LXXXVIII
Vielleicht, in Träumen, ließ
die Hand des Sternensämanns
erklingen die vergessene Musik
als einen Ton der unendlichen Lyra,
und an unsere Lippen drang der schlichte
Wellenschlag von wenigen wahren Worten.
Kein anderer Lyriker ist dem Bewußtsein und dem Herzen der Spanier heut so nah, so gegenwärtig wie der vor mehr als einem halben Jahrhundert – am 22. Februar 1939 – als Flüchtling jenseits der Landesgrenzen verstorbene Antonio Machado.
Der Autor der Einsamkeiten ist zum „poeta del pueblo“ geworden, zum „Dichter des Volkes“. Er, der sich selbst, in einem privaten Notizbuch, einmal mit dem Etikett „Intimismo“ in den tabellarischen Aufriß einer Entwicklungsgeschichte der spanischen Lyrik eingeordnet hatte, gilt heute als exemplarische Verkörperung gesellschaftlicher Wachsamkeit, Teilhabe, Solidarität und Treue.
Die „Poesías completas“ des linken Erzliberalen, der sich standhaft zur Republik bekannte, als die Putschisten 1936 militärisch über sie herfielen; der mit publizistischen Mitteln bis zum Schluß für sie kämpfte und als gealterter, kranker Mann noch das Schicksal der geschlagenen Milizionäre teilte, die vor den Armeen Francos nach Frankreich flohen – die „Poesías completas“ dieses entschlossenen Gegners der Sieger im Bürgerkrieg wurden schon 1941, zwei Jahre nach dem Triumph der Falangisten, zwei Jahre nach dem elenden Sterben des Dichters in Collioure, erneut in Madrid publiziert, in fünfter Auflage, mit allen Gedichten der vierten von 1936 – und mit einem Vorwort. in dem der damalige Chefpropagandist der Falang (und spätere Gründer einer oppositionellen sozialdemokratischen Partei) Dionisio Ridruejo erklärte:
… wir können uns nicht mit der Vorstellung abfinden, Machado für einen schändlichen, verbotenen und feindlichen Dichter zu halten. Im Gegenteil, wir wollen und müssen ihn – angesichts der Unvergänglichkeit seines Werkes und des Lebens von Spanien – als großen Dichter Spaniens ausrufen, als ,unseren‘ großen Dichter.
Während der Jahrzehnte, in denen dann der Caudillo por la gracia de Dios, jener „Schurke“, den Machado in einem Sonett an einer hohen Pinie als Verräter erhängt sehen wollte, das Land diktatorisch beherrschte, wuchs der Ruhm des lauteren, notorisch unadretten, Verse schreibenden Französischlehrers, der den größten Teil seines Erwachsenenlebens in kleinen, alten, abgelegenen Provinzstädten – Soria, Baeza, Segovia – verbracht hatte, ins Ungeahnte.
Schon 1963 bekannte Jorge Guillén, der nach Amerika emigrierte poeta doctus, Verfasser des herrlichen (von Ernst Robert Curtius im deutschen Sprachraum vorgestellten) „Cántico“, einer der großen spanischen Lyriker aus der jüngeren Dichterpromotion, der Lorca-Generation, in einem Gespräch mit Claude Couffon:
Ich stimme mit denen Überein, die in ihm den ersten spanischen Dichter dieses Jahrhunderts sehen.
Und sehr viele seien es, fügte Guillén hinzu, die dieser Meinung sind.
Ich bewundere sehr die moralische und poetische Integrität Machados. Und auch seinen Humanismus, seine Haltung als ganzer Mensch. Seine Dichtung nährt sich immer von einer tiefen, wesentlichen, bleibenden Idee. Er ist zweifellos der am wenigsten manierierte Dichter, derjenige, der am geringsten von den Moden seiner Zeit befallen worden ist. Aus eben diesem Grund ist er auch der Künstler, der die geringsten Neuigkeitsreize bietet und sich am wenigsten um literarische Innovation kümmert. Im Gedanken an ihn fühle ich eine gewisse Reue; und zwar deshalb, weil ich ihn trotz der Verehrung, die ich empfand, nur selten gesehen, mich wenig mit ihm in Verbindung gesetzt habe. Salinas und ich haben ihn immer bewundert, aber ihn kaum je besucht. Er sprach von uns mit großer Wertschätzung, aber ich glaube, daß er uns nicht recht verstand. Er betrachtete uns als Gipfel einer reinen, abstrakten Poesie. Er sagte, wir verzichteten auf das Herz. Aber tat dies, trotz allem, mit viel Sympathie…
Über sich selbst und sein Tun äußerte sich der so Bewunderte mit skeptisch-selbstbewußter, stolzer Bescheidenheit. Das Vorwort zu seinen Páginas escogidas (Ausgewählte Seiten) schloß er 1917 mit den Sätzen:
Der Dichter soll mit Respekt die Kritik anhören, die andere üben, denn das Buch, das er auf den Markt geworfen hat, gehört ihm nun nicht mehr allein. Er hat es dem Urteil der Menschen ausgeliefert, ohne daß ihn irgendwer dazu gezwungen hätte. Es bleibt ihm jedoch das Recht, den Ermahnungen und Ratschlägen gegenüber nicht allzu gefügig zu sein; und vor allem empfiehlt es sich, selbst den eigenen Definitionen zu mißtrauen. Nicht in der Kunst wird definiert, sondern in der Mathematik – dort, wo das Definierte und die Definition ein und dieselbe Sache sind. Angesichts der dogmatischen und doktrinären Kritik darf sogar die eigene Ungeschicklichkeit abweisend lächeln. Aber dennoch ist es natürlich erlaubt, von einem Menschen, der ein Buch verfaßt hat, ein Werturteil über sein Werk zu fordern, eine Auskunft über den Preis seiner Arbeit; man darf ihn durchaus fragen: „Wie hoch schätzen Sie das ein, was Sie uns da anbieten mit der Erwartung unserer Sympathie und unseres Beifalls?“ Ich will kurz und bündig antworten. An absolutem Wert hat mein Werk wohl recht wenig an sich, wenn es überhaupt einen hat; aber ich glaube – und darauf beruht sein relativer Wert −, mit ihm dazu beigetragen zu haben, gemeinsam mit anderen Dichtern meiner Altersklasse, daß überflüssige Zweige am Baum der spanischen Lyrik gekappt worden sind, und mit ehrlicher Liebe etwas getan zu haben für künftige und kräftigere Frühlinge.
Diesem Willen zur Reduktion entspricht die ironische Lektion, die er zwei Jahrzehnte später seinen fiktiven Turn- und Rhetoriklehrer Juan de Mairena erteilen läßt:
Poesie, meine Herren, wird wohl der Rückstand sein, den man nach einer delikaten kritischen Operation erhält, die darin besteht, aus all dem, was als Poesie verkauft wird, das zu eliminieren, was nicht Poesie ist. Es ist schwierig, diese Operation zu praktizieren. Denn um aus all dem, was landläufig als Poesie gehandelt wird, den Schund oder antipoetischen Wust auszumerzen, der ihr anhaftet, müßte man wissen, was nicht Poesie ist, und dafür zunächst einmal und vor allem wissen, was Poesie überhaupt ist. Wenn wir das wüßten, meine Herren, wäre die Erfahrung einigermaßen überflüssig, aber nicht gänzlich ohne Reiz. Doch die Wahrheit ist, daß wir es nicht wissen und daß die Erfahrung sich anscheinend nicht gewinnen läßt…
Wie energisch sich schon der junge Machado um die Kunst des Kappens bemühte, zeigt sich bereits an seinem Erstling. Denn die spanische Textsammlung, die wir hier in diesem Band unter dem Titel Soledades bieten, ist keineswegs identisch mit dem Versbuch, das Ende 1902 oder Anfang 1903 erstmals mit diesem Titel in Madrid erschien (unsere Edition entspricht dem Textbestand, der unter demselben Titel in der vierten Ausgabe der Poesías completas 1936 geboten wurde, also der Ausgabe letzter Hand). Von den 42 Gedichten jener Ur-Soledades übernahm der Autor nur 29, zum Teil beträchtlich verändert, in den Nachfolgeband Soledades. Galerías. Otros poemas von 1907, der 93 Gedichte umfaßte.
