Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda

Skármeta-Mein Freund Neruda

DIE ENDLOS LANGE BRÜNETTE

Meine Beziehung zu ihm, die mich zu dem Roman und dem Bühnenstück inspirieren sollte, aus denen dann der Film Der Postmann entstand, war anfangs so ausschließlich pragmatischer Natur, dass mir bei diesem Geständnis noch heute die Schamröte in die Wangen steigt.
Als kleiner oder schon etwas größerer Junge, so mit dreizehn, vierzehn Jahren, verliebte ich mich alle drei Tage bis über die Ohren – und für den Rest meines Lebens – in Frauen, die älter waren als ich. Doch diese bevorzugten immer Oberprimaner, die mit fachmännisch verzogenem Mund Balladen von Nat King Cole trällerten, in den verborgenen Winkeln der Schule vornehm Zigaretten der Marke Richmond rauchten und mit geübter Hand den Inhalt der Uniformblusen meiner unerreichbaren platonisch Geliebten erkundeten.
Sie wussten, wie man Mädchen mit rauer Stimme ansprach, ihnen fest in die Augen blickte und präzise Rauchringe blies, während Tue Platters „Smoke Gets In Your Eyes“ sangen.
Wir dagegen, die Jüngeren aus den unteren Klassen, kratzten uns am Hals oder am Schienbein, sobald sich ein Mädchen näherte. Selbst wenn es nur nach der Uhrzeit fragte, wurden wir puterrot, granatrot und schwitzten vor Verlegenheit aus allen Poren.
Ab und zu ließ das Leben Gnade walten oder bediente sich kupplerischer Cousinen, um eine der Schönheiten, die ich in schweigendem Zorn anbetete, in meine Reichweite zu bringen. Doch nicht einmal, wenn wir allein auf dem Wohnzimmersofa saßen und ihre Mutter zum Canastaspielen ausgegangen war, bekam ich den Mund auf. Auf dem Nachhauseweg, während ich Steine durch Santiagos Straßen kickte, stürmten die Worte dann auf mich ein. Dies hättest du ihr sagen müssen oder jenes, mijita. In der Einsamkeit meines Stadtviertels platzte ich fast vor blumigen Einfällen.
Und so schmorte ich Tag für Tag stumm vor mich hin, während alle anderen ihre Lippen an den frischen Mündern der Mädchen befeuchteten, bis mir ein Buch von Neruda in die Hände fiel: Todo el amor (Die ganze Liebe).

Ein Jahr zuvor hatte ich mich auf schändliche Weise der Poesie bedient und ein Ballett nach Baudelaires Die Blumen des Bösen inszeniert, um meinen Französischlehrer zu schockieren, der uns harmlose Lieder wie „Sur le pont d’Avignon“ beibrachte. Es handelte sich um eine fragwürdige Anverwandlung von „Der Wein des Mörders“, in der zwei Tänzerinnen über einem Grab Baudelaires aus schwarzer Pappe um die Seele des Franzosen stritten, während mein Freund Pato Carvacho – künftiger, nicht am Staatsstreich beteiligter Flugkapitän der chilenischen Luftwaffe – auf dem Akkordeon „La Mer“ von Charles Trenet spielte, einen Titel seines französischen Repertoires, das auch „C’est si bon“ einschloss. Ich trug das Gedicht auf Französisch vor, als kaute ich Steine, und unser Lehrer, „Le Cochon“ Arenas, gab mir nur eine Drei für meine Darbietung.
Meiner Zweisprachigkeit sollte es allerdings nicht zu verdanken sein, dass ich es an der Schule zu Ruhm und Popularität brachte. Vielmehr traten die beiden Tänzerinnen, die ich aus einer zwielichtigen Tanzakademie in der Nachbarschaft geholt hatte, in hautengen schwarzen Trikots auf, unter denen sich nicht nur ihre straffen Rundungen abzeichneten, sondern auch jeder Spalt zu erahnen war.
Meine dankbaren Mitschüler huldigten ihnen mit lüsternem Beifall, und ich war fortan „das Schlitzohr“, das „halb nackte Mädchen“ in die unbefleckte staatliche Lehranstalt gebracht hatte. Obwohl im Vollbesitz meiner Jungfräulichkeit, war ich gezwungen, mich wie eine Art Gigolo zu gebärden und handgreiflich zu werden, um mir meine Schulkameraden vom Leib zu halten, die mich unter stimmbruchbedingten Kieksern anflehten, ich möge sie meinen Freundinnen vorstellen. Ausgerechnet ich, der Allerbedürftigste in Sachen Erotik!
„Verhilf mir zu meinem ersten Mal, lieber Schutzengel“, betete ich des Nachts, während die Bettdecke einen kleinen Hügel bildete.
Nerudas Todo el amor war mit Nymphen illustriert, langgliedrig wie die Models in den Zeitschriften, und ich stellte mir vor, sie wären die realen Gestalten, denen der Dichter seine Verse gewidmet hatte. Von den Zeichnungen gelangte ich zu den Worten und erklärte kurz darauf Neruda zum Sprachrohr meiner Seele. 

