Arno Holz: Phantasus

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Arno Holz: Phantasus

Holz-Phantasus

39. WERKWELTVERSPONNEN

Salas y Gomez!

Hohes
erkorenes, urglutentborenes,
südloderglastübergleißtes,
riesensturmvögelumkreistes,
blauglanzumgossenes, meergrünumflossenes,
wogenumsaustes, windsbrautumbraustes,
einsames … einsames,
einsames
Felsklippeneiland
auf
dem ich
weltfern … Jahre lang … sinnend
gesessen!

Auf dem ich, ringend,
alle nur
Schaumwelt durchschaut! Auf dem ich mir klingend
meine
Traumwelt erbaut!

Selbstverloren! … Selbstverschollen!
Selbstvergessen!

Nichts
konnte mich mehr
zerstücken,
nichts … verzücken … nichts
ihm
entrücken!

,Glück‘?

Ein
Sonnenblitz, den man blinken
fühlt,
erst nachdem er
erloschen!

,Ruhm‘?
… ,Ehre‘? … ,Liebe‘? …
,Vaterland‘?

Phantome! Phantome!

,Menschen‘?
… ,Menschen‘?? … ,Menschen‘?? …
,Menschen‘???

Und
wenn sie kämen,
jubelvoll
mit tausend Wimpeln mich zu holen,
von
tausend
Masten mich zu grüßen,
in
tausend
Zungen mich zu
,feiern‘
inbrünstig, reuig, brüderlich:

Nie mehr … zurück! Nie mehr … zurück!

Nie mehr … zurück!!

 

 

 

Geleitwort

Arno Holz wurde geboren am 26, April 1863 in Rastenburg (Ostpreußen). Er starb 66 Jahre alt in Berlin am 26. Oktober 1929. Er war ein schlanker elastischer Mann, eigentlich immer jung, mit zurückgekämmtem Haar, scharfen Augengläsern, eine kämpferische Natur. Ich kam oft in Berlin mit ihm zusammen. Unsere Beziehungen waren freundschaftlich, wobei ich im übrigen nicht weiß, ob er irgend etwas von mir gelesen hatte oder goutierte. Wir sprachen jedenfalls, wenn wir uns über Literatur unterhielten und nicht gerade anderes vorhatten, von seinen Arbeiten, seinen Gegnern, seiner Situation und seinen Theorien. Er war bis zuletzt eine Lehrernatur, ein Mann, der etwas bestimmt wußte und es demonstrierte.
Das was ihn beschäftigte, wird mit dem Wort ,Naturalismus‘ sehr undeutlich bezeichnet. Ich werde bald zeigen, warum. Naturalismus kann man nennen, was Emile Zola im Auge hatte – den Werdegang vom Erdichteten, Phantastischen und dazu leer Gewordenen zu den realen Dingen, am liebsten des gewöhnlichen Alltags, und (– um die Sache auf die Spitze zu treiben –) zu dem Gewöhnlichsten, Verachtetsten und zum Häßlichsten des Alltags, daher in Opposition zur bürgerlichen Schönmalerei, die Vorliebe zum sozialen Elend, die Aufdeckung der sozialen Krankheiten, ja die Beschäftigung mit physischen Krankheiten, auch mit den moralischen Verworfenheiten und der Kriminalität. Diese Protesthaltung, welche zum Naturalismus gehört, nahm auch gewiß Arno Holz an. Sein war die Abneigung und der Kampf gegen die klassizistische Degeneration und die formale Verflachung. So sprang er auf die Bühne mit seinen ,Liedern eines Modernen‘ – und da waren gleich die lärmenden Großstadtstraßen, nicht die sieben Mußen des Parnaß und nicht die elysischen Gefilde, und da waren Straßenbahnwagen, Fabrikschlote und die Fabrikarbeiter. Freilich war der junge Lyriker im Beginn; Geibel, Eichendorff, Freiligrath standen nicht zu fern, auch Heine nicht. Seine eigene Melodie hatte Holz noch nicht gefunden.
Er schrieb seine dramatischen Arbeiten: Papa Hamlet, und mit Johannes Schlaf Familie Selicke, und im Schreiben und Arbeiten an diesen Stoffen wurde er erst der eigentliche Programmatiker des ,konsequenten Naturalismus‘. Hier konstatierte er:

Die Kunst hat die Tendenz, die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabungen.

