HÖLLE UND WOLLE
zungenstern sichtbar geworden
winziger lichtpunkt
sieht du den einen
sieht du den anderen es ist egal
ein dornenstimmchen schwillt
zum schweifenden gesang
was glomm aus der brombeerschwärze
deines mauls?
ein höhenfeuerwerk vielleicht
von bomben und raketen
watteweich verpixelt
verpackt hinter hölle und wolle
das weiche das heiße
das flatbildschirmreiche fleisch
im schlachtfeld der trommler
von knöchelchen bewegt
in uhren und ohren erwacht
warst ein frühstückstisch deckender
beim streit um den einsatz
des fauchlauts schweigender
kralle die hand fest ins fell
deines haustiers wie warm ist
das animalische haar in
deiner sich schließenden faust
bodenfeuerwerk ha! fontänen
vulkane sonnen springbrunnen
und wasserfälle niedergänge
funkelnd im luftleeren raum
warst erfüllungsgehilfe heut
die mutter die frau und die kinder
besucht becirct bespaßt und bekocht
die toilette geputzt
die götter sind anwesend im surren
des fallbeils ins taube gesunken
flügelschlag knall
knall
Auf Höhe der Schneeglöckchen kreuzen sie den Gang durchs Leben – und stürzen ab: Geisterwelten tun sich auf, grinsende Fratzen. Die Schönheit von Feldlerchen und Rohrdommeln trifft jählings auf Picasso, Munch und Emily Dickinson. Gegen das Gefühl, verloren zu gehen im Großen, das diese Welt schon immer scheitern ließ, setzt Rautenberg leuchtende Zeichen: das Klein-Klein unseres Alltags und die Widerhaken des Abseitigen. Es sind Zerstörungs- und Erlösungsgedanken, dämonische Tiefen und tröstliche Nähen, die das Menschsein in der Schwebe halten – nicht umsonst hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung Rautenbergs Gedichte als „Höhepunkte aktueller Poesie“ bezeichnet.
Formal sind die Gedichte in permafrost zwischen Kurz- und Langgedicht angesiedelt, zwischen gereimt und ungereimt, zwischen Zuchtrose und Wildkraut. Arne Rautenberg sagt: „Wir müssen Gedichte wieder als das wahrnehmen, was sie sind: charmante, auch leicht wahnsinnige Verführungen zum Denken. Ein Blitzschlag mit offenem Ende, widerspenstig, wehrhaft und schön!“
Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung
vogelfrei und nah am Schicksal sind die neuen Gedichte von Arne Rautenberg. Gegen das Gefühl, verloren zu gehen im Großen, das diese Welt schon immer scheitern ließ, setzt er leuchtende Zeichen: das Klein-Klein unseres Alltags und die Widerhaken des Abseitigen.
Verlag Das Wunderhorn, Klappentext, 2019
– Je dunkler die Welt, desto verspielter der lyrische Reflex: Arne Rautenbergs Gedichtband permafrost. –
Wenn die junge deutsche Lyrik ohne semantische Überblendungstechniken und labile Zeichenfelder heute kaum mehr auszukommen scheint, um der irren Interferenz des Realen einen Sprachraum zu bieten, der sie repräsentiert, dann sind die Gedichte von Arne Rautenberg eher einfach, so als fürchteten sie die eigene Bedeutung und möchten im schnellen Tempo der Rede gleich wieder verschwunden sein. Dafür spricht die konsequente Kleinschreibung, die alle Zeichen egalitär werden lässt, und die fehlende Interpunktion, durch die ein schnelleres Lesen empfohlen und ein Nachklang der Worte blockiert wird. Linguistic turn und ein gefährlicher Kopfstand der Signifikanten sind seine Sache nicht, auch wenn Figuren der klassischen Moderne und konkreten Poesie durchaus zum Repertoire seiner Stilmittel zählen. Diese Gedichte haben etwas vom leichten Gang eines Tänzers, der über die Gegenstände quasi hinwegtanzt, die ihm auf dem Weg der Gedanken begegnen und in denen es um durchaus schwere Stoffe geht: um Tod und Vergänglichkeit und die Permanenz der Bedrohung für Mensch und Natur.