Der Autor allerdings tat sein Bestes, um den Unterschied zwischen den bei den Büchern zu verwischen, als wollte er die Urfassung vergessen lassen. Das Vorwort, das er 1917 zum Wiedererscheinen seiner Soledades im Rahmen der Páginas excogidas“ verfaßt hat, endet mit der Erklärung: „Dieses Werk wurde 1907 umgearbeitet, wobei neue Gedichte hinzukamen, die den früheren nichts Wesentliches hinzufügten. Beide Bände bilden eigentlich ein einziges Buch.“ Die Einheit beider hatte er freilich schon 1913 im bibliographischen Anhang einer autobiographischen Skizze, die er für eine von Azorín geplante, aber nie erschienene Anthologie entwarf, deklariert:
Ich habe 1903 ein Versbändchen veröffentlicht, das umgearbeitet und mit neuen Gedichten 1907 nochmals erschienen ist: Soledades, Galerías y Otros poemas… (so die dritte Titelvariante des „einen“ Buches)
Der passende Kommentar zu diesen Kaschierversuchen des Autors findet sich in den – nicht zur Publikation bestimmten – Aufzeichnungen seines Lektüre-Tagebuchs, Los complementarios:
Wenn ein Dichter theoretisiert über Dichtung, mag er Dinge sagen, die viel Wahres an sich haben, aber er wird nie etwas Richtiges über sich selber sagen.
Wollte man diese Worte nun als bare Münze einer allezeit gültigen Währung nehmen, müßte man freilich verkennen, wie treffend, wie wesentlich die Auskünfte sind, die der selbstkritische Dichter im schon genannten Vorwort zum Wiedererscheinen seines Erstlings bot:
Die Kompositionen dieses ersten Buches, veröffentlicht im Januar 1903, wurden zwischen 1899 und 1902 geschrieben. In jenen Jahren war Rubén Darío, den die gängige Kritik bekämpfte, ja verspottete, das Idol einer erlesenen Minderheit. Auch ich bewunderte den Autor der ‚Prosas profanas‘, den unvergleichlichen Meister der Form und der Empfindung, der uns später in den Cantos de vida y esperanza (den Liedern von Leben und Hoffnung) die Tiefe seiner Seele offenbarte. Aber ich versuchte – und man beachte, daß ich mich keiner Erfolge rühme, sondern von Absichten rede −, einen ganz anderen Weg zu gehen. Ich dachte, was das Wort zum poetischen Element macht, sei nicht dessen klanglicher Wert, weder die Farbe noch die Linie, auch nicht eine Verbindung vielfältiger Sinneswahrnehmungen, sondern ein tiefes Pulsieren des Geistes; das, was die Seele mit eigener Stimme von sich gibt, falls sie etwas von sich gibt; oder was sie sagt, falls sie etwas sagt, als lebendige Antwort auf den Kontakt mit der Welt. Und ich dachte auch, daß der Mensch manche Worte eines inneren Monologs aufschnappen kann, wenn es ihm gelingt, die lebendige Stimme von den öden Echos zu unterscheiden; daß es ihm sogar möglich ist, wenn er nach innen schaut, ahnungsweise die Herzensideen zu gewahren, die Universalien des Gefühls. Mein Buch war nicht die systematische Verwirklichung dieser Absicht; doch so war meine damalige Ästhetik.
Zwei Jahre später, 1919, als eine neue Einzelausgabe der Soledades, Galerías y Otros Poemas erscheint, wird der Zwiespalt des Autors im Blick auf seinen Doppelerstling noch großzügiger camoufliert. Aber bemerkenswert sind ein paar neue Züge der rückschauenden Selbstinterpretation:
Das Buch, das die Colección Universal heute aufs neue herausgibt, wurde 1907 veröffentlicht, und es war nichts weiter als eine, mit wenig bedeutsamen Hinzufügungen versehene, Zweitauflage des BuchesSoledades, das 1903 zum Druck gegeben wurde und Verse enthielt, von denen viele schon in vorausgegangenen Jahren geschrieben und publiziert worden waren. – Kein ehrliches Gemüt konnte damals den Klassizismus erstreben, wenn man unter Klassizismus etwas mehr zu verstehen hat als den hellenistischen Dilettantismus der Parnassiens. Neue Epigonen von Protagoras (Nietzscheaner, Pragmatisten, Humanisten, Bergsonianer) fochten gegen jede konstruktive, kohärente, logische Arbeit. Die herrschende Ideologie war hauptsächlich subjektivistisch; die Kunst atomisierte sich, und der Dichter war, in mehr oder weniger energischen Gesängen – erinnert euch, wie der große Whitman seinen ,mind cure‘ anstimmte, den triumphalen Hymnus auf das eigene Bewegungsgefühl −, einzig darauf bedacht, sich selbst zu besingen, allenfalls noch die Stimmung seines Volkes. Ich liebte diese neue Sophistik mit Leidenschaft und genoß sie bis zur Magenverstimmung, als gutes Gegengift wider den ungläubigen Kult der alten Götter, die in unserem Vaterland bereits durch Kunstgebilde aus Pappmache repräsentiert wurden. – Aber viel mehr liebe ich das bevorstehende Zeitalter und die Dichter, die auftauchen werden, wenn eine gemeinsame Aufgabe die Herzen befeuert…
(…)
Fritz Vogelgsang, aus dem Nachwort
gilt der hierzulande noch immer fast unbekannte Antonio Machado (geboren 1875 in Sevilla, gestorben 1939 im südfranzösischen Collioure, wenige Tage nach seiner Flucht über die Pyrenäen vor den anrückenden Truppen Francos) als der bedeutendste Lyriker ihres Landes in diesem Jahrhundert: ein Dichter der geballten Stille, ein unadretter Mensch von überwältigender Lauterkeit, eine dauerhaft provozierende moralische Autorität, gegründet auf keinem sicheren Glaubensbestand, sondern auf der suchenden Ehrlichkeit des nie beruhigten Zweifels.
Antonio Machado gehörte zur „Generation von 98“. Seine Dichtung ist vor allem Gedankenlyrik von formaler und sprachlicher Schlichtheit. Sein Hauptwerk Campos de Castilla (1912) wendet sich der Außenwelt zu: der Landschaft Kastiliens und seiner problematischen Geschichte. In seiner späten, aphoristischen Prosa verbirgt er sich ironisch hinter den apokryphen Gestalten des Philosophieprofessors Abel Martin und dessen Schüler Juan de Mairena.
Als Verlag Fernando Pessoas und Ossip Mandelstams beginnen wir in diesem Herbst mit einer Werkausgabe dieses großen spanischen Dichters. Als erster Band unserer Ausgabe erscheinen die 96 Gedichte aus dem Frühwerk, die 1907 unter dem Titel Soledades, galerias y otras poemas in Spanien herausgebracht wurden. Sie gehören zu den Schlüsselwerken der modernen Literatur und waren damals sehr erfolgreich, in dem Sinne, als sie für eine ganze Generation spanischer Lyriker eine Brücke zur Moderne schlugen.