Praktisch und theoretisch begann er so seinen Kampf gegen die Makulaturprofessoren und Makulaturliteraten. Wir reden hier nicht von der dramatischen Produktion Arno Holz’. Würde man heute diese Werke wieder hervorholen und neu drucken, so wäre es ein großer Gewinn, nicht nur für die Literarhistoriker und die Freunde der Literatur, sondern bestimmt auch für die jungen und zwischen Expressionismus und Impressionismus herumirrenden Dramatiker. Wir befassen uns hier auch nicht mit dem vehementen lyrischen Kampfspiel Die Blechschmiede, das seine Wirkung zu seiner Zeit getan hat; an den Schlägen dieser Schmiede kann man noch heute seine Freude haben. Wir befassen uns mit dem Phantasus, dessen erste Stücke in zwei dünnen Heften um 1898 herauskamen. Die Broschüre Revolution der Lyrik begleitete sie. Aus den kleinen Heften wurden größere und große, und wir stehen jetzt vor dem Phantasus, einem Non-plus-ultra-Poem. Von ihm und seinen umfangreichen und miniaturhaften Gedichten gibt dieser Auswahlband eine Probe.

Selten hat es eine Avantgarde der Kunst, eine literarische Neuerung so schwer gehabt und hat es heute noch so schwer wie die von Arno Holz. Sie ist noch nicht einmal durchgedrungen und zur Wirkung und Geltung gekommen und erscheint schon verschollen. Aber sie ist nicht verschollen, solange nur noch eine Handvoll Menschen um ihn wissen.
Holz war, wie ich schon sagte, ein Theoretiker, ein Lehrer, ja ein leidenschaftlicher Dogmatiker. Lassen Sie uns das Verhältnis zwischen Theorie und künstlerischer Produktion einen Augenblick betrachten. Es gibt Künstler, die dazu neigen, Doktrinen aufzustellen und die Kunst zu reglementieren. Was für Künstler sind das? Und in welchem Verhältnis steht die Doktrin, die Theorie zu ihrer Produktion? Emile Zola beginnt als Kritiker, die Goncourts hatten die Idee, ,Impressionismus‘ im Auge. Ihre Theorie drückte aus, was sie sich vorgenommen hatten zu leisten; sie erhoben ihre eigene Arbeitsmethode zum allgemeinen handwerklichen Prinzip. War das aber überhaupt eine handwerkliche Methode oder nicht einfach ihre spezifische Art zu produzieren? Man wird zu einer Klarheit darüber nur bei den Nichtskönnern kommen können.
Nehmen wir den Fall des deutschen Schriftstellers Paul Ernst, der durchaus große Kunst machen sollte, sowie auch seine Prinzipien. Bei ihm weiß man, was er wollte, das heißt was er sich vornahm und – was er nicht erreichte. Andere, zu denen auch unsere Klassiker gehören, ebenso Goethe wie Schiller (Otto Ludwig steht in der Mitte zwischen beiden Gruppen), formulieren Theorien, die sie im Grund ihrer Arbeit entlehnen und mehr oder weniger vollständig aus ihr abstrahieren. Die dritte Sonderklasse bilden die schöpferischen Begabungen, die es nicht zur Theorie treibt. Shakespeare und Balzac sind zu nennen. Die Formeln sind mit dem Inhalt da – Athene springt fertig aus dem Haupt des Zeus. Diese Künstler haben eine wildbachartig schäumende Produktion. Sie können nichts tun als sich treiben lassen und haben auch kein anderes Verlangen. Die Gesetze der Kunst bleiben ihrer Produktion immanent.
Ich möchte annehmen, daß der Verfasser des Phantasus, so dogmatisch und so theoretisch er ist, zu der Kategorie der Künstler gehört, die nachträglich ihre Regeln notieren. Es sieht aus, als ob sie ihre Produktion mit Grundsätzen kommandieren, die sie unabhängig durch geistige Arbeit gewonnen haben.

