– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Der Tiger“ aus dem Band Pablo Neruda: Liebesgedichte. –
PABLO NERUDA
Der Tiger
Ich bin der Tiger.
Laure auf dich im Laub,
zwischen Blättern, so strotzend
wie Barren feuchten Erzes.
Der weiße Fluss schwillt an
unterm Nebel. Du kommst.
Nackt tauchst du unter.
Ich warte.
Und dann, in einem Sprung
von Feuer, Blut und Zähnen,
reißt ein Prankenhieb dir
die Brust, die Hüften nieder.
Ich trinke dein Blut, breche
dir deine Glieder, einzeln.
Und dann halte ich Wache
im Urwald, jahrelang,
bei deinen Knochen, deiner
Asche, regungslos,
fern dem Hass und dem Zorn,
entwaffnet durch deinen Tod,
von Lianen umwuchert,
regungslos unterm Regen,
unerbittlicher Wächter
bei meiner Mörderliebe.
aus Die Verse des Kapitäns ist – neben „Der Kondor“ und „Das Insekt“ – Teil einer Texttrilogie, die den Obertitel „Die Begierde“ trägt und die amoralische Gewalt der sexuell erregten Natur feiert.
Die Verwandlung des Dichters in einen Tiger und das rundum errichtete Dschungelszenario haben viel von einer malerischen Vision, unwirklich wie dieser weiße Fluss im Nebel.
Die ersten fünf Strophen dieser Darstellung spielerischer Grausamkeit mit ihrer zunehmenden Spannung und Gewalt stehen im Gegensatz zu der melancholischen Ironie des trauernden Tigers, der auf ewig der Abwesenheit seines schönen Opfers nachsinnt.
Schon immer hat der Tiger die Dichter fasziniert, sie empfinden ihn als eines der größten Naturereignisse.
Bemerkenswert ist der Kontrast zwischen diesem Tier voller Leidenschaft und Melancholie und beispielsweise den Tigern des argentinischen Meisters Jorge Luis Borges, der so besessen von ihnen war, dass er ihnen viele Gedichte, Artikel und Erzählungen widmete. In Geschichte der Nacht wählt er für seinen kurzen Text „Der Tiger“ ein eingesperrtes Tier, „sanft und tödlich“, den Archetyp des Tigers, ein Individuum, das für die gesamte Spezies steht. Er beschreibt ihn als „blutrünstig und schön“ und lässt ein kleines Mädchen sagen, er sei für die Liebe gemacht.
Nerudas Tiger liebt, mordet und säuft Blut.
Tatsächlich sind wir in Borges’ Gedanken- und Vorstellungswelt von der Bestie Nerudas, einem groben und sinnlichen Einzelexemplar, sehr weit entfernt. An diesem kleinen gemeinsamen Zoo wird deutlich, wie stark sich die Lyrik dieser beiden grandiosen Lateinamerikaner in ihrem Knurren unterscheidet.
Den Chronisten zufolge haben sich Borges und Neruda als junge Männer einmal in Buenos Aires getroffen und fortan jede Begegnung galant vermieden. Dieser Distanziertheit, aus der beide gelegentliche Spitzen gegen den anderen abschossen, ist der Kritiker Alastair Reid einmal nachgegangen. In seinem Artikel in der mexikanischen Zeitschrift Nexos vom März 2004 heißt es, Neruda habe einem Freund folgende Nettigkeit über das berühmte Genie geschrieben: „Borges scheint mir zu besorgt um kulturelle Probleme, die mich überhaupt nicht interessieren, die nicht menschlich sind… Ich achte weniger auf die Ideen um mich herum als vielmehr auf Körper, Sonnenlicht und Schweiß.“
Ich empfehle eine vergleichende Lektüre dieser beiden kurzen Texte, in deren Mikrowelten zu erkennen ist, wie verschieden die zwei „Tiger“ sind.
Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011
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