Ah, die Becher der Brüste! Ah, die entrückten Augen!
Ah, die Rosen des Schambergs! Ah, deine schwere Stimme!

Wie ein Kind, das sich in ein Stofftier verliebt und es Tag und Nacht streichelt, machte ich Nerudas Buch zu meinem ständigen Begleiter. Ich wanderte mit ihm durch bitterste, zweifache Einsamkeit: ohne ein Mädchen an meiner Seite und mit Gedichten, die mir diesen Mangel andauernd unter die Nase rieben.

Endlich, an einem Winternachmittag, fragte mich eine endlos lange Brünette auf dem Sofa ihres Großvaters, was das für ein Buch sei. Wir lasen einige Verse, bis es dunkel wurde, ohne dass sie Anstalten machte, das Licht anzuzünden, und plötzlich spürte ich ihre Zunge über meine Lippen gleiten, sich dazwischendrängen und meine Zunge suchen.
Was folgte, war ein süßes Durcheinander, schwer in Worte zu fassen und meinem ehrbaren Lesepublikum nicht zuzumuten.
Genau genommen verdanke ich Neruda den Verlust meiner Unschuld.
Ich glaube, von diesem Augenblick an war ich entschlossen, mich für diesen exquisiten Gefallen eines Tages erkenntlich zu zeigen. Und womöglich gab diese Provinzanekdote meiner literarischen Berufung den auslösenden Impuls. Wenn das kein schlagender Beweis für die Macht der Worte war!
In einem Heft der Marke Torre, das ich in der Truhe meiner Eltern wiederfand, während ich an diesem Text schrieb, ist in fieberhafter Handschrift zu lesen: 

Gesegnet seien meine ungelenken Gesten eines zerzausten Jungen und meine geborgten Worte; gesegnet das uferlose Meer und der süße Sturm, in dem ich ertrinke. Das also war die Liebe. Danke, Don Pablo.