Für Arno Holz und seine lyrische Formel ist bekanntlich die Mittelachse charakteristisch. Man lächelt: er ist der Erfinder der ,Mittelachsenlyrik‘. Das sieht wie eine Spielerei aus und scheint eine bloße Anordnung äußerlicher Art zu sein. Hören wir, was Holz selbst sagt:

Jede Wortkunst, von frühester Urzeit bis auf unsere Tage, war in ihrem letzten, tiefuntersten Formprinzip auf Metrik gegründet. Diese Metrik zerbrach ich und setzte dafür das genaue diametrale Gegenteil, nämlich, Rhythmik, das heißt permanente, sich immer wieder aus den Dingen neu gebärende, komplizierteste Notwendigkeit, statt wie bisher primitive, mit den Dingen nie oder höchst selten ab und zu nachträglich und wie durch Zufall koinzidierende Willkür.

Er sagte dasselbe anderswo folgendermaßen:

Der Phantasus ist ein Gedichtwerk, das auf die alten bisher überliefert gewesenen Kunstmittel der Lyrik verzichtet und in dem ich versuche, nur durch die natürliche Kraft des Wortes allein zu wirken.

Rhythmik statt Metrik! Und zwar Rhythmik, die es wirklich ist, die permanent notwendig aus den Dingen selbst springt und nicht jene konventionelle Willkür, falsche, sogenannte freie Rhythmik, die mit den Dingen, die sie ausdrücken soll, meist so gut wie nichts zu schaffen hat und die in ihrem letzten Wesen nichts weiter als wieder nur eine verkappte Metrik ist.

Man überzeuge sich im Sprechen, im lauten Vorlesen der hier nachfolgenden Gedichte von der Richtigkeit dieser Sätze. Jemand hat diese wahre Unterscheidung von Rhythmik und Metrik gefunden, der wirklicher Naturalist war, ich meine, der wirklich zur Natur der Sprache vordrang.

Ich möchte den Phantasus von Arno Holz neben die Grashalme von Walt Whitman stellen. Beide Dichtwerke haben eigentlich weder einen Anfang noch ein Ende. Es sind Kompositionen in einer unendlichen Melodie, aber einer einzigen, vielfach modulierten Melodie. Sie formt sich bei Arno Holz in großen enzyklopädischen Geschichten, sie bringt historische Bilder hervor und wunderbare Stilleben, die an japanische erinnern. In der Tat zeigt diese Wortkunst von Arno Holz mit ihrer Genauigkeit, Sorgfalt und Subtilität große Ähnlichkeit mit japanischer Kunst.
Walt Whitman ist gewiß ein völlig anderer Charakter, ganz der Welt geöffnet, ein Liebender, Freund aller Menschen, der Kranken und Gesunden, kein Kämpfer. Aber ihre Werke, die von Arno Holz und Whitman, gewinnen denselben weltweiten Umfang. Sie umfassen den Kosmos, die Dinge der Natur, die Geschichte, die großen und kleinen Dinge der Tage und Nächte, gebunden in einem säkularen Weltgefühl. Walt Whitman wird durch seine Mystik über die säkulare Welt noch hinweggetragen, aber beiden wächst ihr Werk über alle Grenzen hinweg. Bei Whitman tritt zu der erdichteten und erträumten Realität die Tiefe wirklichen Erlebens. Der Amerikaner besingt wie der Deutsche die Landschaft, die Städte. Er hat auch eine freie weite Demokratie besungen, die er nennt ,ma femme‘. Der Deutsche in seiner Enge muß kämpfen, und sein Werk heißt wie das Leben vieler in Europa Phantasus, ein symbolisches großes Werk, dessen Tage noch kommen werden.