Gleich im ersten Gedicht „wenn ich nicht mehr bin“ wird die Frage aller Fragen gestellt, sobald ein Mensch das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit erlangt: Was geschieht nach dem Tod? Das fragt im kindlichen Ton der Sohn seinen Vater und erhält zur Antwort:
es ist wie es war
bevor du geboren
du warst noch nicht da
du hast nicht gefroren
du hast nichts vermisst
… so wirst du nicht leiden
wenn das was war ist
Was hier im rhythmisch fließenden Daktylus mit Endreimbindung fast schon gesungen wird wie ein Lied für die Nacht, ist nichts weniger als die Beschreibung des Nichts – jener Substanz, die ohne Substanz ist und dennoch vorhanden. Diese Aporie in der schwebenden Leichtigkeit einer Lyrik für Kinder abzubilden – so jedenfalls mutet sie oft in ihrer Tonlage an – spielt mit dem Charme der Beiläufigkeit und sachlichen Verkleinerung, auch Litotes genannt. Je dunkler also die Welt, desto verspielter der lyrische Reflex, bis zur visuellen Poesie, die grafisch nachformt, wovon sie erzählt.
Dass der Dichter auch bildender Künstler ist und die Schriftinstallation ein Teil seiner Kunst, spiegelt sich im poetischen System. Immer wieder werden die Zeilen um eine Mittelachse zentriert oder rechtsbündig gesetzt, werden Leselinie und Leserichtung vertauscht, von oben rechts nach unten links wie in „idiots at work“, zerfließt die Form auf der Seite, wie auch ein Laut verklingt, sobald das Wort gesprochen wurde. Und immer wieder ist es diese inszeniert naive Stimme, die durch das Dickicht der Bedeutungen dringt und die komplexe Welt auf einfache Blicke zurückführt.
Eines der schönsten Gedichte heißt „nachtlicht“ und tänzelt mit den Versen in Schlangenlinien über das Blatt wie ein Betrunkener über die Straße:
dunkel wird es
in der nacht
doch das dunkel
werden macht
dass ein heller
mond aufgeht
leuchtend er
am himmel steht
also trinke ich
den mond
der im weißen
weinglas wohnt
denn im eisgen
wein erwacht
mir ein licht
in meiner nacht
Das liegt seiner lyrischen Geste nach irgendwo zwischen Mörike und Morgenstern, und man fragt sich gerührt, an welchem zerstörten Sprachvertrauen vorbei hier jemand aus der Gegenwart zu einem in der Gegenwart spricht. Es können vielleicht nur die staunend klugen Kinder sein, die zum idealen Rezipienten werden und daran erinnern, dass aller Ernst dieser Welt im zweckfreien Spiel, im Überschuss und Ornament seinen tieferen Grund hat. Von daher steht diese Lyrik auch in einer Tradition zum deutschen Barock mit Dichtern wie Georg Philipp Harsdörffer oder Quirinus Kuhlmann oder wie Philipp von Zesen, der in seinem Gedicht „Palm-baum“ die Vorstellung einer typographischen Visualisierung von Sprache schon ebenso hatte, wenn er die Verse dem optischen Umriss eines Baumes anpasst.