Somit war es nicht verwunderlich, dass ich nach dem Erscheinen meines ersten Buches mit dem Titel El entusiasmo (meine Leser werden mir diesen Optimismus verzeihen, wenn ich schwöre, dass ich zu jener Zeit jung und schlank war und Haare hatte) sofort zu Neruda nach Isla Negra eilte, um seine Meinung zu hören und, wer weiß, vielleicht ein Lob.
Ich holte alles aus meinem flinken 2CV heraus, und als ich eintraf, hielt ich Neruda mit bebenden Fingern das Buch hin. Er drehte und wendete es, blätterte gelangweilt darin, dann zog er sich die Hosen hoch und sagte: „Na gut, mein Junge. In zwei Monaten sage ich dir, was ich davon halte.“
Zwei Wochen später ließ ich in Isla Negra wieder sämtliche Glocken ertönen.
Als der Dichter mir die Tür öffnete, entspann sich folgender Dialog:
„Dichter, ich bin’s.“
„Das sehe ich.“
„Haben Sie es gelesen?“
„Ja.“
„Und wie fanden Sie es?“
Neruda blickte auf, sah einem Schwarm Zugvögel nach und wünschte sich vermutlich, mit ihnen davonzufliegen.
„Gut“, sagte er.
Ich glühte vor Verlegenheit und Stolz. Der Dichter Pablo Neruda fand mein Buch gut. Ich trat mir mit dem einen Fuß fest auf den anderen, um nicht abzuheben.
„Aber“, fuhr er fort und senkte den Blick abrupt auf meine Stirn, „das will nichts heißen, denn alle Erstlingswerke chilenischer Autoren sind gut.“ Er machte eine dramatische Pause. „Warten wir lieber das zweite ab.“
Nach ein paar Jahren – und weiteren sentimentalen und pikaresken Episoden, deren Verursacher und verblüffter Zeuge er war – nahm meine Beziehung zu Neruda konkretere Gestalt an.
1969 war er zum Präsidentschaftskandidaten nominiert worden, und ich hatte Gelegenheit, ihn bei einer Wahlkampfveranstaltung in einem einfachen Dorf in der Nähe von Santiago zu erleben. Es hatte geregnet, und die knapp zweihundert Personen, die zu seiner Rede gekommen waren, standen bis zu den Knöcheln im Schlamm. Es waren sehr arme Menschen, und ihre Mittel erlaubten ihnen gewiss keine Schulbildung, die über die ersten Klassen hinausgegangen wäre. Eher lustlos brachte der Dichter seine Ansprache zu Ende und schickte sich schon an, von der hölzernen Rednertribüne zu steigen, als die Menge ihn im Chor aufhielt: „Gedichte, Gedichte, wir wollen Gedichte!“ Neruda ließ sich eine Minute lang bitten, und dann zog er ein Buch aus der Tasche.
Der Anblick dieser zweihundert Menschen, die, durchgefroren und mit leerem Magen, „Gedichte, Gedichte“ verlangten, hat sich mir tief eingeprägt, und ich wusste, dass ich ihn niemals im Leben vergessen würde. Vielleicht liegt darin auch einer der bescheidenen Schlüssel, die zur Entstehung des Buches Mit brennender Geduld geführt haben.
Der Dichter starb 1973, zehn Tage nach dem Militärputsch, der Salvador Allende das Leben und Chile für viele Jahre die Freiheit kosten sollte. Schmerzlich synchron schieden der Dichter und die Demokratie aus dem Leben. Es war fast eine Metapher, dargeboten von der Geschichte. Ich griff sie inbrünstig auf. Auf der letzten Seite meines Romans Mit brennender Geduld wird dem Erzähler Zucker zum Kaffee gereicht. Dieser legt die Hand über seine Tasse und sagt: „Nein danke. Ich trinke ihn bitter.“