Alfred Döblin. Vorwort

 

Lehrmeister Arno Holz

In der deutschsprachigen Literatur des vergangenen Jahrhunderts liegt ein sperriges lyrisches Großgebilde in Gestalt des Phantasus von Arno Holz. Ihn hat man zwar noch kurz vor seinem Tod für nobelpreiswürdig gehalten. Doch die Reihe, in der ihn unmittelbar nach dem letzten Krieg Alfred Döblin, Freund aus den Berliner Tagen, wieder vorgestellt hat, war den „Verschollenen und Vergessenen“ gewidmet.1 Diese Zuordnung hat auch die große Werkausgabe von 1962/642 letztlich nicht aufheben können. Diese Ausgabe letzter Hand ist vergriffen, deren Phantasus-Fassung nurmehr in Bibliotheken oder Antiquariaten zu bekommen. Die in einem Reclambändchen noch zugängliche faksimilierte Urfassung des Phantasus von 18983 vermittelt zwar den Nukleus des Werkes, wirkt aber wie die Basisspitze einer darüber in die Höhe und Breite errichteten Pyramide (s. auch S. 47ff.).
Das Desinteresse, das Arno Holz erfahren hat, haben vor allem zwei Momente bewirkt. Literaturoffiziell werden seine Dichtungen als Zeugnisse eines originären Naturalismus geortet, der im Schatten von Expressionismus und Dadaismus jedoch verdämmert. Zum anderen ist die poetische Konzeption des Phantasus-Projekts in sich gespalten. Der innovativen poetologischen Kehre zur Dominanz der Rhythmik im Zeilenverlauf und der strukturierenden Mittelachse der Verse, die ein ruppiger Kehraus so gut wie aller traditionellen poetischen Mittel und Formen begleitet, steht eine, vermutlich von der Nietzscherezeption beflügelte, hypertrophe Rolle des eigenen Ich gegenüber. In der Einleitung zur ersten Ausgabe des erweiterten Phantasus von 1916 klingt das so:

Allein schon aus dem Vorhandenen erhellt: als Grundstruktur die in denkbarweitestem Ausmaße abgesteckte „Autobiographie einer Seele“! Des „Schaffenden“, des „Dichtenden“, des „Künstlers“, der, wie namentlich aus dem großen, resümierenden Schlußstück hervorgeht, als der letzte, gesteigertste Menschheitstyp hingestellt wird, durch den, in irgend einer „Beziehung“, in irgend einem „Betracht“, mit gleicher Intensität, „alles“ geht: Alle Qual, alle Angst, alle Not, alle Klage, alle Plage, alle Wonnen, alle Verzücktheiten, alle Jubel, alle Beglücktheiten, alle Seligkeiten, alle Ekstasen, alle Entrücktheiten! Nicht nur seine eigenen, sondern die der ganzen Menschheit! In allen Formen, unter allen „Verkleidungen“, durch alle Zonen, aus allen Zeiten!4