Ammann Verlag, Ankündigung, 1996
– Das Innere ist das Universalste – der spanische Dichter Antonio Machado. –
Während hierzulande jedermann Federico García Lorca kennt, ist sein Zeitgenosse und Freund Antonio Machado lange den Spezialisten spanischer Literatur und Lyrik vorbehalten geblieben. Dank der mehrbändigen Ausgabe seiner Werke im Ammann-Verlag könnte sich das ändern.
Wer Antonio Machado nicht kennt, kennt Spanien nicht. Nicht das Spanien der ewigen Einsamkeit und Stille und nicht das Spanien des ewigen Zorns, das Kainsland („wo man den Schatten Kains noch irren sieht“, wie Machado schrieb). Zwar wurde Machado 1875 im andalusischen Sevilla geboren, das als Inbegriff der Romantik galt, aber mit seinem Umzug in die kastilische Provinzstadt Soria, das ehemalige römische Numancia, wo er 1907 eine Stelle als Französischlehrer und seine grosse Liebe fand, entdeckte der leidenschaftliche Spaziergänger die kahle, baumlose Steppe der Meseta mit ihrer versengten Erde und den unbegrenzten Horizonten, und diese karge kastilische Landschaft, in der das Licht alle Dinge nackt erscheinen lässt und nirgends ein Versteck bietet, wurde für ihn zum Sinnbild Spaniens und der spanischen Tragödie. Nach Antonio Machado haben, wie Werner Krauss bemerkte, alle bedeutenden spanischen Dichter das asketische Kastilien als spirituelle Landschaft entdeckt: Sie standen vor ihr „wie vor einem Orakel und gingen in die kastilischen Steppen nicht um die Natur, sondern um Spanien zu suchen“ (José Montesinos).
Geheimnis der Einfachheit
Als 1956 – in Spanien herrschte immer noch Franco – der spanische Lyriker Juan Ramón Jiménez den Literaturnobelpreis erhielt, hiess es in der Verleihungsurkunde ausdrücklich, er erhalte diese Auszeichnung gleichzeitig im Namen zweier verbotener spanischer Dichter – Federico García Lorca und Antonio Machado. García Lorca, der von den Franquisten bestialisch ermordete Dichter, war damals in Deutschland bereits eine Art Legende, Machado aber nur Kennern bekannt. Erst 1964 erschien von ihm hierzulande ein schmaler Band mit Gedichten, und es musste 1996 werden, bis der wagemutige Verleger Egon Ammann den ersten Band einer grossen und prächtig aufgemachten Machado-Ausgabe vorlegte, die nun mit dem fünften Band ihren Abschluss gefunden hat.
Antonio Machado, der heute in Spanien unangefochten als bedeutendster spanischer Lyriker seines Jahrhunderts gilt und der für Jiménez, aber auch für den kommunistischen Dichter Rafael Alberti nicht weniger war als ein Heiliger, wurde schon sehr früh auch von denen erkannt, die man seine Antipoden nennen könnte. So schrieb Rubén Dario, der grosse nicaraguanische Lyriker und Geburtshelfer des spanischen Modernismo, der als Klangkünstler und üppiger Kolorist seine Epoche blendete, schon 1905 ein anrührendes lyrisches Gebet für Machado, in dem dieser als scheue und stolze Lichtgestalt erscheint, als „Hirte von tausend Löwen, tausend Lämmern“, der „die Wunder des Lebens“ in so einfachen wie geheimnisvollen Versen besingt. Die Einfachheit der Dichtung Machados war und blieb immer ihr grösstes Geheimnis, das etwa auch den vergleichsweise hermetischen Dichter Jorge Guillén faszinierte: „Machado ist zweifellos der am wenigsten manierierte Dichter, derjenige, der am geringsten von den Moden seiner Zeit befallen war. Deshalb ist er auch der Künstler, der die geringsten Neuigkeiten bietet und sich am wenigsten um literarische Innovation kümmert.“ Es liesse sich allerdings mit gleichem Recht sagen, dass Machados Absage an Originalität um jeden Preis – „wir sollten nicht danach streben, origineller zu sein, als wir sind“, forderte er – und an eine Kunst des pompösen Faltenwurfs und des penetranten Parfums – er nennt sie eine Kunst, „die den Honig zu süssen beabsichtigt oder, wie Shakespeare sagt, das Veilchen mit Parfum besprüht“ – damals etwas unerhört Neues darstellte und vielleicht nur deshalb nicht „innovativ“ wirkte, weil Machados bestechend strenge Schlichtheit und Klarheit schlechthin unnachahmbar waren. Der Verzicht auf alles Rhetorische und Ornamentale kennzeichnet schon Machados 1903 erschienenen, noch in Andalusien und Madrid, zum Teil auch in Paris geschriebenen ersten Gedichtband, Soledades („Einsamkeiten“), den er in späteren Ausgaben mehrfach umarbeitete und erheblich erweiterte, wobei der Titel keine Hommage an Góngoras berühmtes Poem aus dem Goldenen Zeitalter darstellt, hegte Machado gegen den Grossmeister der kostbaren Metapher doch unüberwindliche Abneigung. In den vor allem durch ihre Unauffälligkeit auffallenden Gedichten aus Soledades trägt Machados Melancholie manchmal Züge fast kindlicher Verspieltheit, zumal in den die Kindheit evozierenden Gedichten, und bis zuletzt wird Machados Dichtung immer etwas kindlich Unverstelltes auszeichnen.
Doch Bitternis und Einsamkeit lassen sich nicht abweisen. Wenn der Dichter die Nacht auch „die alte Geliebte“ nennt, so sind die Träume, die sie ihm bringt, doch „immer öd und trostlos, nur / mit meinem Gespenst in der Mitte, meinem / armen, traurigen Schatten / auf der Steppe / unter der Feuersonne“. Zugleich aber begreift Machado den Schmerz als höchstes Gut: „Schmerz, ich kenne dich, / du bist das Heimweh nach dem rechten Leben“. Schon dieser erste Gedichtband erstaunt durch eine Weisheit, die bei Machado nie zur Pose wird, gerade weil er sie entschieden relativiert:
Die tiefsinnigsten Worte
der Weisen lehren uns,
was das Pfeifen des Winds lehrt, wenn er weht,
oder der Schall der Wogen, wenn sie rollen.
Schiffbruch der Liebe
Machado spielte die Bedeutung des Dichters gern herunter, wie viele seiner Äusserungen belegen; so schrieb er etwa an den jungen Juan Ramón Jiménez, nachdem dieser seinen ersten, von Machado begeistert begrüssten Gedichtband veröffentlicht hatte: „Literat sein ist so viel wert wie Flickschuster sein oder Konstrukteur von Grillenkäfigen.“ In einem Postscriptum gestand er allerdings: „Ich schreibe Ihnen dies in der Bar Gambrinus, nach vielen Gläsern Bockbier.“ Doch es war Machado äusserst ernst mit seiner antihierarchischen Haltung, gern zitierte der Radikaldemokrat das kastilische Sprichwort: „Niemand ist mehr als irgendwer“, und Juan de Mairena, sein Heteronym und Alter Ego, liess er sagen: „So viel auch ein Mensch taugen mag, nie wird er einen Wert erlangen, der höher wäre als der, ein Mensch zu sein.“ Auch Machados Poetik mangelt alles Auftrumpfende; „Unsicherheit ist unsere Mutter, Misstrauen unsere Muse“, konstatierte er und nannte die Poesie „die Tochter des grossen Schiffbruchs der Liebe“.