Die schwierige Muse
Aufgrund der ungeheuerlichen Wirkung, die Nerudas Werk auf mein Liebesleben hatte, begann ich mit der Lektüre seiner Bücher, wobei mein Interesse nicht allein den Versen, sondern mit einem Mal auch den Frauen galt, die ihn dazu inspiriert hatten. Während ich seine Liebesgedichte und strahlenden Sonette las, wurde meine Neugierde auf die wahren Geschichten hinter diesen Texten immer größer. Ging es in Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung um unerreichbare Angebetete oder um junge Mädchen, inzwischen vielleicht reife Frauen, greifbar und aus Fleisch und Blut?
Und ich stellte mir in aller Dreistigkeit die Frage, ob es Neruda wohl gelungen war, die Gunst der Damen zu erringen, oder ob seine virtuosen Worte an diesen abgeprallt waren und der Dichter in Einsamkeit versunken war.
Die Zwanzig Liebesgedichte erschienen 1924, im Jahr 2004 waren somit achtzig Geburtstagskerzchen anzuzünden. Schüchtern kamen sie in Santiago de Chile zur Welt und stellen heute ein weltweites Phänomen dar, das über ein rein literarisches Werk weit hinausgeht. Gerade diese Verse Pablo Nerudas werden mit Vorliebe zitiert: von stürmisch Verliebten, von Heranwachsenden, die schwermütig eine unglückliche Liebe durchleiden, und von jungen Mädchen, die mit einer poetischen Offensive ihr Liebesleben etwas aufregender gestalten wollen.
Kaum niedergeschrieben, wurden sie schlagartig berühmt. Ein Junge vom Lande, mit Schultermantel und Schlapphut stilecht als Dichter gekleidet, kam ohne einen Centavo nach Santiago de Chile, um dort zu studieren, hauste in ärmlichen Absteigen und füllte seine Hefte mit Versen, die mit hypnotischer Kraft die Liebe der Muse beschworen, an die sie gerichtet waren.
In den Zwanzigerjahren wurde das geschriebene Wort fast als heilig verehrt. In der Abgeschiedenheit Chiles wetteiferten einige Dichter der unterschiedlichsten Stilrichtungen um das Wohlwollen von Publikum und Kritik. Mit den Jahren entwickelten sich aus ihren Zwistigkeiten Schlachten epischer Ausmaße. Während Neruda über den bleichen, leidenden, sehnsuchtsvollen Verfasser der Zwanzig Liebesgedichte hinauswuchs und die Welt tief in sich einsog, mühten sich seine beiden namhaftesten Rivalen, Vicente Huidobro und Pablo de Rokha, nach Kräften, ihm die Luft abzuschnüren.
Die Behauptung seiner Kritiker und Rivalen, der Erfolg von Zwanzig Liebesgedichte sei eine Modeerscheinung von sentimentaler Banalität und werde sich bald in Nichts auflösen, ist durch die Tatsache widerlegt worden, dass sich das Buch zu allen Zeiten und in der ganzen Welt seither hunderttausendfach verkauft hat und – wie es ein Freund mit einem Faible für Paradoxien ausdrückte – sogar in Sprachen erschienen ist, die gar keine Schrift haben.
Wieder mache ich mich begierig über diese Texte her, betrachte sie wie funkelnde Diamanten durch die Juwelierslupe, und angesichts der bildhaften Intensität und lyrischen Freiheit der Assoziationen erscheint es mir bis heute ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich eine literarisch nicht vorgebildete Leserschaft als so empfänglich erweisen und die Verse sogar im Gedächtnis behalten konnte.
Die Gedichte dieses Bandes sind gewiss transparent, stellen jedoch zugleich eine Innovation der zeitgenössischen Lyrik dar, von der die Kritiker seit Jahrzehnten fasziniert sind.
Auf der Suche nach einer Erklärung für die ungeheure Beliebtheit dieser Texte möchte ich auf mindestens zwei Elemente eingehen, die ihre erstaunliche Massenverbreitung begründen.
Da gibt es zum einen die aus der Gesamtheit herausgelösten Verszeilen, die sich verselbstständigt haben  und seither unabhängig von der Autorität des Werks mündlich zirkulieren. Der Beweis dafür ist, dass sich viele Bewunderer dieser Gedichte nur an die Anfangsoder Schlusszeilen erinnern, jedoch wahrscheinlich nicht in der Lage wären, das ganze Gedicht aufzusagen oder seinen Sinn zu interpretieren. Dafür sind die Gedichte 15 und 20 wohl die besten Beispiele: Sätze wie „Mir gefällt’s, wenn du schweigst, als wärst du in der Ferne…“ und „Heut Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben…“ bohren sich wie Splitter ins Gedächtnis und bleiben für die Nachwelt erhalten. Zudem erzählen beide klare Geschichten und haben fast als Einzige leicht einprägsame Reime.
Der andere Grund für die explosionsartige Verbreitung des Buches liegt für meine Begriffe nicht so sehr in der Feinsinnigkeit, mit der „die Liebste“ gefeiert wird (eine Pirouette, die alle großen Lyriker von der Antike bis zur Romantik mit Anmut beherrschten), sondern vielmehr in der eindrucksvollen Darstellung eines mysteriösen Männerleidens, das erst zur Sprache kommen oder spürbar werden kann, wenn „die Liebste“ in Erscheinung tritt.
Nerudas „Liebste“ besitzt eine magische Anziehungskraft auf Männer, die Anhänger jener trüben Tiefgründigkeit und jener Energie männlicher Angst sind, die bestrebt ist, im unbeständigen Verhalten „der Liebsten“ den Sinn des Lebens, seiner Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit zu erkennen.
Die Neruda-Experten wollten herausfinden, um wen genau es sich bei dieser Muse handelte, dem chilenischen Äquivalent zu Dantes Beatrice, und gelangten zu dem Schluss, dass die Aufmerksamkeit des Dichters während der Monate, in denen das Buch entstand, von mindestens zwei Frauen in Anspruch genommen war.
Dem südlichen, verregneten Temuco seiner Schülerzeit entspringt Teresa León, an die sich etwa die Hälfte der Gedichte richtet. Und aus der Zeit seines nie vollendeten Französischstudiums am Instituto Pedagógico in Santiago stammt Albertina Rosa Azócar.
Die beiden Frauen waren schon viele Jahre lang fester Bestandteil seiner Biografie, als der Schriftsteller 1954 in einem Interview durchblicken ließ, das Gedicht 19 („Braunes, behändes Mädchen, die Sonne, die das Obst macht… schuf deinen muntren Körper…“) wende sich an eine dritte Dame, eine Schönheit mit Namen María Parodi.
Wie auch immer sie heißen mochten, der Dichter verschmolz sie alchemistisch zu „der Liebsten“, wobei unerheblich ist, dass er die Frau aus dem Süden „Marisol“ und die aus Santiago „Marisombra“ nannte. So unterschiedlich sie auch waren – eher fröhlich die eine, die andere ziemlich spröde –, findet das Gegensätzliche in der Dichterseele zu einer Einheit. Es ist seine Art des Ausdrucks, durch die er das Düstere, die gütige und zuweilen turbulente Traurigkeit vermittelt und so diese Romanzen auf eine gemeinsame Temperatur bringt.
Nun mag der reale Ursprung zwar geklärt sein und sein Quäntchen in der Darstellung verlangen, doch weil Neruda alle Verschiedenartigkeit zu einem Magma verbindet, führen seine stilistischen Entscheidungen letztlich zu einem doppelten Rollenspiel, das sich jeder anekdotischen Zuordnung entzieht und weit darüber hinausgeht: „Die Liebste“ entspricht „dem Dichter“, und „das Gedicht“ ist von „beiden“. So heißt es in „Gedicht 5“:

Doch langsam nehmen meine Worte die Farbe deiner Liebe an.
Alles besetzt du, alles, alles.

Um auf unsere eingangs gestellte Frage zurückzukommen, wie es denn um die Wirkung der Amorpfeile auf das Ziel bestellt war, lassen wir „die Liebste“ für einen Moment beiseite und wenden uns den Musen zu. Dieses überwältigende 

Mir gefällt’s, wenn du schweigst, als wärst du in der Ferne

aus „Gedicht 15“ könnte ein realistisches Porträt von Albertina Azócar sein, die nach Ansicht von Nerudas Biografen – allen voran Volodia Teitelboim – von undurchdringlicher Schweigsamkeit war und den Dichter dadurch umso redseliger und eifriger machte. Unter dem Kosenamen Rosaura jedoch erweist sie sich als hinreißende Gespielin auf den Matratzen billiger Pensionen.
Nerudas lyrische Anstrengungen ließen Albertina ungerührt, davon zeugen die Gedichte an sie, wo es stets um Schweigen, Abwesenheit, Ferne geht, und auch die späteren Briefe, in denen der chilenische Dichter noch immer von „ihrem stummen Namen“ spricht und „dem Gefühl der Gleichgültigkeit, das mich neugierig macht“.
Es ist amüsant, sich diese mühevolle Beziehung vorzustellen, die den Dichter zwingt, nicht nur seiner eigenen komplexen Innenwelt Stimme zu verleihen, sondern auch der seiner Geliebten, weil er dieser die Präsenz, die sie ihm vorenthält, erst einhauchen muss: 

Weil jedes Ding erfüllt ist vom Leben meiner Seele,
tauchst du auf aus den Dingen, erfüllt von meinem Wesen.

Das Verhalten der Muse passt wunderbar zu dem Epigramm des Nicaraguaners Ernesto Cardenal, der seiner Auserwählten sagt:

Das wird meine Rache sein:
dass du eines Tages das Buch eines berühmten Dichters in den Händen hältst
und diese Zeilen liest, die er für dich geschrieben hat,
und das nicht weißt.

