefe Krise gestürzt, trachtete die Niederlage von 1898 dadurch zu kompensieren, daß es sich einer Selbstbesinnung unterzog. Maeztu, militanter Ideologe der Restauration, meinte, das Land solle sich nicht darin erschöpfen, Frankreich weiterhin intellektuell nachzuahmen, sondern nach zweihundert vertanen Jahren sein Eigenverständnis wieder in den Werten der Vergangenheit suchen. Dieser Geist der Hispanität, der jedoch weniger ein Programm als eine Stimmung war, führte auf literarischem Gebiet dazu, daß Azorin eine Reihe zeitgenössischer Autoren in Beschlag nahm und – bisweilen gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen – zur Gruppe der 98er zusammenfaßte. Das Jahr 98 wurde so zu einem Jahr des Neubeginns. Doch weder Azorin, der mit seiner These „Vivir es ver volver“ („Leben heißt zurückblicken“) Mensch und Landschaft zu etwas Exemplarisch-Gleichbleibendem machte, noch Unamuno, der in seinem „Hunger nach Unsterblichkeit“ den gefährdeten katholischen Glauben durch eine Annäherung an Kierkegaards radikalen Protestantismus zu retten versuchte, konnten auf praktische Weise etwas zur Regelung des „Problems Spanien“ beitragen, das, wie Joaquín Costa sagte, nur durch „Schule und Speisekammer“ zu lösen war.
Auch Machado, der bedeutendste Lyriker der 98er Generation, benutzte Kastilien vor allem zur Projektion eigener Empfindungen. Er delegierte das als schal empfundene gegenwärtige Leben in eine Vergangenheit, die mit fragwürdigem Sinn ausgestattet und sodann einer Zukunft überantwortet wurde, die selbst nur ein Reflex vergangenen Glanzes war:
Doch heute… Was bedeutet denn schon ein Tag!
[…]
Was bedeutet ein Tag! Das Gestern, es harrt
auf ein Morgen, das in die Ewigkeit blickt.
Trotz des natürlichen Wunsches, in einem Seins- und Geschichtsbezug persönliche Geborgenheit zu finden, gab es in Machados Naturell eine Neigung, die schwärmerischen Intentionen in Schach zu halten und die elementaren Bedürfnisse durch eine an der Realität orientierte und kontrollierte Genauigkeit zu befriedigen. Es wurde Machado schon frühzeitig möglich, sein zentrales Thema, die Zeitlichkeit, herauszuarbeiten und auf spontane Weise Sachverhalte auszudrücken, über die er sich später auch in diskursiver Sprache äußerte:
Die Dichtung ist […] das Zwiegespräch des Menschen, eines Menschen mit seiner Zeit. Das ist es, was der Dichter verewigen möchte, indem er es aus der Zeit herausholt, ein mühseliges Unterfangen, das viel Zeit verlangt, nahezu die ganze Zeit, über die ein Dichter verfügt. Der Dichter ist ein Fischer nicht der Fische, sondern des lebendig Gefischten; verstehen wir uns recht: der Fische, die nach dem Fischzug weiterleben können.
Für Machado, den Liebhaber des Zeitworts („Das Adjektiv und das Substantiv, / ruhige Stellen klaren Wassers, / sind Beifügungen des Verbs / im Bereich der lyrischen Grammatik / […]“), war es geboten, das zu Benennende nicht in Allgemeinbegriffen untergehen zu lassen, wie das bei Unamuno vorkam, dem titanischen Irrationalisten, der sein Denken poetisierte und seine Poesie zerdachte. Auch ein schwelgerisches Zurschaustellen der eigenen Sensibilität, wie es die (den französischen Symbolismus weiterkultivierenden) Modernisten Rubén Darío, Juan Ramón Jiménez und Ramón del Valle-Inclán praktizierten, kam für Machado nicht ernsthaft in Frage:
Wir brauchen die klare Luft der Sierra, nicht betäubende Düfte.