Im Dezember 1907 lernte der eben als Französischlehrer nach Soria versetzte Machado die kaum vierzehnjährige Tochter seines Pensionswirts kennen, Leonor Izquierdo. Im Juli 1909 wurde Leonor seine Frau. Nach etlichen Reisen mit ihr durch Spanien und einem gemeinsamen Paris-Aufenthalt, bei dem Machado am Collège de France Henri Bergsons Vorlesungen hörte, verschlimmerte sich Leonors Tuberkulose-Erkrankung rapide. Am 1. August 1912 starb Leonor, die Kindfrau, ein Schicksalsschlag, den Machado nie mehr verwand. Bald danach floh der lange suizidgefährdete Dichter aus Soria und suchte zunächst in Madrid Ablenkung zu finden, bevor er für sieben einsame Jahre im andalusischen Baeza wieder als Lehrer tätig war. Erst 1919 kehrte Machado in sein geliebtes Kastilien zurück, freilich nicht nach Soria, sondern nach Segovia, wo er die erste Volkshochschule aufbaute und wo heute seine rührend ärmliche Wohnung zu besichtigen ist.
In Machados Gedichtbänden Campos de Castilla (Kastilische Landschaften) und Nuevas Canciones (Neue Lieder) sind Soria und Leonor allgegenwärtig, ja scheinen geradezu Synonyme. „Grenzstadt zwischen Erde und Mond“ nennt der Dichter Soria und beschwört immer wieder den pappelgesäumten Uferweg am noch jungen Fluss Duero, den er fast täglich mit Leonor ging und wo er mit ihr zusammen auf die „violetten Berge“ in der Ferne blickte. Und immer wieder flackert eine verwegene Hoffnung in ihm auf:
Die Hoffnung sagt: eines Tages
siehst du sie, wenn du ausharrst.
Die Verzweiflung sagt: sie ist
nichts mehr als deine Bitternis.
Poche, Herz, poche… Nicht alles
hat der Erdboden verschlungen.
Machado, zu dessen Vorfahren berühmte Volkskundler und Folkloreforscher zählten, „schenkte der Folklore Vertrauen“ (Durs Grünbein) und erweckte in Baeza die kurzversigen traditionellen spanischen Liedformen der coplas und solearyas zu neuem Leben. Gerade in diesen luftigen und scheinbar nur so hingetupften Gebilden verbarg er oft seine tiefsten Empfindungen.
Kastilische Nacht;
das Lied wird gesagt,
besser noch: geschwiegen.
Wenn dann alle schlafen,
trete ich ans Fenster.
Oder:
Ich glaubte, erloschen sei mein
Herd, und rührte in der Asche…
Ich verbrannte mir die Hand
Einmal kommt ihm Sorias feingliedrige romanische Kirche Santo Domingo in den Sinn („feingliedrig“ nennt Peter Handke sie in seinem in Soria angesiedelten Versuch über die Jukebox, der auch eine Hommage an Antonio Machado ist) und mit ihr Leonor:
In Santo Domingo,
beim heiligen Hochamt.
Auch wenn man mich Ketzer
und Freimaurer nannte;
wenn ich mit dir betete:
wie viel Andacht!
In dem poetischen Selbstporträt, mit dem Machado Campos de Castilla eröffnete, sagt er zwar von sich: „Es gibt in meinen Adern Tropfen von Jakobinerblut“, aber sein Verhältnis zur Welt war bei aller Skepsis eher ein andächtiges (skeptisch war er nach eigenem Bekenntnis vor allem gegenüber dem Skeptizismus). Allerdings verabscheute er die katholische Kirche und ihren verweltlichten Klerus, ja er hielt es „für angebracht, die katholische Kirche zu bekämpfen“, überzeugt davon, „dass Spanien an geistiger Atemnot sterben wird, wenn es nicht dieses Halseisen sprengt“. Machados Christus-Bild erinnert auffällig an jenes Goethes, der kein Kreuz in seiner Nähe duldete:
Ich kann und will nicht besingen
diesen Jesus am Kreuz, sondern
den, der wandelte über das Meer.
Wenn man es denn ein Glaubensbekenntnis nennen will, so war das Machados ein zutiefst humanes:
Jeder, der seinen Weg geht,
wandelt, wie Jesus, übers Meer.
Entsprechend sah er in Gott den von der Schöpfung gezeugten Schöpfer:
Ich muss dich machen, mein Gott, so wie du mich gemacht.
Philosophie und Poesie
Nichts wäre kurzsichtiger, als Machados Schlichtheit und Kindhaftigkeit mit Naivität zu verwechseln. Dieser Dichter, ein kolossaler Leser, kannte nicht nur die französische Literatur so gut wie die spanische, sondern auch die deutsche Philosophie von Kant, Hegel und Schelling über Nietzsche und Husserl bis zu Heidegger, dessen Auffassung der Angst er zwar teilte, aber schon bei Kierkegaard und Unamuno, dem Philosophen-Freund aus Salamanca, angelegt fand. Letztgenannten stellte er über Heidegger, weil er dessen „Ergebenheit ins Seyn“ den „Trost der Auflehnung“ entgegengestellt habe. Als Prophet erwies sich Machado dabei mit seiner Ansicht, dass es etwas vage Poetisches in Heideggers Philosophie gebe, „das die Dichter zur Philosophie Heideggers locken wird wie Schmetterlinge zum Licht“. Nicht nur die deutschen Beispiele Ernst Meister und Paul Celan, sondern auch die vieler jüngerer französischer Dichter bestätigen Machado.
Der „andere“ Machado, ein sarkastischer und hochironischer Intellektueller, lässt sich nirgends besser besichtigen als in der Figur oder Spielfigur des Juan de Mairena, mit dem Machado, ähnlich wie das der Portugiese Fernando Pessoa mit seinen Heteronymen getan hatte, sich selbst eine Art Antipoden schuf. Pessoa nannte den von ihm erfundenen Alberto Caiero seinen Meister, und ebenso sprach Machado seinen Mairena gern als Meister an. Wie Pessoa trieb auch Machado die Mystifikation gern auf die Spitze, so wenn er Juan de Mairena, den zehn Jahre vor ihm selbst Geborenen, aber bereits 1909 Gestorbenen (!), die Biografie des Abel Martín schreiben liess, der ein grosser Theoretiker der Dichtkunst gewesen sein und eine Gedichtsammlung des Titels Coplas mecánicos (Mechanische Volksweisen) hinterlassen haben soll! Dass Juan de Mairena, dieser lustvolle Spötter und aggressive Aphoristiker, mit dem sanften Lyriker Antonio Machado tatsächlich identisch sein soll, scheint manchmal kaum glaubhaft, auch wenn Mairenas Unterscheidung der Dichter in originales und novedosos (Ursprüngliche und Neuigkeitsfetischisten) und seine harsche Verurteilung der Letzteren doch immerhin ahnen lassen, wer ihm hier die Feder geführt hat.