Die unerschrockene Heldin Nerudas bestätigte im Nachhinein, dass ihr zurückhaltendes Benehmen keine vorübergehende Eiszeit oder Taktik gegen Nerudas stürmische Leidenschaft war, denn als alte Frau sagte sie in einem Interview auf die Frage nach ihrem Lieblingsgedicht von Neruda:

Er hat mir einige gemacht, aber ich weiß nicht mehr, welche das waren.

Auf Neruda bezogen, hatte Cardenals „Prophezeiung“ gewaltige Folgen. Indem sich Albertina mit magischer Geringschätzung den ihr zugedachten Versen verschloss, gab sie diese frei für die lateinamerikanischen Liebenden, die sie mit großem Eifer aufgriffen und mit sehr viel mehr Glück als der Verfasser bei ihren erotischen Vorhaben benutzten.
Genau das hat mich zu der Szene in Mit brennender Geduld inspiriert, in der der junge Postbeamte von dem Nobelpreisträger getadelt wird, weil er sich der Gedichte bedient, die Neruda für seine Frau Matilde geschrieben hat, um die Kellnerin der Dorfschenke zu verführen.
Der Briefträger schießt folgendermaßen zurück:

Die Poesie gehört nicht dem, der sie schreibt, sondern dem, der sie benutzt!

Dank der Verfilmung meines Romans durch Michael Radford verselbstständigte sich dieser Satz und machte unter den Freunden poetischer Spitzfindigkeiten bald international die Runde. In dem Jahr, als Der Postmann in Hollywood für fünf Oscars nominiert war, druckte man den Satz auf T-Shirts, sodass ihn Jugendliche von den Vereinigten Staaten bis Spanien, von Finnland bis Japan über dem Herzen trugen.

 

 

 

Ich meine einen Dichter

Stell dir vor, du wärst in einem unendlich langen und schmalen Land geboren, das ausgestreckt zwischen einer scharfen Kordillere und einer Tausende von Kilometern langen Küste liegt, gepeitscht von einem munteren Meer.
Und dann stell dir vor, dieses Land hätte einen Dichter.
Und damit meine ich EINEN DICHTER.
Nicht dass es in diesem Land keine anderen Dichter gäbe. Traditionelle und avantgardistische, intelligente und banale, kahlköpfige und kraushaarige, erfolgreiche und verbitterte, gesunde und kranke, regional und weltweit bewunderte. Vielleicht sogar bessere.
Nein. Dieses Land hat viele Dichter, so wie das Meer Wellen und die Kordillere Zacken hat.
Einen gibt es jedoch, der ist das Meer, der ist die Kordillere.
Und wie die Natur ohne Personalausweis oder Pass auskommt, bedarf auch dieser Dichter keiner Erklärung.
Er war ein Mann, der sich selbst als ein Blatt unter vielen am großen Baum der Menschheit verstand.
Wenn er Brot sah, fragte er nach dem Bäcker.
Ich weiß nicht, ob er ein großer Liebhaber war, aber seine Dichtung führte dazu, dass die Paare sich liebten.
Ich weiß nicht, ob er ein großer Politiker war, doch in Zeiten des Konflikts säte er sein Wort und hielt damit die Hoffnung auf Rimbauds strahlende Städte des Lichts und der Gerechtigkeit lebendig.
Er bereiste die Welt und war mit den großen Dichtern des 20. Jahrhunderts befreundet. Bevor er 1971 den Nobelpreis für Literatur erhielt, herrschte über seine Sprachbilder bereits millionenfaches Einvernehmen.
Zu Lebzeiten war er eine Legende.
Seit seinem Tod ist er ein Mensch.
Ich hatte das Glück, in diesem Land, das du dir jetzt vorstellst, zur Welt zu kommen.
In Chile.
Der Heimat von Pablo Neruda.