Der Dichter, der kalten Formalismus, sprachlichen Aufwand und essenzlose Musikalität zu vermeiden trachtete, bemühte sich zunehmend um die Anpassung der Gedichtgestalt an das Sujet. Und die brauchbarste Methode, die konzeptistische Metapher des Barock und die Rhetorik der Aufklärung ebenso zu umgehen wie den Prunk des modernismo und das Pathos Unamunos, fand Machado, der sich zudem mit dem gefühlsintensiven Werk des Romantikers Bécquer beschäftigte, in einem Ausrichten seiner Metaphorik auf sensualistisch wahrnehmbare Zonen. Um anschaulich zu sein und dennoch nicht auf das inflationistisch gewordene Vokabular der Überlieferung zurückgreifen zu müssen, befreite Machado die Erscheinungen der Natur aus dem Gefängnis der Naturpoesie und brachte sie in einen frappierenden Kontext zu zivilisatorischen Ingredienzen, etwa wenn er welken Mohn Krepp des trauernden Feldes nannte oder wenn er sagte:
Im Garten blühen Dahlien.
Verfluchter Garten!… Heute erscheint er mir
als das Werk eines Friseurs:
mit dieser armen, dürftigen Zwergpalme,
mit diesem Viereck von gestutzten Myrten,
dem Orangenbäumchen in seinem Kübel…
Anders als Jiménez, der empfindsame Elegiker, der seine primär ländlich-regional gestimmte Mentalität schließlich zugunsten einer universellen Haltung aufgab, in welcher sein Andalusiertum nur noch eine ästhetische Funktion hatte, blieb Machado bewußt ein Mensch der Provinz: ein Mann, dem das Einfache nicht als Stimulans diente, sondern als die angemessene Daseinsform, welcher die Poesie durch Intention und popularistische Gesinnung zu entsprechen hatte:
Wenn ihr Dichter werdet, pflegt eure Folklore. Denn die wahre Dichtung macht das Volk. Verstehen wir uns recht: es macht sie jemand, von dem wir nicht wissen, wer er ist, oder letzten Endes nicht zu wissen brauchten, wer er ist, ohne daß das für die Dichtung von irgendwelchem Nachteil wäre.
„Desde mi rincón“ (Aus meinem Winkel) heißt mit programmatischer Deutlichkeit eines der ersten Gedichte aus Baeza. Diese Arbeit, eine Huldigung an Azorín und dessen Buch Castilla, ist 1913 entstanden, kurz nachdem Machado seine Frau verloren hatte und er aus dem nördlichen Soria fortgezogen war. In Soria („Silbern scheinende Hügel, / graue Höhen, distelblaue Felshänge“) hatte der Dichter gern gelebt; hier war er – übrigens im Alter von bereits dreiunddreißig Jahren – Leonor, seiner großen Liebe, begegnet. Hingegen empfand Machado seinen nächsten Wohnsitz, das im andalusischen Hochland gelegene Baeza, von Anfang an als eine Stätte der Verbannung. Dieses Provinznest mit nur einer Buchhandlung, in der es lediglich Postkarten, Gebetbücher, klerikale Zeitschriften und Pornographie gab, konnte nicht nach dem Geschmack eines Mannes sein, der sich mit Platon, Aristoteles, Bergson, Leibniz, Kant, Schopenhauer und Nietzsche beschäftigte.
Durch seinen Umzug nach Baeza kam Machado wieder mit dem Guadalquivir, dem Fluß seiner Kindheit, in Berührung, der ihm zum Gleichnis der Existenz wurde:
Was ist nun die Wahrheit? Der Fluß,
der strömt und vorbeizieht,
auf dem das Boot und der Bootsmann
gleichfalls Wellen des Wassers sind?
Oder des Matrosen stetes
Träumen von Ufer und Anker?
Einmal, während eines Aufenthalts in Sevilla, wollte der Dichter sein Geburtshaus besuchen. Doch das Gebäude, der den Herzögen von Alba gehörende Palacio de las Dueñas, hatte inzwischen aufgehört, Unterkunft bürgerlicher Familien zu sein, und so mußte Machado es sich gefallen lassen, von dem Verwalter aus jenem Patio ausgesperrt zu bleiben, der sich heute mit einigen auf einer Tafel angebrachten Versen des Lyrikers schmückt.
Das Interesse Machados, dieses, wie Unamuno gesagt hat, Mannes mit der reinsten Seele und dem schmutzigsten Äußeren, verlagerte sich allmählich vom überzeitlichen Immer auf den gegebenen Augenblick. Besonders wichtig wurden („Hacia tierra baja“, Ins Tiefland) Reisen nach Niederandalusien, die dem Dichter den befreienden Aufenthalt in atlantischen Städten ermöglichten:
Eine Sommernacht.
Der Zug hat den Hafen erreicht,
von Seeluft verschluckt.
Noch kann man das Meer nicht sehen.