Aber dann kippt die schwierige Balance zwischen poetischer Einfachheit und ontologischer Tiefe, die Texte überdrehen ihre Intention und werden zur Banalität geneigt komisch:
heut hat der himmel alles gegeben
seit fünfzig jahren bin ich am leben
ich sah die ISS-raumstation fliegen
stechend und rot den mars südlich liegen…
Ja, und? Was hier den Ton nicht hält, ist die Erzählfigur mit „fünfzig jahren“, der man diesen Abzählvers nicht so recht glaubt. Oder Spiegelbilder wie: „im wein liegt die Wahrheit / im bier liegt die lüge“, die dann oppositiv umgedreht werden zu „im bier liegt die wahrheit / im wein liegt die lüge“ und kommentiert mit „prophezeiungen sind oft / ebenso wenig wert wie vergleiche“ – das wirkt schon etwas unterkomplex. Dann gibt es Agrammatismen: „du kolibri / ich libido / bin nicht der die das / ich sehen möchte“, oder: „sieht du den einen / sieht du den anderen…“ – sind das jetzt Druckfehler, oder muss man hier um eine Ecke denken, die ich gerade nicht sehe?
Das Titelgedicht „permafrost“ indes – eine Elegie der Entfremdung vor dem Hintergrund einer technisch verwalteten Welt – führt uns zum Dichter der Polyphonie zurück, der es versteht, immer wieder Ton und Stimme zu wechseln. Zeilen wie „Hier kommt zusammen was zusammen / zerstört“ zeigen schon im Enjambement, das mit dem politischen Assoziationswort „gehört“ seinen Witz treibt, wie sicher der Autor die Effekte setzt. Naturgedicht – „der rückgang von permafrost / wird süß mit dem ersten sonnenstrahl / der über die gipfelkreuze blitzt…“ – und Liebeslyrik – „rot ist der körper der berührung erfährt / rot ist das blut im fließenden Strom nimm / diesen strick diesen strich diesen stich“ – werden miteinander verschränkt und lösen sich im sezierenden Blick des lyrischen Erzählers auf:
drei schnitte führe ich mit dem skalpell:
der erste tilgt was ich weiß
der zweite öffnet die lebenslinie
der dritte verliert sich ungelotst in anderen sphären
auf der suche nach dem verlorengegangenen geist
Das ist Ende und Anfang in einem, Apokalypse und Wiedergeburt – „langsam / weil der novemberregen / uns auf der erde faulen sehen will“.
Vielleicht sind es Masken, die auf Masken gesetzt sind, und vielleicht sind das Spiel mit der Form, die Permutation, die Collage, der Text als Zeichnung und Lautfigur nur verschiedene Wege zum stets gleichen Ziel: dem Subjekt einen Halt in der Welt zu geben durch die Struktur des Gedichts. Danach kommt dann nichts mehr. Nur noch ein Sprachobjekt aus Kreisen, das SILENCE heißt und nicht ohne Absicht außerhalb des Textkörpers steht – nach dem Inhaltsverzeichnis und einer letzten leeren Seite, die zum absoluten Gedicht wird. Wie sagte es Mallarmé? – „Mit dem Nichts an Geheimnis, unerläßlich, das, auch ausgedrückt, ein wenig bleibt“.
Wie eingefroren im Permafrost kommen Rautenberg Gedanken frei von Konvention daher – lyrisch mal knapp, mal länger versprachlicht. Hier blickt man in die Untiefen des Menschlichen, begegnet großen Künstlern wie Picasso oder Munch und dort wieder den fragilen Gebilden, die die Natur uns schenkt. Ein Tanz zwischen den Extremen oder wie Rautenberg selbst sagt:
Ein Blitzschlag mit offenem Ende, widerspenstig, wehrhaft und schön!
Der Titel permafrost lässt als erstes an den unaufhaltsamen Klimawandel und die damit einhergehenden und mitunter schon allgegenwärtigen Veränderungen in der Natur denken. Doch der Titel täuscht – vielleicht aber auch nicht. Denn Veränderung vollzieht Rautenberg bereits in Schreibung und Punktation. Konsequent entmündigt er die Großschreibung und ebenso die Zeichensetzung. So leben alle Gedichte in seinem neuesten Band von Kleinschreibung ohne Punkt und Komma. Besondere Setzungen machen das Lesen umso spannender!