In diesem Buch geht es um die Rolle, die Neruda in meinem Leben gespielt hat, und darum, wie Nerudas Leben mich als Schriftsteller beeinflusst hat.
Es möchte nichts weiter sein als das Zeugnis einer großen Verehrung, einer sporadischen Freundschaft, und es will die Hintergründe zu meinem Roman Mit brennender Geduld und dem Film Der Postmann erzählen, denen es zu verdanken ist, wenn mein Name heute von Lesern und Cineasten mit dem des Dichters in Verbindung gebracht wird.
Ich schließe eine sehr persönliche Auswahl aus Nerudas Werk mit ein, Texte von besonderer Bedeutung für mein Leben, weil sie die Facetten Don Pablos beleuchten, denen hier mein spezielles Augenmerk gilt.
Für die großen Themen seines Lebens nehme ich einige seiner Bücher, einige seiner Geliebten, einige seiner Häuser, einige seiner Meere und, nicht zuletzt, etwas von seinen Schatten und seinem Licht.
Mir stellen sich Leben und Werk Don Pablos als eine Art Spirale dar, die sich aus tiefen vegetativen Schatten hinaufwindet ins helle, vitale, soziale Sonnenlicht und sich gegen Ende seiner Tage wieder zurückzieht in melancholische Einsamkeit und die Sehnsucht nach Ruhe, Dunkelheit und Schweigen.
Was nun folgt, ist die Unendlichkeit, der Moment, in dem er erleben muss, wie sein geliebtes Land unter dem Getöse nicht immer glorreicher Heldentaten zerfällt, die Zeit der Krankheit, die sich im gesunden Tier verbeißt.
Die Weltgeschichte machte aus Neruda noch zu Lebzeiten einen Mythos. In diesem Buch geht es um meinen Neruda, um den, der er jahrzehntelang für mich gewesen ist, und darum, ihn, frei vom Flitter seiner Berühmtheit, als Menschen wahrzunehmen.
Da es schier unmöglich ist, einen umfassenden Eindruck dieses unermüdlichen Mannes und Dichters zu vermitteln, will meine Betrachtung nur eine unter Hunderten von Betrachtungsweisen sein. Ich erbitte lediglich einen demokratischen Platz für meine Version Nerudas, um sie anderen Versionen zur Seite zu stellen, ob sie diese nun bestätigt oder ihnen widerspricht.
Vielen Dank den Verlagen Seix Barral und Planeta für ihre Ermutigung zu diesem Buch, das ich mit großem Vergnügen geschrieben habe.

Antonio Skármeta, Vorwort

 

Die Freundschaft zu Pablo Neruda

lieferte den Hintergrund zu Antonio Skármetas Welterfolg Mit brennender Geduld. In Mein Freund Neruda erklärt Skármeta auf wunderbar persönliche, liebevoll-ironische Weise Leben und Werk des Nobelpreisträgers. Antonio Skármeta setzt mit seinem untrüglichen Gespür das Leben des Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda in Beziehung zu dessen gefeierten Gedichten. Er kannte den Menschen Neruda, nicht nur seinen Mythos. Somit beschert er uns als ergriffener Zeitzeuge einmalige Einblicke in das Leben eines Mannes, der ebenso engagierter Politiker war wie grenzüberschreitender Lyriker. Reich an Anekdoten, Emotionen und geschrieben mit humorvollem Feingefühl, ist dies die Hommage eines berühmten Schriftstellers an seinen vielleicht noch berühmteren Freund. Aber auch eine Einladung an den Leser, den großen Lyriker Neruda neu zu entdecken.

amazon.de, Beschreibung

 

In der Werkstatt des Lyrikers

– Antonio Skármeta hat eine Leidenschaft für linke Ideologie und für den Dichter Pablo Neruda, an den er mit diesem Buch erinnert. Leider erzählt er dabei allzu viel von sich selbst. –