Dieses Poem, scheinbar nur eine Skizze, läßt erkennen, daß der Ortswechsel auch einen Wandel der dichterischen Mittel zur Folge hatte. Denn waren die in Soria geschriebenen Verse vielfach nostalgisch und koloristisch überfrachtet gewesen, so gerieten die neuen Arbeiten ohne Redundanz. Vor allem flinke coplas setzten sich durch, und sie wurden formal abgewandelt und teilweise noch verknappt, bis sie geschmeidig genug waren, neue Stimmungen und Einsichten zu fassen und etwa zu sagen:
Heute ist noch immer.
Machado, indem er fortan das Präsens betonte, reduzierte die Macht der Vergangenheit. So vermied er Unkonturiertes, Gemütvolles, Vages. Freilich ging die psychische Stabilisierung, die durch Zuhilfenahme des begrifflichen Denkens erreicht wurde, mit einem Verlust der poetischen Substanz einher:
Das Auge, das du siehst, ist nicht
ein Auge, weil du es siehst,
sondern weil es dich sieht.
Oder:
Deine Wahrheit? Nein, die Wahrheit.
Komm, wir wollen sie suchen.
Deine behalte für dich.
Das bildgesättigte Gedicht machte – besonders in den Ortega y Gasset gewidmeten „Proverbios y cantares“, die 1924 in dem Band Nuevas Canciones publiziert wurden – weitgehend dem Sinnspruch Platz. Doch Machado, obwohl er sich darüber im klaren war, daß aphoristische Dichtung nicht das „wesentliche Wort in der Zeit“ sein konnte, und obwohl er, um den Anschluß ans Spezifisch-Lyrische wiederzuerlangen, zeitweise sogar die von ihm selbst verworfene „Skelett“-Form des Sonetts in seine Übungen einbezog, zeigte sich nicht bereit, dem Aromaschwund dadurch entgegenzuwirken, daß er jene Impulse aufgriff, die von Vicente Huidobro ausgingen. Die Metaphern für sich genommen – so befand er – seien nichts. Der alternde Dichter, irritiert durch den Einfluß, den Huidobros creacionismo und Góngoras radikale Bildkunst auf junge Lyriker wie Diego, Lorca und Alberti gewannen, verwarf die neue, sich scheinbar von Zeit und Raum emanzipierende Poesie, und er verurteilte – freilich hinter einer literarischen Maske – die Barockdichtung und ihre Intuitionsarmut, ihren Kult mit dem Gekünstelten, ihren Mangel an Zeitlichkeit sowie ihre Ignoranz tatsächlichen Problemen gegenüber. Um jedoch nicht offen gegen Góngora, den Heros der 27er Generation, auftreten zu müssen, bediente sich Machado Calderóns als negativer Figur, der er Jorge Manrique entgegenstellte.
Die Schwierigkeit, sein Fühlen und Denken, sein Dichten und Philosophieren trennen und zusammenhalten zu müssen, versuchte Machado dadurch zu lösen, daß er sich in eine Anzahl verschiedener Personen spaltete. Wie der Portugiese Fernando Pessoa, der sich ebenfalls – und etwa gleichzeitig – in Heteronyme auffächerte, machte auch Machado von der schizoiden Begabung des iberischen Menschen Gebrauch und trennte vom Integral seines Selbst diejenigen Komplexe, die den seelisch-geistigen Zusammenhang gefährdeten. Das absurdeste Double schuf er sich zweifellos mit – Antonio Machado, einem, wie er darlegte, gleichfalls in Sevilla geborenen und zudem in Soria, Baeza und Segovia wirkenden Poeten, den man jedoch nicht verwechseln dürfe mit „dem berühmten Dichter gleichen Namens, dem Autor der Soledades, der Campos de Castilla usw.“
Die wichtigsten Gestalten kreierte Machado aber mit dem philosophierenden Dichter, Rhetoriker und Erfinder Juan de Mairena, einem Mann, der seinem bürgerlichen Beruf nach angeblich Turnlehrer war, sowie mit dessen geistigem Vorläufer Abel Martín. Juan de Mairena, der Erfinder einer Gesangmaschine und, unter anderem, der Verfasser einer Biographie über Abel Martín, entwickelte die Vernunft zu einer Instanz, die alles – auch sich selbst – mit kritischer Zurückhaltung betrachtete; zugleich jedoch ließ er sich von dem Mystiker Abel Martín zunehmend zu spekulativem Denken verführen. Und schließlich bekannte er, der als Logiker eigentlich im Fluß des Heraklit ankern wollte, sich zum panta rhei, anders gesagt: er gab sich dem strömenden Rhythmus voranalytischen Erkennens hin, bis das Universum mehr war als nur die Summe des physikalisch Vorhandenen:
,Das Andere existiert nicht‘: dies ist der rationale Glaube, die unheilbare Glaubensüberzeugung der menschlichen Vernunft. Identität = Realität, als wenn zum guten Schluß alles mit absoluter Notwendigkeit ,ein und dasselbe‘ zu sein hätte. Aber das Andere läßt sich nicht ausmerzen; es dauert weiter, dauert aus; es ist der harte Knochen, an dem sich die Vernunft die Zähne ausbeißt.