Rautenbergs Gedichte folgen keinem einheitlichen Stil, der geläufig in ein Schema einzuordnen ist – vielmehr sind es zum Nachdenken anregende, mal ganz kurze, mal mehrere Seiten füllende Gedichte. Auch scheinbare – im Titel anklingende – Naturlyrik begegnet und pendelt im Wechselgesang zum Leben des Dichters, dem Werden und Vergehen. Den Auftakt macht die Frage des lyrischen Sohnes
wie ist es denn so
Wenn ich nicht mehr bin
und folgelogisch antwortet der lyrische Vater
es ist wie es war
bevor du geboren
Arne Rautenberg liest sich erst einmal und scheinbar so dahin. Doch versteht er sich auch so einfach? Zwar lesen die Augen den Text, der manchmal geordnet, manchmal tänzelnd, und manchmal in Bildern die Seiten ziert, doch dann fragt man sich, bei all den sorgsam gewählten Worten doch, wohin es einen zieht. Die Antwort „gegen das Gefühl, verloren zu gehen im Großen, das diese Welt schon immer scheitern ließ“ muss – typisch Lyrik – wohl jede*r für sich selbst finden.
Und genau das macht Rautenbergs permafrost so anregend – rabenschwarz, vogelfrei und nah am Schicksal.
Marion Poschmann: Lyrikempfehlung 2020
lyrik-empfehlungen.de
Florian Birnmeyer: Aus dem Lyrikkabinett
der-leser.net, 6.11.2020
Andreas Heckmann: ich habe den schatten der erde gesehn
amerker.de
INGWER
für Arne Rautenberg
Unter tausend fremden Worten, die ich nicht verstand,
die uns umschwirrten in der Kinderzeit,
uns zu verzaubern oder zu verführen,
schien mir der Ingwer interessant.
Mein Land,
das man als Brücke sieht zwischen Orient und Okzident,
ist üppig und an Reizen reich,
kennt süße und exotische Früchte,
es prangt mit Farben, Düften und Gewürzen,
aber Ingwer wächst dort nirgendwo.
Doch kam das hübsche Wort in vielen Büchern vor,
man nahm es gerne in Geschichten auf,
und immer, wenn das süße Wort erklang,
dann tönte in mir ein silbernes Glöckchen, und das läutete stundenlang.
Ich konnte ohne Zweifel sagen,
Ingwer, klar, das kenne ich,
das schimmert, flattert oder knirscht,
und schwebt wie ein seliges Lied über Dächern.
Ob man damit nun Lebkuchen buk, ob’s Kinder gab, die diese gerne aßen,
entzog sich meiner Kenntnis, denn die Kinder saßen
irgendwo in einem fernen Land, das ich nie erreichen konnte.
Nur aus der Ferne klangen ihre Stimmen,
das reichte mir, um mitzusingen.
Irgendwie passte es nicht zusammen,
diese ferne verkommene Welt
mit ihren fröhlichen Mädchen und Jungen,
mit Lebkuchen unter den schnalzenden Zungen,
und jenes Wort, das meinen Raum erfüllte und sich über mein Zimmer verstreute.
Ich meinte, dass es ein Pulver war,
gelb vermutlich oder ziegelfarben,
doch glänzte es auch
und es reichte sogar, nur einmal kurz davon zu kosten,
schon taten sich vor mir die Türen auf, und ich konnte in die neue Welt vorstoßen.
Ingwer –
man hätte ihn wohl mehrfach mahlen müssen,
bis er die rechte Konsistenz besaß,
die alle Tage farbenprächtig machte,
so dass wir unbesorgt auf allen Wegen wären,
ob wir zur Schule gingen oder nicht, oder zum Klavierunterricht,
ob wir zum Wald spazierten
oder Brunnen.
Bela Chekurishvili
Übersetzung Norbert Hummelt
Der Dichter und Künstler Arne Rautenberg: Wenn die Töne dunkel funkeln
Arne Rautenberg – Der LesePeter schaut hinter die Kulissen.
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