Dieses Buch weckt gegensätzliche Gefühle. Es erhebt und verstimmt den Leser, es berührt, es stößt auch ab. Ein Autor mit klingendem Namen hat es verfasst: Antonio Skármeta, geboren 1940 in Chile, während der Pinochet-Ära im Westberliner Exil, 1989 kehrte er zurück nach Santiago. Von 2000 bis 2003 war der Chilene Botschafter in Berlin.
Neben seiner Passion für die Literatur zeigt Skármeta vor allem zwei Leidenschaften: für linke Ideologie und für Pablo Neruda (1904–1973). Ein Buch über den Poeten (Mit brennender Geduld, 1985) und ein Film zum Buch (Der Postmann, 1994) machten den Erzähler bekannt. Nach einer Reihe glückloser Prosawerke schreibt Skármeta nun erneut über Neruda. In welche Schublade gehört das Werk, wenn man eine wählen müsste? Non-Fiction auf alle Fälle, vielleicht ist es ein Essay.
Das Buch gewährt Einblicke in Vita und Werkstatt des Lyrikers. Wir sehen den Genussmenschen Neruda, den manischen Sammler, auch den großen Einsamen; wir lesen von der Wirkung seiner Vorträge (Zuhörer wirkten wie berauscht). Skármeta ergründet die Schnittstellen von Alltag und Poesie (etwa: welche Frauen inspirierten den Meister zu welchen Gedichten?), er beschreibt bizarre Begegnungen mit Neruda und den Einfluss des Älteren auf sein, Skármetas, Schaffen.
Nach achtzig Seiten Annäherung – Seiten voller Histörchen, notiert in einer blumigen Sprache – folgen 140 Seiten Interpretationen. Skármeta erläutert seine Lieblingsgedichte, er erinnert an die große Zyklen, etwa „Aufenthalt auf Erden“ und „Elementare Oden“, es ist ein Hymnus der Verehrung und Verklärung.
Bald bemerkt man Missklänge. Der politische Protagonist Neruda wird idealisiert. Dieser Protagonist hat nichts gemein mit einem ambivalenten Künstler, über den Roberto Bolaño einmal schrieb:

Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen, hatte meinen Respekt nicht verdient.

Leser, die Neruda anders sehen, als Skármeta dies tut, werden abgestraft: Kritik an einem späten Zyklus etwa sei ein „Irrglaube“, der „auf Geschmacklosigkeit und Gemeinheit zurückzuführen ist“. Das Anmaßende dieser Haltung spürte Skármeta wohl selbst, und so vermerkte er: Seine Version des Dichteres wolle „nur eine unter Hunderten“ sein.
Mein Freund Neruda heißt das Buch, und dies ist ein sprechender Titel: Im Mittelpunkt steht das „Ich“, der Verfasser. Neruda wird für Skármeta zum Anlass, in Erinnerung an eigene Erfolge zu schwelgen, an die schöne Zeit nach seinem großen Buch. Wieder und wieder erzählt Skármeta vom fiktiven Neruda, von der Buchfigur, von Filmszenen („Ich lasse meinen Neruda die Verse aus Herbst sagen“). Er hantiert mit dieser fiktiven Figur, bis sich auch der reale Neruda zu verwandeln scheint: in eine Schöpfung des Antonio Skármeta.
Manch berühmter Dichterkollege hat es vorgemacht, wie man sich in der Rolle eines Biographen zurücknehmen sollte, wie man am besten verschwindet hinter der Figur, die man preisen möchte. Nur so entstehen die großen, die bleibenden Lebensbilder, Essays wie die eines Octavio Paz oder eines Mario Vargas Llosa.

Uwe Stolzmann, Deutschlandfunk Kultur, 19.4.2011

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Thomas Völkner: Antonio Skarmeta über seinen Freund Neruda
blickpunkt-lateinamerika.de

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Paul Ingendaay: Von Liebe und Politik
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2020

Harry Nutt: Ein Botschafter der Poesie – Antonio Skármeta wird 80
Berliner Zeitung, 7.11.2020

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1, 2 & 3 + IMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Galerie Foto GezettKeystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Antonio Skármeta: FAZ ✝︎ FR ✝︎ Tagesspiegel ✝︎ taz ✝︎
junge Welt

 

Das Leben und die Karriere des chilenischen Schriftstellers Antonio Skármeta.

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda

Fakten und Vermutungen zu Pablo Neruda + Instagram 1, 2, 3 & 4 +
KLfGIMDbÖMPIA + Internet ArchiveKalliopeTod
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Pablo Neruda: Neues Deutschland ✝ Berliner Zeitung ✝
Neue Rundschau ✝ Neue Zeit ✝ PEN ✝ Tat

Zum 1. Todestag von Pablo Neruda:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

Zum 75. Geburtstag von Pablo Neruda:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

Zum 80. Geburtstag von Pablo Neruda:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

Zum 100. Geburtstag von Pablo Neruda:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

Zum 5. Todestag von Pablo Neruda:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

Zum 10. Todestag von Pablo Neruda:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023

 

 

Pablo NerudaFragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974

Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00