Mit Abel Martín, dem der Mystik zugeneigten Deuter des Seienden wie des Nicht-Seienden, besaß der Dichter eine weitere Persona, die nicht nur für Exkursionen in den Bereich irrationalen Denkens in Anspruch genommen werden konnte, sondern die sich (wegen ihrer spezifischen Beschaffenheit) auch dazu eignete, Konterfei erotischer Empfindungen zu werden. Die Erotik spielte im Werk Machados eine große – freilich mit hermetischer Delikatesse behandelte – Rolle. Denn dieser Autor, der in der Liebe den eigentlichen Inhalt aller Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit sah und der seiner toten Frau unabdingbar die Treue zu halten versuchte, schirmte sich gegen die Angebote der Welt ab. Über Abel Martín, das alter ego für den sexuellen Teil seines Wesens, sagte Machado, dieser sei ein Schürzenjäger und, möglicherweise, auch ein Onanist, „ein Mann, den die Frau in jedem Fall beunruhige und verdrieße, ob sie nun anwesend oder anwesend sei“:
Die Augen
I
Seine Geliebte war tot.
Und hinter Tür und Riegel
wollte er altern, verbot
sich alles; nur den Traum, nur jenen Spiegel,
wo sie in schöner Stunde sich angeschaut,
wollte er einsam bewahren, gleich dem Gold,
das der Geiz einem Eisenschrein anvertraut:
alles Gestern im klaren Spiegel gestaut.
Die Zeit – dachte er – war für ihn ausgerollt.
II
Doch als ein Jahr darüber vergangen war…
Wie waren – fragte er sich – ihre Augen?
Braun oder schwarz? Wie denn nur?
Blau oder grau? Himmel! Weiß ich es nimmer?…
III
Eines Tages im Frühling
ging er hinaus auf die Straße, schritt schweigend
in doppelter Trauer, verschloßnen Herzens…
In der dämmrigen Höhlung eines Fensters
sah er ein paar Augen glänzen. Er senkte
die seinen und ging seines Wegs… Wie diese!
Einen Hinweis auf den moralischen Konflikt, in dem sich Machado befunden haben muß, als er in den zwanziger Jahren allmählich aus seiner nachgerade mönchischen Witwerexistenz herauszutreten versuchte, gibt der Umstand, daß er die Gedichte an Guiomar, die Geliebte seiner reifen Zeit, nicht unverschlüsselt und für sich, sondern nur im Cancionero apócrifo publizierte. Im Cancionero apócrifo, diesem Buch unechter Lieder mit den poetischen und poetologischen Maskeraden, finden sich aber auch noch Reminiszenzen an Leonor, etwa in einer Passage des Gedichts „Erinnerungen aus Traum, Fieber und Halbschlaf“, wo sich Schuldgefühle unverhofft zu einem Alpdruck verdichten:
Da sah ich sie einen Augenblick lang
auf den Türmen des Vergessens erscheinen.
Ich wollte und konnte nicht schreien.
Machado, der von 1919 bis zu seiner (dreizehn Jahre später erfolgten) Übersiedlung nach Madrid in dem der Hauptstadt nahe gelegenen Segovia lebte, schrieb, zusammen mit seinem Bruder Manuel, einige Bühnenstücke. Diese Arbeiten, die in künstlerischer Hinsicht nicht allzu bedeutend waren und deren Erfolg sich in Grenzen hielt, ermöglichten jedoch ein Verlagern der Problematik aus dem psychischen Bereich in die öffentliche Sphäre des Theaters.
