Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Gedicht 20“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Gedicht 20“ aus dem Band Pablo Neruda: Liebesgedichte. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Gedicht 20 

Heut Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben. 

Schreiben etwa: „Mit Sternen übersät ist das Dunkel,
und blau gefroren zittern weit entfernte Gestirne.“

Der Wind der Nacht zieht seine Kreise am Himmel und singt.

Heut Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.
Ich liebte sie, und manchmal hatte auch sie mich gerne.

In Nächten, so wie diese, hielt ich sie in den Armen.
Küsste sie viele Male unterm endlosen Himmel.

Sie liebte mich, und manchmal hatte auch ich sie gerne.
Wie denn nicht lieben ihre großen, sicheren Augen.

Heut Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.
Denken, dass sie mir fern ist. Fühlen, dass sie verloren.

Hören die öde Nachtluft, öder noch, seit sie fort ist.
Der Vers fällt auf die Seele wie der Tau auf das Gras.

Was macht’s, dass meine Liebe sie nicht bewahren konnte.
Sternbesät ist das Dunkel, und sie ist nicht mehr bei mir.

Das ist alles. Sehr ferne singt irgendwer, sehr ferne.
Mein Herz kann es nicht fassen, dass ich sie nicht mehr habe.

Wie um sie herzuholen, ist mein Herz auf der Suche.
Mein Herz ist auf der Suche, und sie ist nicht mehr bei mir.

Die gleiche Nacht, und weißlich schimmern dieselben Bäume.
Aber wir, die von damals, wir sind nicht mehr dieselben.

Ja, ich liebe sie nicht mehr, doch wie liebte ich, damals.
Zum Wind lief meine Stimme, um an ihr Ohr zu rühren.

Jetzt hat sie wohl ein andrer. Wie einst, eh ich sie küsste.
Den hellen Leib, die Stimme. Die großen, großen Augen.

Ja, ich liebe sie nicht mehr, liebe sie vielleicht doch noch.
So kurz dauert die Liebe und so lang das Vergessen.

Denn in Nächten wie dieser hielt ich sie in den Armen.
Mein Herz kann es nicht fassen, dass ich sie nicht mehr habe.

Mag’s auch der letzte Schmerz sein, den ich durch sie erleide,
sind’s auch die letzten Verse, die ich für sie nun schreibe.

 

Eines der bezauberndsten Liebesgedichte der Weltliteratur.

Wie ich meine, liegt sein Charme in dem heiteren, leichten, harmonischen Geständnis des Liebenden und der ungestümen Leidenschaft, deren Tragik sich in der widersprüchlichen Nüchternheit der Verse andeutet.
Durch die epigrammatische Kürze der, von zwei Ausnahmen abgesehen, jeweils paarweise angeordneten Verse entstehen Pausen, deren Rhythmus sich auf den Leser überträgt und ihn umfängt wie eine Litanei.
Das Gedicht hat drei große Protagonisten: die abwesende und endgültig verlorene Geliebte; die Nacht, bevorzugtes Szenario einer vormals erfüllten Liebe und in ihrer Schönheit der passende Rahmen für das Glück; und die Gefühle des Dichters, der sich ein ums andere Mal dem Diktat der Vernunft verweigert.
Bemerkenswert ist dabei die Vorgehensweise, denn er streitet seine Liebe ab, um die Aussage, mit der er sie soeben für nichtig erklärt hat, gleich darauf zurückzunehmen und sie durch die Gewissheit seiner Zweifel wieder in Kraft zu setzen.
So zum Beispiel in der dreizehnten Strophe: „Ja, ich liebe sie nicht mehr…“
Und in der fünfzehnten Strophe dann: „Ja, ich liebe sie nicht mehr, liebe sie vielleicht doch noch…“
Der Vers will die Zeit erfüllter Liebe in ferne Vergangenheit rücken, und der Dichter, dessen Selbstbeherrschung und Realitätssinn Zeile für Zeile gefährdet sind, lenkt ihn zurück auf eine Liebe, die offenbar noch lebendig ist.
So lebendig, dass der Schmerz weiter bohrt, wie wir am Ende des Gedichts erfahren, während uns zudem die Dialektik in der Anordnung der Strophen zweifeln lässt, ob dies wirklich die letzten Verse sein werden, die der Dichter ihr schreibt. Es klingt weniger nach Schlussakkord als vielmehr – und das empfinde ich sehr stark – nach einem schwindelerregenden Teufelskreis, als müsste das Gedicht mit „Heut Nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben…“ wieder von vorn beginnen.
Wie auf einer CD sollte darauf hingewiesen werden, dass dieses Kleinod noch einen Bonustrack enthält. Damit meine ich das Projektil, das sich aus der Gesamtheit des Gedichts gelöst hat und im Reich der geflügelten Worte einen unabhängigen Status errungen hat:

So kurz dauert die Liebe und so lang das Vergessen.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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