Machado hatte zu seinem Heimatland Spanien ein äusserst ambivalentes Verhältnis. In einer autobiografischen Skizze, die er für eine (nie erschienene) Anthologie des Schriftstellers Azorín verfasste, bekannte er: „Ich habe eine grosse Liebe zu Spanien und eine Meinung von Spanien, die ganz und gar negativ ist. Alles Spanische entzückt und empört mich zugleich.“ Und in einem Azorín gewidmeten Gedicht apostrophierte er Spanien als gespaltenes Land, als eines, „das stirbt, erstickt an dem andern, das gähnt“. Als dann mit der Katastrophe des Bürgerkriegs die Spaltung manifest wurde und das grosse Sterben über Spanien kam, unterdrückte Machado seinen Abscheu vor der Politik und wurde in Schrift und Tat zum glühenden Verteidiger der von Franco angegriffenen Republik. Auch seinen Juan de Mairena schickte er jetzt als „Mairena postumus“ in den politischen Kampf und liess ihn unter der Überschrift „Was Mairena im April 1937 gesagt hätte“ zum leidenschaftlichen Ankläger Deutschlands werden, dessen Bomberflugzeuge die faschistische Vorhut bei der Zerstörung der Republik waren. Den politischen Führern Deutschlands, die er „homunculi“ nennt, wünscht Mairena ebenso den Galgen wie Franco selbst. Schneidend verurteilt er auch den schändlichen Pakt Frankreichs und Englands zur „Nichteinmischung in Spanien“ und bekundet seine Verachtung für die „Faschistophilie“, die er im europäischen Bürgertum beobachtet.
Politische Manifeste
Doch auch ohne die Mairena-Maske trat Machado nun als Verteidiger der Republik auf. Wer hätte für möglich gehalten, dass der Schöpfer der zartesten Gedichte, die im 20. Jahrhundert in Spanien geschrieben wurden, zum Verfasser von politischen Manifesten werden könnte, der nun auch die poesía pura in Frage stellte und eine politisch eingreifende Kunst propagierte, wobei er manchmal durchaus der Gefahr erlag, das Volk zu heroisieren (für die Falangisten gab es kein Volk, sondern nur die Nation). Obwohl Machado Gleichheit, mithin die Abschaffung der Klassenprivilegien, forderte, suchte er sein Heil doch nicht im Marxismus und wehrte sich gegen die grassierende Vorstellung einer „Kunst für die Massen“.
Er hatte wohl auch Ortega y Gasset und dessen vielgerühmtes Buchs Vom Aufstand der Massen im Visier, wenn er erklärte: „Der Massenmensch existiert nicht, die Massen sind eine Erfindung der Bourgeoisie, und beruht auf einer Entqualifizierung des Menschen, deren Absicht es ist, ihn zum Objekt zu reduzieren.“ Für Machado galt es geradezu als Gesetz, „dass eine Dichtung, die alle ergreifen will, sehr intim sein muß“. Entsprechend ordnete er in einer Skizze der Entwicklungsphasen spanischer Lyrik seine eigene Poesie der (nicht existierenden) Bewegung des Intimismo zu, und als sein Wahlspruch könnte gelten, was er schon 1904 in seiner Jiménez-Rezension deklarierte: „Das Innere ist das Universalste.“
Antonio Machado, der in den dreissiger Jahren schon einen bescheidenen Ruhm genoss – 1936 war die vierte Auflage seiner Poesías completas und die erste Ausgabe seines Juan de Mairena erschienen –, aber ein stark gealterter, einsamer und kranker Mann gewesen sein muss, der sein Äusseres arg vernachlässigte, erlebte den Bürgerkrieg, wie so viele Spanier, buchstäblich als Bruderkrieg. Sein nur knapp älterer Bruder Manuel, der als Dichter zunächst fast mehr Resonanz gefunden hatte als er selbst und mit dem er gemeinsam einige Theaterstücke und Bearbeitungen Lope de Vegas verfasst hatte, schlug sich auf die Seite der Franco-Putschisten, weil er die Heraufkunft eines atheistischen Spanien befürchtete, und zählte jetzt zu den Siegern des Bürgerkriegs, die unter den Roten, denen die Flucht aus Spanien nicht rechtzeitig gelang, ein grauenhaftes Gemetzel anrichteten.
Eines ihrer ersten Opfer wurde Federico García Lorca, dem sich Machado brüderlich verbunden gefühlt hatte. Auch er selbst befand sich auf der Flucht vor der Falange und ihren Schergen. Aus dem bereits belagerten Madrid waren er und seine Mutter im November 1936 nach Valencia evakuiert worden, wo er für die republikanische Zeitschrift Hora de España arbeitete und auch am legendären „Internationalen Schriftsteller-Kongress zur Verteidigung der Kultur“ aktiv teilnahm.
Als im April 1938 der Durchbruch der Franco-Truppen zur Ostküste bevorstand, wurde Machado zunächst nach Barcelona verbracht. Von dort ging es im Januar 1939 per Lastwagen und, als dieser stecken blieb, zu Fuss weiter über die verschneiten Pyrenäen zur französischen Grenze. Um seine Mutter zu stützen, hatte der Dichter das Notgepäck – zwei Koffer mit Kleidern und Manuskripten – wegwerfen müssen. Am 22. Januar 1939 kamen beide im französischen Collioure an, während gleichzeitig deutsche Dichter, die vor den Nazis flohen, sich in umgekehrter Richtung durchzuschlagen suchten. Am 22. Februar starb der erst 63-jährige Dichter an Erschöpfung. Seine 85-jährige Mutter, die vom Tod ihres Sohnes nichts erfahren hatte, starb drei Tage später.
Problematische Übersetzung
Angesichts der unbestreitbaren Verdienste, die sich Fritz Vogelgsang um die Durchsetzung von Antonio Machados Werk im deutschprachigen Raum gemacht hat, und angesichts der überaus kenntnisreichen Kommentare und Nachworte, die er den einzelnen der fünf von ihm herausgegebenen Bände der Machado-Ausgabe des Ammann-Verlags beigesteuert hat, widerstrebt es einem ein wenig, an seinen Übersetzungen Kritik zu üben. Doch wenn auch Machados reimlose Gedichte von ihm mehr oder weniger adäquat übersetzt werden, so kommt das, was er mit den gereimten anstellt, einer kleinen Katastrophe gleich. Um des deutschen Reimes willen zwingt er sich zu furchtbaren verbalen Verrenkungen und versteigt sich zu Wortungetümen wie „vergessensbetrauft“ oder „Tagesruhmjuchhei“ – als „Zentaurenworte“ hat Martin Walser diese vielfach zusammengesetzten deutschen Wörter bezeichnet – und flüchtet sich unentwegt zu altväterischen Füllwörtern wie „darob“ und „allhie“.
Ähnlich abschreckende Beispiele liessen sich seitenlang anführen. Alles, was Machados Einzigartigkeit ausmacht, bleibt dabei auf der Strecke, in erster Linie seine lapidare Einfachheit und schöne Schlichtheit. Wo Machado mit drei oder vier Wörtern auskommt, braucht Vogelgsang meist doppelt so viele. Wo Machado Spanien sagt, sagt Vogelgsang, als wären wir in der Operette, „Spanierland“. Da die Ausgabe dankenswerterweise zweisprachig ist, kann auch der des Spanischen Unkundige mit Hilfe eines Lexikons und vielleicht auch Rudimenten seines Lateins Vergleiche zwischen Vogelgsangs Übersetzungen und dem Original anstellen und dabei unversehens diesem ganz nah kommen. Durs Grünbein hat Machados Gedichte treffend „monolithische Gedichte“ genannt. Vielleicht liest man solche Gedichte am besten so, als ob man eine Keilschrift zu entziffern suchte, also jedem einzelnen Wort mit Auge und Finger so lange nachfahrend, bis es ein Echo im Deutschen auslöst und zu tönen beginnt.