Das Madrid der Nachkriegsjahre, mit dessen kulturellem Milieu der Dichter jetzt zunehmend in Berührung kam, ähnelte kaum noch der verschlafenen überdimensionalen Provinzstadt, in der Machado seine Jugendzeit verbracht hatte. Das Radio, das Kino, die von Autos belebten Straßen, die Metro und die neue emanzipierte Frauenmode waren für einen Angehörigen der 98er Generation ebenso irritierend wie die jungen aggressiven Künstler, von denen zwei, Dali und Buñuel, einem Manne wie Jiménez einen unverschämten Brief wegen dessen ländlich-stimmungsvoller Prosadichtung Platero y yo schrieben.
Auch in den Jahren der Republik hielt sich Machado, der schweigsame Besucher von Cafés, bescheiden im Hintergrund. Und wenn er auch über das Ende der Herrschaft Primo de Riveras erleichtert war, so beobachtete er doch die Euphorie im Lager der Progressisten nicht ohne Bedenken:
Politiker, die auf die Zukunft hin herrschen wollen, müssen die Tiefenreaktion einkalkulieren, welche in Spanien auf jeden Oberflächenfortschritt folgt. Unsere sogenannten Linkspolitiker – beiläufig bemerkt, ein bißchen frivol – berechnen, wenn sie ihre Gewehre mit Zukunftsrhetorik abdrücken, selten den Rückschlag der Kolben, der, auch wenn es sonderbar erscheint, heftiger auszufallen pflegt als der Schuß.
Antonio Machado, der im Bürgerkrieg im Regierungslager stand und der nach dem Sieg der Faschisten zusammen mit seiner greisen Mutter nach Frankreich floh, wo er am 22. Februar 1939 in dem Fischerort Collioure entkräftet starb, begriff, früher als die anderen spanischen Dichter, die Ambivalenz der Lage. Denn hieß er als Staatsbürger auch viele reformistische Ansätze gut, so beunruhigte ihn als Künstler doch sehr die Zurückdrängung der volkstümlichen Kultur, für die mit Vehemenz einzutreten er nicht müde wurde:
Seid original; ich empfehle es euch; ich möchte beinahe wagen, es euch zu befehlen. Dazu – das liegt auf der Hand – müßt ihr auf den Beifall der Snobs und der Neuheitsfanatiker verzichten; denn sie werden stets glauben, einiges von dem, was ihr denkt, schon gelesen zu haben, und außerdem werden sie meinen, ihr hättet es auch gelesen, wenn auch in Editionen, die der Pöbel schon entweiht hatte, und letzten Endes hättet ihr es es längst nicht so gut begriffen wie sie. Laßt es euch nicht anfechten, über das nachzudenken, was ihr achtzigmal gelesen und fünfhundertmal gehört habt; denn Denken ist nicht dasselbe wie Gelesenhaben.
Machado, der sich nicht mit den Anregungen des creacionismo hatte anfreunden können, war erst recht nicht bereit, die Traumsedimente des Surrealismus als Ersatz für die im Zivilisationsklima verlorengehende Unmittelbarkeit zu akzeptieren:
Von den Surrealisten hätte Juan de Mairena gesagt: diese Brunnen-Maulesel haben noch immer nicht begriffen, daß es keinen Brunnen ohne Wasser gibt.
Das Ideal Machados, der sich mit dem Materialismus der Psychoanalyse wie dem des Marxismus nicht abfand, blieb eine Poesie, die des „platonisch-scholastischen Glaubens an die Wirklichkeit der Universalien“ nicht völlig entraten mochte. Da letztlich keine Gewißheit darüber zu erlangen war, ob die Erscheinungen der Welt Illusionen oder die Illusionen essentielle Artikulationen transzendentaler Ideen sind, hielt sich der Dichter an das sensorisch Wahrnehmbare als an diejenige Dimension, die – über alle intellektuellen Gründe und Verdachtsmomente hinaus – der Beschaffenheit des Menschen noch am ehesten entspricht.
Dichtung also als das, was sinnlich greifbar, was überschaubar ist. Als der konkrete Schatten der (in ihren innersten Zusammenhängen nicht erklärbaren) Totalität. So standen die Worte, standen die Bilder für die unzerlegbare Mannigfaltigkeit im bergsonschen Sinne, die in jeder ihrer unvollkommenen und widersprüchlichen Einzeläußerungen zugleich Teil und Ganzes war, stabilisierende Ergänzung des antinomisch Anderen und Andersartigen:
In Garciez
bewässert man die Oliven,
alle werden einzeln benetzt.
In Jimena
gibt es mehr Wasser als Durst;
aus acht Rohren schießt das Wasser,
in jedem ist genug zu trinken.