Aus dieser ins Menschheitliche schwingenden Ich-Mythisierung hat Holz zweifellos seine unermüdliche Arbeitskraft gewonnen. Sie hat sich ausgewirkt in der überdimensionalen Ausweitung und der manchmal bis ins Extrem getriebenen sprachlichen Verfeinerung der drei Gesamtausgaben von 1916, 1925 und 1962/64.
Es gehört zu den Rätseln des Phantasus, dass die krassen Zeitereignisse der Entstehungsjahre sich weder in den Stoffen noch im Vokabular spürbar niedergeschlagen haben, obwohl Holz doch unablässig neue, seltene Bezeichnungen und Ausdrücke aufgespürt hat. Seine Welt ist die Innenwelt mit ihren Halluzinationen, Phantasmen, Projektionen ins Exotische, Erotische, Machtlüsterne, auch ins verfügbare Vergangene, konterkariert immer wieder vom Bezug auf die Banalitäten des eigenen Alltags. Dabei ist die Lyrik des Ur-Phantasus von 1898 ins Epische mutiert, ohne dass die Wortautonomie des Lyrischen verlorengegangen wäre.
Die divergenten Lesehorizonte, die sich in den seither verstrichenen über 70 Jahren mit ihren unvorstellbaren Ichgeschichten, Verwerfungen, Verkehrungen und Verwüstungen, aber auch Erfindungen und Entscheidungen abgelöst haben, lassen die originäre Lesart, die Arno Holz im Sinn hatte, als obsolet erscheinen. Der heutige Leser des Phantasus ist entlastet von den quasisäkularreligiösen Wertungen und Aspekten, die Holz in das Werk eingesponnen hat. Wie neu erfunden, tritt jetzt wieder das naturalistische Verhältnis zur Oberflächigkeit und Buchstabengenauigkeit des verbalen Materials hervor. Die Methode des Sekundenstils, die die naturalistischen Arbeiten mit ihrem haargenauen, minutiösen sprachlichen Zugriff auf das Gegebene kennzeichnete, ist im Phantasus zu spüren und bewirkt dessen verbale Raffinesse. Hier allerdings lässt der Autor seiner frühen Einsicht, dass „Kunst = Natur – x“ ist, also nicht sklavisch abbildet, sondern notwendigerweise Abweichungen mit sich bringt, freies Spiel. Und er weitet es von Fassung zu Fassung aus, bis zu dem Punkt, dass die Realreferenz des Geschilderten in der Gegenwärtigkeit der Wörter, Silben, Laute und ihrer in sich selbst erfüllten, autonomen Bedeutung verschwindet. Wobei es zu Worterfindungen kommt, die in keinem Lexikon stehen. Der folgende Textauszug kann das veranschaulichen:

DIE HALLELULAWIESE

Auf
seiner
lustigen, lachenden,
grünen,
auf
seiner
mutwillig, ausgelassen, tolltrunken
kühnen,
auf
seiner
lichtjauchzend, lichtjuchzend, lichtjuchend jubelnden, traumsonnig,
traumselig, traumüppig
trubelnden,
allkosmisch, eigensphärisch,
kaleidoskopisch
gigantischen,
diesirdisch, utopisch, jenweltlich
atlantischen,
faunisch, schalkslaunisch,

