Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Herbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Herbst“ aus dem Band Pablo Neruda: Das lyrische Werk – Band 3. –

 

 

 

PABLO NERUDA

Herbst 

Es schleppen diese Monate am Schrillen
eines nicht erklärten Bürgerkrieges.
Männer, Frauen, Gejohl, Provokationen,
indes in der feindseligen Stadt,
an den nunmehr verlassenen Stränden
des Meers und seiner wirklichen Gischt
der Herbst sich einquartiert im Waffenrock,
mit grauem Schädel und langsamem Gang:
So überzieht Besatzerherbst das Land.

Chile wacht oder schläft. Die Sonne geht
nachdenklich auf inmitten gelber Blätter,
die flattern wie politische Augenlider
herab vom sturmgepeitschten Himmel.

Passte vordem kein Mensch mehr auf die Straßen,
jetzt ist Platz, jetzt möchte dein und mein,
ja, vielleicht jedermanns einsames Wesen
zum Einkaufen hinaus oder zum Träumen,
sucht sich ein Rechteck, wo’s allein sein kann
am grad noch grünen Baum, der zaudert,
eh er entblättert sich und fallen lässt,
was jetzt in Gold ihn kleidet, hernach als Bettler.

Ich geh wieder ans Meer, das der Himmel birgt,
die Stille zwischen Woge und Woge
stellt eine bedrohliche Spannung her:
Das Leben erstirbt, das Blut beruhigt sich,
bevor losschlägt die neue Bewegung
und des Grenzenlosen Stimme dröhnt.

 

Jardín de invierno,

posthum erschienen, hat keine ausreichende Beachtung seitens der Neruda-Experten gefunden, da sich unter diesen verbreitet die Ansicht hält, das Werk des Dichters habe in seinen letzten Jahren an Kraft verloren, ein Unsinn, der jeder Grundlage entbehrt und wie jeder Irrglaube auf Geschmacklosigkeit, Unwissenheit und Gemeinheit zurückzuführen ist.
Die Schlusszeilen von „Herbst“ sind es auch, die meine Romanfigur Neruda spricht, den fiebrigen Kopf an die Scheibe seines Schlafzimmerfensters in Isla Negra gelegt, und ich bringe mit dieser letzten Strophe das Abenteuer seines ganzen Lebens zum Abschluss; sie sind seine Hochzeit mit dem Meer, in dessen bedrohlichem Innehalten der Dichter des Grenzenlosen Stimme vernimmt.
Das Gedicht, wahrscheinlich Monate vor dem Militärputsch entstanden, gibt die Atmosphäre in Chile wieder, die Plumpheit der kurz darauf zuschlagenden Soldateska und die beklommene Anspannung, die das Land in Atem hält und sogar den Himmel in Angst und Schrecken versetzen könnte. Die Natur selbst wird zum Opfer dieser Unruhe, Unsicherheit und Vorahnung. Nicht einmal mehr die Sonne ist das strahlende Gestirn so vieler anderer Texte, sondern zeigt sich betroffen über die menschliche Zerrissenheit. Der herbstliche Baum wirft nicht nur im natürlichen Kreislauf von Niedergang und Erneuerung der Erde sein Laub ab, wie in den materialistischen Arbeiten des Nobelpreisträgers so oft beschrieben, sondern stürzt um.
Zutreffende Prognose einer unmittelbar bevorstehenden Apokalypse.
Resignierte Empfindsamkeit eines Menschen, der diese Zwangsläufigkeit bereits im Spanischen Bürgerkrieg erfahren hat und sich still ins Verhängnis fügt.
Die Beschreibung der Natur wird zum politischen Signal.
Die sozialistischen Anhänger Salvador Allendes hatten eine Losung ausgegeben, die über einen Rundfunksender ausgestrahlt werden sollte, um die Parteiaktivisten zu benachrichtigen, sobald der erwartete Militärschlag begann.
Auch sie hatten sich einer meteorologischen Formulierung bedient, um das Unglück zu verkünden: „Es regnet über Santiago.“
Am 11. September 1973 hörte ich diese Meldung beim Aufwachen.
Als ich die Vorhänge zurückzog, war es draußen neblig, leicht bewölkt und trocken.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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