Dieses Gedicht, das Machado 1923 seinem (heute unter dem Titel Los Complementarios veröffentlichten) Skizzenbuch anvertraute, wurde später bearbeitet, bis nur noch ein metaphorisches Konzentrat übrigblieb, das in den Cancionero apócrifo gelangte – als das leuchtendste Stück der Folge „In der Manier von Juan de Mairena / Notizen für eine spanische Geographie der Gefühle“:
In Garciez
gibt es mehr Durst als Wasser,
in Jimena mehr Wasser als Durst
Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974
Ich weiß für den, der es nicht sieht und hört, ist hier nichts zu finden, ein Sandkasten, eine Wüste, die Gasthöfe dunkel, das Essen ärmlich, Land, das da ungebeten herumliegt, träge und grau, abwesend, unwiderstehlich. Ich denke immer, daß ich hier hätte geboren werden müssen oder daß ein ferner Vorfahre von hier gekommen ist, aber vielleicht ist es umgekehrt, und ich mußte ausgerechnet in dem sumpfigen, grünen Wasserland geboren werden, um ein Auge für die Verlockung der Härte und des Steins zu haben. Doch was darüber zu schreiben ist, ist bereits geschrieben worden.
Encinares castellanos
en laderas y altozanos,
serrijones y colinas
llenos de obscura maleza,
encinas, pardas encinas;
humildad y fortaleza!
Encinas sind Steineichen, die Bäume, die man sieht, wo keine Olivenbäume gepflanzt worden sind, laderos, altozanos, serrijones und colinas sind alles verschiedene Formen von Erhebungen, Hügel, kleinere Bergzüge, Buckel, Bergflanken, allein oder aneinander gereiht; llenos heißt voll, maleza bedeutet Strauchgewächs oder Ackerunkraut, es klingt düster und böse, dieses Wort; pardas ist grau im Plural Femininum, humildad so demütig, wie es klingt, und fortaleza so stark wie ein Fort, und aneinandergereiht, wie Antonio Machado es hier getan hat, ergeben diese Worte einen Singsang, der verlorengeht, wenn ich sie zu übersetzen versuche. Aber es ist, was ich rings um mich sehe, die Steineichen mit ihren harten, staubigen Blättern, allein oder in Gruppen auf den Wogen der Landschaft. Demütig sind sie, aber stark, sie ertragen alles. „Die Landschaft selbst hat sich in dir zum Baum gemacht“, sagt er ein Stück weiter in diesem Gedicht und beschwört Landschaften von Sommer und Winter, beißender Sonne und eisiger Kälte, bochorno y borrasca, glühender Hitze und wilder Stürme immer wird die graue Steineiche sie selber bleiben und wie ein sombra tutelar, wie ein schützender Schatten, über die Landschaft wachen, ein Baum für den Reisenden, der sein Auto abgestellt hat, sich auf das Bett aus Schatten und trockenen Blättern gelegt hat und dieser fast wortlosen Stimme folgt.
Klein ist es, Úbeda, und klein Baeza, man braucht dort nichts zu tun, lesen, umherwandern, den Schatten suchen und zusehen, wie das Licht die Bilder fotografiert, schauen, betrachten. Baeza ist älter als Úbeda, andere Echos, andere Stille, als ich hinter der Kathedrale auf einem schmalen Pfad um den hohen Hügel wandere, stoße ich plötzlich auf eine Statue von Antonio Machado, und auch sie ist aus dem Stoff für Träume gemacht, denn der Kopf des Dichters ist ein Kopf ohne Körper, er ist aus Bronze, aber in Beton gefangen und auf einen niedrigen Schutthaufen gestellt, die Augen sind offen, aber er schaut über einen hinweg, Vögel haben seinen Kopf vollgeschissen, so daß er vom Scheitel aus weint, bittere schmutziggraue und -weiße Tränen aus Vogeldreck, ein ausgestopftes Dichterhaupt in einem Betonkäfig, ausgelaugt von der Hitze, wie ein Götzenbild über dem Land aufgestellt, über das er schrieb: „so traurig und arm, daß es deshalb eine Seele hat“:
tierras pobres, tierras tristes,
tan tristes que tienen alma!
Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008
Julia Macher: Der Vorzeigedichter der Zweiten Republik
deutschlandfunk.de, 22.2.2019
Antonio Machado – Fotografien aus dem Leben von Antonio Machado, mit der Musik von Paco Ibañez.
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