phrynisch bacchantischen, orgiastisch, phantastisch, zynisch
korybantischen,
verzwickt,
verzwackt, vertrackt
trutzigen, verwogen, verwegen, verbogen putzigen,
verlumpludert, verliedert, verduzbrudert
wuzigen,
frechfeschforsch, dreistkeck,
venusinisch
paphischen, epikuräisch, sybaritisch, schlemmerisch schlaraffischen,
unerhört,
unbändig, ungestüm,
ungeniert, unaffaktiert, undressiert,
undegeneriert
hyperanimalischen,
unverhohlen, unverstohlen, unbelehrbar, unbekehrbar,
unbeirrbar, unbekirrbar,
unverwirrbar
ultrainfernalischen,
unbekümmert,
unverkrüppelt, unverknüppelt,
unbeleckt, unbeschleckt, unverbrämt, unverschämt
amoralischen,
trotzdem,
überdies, außerdem, dessenungeachtet,
andererseits und hinwiederum,
aber
dennoch, zugleich auch noch,
durchaus,
überall, unerläßlich,
ganz
genau ebenso
(denn
links will rechts und rechts will links, so urorakelt schon die Sphinx,
das ist das Wesen jedes Dings, das merkt ein krückstockloser
Blinder, der taubstummdümmste Nachempfinder)
nicht knapper, nicht
kärglicher,
nicht mangelnder, nicht weniger, nicht
minder
(und
jetzt erst
meine lieben
Kinder, ihr anderen auch, verehrte Rinder,
der Mensch, der
Finder und Erfinder,
der
stets sich selber
Überwinder, vom Feuerländer bis zum Inder,
im Fez, im
Kolpak,
im
Zylinder,
ist schließlich doch, hol euch der
Schinder, nicht bloß ein simpler Bürstenbinder,
erst
jetzt, erst jetzt, erst jetzt, erst jetzt
rollt
mir mein
Blut
geschwinder)
in allen ausgesuchtesten, erlesensten, in allen auserwähltesten,
erkorensten, in allen
ausklamüsert,
ausspintisiert, aussimmiliert
feinsten, reinsten,
ätherischsten, legendärischsten, chimärischsten
Himmelsfarben,
prismatisch, jubilatisch, ekstatisch,
irisierend, regenbogenbunt,
hangend
schmachtenden,
mit allen erdenklichsten, ersinnlichsten, mit allen erfabeltsten,
erfindlichsten, mit allen
schmeichelndsten, streichelndsten,
arkadischsten, eldoradischsten, scheheresadischsten
Paradieswundern,
brimborisch,
phantasmagorisch, halluzinatorisch, märchenprunkflorisch,
hirnüberspannt,
prangend
prachtenden,
nach allen unerfaßbaren, unbegreifbaren, nach allen
unergründbaren, unvorstellbaren,
nach allen
labendsten, erhabensten,
seraphimsten, sublimsten, cherubimsten
Glorienzaubern,
fatamorganisch, panisch, titanisch, ambrosianisch,
seelenseherisch,
langend
trachtenden,
von Rotorange bis
Blauviolett, vom ersten Abis zum letzten Zett,
ganz und gar, mit Haut und Haar,
nebst ihrem gesamten
Inventar,
himmlich, teuflich, höllisch,
göttlich,
lobpreisend, feiernd, hohnlästernd,
spöttlich,
in
sich selbst
kontradiktorisch,
metaphorisch, allegorisch, zypriporisch, polychorisch
für
jeden Poeten beredten, für jeden Interpreten verdrehten,
vollständig
überkandidelten, vollkommen übergeschnappten
total verrückten, total verzückten, total
hirnmusmeschuggenen
Hallelujawiese
duldet,
leidet, verstattet, erträgt,
zediert, akzeptiert,
privilegiert, ratifiziert, konzessioniert
mein
freies, mein frisches
mein fröhlisches,
weltfrohes, weltfreudiges, weltfeueriges,
alles
einendes, alles umfassendes, alles seihendes,
alles verprassendes, alles
verzeihendes,
nichts
verpassendes,
nimmer sattes, nimmer mattes, nimmer
müdes,
überschwellendes, überquellendes, überschnellendes
Herz
keine … Schatten
5
(…)

In der Nahsicht auf die Textur der Zeilen, bei der das sinnentnehmende Lesen sich wandelt in ein wach mitgehendes, genaues Wahrnehmen der schriftlich dargebotenen, zugleich auch lautierbar mitvollziehbaren Artikulationen, kann das eigene probierende Wort-Lauterfinden anspringen. Es bewegt sich im Weichbild eines „automatischen“ Formulierens, wobei das Bewusstsein unauffällig dabei ist, begleitend, nicht dirigierend. Was denn da zur Sprache kommt, mag sich hinterher herausstellen. Es spielt während des Formulierens keine Rolle. Diese Art zu schreiben ähnelt dem wachträumenden Hinübergleiten eines Lesenden vom scheinbar noch gegenwärtigen Inhalt ins somnambule, frei schwebende Sprachhaben. Die verbalen Hilfslinien, die im Text zu verfolgen sind, können beitragen, die eigene Wortfindung aus dem Karussell desselben sich immer wieder aus dem Hinterbewusstsein anbietenden, aufdrängenden Wörtervorrats hinausgleiten und zu nicht vorhersehbaren Bildungen, Erfindungen gelangen zu lassen. Sie können schriftlich oder akustisch verfasst und erfasst werden. Auch die orale Fassung wäre im Sinn von Arno Holz, der dem Laut- und Klangaspekt seiner Dichtung großes Gewicht beigemessen hat.
Die zitierte Passage aus der „Hallelujawiese“ gibt einen Einblick in die spezifische Grammatikalität, die im Phantasus wirksam wurde. Das Satzskelett des umfangreichen Textes lautet schlicht:

Auf seiner (…) Hallelujawiese duldet (…) mein (…) Herz keine Schatten.