– Zur neuen Machado-Werkausgabe. –
Antonio Machado (1875–1939), eine überragende Dichterpersönlichkeit dieses Jahrhunderts, ist im deutschen Sprachgebiet noch wenig bekannt. Im literaturhistorischen Bewusstsein der Spanier jedoch nimmt er eine bedeutende Stellung ein, vergleichbar mit jener Leopardis bei den Italienern. Beide Dichter haben nach einer langen poesiefeindlichen Zeit – in Italien war es die Aufklärung, in Spanien der Positivismus – der Lyrik zu erneuter Anerkennung verholfen. Beide waren Dichter und Denker, und ihr geistiges Vermächtnis hat bis heute an Attraktivität nichts eingebüsst. Beide erscheinen in den Augen der Nachwelt als moralische Autoritäten: der Romantiker aus Recanati, weil er dem Weltschmerz und dem überhandnehmenden Sinnverlust mit stoischer Würde mutig und bewusst entgegentrat; der Spanier, weil er sich in den Wirren des Bürgerkrieges konsequent auf die Seite der Opfer stellte und mit ihnen den Weg ins Exil ging. Antonio Machado starb am 22. Februar 1939 auf der Flucht an Erschöpfung, wenige Wochen nach seiner Ankunft im französischen Grenzort Collioure.
Entwicklung zur Schlichtheit
Der liberal erzogene Andalusier, Sohn eines Gelehrten und Kenners der Volksliteratur, wuchs zusammen mit seinen Geschwistern – am nächsten stand ihm sein ebenfalls dichterisch begabter Bruder Manuel – im Madrid der Jahrhundertwende auf. Hier führte er zunächst das angenehme Leben eines Bohémien, versuchte sich als Schauspieler, schrieb Verse für die modernistischen Zeitschriften und lernte in den Kaffeehäusern die wichtigsten Vertreter der neuen Dichtergeneration kennen. Zwei längere Aufenthalte in Paris, wo er sich als Übersetzer betätigte, erweiterten seinen geistigen Horizont. In Paris begegnete er 1902 dem Idol der spanischen Modernisten, dem Nicaraguaner Rubén Darío, von dessen schwelgerischem Formenreichtum er sich anfänglich blenden liess. Schon bald aber erkannte Machado, dass verbale Sinnlichkeit und Formenkult um ihrer selbst willen mit seinem eigenen Verständnis von Dichtung und Wirklichkeit unvereinbar waren. Die Dichter des Parnass hatten die marmorne, in sich selbst ruhende Form geliebt; die Modernisten suchten nach einer klangvollen, mit der Musik rivalisierenden Sprache, und synästhetische Effekte waren gefragt. Verlaines morbide Sensibilität, Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, Schopenhauers Demaskierung der Konventionen, Nietzsches kühner Amoralismus: all dies bewegte die Gemüter im Spanien der Jahrhundertwende, und zusammen mit vielen bildenden Künstlern waren sich die modernistischen Dichter einig, dass der Ästhetik des Schönen auch im Zeitalter der Industrialisierung ein vorrangiger Platz gebühre.
Machados erste Gedichtsammlung, Soledades (1903, dt. Einsamkeiten), war noch über weite Strecken ein Musterbeispiel modernistischer Dichtung. Doch seine neuen Erfahrungen als Lehrer in der kastilischen Provinz tragen wesentlich dazu bei, dass er sich in seinem zweiten, 1907 erschienenen Gedichtband – Soledades, galerías y ostros poemas – von der Ästhetik des Modernismus lossagt. Von den ursprünglich 42 Gedichten der Erstausgabe übernimmt er noch deren 29 und verändert auch diese zum Teil beträchtlich. Machado tendiert nun vermehrt zu verhaltenen, intimen Tönen, wie der Romantiker Bécquer (1836–1870) sie liebte; und allmählich findet er zu jener ihn später auszeichnenden poetischen Schlichtheit, deren Ideal auch in der reichen spanischen Volksliteratur vorgezeichnet war.
Doch nicht nur die Dichtung, auch Machados Leben verändert sich. Seit März 1907 unterrichtet er am Gymnasium der kastilischen Kleinstadt Soria, deren landschaftliche Umgebung ihn durch ihre einfache, aber ausdrucksvolle Schönheit anspricht: hier der karge Talboden, auf dem schon die Saaten spriessen; dort der Duero, der sich zwischen den in der Frühlingssonne leuchtenden Pappeln windet; weiter oben die Hügel, die Dächer der Stadt und die auf dem Kirchturm nistenden Störche; das ewig Gleiche und immer Neue – keiner hat mit weniger Aufwand an Worten das Wesen kastilischer Landschaft intensiver erfasst. Kastilien fasziniert ihn jedoch nicht nur in ästhetischer Hinsicht, auch die Geschichte des einstmals mächtigen und nun verarmten Landes lässt ihn nicht mehr los. Campos de Castilla (1911) wird seine nächste Gedichtsammlung heissen, die sowohl inhaltlich als auch stilistisch neue Wege geht und eine deutliche Entwicklung hin zu einer volksnahen, für gesellschaftliche Belange offenen Dichtung dokumentiert. Doch gerade in Soria, wo sich Machado mit der jungen Leonor Izquierdo vermählt hat, trifft ihn ein erster Schicksalsschlag: im August 1912 wird ihm die noch nicht zwanzigjährige Leonor durch ein schweres Leiden entrissen. Wenige Tage nach ihrem Tod verlässt Machado die Stadt und beantragt seine Versetzung. Die Erinnerungen an Leonor und an die leise Poesie der kastilischen Landschaft werden ihn auch im andalusischen Baeza nicht verlassen.
Herz und Intellekt – Ein Zwiespalt
In dieser zweiten Schaffensepoche (1907–1917) versteht sich Machados Dichtung als hinhörendes Bewusstsein in der Welt, das dem Fliessen der Zeit und der Erinnerung Einlass gewähren möchte. Die Kommunikation mit der sich stets verändernden Wirklichkeit scheint ihm jedoch nur im inspirierten Zustand des Träumens und des Meditierens (sueño) möglich, denn das wache Bewusstsein unterscheidet, trennt und entlarvt jedes Eintauchen in die tiefere Realität sogleich als Täuschung. Was das Herz gläubig bejaht, bezweifelt der Intellekt. Aus diesem Zwiespalt nährt sich Machados Dichtung: sie gestaltet sich bald als monotones Zwiegespräch mit der Erinnerung, bald als polyphone Komposition gegensätzlich argumentierender Stimmen. Im wesentlichen bleibt sie jedoch subjektivistisch orientiert. Erst der reife Machado, der nach 1920 ein bedeutendes Prosawerk schafft, wird die Überwindung seines als bürgerlich verstandenen Subjektivismus anstreben. Sein Hang zur Entpersönlichung wird ihn dazu verleiten, mehrere „apokryphe“ Dichterfiguren zu erfinden, die den Leser zunächst an die Masken Pessoas erinnern mögen. Bei seinem portugiesischen Zeitgenossen steht die Kreation der Heteronyme jedoch am Anfang, denn ohne diese Erfindung hätte Pessoa sein umfassendes lyrisches Werk nicht schaffen können. Machados Apokryphen hingegen – sie heissen Juan de Mairena und Abel Martín – treten spät auf; sie sind in erster Linie Philosophen, auch wenn sie gelegentlich dichten, und sie vertreten ein Denken, wie es Machados früherer Lyrik entspricht. Der Spanier untersucht mit diesem Mittel seine eigene Dichtung auf ihr gedankliches Fundament hin und arbeitet rückblickend die ihr zugrundeliegende Metaphysik heraus. Mit Pessoas Problematik des „fremden Ich“ hat dieses Experiment letztlich wenig gemeinsam.
Man muss den Zürcher Ammann-Verlag zu seinem Vorhaben, das Gesamtwerk Machados nach und nach herauszugeben, beglückwünschen. Das Verdienst ist um so grösser, als den deutschsprachigen Lesern bisher nur ausgewählte Gedichte und eine knappe Auswahl aus dem Prosawerk zugänglich waren. Fritz Vogelgsang, der für den ersten Band verantwortlich zeichnet, geniesst als Übersetzer einen guten Ruf. Auch sein aufschlussreiches Nachwort zeugt von solider Kenntnis der literaturhistorischen Zusammenhänge. Dennoch überkommen uns bei einigen seiner Übersetzungsvorschläge Zweifel. Einer der schönsten Gedichtanfänge des frühen Machado, die Nr. XI („Yo voy soñando caminos / de la tarde. Las colinas / dorados, los verdes pinos, / las polvorientas encinas!… / ¿ Adónde el camino irá?“), wird wie folgt übersetzt: „Träumend wandre ich dahin / auf Abendwegen. Die Höhen / umgoldet, die Pinien grün, / staubgrau die Steineichen stehen!… / Wohin mag der Weg wohl leiten?“ Verben wie „leiten“ und „dahinwandern“ werden dem Sprachstil des Originals nicht gerecht. Und warum konnte das staunende Nennen der Naturerscheinungen nicht nominal wiedergegeben werden? Warum wurde das poetische „Yo voy soñando caminos de la tarde“ so übersetzt, dass es einem banaleren „Soñando voy por caminos“ entspräche? Die „Abendwege“ sind Gegenstand des Träumens, nicht räumliche Präzisierung des Gehens: das imaginierende Ich träumt (immerzu) von Wegen im Abend.
Auch mit dem Anfang einer andern berühmten Komposition, der Nr. VII, können wir uns nicht befreunden. Es sind Reimzwang und Konzessionen an den deutschen Versrhythmus, welche hier die auffallenden Veränderungen bewirken. Die Verse „El limonero lánguido suspende / una pálida rama polvorienta, / sobre el encanto de la fuente limpia…“, lauten auf deutsch: „Der darbende Zitronenbaum hängt einen / bleichen, verstaubten Zweig / über das Zauberreich des reinen Brunnens…“ Hier häufen sich die Seltsamkeiten, denn weder „darbt“ dieser Zitronenbaum (im Original „lässt“ er doch bloss seinen bleichen Zweig müde über den Wasserspiegel „hängen“), noch entspricht Machados „encanto de la fuente limpia“ Vogelsangs „Zauberreich des reinen Brunnens“. Anderes ist dem Übersetzer durchaus geglückt, ja meisterhaft gelungen; ärgerlich ist nur, dass gerade diese berühmtesten Verse in der deutschen Fassung so gekünstelt klingen. Als Trost bleibt die grosszügige Lösung der zweisprachigen Ausgabe: der kundige Leser wird sich in Zweifelsfällen an den Wortlaut des Originals halten.
– Antonio Machado hat die spanische Lyrik erneuert. –
Madrid, Anfang der dreißiger Jahre. In einem Café trifft sich die „Tertulia de los Machados“, die allabendliche Runde der Brüder Machado: Antonio und Manuel, die beiden unzertrennlichen Dichterbrüder, sowie José, der Maler. Hinzu kommen noch befreundete Künstler und Schauspieler, die zur erweiterten Runde gehören. Rafeal Alberti, der damals noch junge Dichter, beschreibt die Männer an diesem Abend als „seltsam altmodische Herren, die den Eindruck machten, als kämen sie aus der Hinterstube eines kleinstädtischen Ladens“. In einem Antiquariat hatte er gerade einen seltenen Band der Erstausgabe von Rimbauds Gedichten erstanden und zeigte sie nun stolz dem bewunderten Antonio Machado. Der beäugte den Band mit einem „beifälligen Brummen“ und legte ihn zu seiner Linken auf einen Stuhl, dessen Rückenlehne mit Mänteln und Schals bedeckt war.
Nach einem Weilchen bemerkte ich, daß Machado rauchte und daß er beim Rauchen immer wieder zerstreut die Hand sinken ließ, in der er die Zigarette hielt, dorthin, wo nach meiner Berechnung vermutlich mein kostbarer Rimbaud abgelegt worden sein mochte.
Nervös versucht Alberti nach dem Band zu schauen, traut sich aber nicht, etwas zu sagen. „Aber seit jenem Abend“, berichtet er weiter, „konnte ich allen Personen, die je zu mir ins Haus kamen, mein rares Rimbaud-Exemplar zeigen, noch viel rarer und wertvoller nun dank den runden Brandspuren, mit denen die Zigaretten Machados seinen herbstblattfarbenen Einband versehrt hatten.“
Diese Anekdote, die Fritz Vogelsang in sein instruktives Nachwort zu Antonio Machados Juan de Mairena. Sprüche, Scherze, Randbemerkungen und Erinnerungen eines zweifelhaften Schulmeisters aufgenommen hat, passt ganz gut zu dem Dichter, der im Gegensatz zu seinen heute vergessenen Brüdern zu den Klassikern Spaniens gehört. Der „erste spanische Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts“, so der Valéry-Übersetzer und Dichter Jorge Guillén, führte nach außen das Leben eines kleinbürgerlichen Gymnasiallehrers, während er mit seinen Gedichten die spanische Lyrik erneuerte. Zu den französischen Revolutionären der Poesie von Baudelaire bis Rimbaud und Mallarmé hielt er allerdings Distanz. Stattdessen lässt er den Schulmeister Juan de Mairena zu seinen Schülern sagen:
Seid original; fast würde ich es wagen, es euch zu gebieten. Dafür müßt ihr – das ist klar – auf den Beifall der Snobs und Fanatiker des Neuheitskults verzichten… Euch sollte es nichts ausmachen, euch mit Gedanken zu beschäftigen, die ihr achtzigmal gelesen und fünfhundertmal gehört habt, denn Denken ist nicht dasselbe wie Gelesenhaben.
Endgültig kann sicherlich nicht gesagt werden, dass hier Machado selbst spricht. Aber wie heißt es doch so schön in Raymon Queneaus Vorwort zu seinem Buch Intimes Tagebuch der Sally Mara:
Es ist einem angeblich imaginären Autor nicht oft gegeben, seinen gesammelten Werken ein Vorwort voraus schicken zu können, vor allem dann nicht, wenn diese Werke unter dem Namen eines sogenannten wirklichen Autors erscheinen.
Antonio Machado hätte dieses schwindelerregende Spiel mit fiktivem und wirklichem Autor sicher gefallen. Auch Juan de Mairena empfiehlt seinen Schülern, sollten sie sich zu Dichtern berufen fühlen, zunächst die Erfindung eines fiktiven Poeten: „Wenn unsere Arbeit getan ist“, meint er, „können wir den Dichter samt seinem Gedicht bewahren, oder auf den Dichter verzichten – wie das üblicherweise geschieht – und das Gedicht veröffentlichen oder aber das Gedicht in den Papierkorb werfen und den Dichter behalten, oder am Ende beide aufgeben, doch für immer den einfallsreichen Menschen uns behalten für neue poetische Versuche.“
Juan de Mairena ist ein solcher Versuchsautor. Die Textfragmente von und über ihn erschienen sozusagen probeweise in zwei Madrider Tageszeitung und erst später (1936) in der beständigeren Buchform. Die unklare Autorschaft bot Machado außerdem eine Entlastung gegenüber dem Konformitätsdruck der spanischen Gesellschaft, deren kulturelles Leben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend von der katholischen Kirche dominiert wurde. Das Land war im europäischen Vergleich unterentwickelt, besaß weder eine nennenswerte Industrie, noch ein größeres Bürgertum.