Die Präposition „auf“ erreicht erst nach 126 Zeilen ihr Beziehungswort „Hallelujawiese“. Das Prädikat folgt zwar unverzüglich, doch auch dieses wird mit Varianten bedacht und trifft erst nach weiteren 17 Zeilen auf sein Subjekt. – Es lohnt sich, das Textstück bis zum Wort „Hallelujawiese“ immer wieder aufmerksam zu lesen und dabei Bedeutungshof und Lautung jedes einzelnen Wortes anzuschmecken und auszukosten. Mit dem zweiten Lesen beginnt sich die „Hallelujawiese“ als die vieldimensionale, mit allen denkbaren Antagonismen bestückte Halluzinationsebene zu entfalten. Ihre irreale Realität legitimiert im Nachhinein das Wörterkaleidoskop, dessen springende Momente einerseits ihre Qualitäten antippen, andererseits jede Denk- und Vorstellbarkeit desavouieren. Es zeigt sich die Holz’sche Leidenschaft für die attributiven Satzelemente, seine geradezu unersättliche Lust und Penibilität beim Aufrufen und Aufreihen adjektivischer und adverbialer Wortformen. Ihre aberwitzige Menge beherrscht weithin die Phantasus-Seiten und übertrifft bei weitem die der Substantiv- und Verbformen. Holz fasziniert ihre weiche grammatische Fungibilität. Sie teilen wie Nomina Inhaltliches mit, kommen jedoch ohne deren begriffliche Kernung aus. Im exzentrischen Wörterfluss erfindet Holz Wortkombinate wie „verlumpludert“, „märchenprunkflorisch“, „polychorisch“, „hirnmusmeschugge“ als bedeutungslabile Unikate.
Es lohnt sich der Versuch, die eigene Hallelujawiese mit solcher Methode zu erfinden. Dabei aufscheinende Wunsch- und Traumflächen spielen mit, werden jedoch unterwegs von den selbstbeweglichen Vokabeln in der Neugier auf Unerwartetes, Nichtvorstellbares konterkariert. Bei der eigenen gewohnten Lektüre oder mit lexikalischer Hilfe lässt sich Wortmaterial so überschüssig anreichern, dass das Spiel von Aussuchen und Kombinieren beginnen kann. Konstellation und Abfolge werden im Abhorchen und Austasten der Bedeutungsvalenzen, von Sympathie und Diskrepanz der Wörter, ihres phonetischen Substrats und der sich anbietenden rhythmischen Variablen entschieden. Die Mittelachse, die Holz für die angemessene Organisation der Versrhythmik gefunden und empfohlen hat, könnte sich als fungible Form für die Austarierung und Präzisierung der Wortsequenz erweisen. Sie bildet im Phantasus, anders als die übliche Linksbündigkeit mit ihrem Schnitt zwischen Versende und -anfang, ein Mobile für das schwebende Nachbarschaftsverhältnis der Verse. Auch gewinnt der Text eine visuelle Gestalt mit einer eigenen Aussagegestik. Wofür sich beim Durchblättern das Phantasus überzeugende Beispiele finden lassen.

Franz Mon, in Olaf Kutzmutz u. Stephan Porombka (Hrsg.): Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister, sammlung luchterhand, 2007

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

E. J.: Die Revolution der Lyrik
Die Tat, 20.4.1963

Zum 50. Todestag des Autors:

Klaus M. Rarisch: Wüsther, rothester Socialdemokrat
fulgura.de

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Andreas Platthaus: Außenstelle Australien
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.2018

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