Mairena lebte in einer großen andalusischen Stadt, die sich zusammensetzte aus einer etwas böotischen Bourgeoisie, einer allzu ländlichen Aristokratie und einem intelligenten, feinen, sensiblen Volk von Handwerkern, die ihr Gewerbe verstehen und für die es, wie für die Künstler, viel wichtiger ist, ihre Sache gut zu machen, als sie zu machen.
Handwerk und Volkskunst – sie spielen in Mairenas Poetik und Philosophie eine zentrale Rolle: „Mairena verstand unter Folklore vor allem das, was das Wort am direktesten bezeichnet: populäres Wissen, was das Volk weiß, wie es dies weiß.“ Ebenso nahm sein Schöpfer Machado in seinen Gedichten Volkslied und Legende der einfachen Bauern auf. In den Campos de Castilla, den Kastilischen Landschaften, die als zweiter Band der Gesammelten Werke erschienen sind, rühmen viele Gedichte die Schönheit dieser kargen Landschaft und ihrer Menschen, aber ebenso sind Armut, Habgier und Gewalt Themen der Gedichte (in einem der berühmtesten, Das Land Alvagonzález, von dem der junge Garcia Lorca so sehr beeindruckt war, dass er es noch 15 Jahre später mit seinem fahrenden Theater vortrug, geht es um einen Vatermord).
Diese Sympathien für die Volkskunst trugen dazu bei, dass die Kulturpolitik Francos versucht hat, Machado als „,unseren‘ großen Dichter“ zu vereinnahmen und die Gesamtausgabe seiner Gedichte schon zwei Jahre nach seinem Tod, 1941, wieder aufgelegt wurde. Dabei ist Machado Zeit seines Lebens Anhänger der Republik gewesen, hatte sich für sie publizistisch während des Bürgerkriegs engagiert und war als Vertriebener im französischen Exil 1939 gestorben. Allerdings schien diese Art von Vereinnahmung bei Juan de Mairena nicht so einfach gewesen zu sein; nach der republikanischen Ausgabe von 1936 erschien das Buch zunächst in Südamerika – in Spanien erst wieder 1971, gegen Ende der Diktatur.
Ob es nun der Stierkampf ist, den Machado im Juan de Mairena kritisiert, oder der Schneid des Militärischen („Ich empfehle Euch, mit den Händen in den Hosentaschen zu sprechen.“) – viel Freude an dem Zweifler Mairena hat Franco wohl nicht gehabt. Sicherlich gilt das auch für Sokrates, den Skeptiker, den Mairena immer wieder zitiert und dem er selbst in vielem ähnelt. Der Turnlehrer, der „interessierten Schülern“ Rhetorikunterricht gibt – das erinnert an die unprätentiöse Haltung des antiken Philosophen, der in Athen auf der Straße und auf Plätzen Menschen ansprach und sie in ein philosophisches Gespräch verwickelte. Sokrates lebte seine Philosophie, war „dargestellte Erkenntnis“ (Klaus Heinrich). Auch greift Juan de Mairena hin- und wieder zur sokratischen Methode der Mäeutik. Mit geschickt gestellten Fragen versucht er seine Schüler auf den Weg der Erkenntnis zu bringen. Allerdings landen sie nicht, wie bei Sokrates, in der Aporie:
Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Mairena verteidigt zwar dieses radikalskeptische Credo. Gegen das allgemeine Gegenargument, woher der Skeptiker denn wisse, dass er nichts weiß, sagt er:
der Witz am Skeptiker ist ja gerade dies, daß die Argumente ihn nicht überzeugen. Und er, von sich aus, hat auch keineswegs den Drang, irgendwen von irgendwas überzeugen zu wollen.
Aber ganz so schwarz sieht Juan de Mairena die Möglichkeit des Wissens dann wohl doch nicht. Der pädagogische Eros des Schulmeisters ist überall in den Texten zu spüren, also auch der Drang, seinen Schülern Wissen zu vermitteln und von einer Wahrheit zu überzeugen. Mit Paul Valéry, dessen Monsieur Teste als weitere Inspirationsquelle für Machados Mairena gilt (Vogelsang meint allerdings, Mairena hätte eher Ähnlichkeit mit Madame Test) hätte er gesagt:
Manchmal bin ich nicht meiner Meinung.
Aber endet das alles nicht in einem beliebigen Relativismus? Sicherlich handelt es sich um ein „Denken ohne Geländer“, wie es Hannah Arendt formuliert hat. Darauf weist auch Mairenas Polemik gegen das System-Denken des deutschen Idealismus hin und seine Empfehlung, Nietzsche zu lesen, wobei ihn weniger der späte Nietzsche des Übermenschen interessiert als der Kritiker. Der Skeptizismus, dessen Grundzüge Machado im Juan de Mairena skizziert, soll das Denken „aufmischen“, scheinbar unumstößliche Wahrheiten in Frage stellen und keine fertigen philosophischen Konzepte liefern.
Unsere Logik hat das Ziel, die Logik eines poetischen Denkens zu sein, eines heterogenisierenden, erfinderischen Denkens, welches die Wirklichkeit entdeckt.
Wenn man so will, findet Mairena hier, in der Wirklichkeit, ein „Geländer“, an dem er sich orientiert, allerdings eines, dass sich ständig verändert.
Wegen dieser Orientierung an der Wirklichkeit hielt Machado auch Distanz zu den Lyrikern der Moderne. Die Soledades, die Einsamkeiten, wie der Titel seines ersten Gedichtbandes lautet, sind nicht die eines Mallarmé, für den die Einsamkeit erst den „schweigenden Aufflug ins Abstrakte“ ermöglichte, als die er moderne Dichtung sah. Machado hat den jungen spanischen Lyrikern, die diesen Weg eingeschlagen haben, wie Alberti, Garcia Lorca oder Guillén, viel Sympathie entgegengebracht, aber er fand, sie verzichteten „auf das Herz“, wobei er wahrscheinlich auch an Rimbaud dachte, der gesagt haben soll:
Meine Überlegenheit besteht darin, dass ich kein Herz habe.
Was für die Gedichte Machados die Gefühle sind, ist für die „Schule der Weisheit“, die Juan de Mairena eröffnen will, die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Ihr kann niemand aus dem Weg gehen, auch nicht im Protest ihrer radikalen Negierung wie bei Rimbaud. Und das, was Machado – für den heutigen Geschmack etwas pathetisch – mit „Herz“ ausgedrückt hat, ist ebenfalls zeitlos. Hier und in Juan de Mairenas skeptischer Betrachtung der Welt – einer Betrachtung, die mehr Fragen stellt als Antworten gibt – liegt der bleibende Wert der Fragmente des zweifelnden Spaniers.
Julia Macher: Der Vorzeigedichter der Zweiten Republik
deutschlandfunk.de, 22.2.2019
Antonio Machado – Fotografien aus dem Leben von Antonio Machado, mit der Musik von Paco Ibañez.
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