Ich mühte lange mich, zu lernen
Aus keinem einzigen Gedicht
Mich wie ein Verslein zu entfernen,
Das keinen Wert hat, kein Gewicht.
Als alle Jubelpfeifer pfiffen
Und jeder Schmierfink Hymnen schrieb,
Hab ich die Schneide blankgeschliffen,
Vor die ich meine Freude trieb.
Vielleicht ein Narrenunterfangen:
Verderb nicht achtend und Gedeihn,
Von jeder Zeile zu verlangen,
Sie müsse unser Paßbild sein.
Und doch: ich will auch euch betrachten
Und mit den strengsten Augen sehn
Und auf das eigne Leben achten,
Um heute oder nie zu gehn.
Ich laß in jedem Laut am Ende,
In jedem Komma noch als Spur
Die von der Arbeit müden Hände
Und alles, was mir widerfuhr.
Das ist’s warum ich vorwärtsblicke,
Warum das Herz nicht klagt und bangt,
Auch wenn mit seinem Henkerstricke
Der eigne Vers nach mir verlangt.
Übersetzt von Waldemar Dege
Als Arseni Tarkowski am 25. Juni 1987 in Moskau seinen 80. Geburtstag beging, sammelten sich um ihn mehr Jugendliche, als die Wohnung fassen konnte. Dicht gedrängt auf dem Fußboden sitzend, baten sie den ob dieser Invasion entsetzten, seit Jahrzehnten zurückgezogen lebenden Tarkowski, seine Gedichte zu lesen. Tarkowskis Lyrik geht in der Sowjetunion bis heute in Abschriften von Hand zu Hand, da die Auflagen seiner Gedichtbände (50.000) nicht ausreichen. Sowjetische Rockgruppen haben seine Gedichte vertont. Wie kommt es zwei Jahrzehnte nach der Lyrikwelle der 60er Jahre, dem lauten, von revolutionärem Veränderungswillen bestimmten, experimentierfreudigen Auftritt der „zornigen jungen Männer“ zu der fast kultischen Aufnahme eines Dichters der Generation ihrer Väter, der sich fern vom offiziellen Literaturbetrieb, jegliches Experimentieren ablehnend, gestützt auf zwei Jahrhunderte russischer Jambustradition, der zeitlosen Frage nach dem Ort des Menschen in Natur, Kultur und Geschichte stellte?
In Tarkowskis Lyrik sind kompromißlose Lebenshaltung und Weltsicht eines Dichters kristallisiert, der nicht ein einziges Mal in seinem Leben konjunkturellen Illusionen erlag. Zu Beginn der 30er Jahre von der Literaturkritik als „mystisch“ gebrandmarkt, arbeitete er in der Zeit von Stalinismus und Krieg dreißig Jahre im stillen. Tarkowski durfte nach ersten Gedichtveröffentlichungen im Jahre 1926 erst 1962 als 55jähriger seinen ersten Lyrikband publizieren. Diese Gedichtsammlung Vor dem Schnee, die Lyrik aus den Jahren 1929 bis 1962 umfaßt, war schlagartig ausverkauft – die zeitgenössische Literaturkritik hüllte sich in Schweigen, doch die strenge, mit Lob äußerst sparsame Anna Achmatowa begrüßte das Buch in überschwenglichen Worten: „Diese Gedichte, die lange auf ihr Erscheinen gewartet haben, verblüffen durch eine Reihe seltenster Eigenschaften. Die verblüffendste unter ihnen ist, daß Wörter, die wir scheinbar jede Minute aussprechen, nicht wiederzuerkennen sind, in ein Geheimnis gehüllt, und ein unerwartetes Echo im Herzen hervorrufen. Diese neue Stimme in der russischen Poesie wird lange klingen.“
Erst in hohem Alter wurde Tarkowski die öffentliche Anerkennung seines Landes zuteil, doch lebenslänglich begleitete ihn die Verehrung der Lyrikkenner und vieler Dichterkollegen. In den 70er Jahren gelangten Tarkowskis Gedichte in die Welt, noch bevor sie in anderen Sprachen gedruckt waren – durch die Filme seines Sohnes Andrej Tarkowski (1932-1986) Spiegel, Stalker, Nostalgia, in denen Arseni Tarkowski seine Gedichte teilweise selbst spricht. Das Massenmedium Film ermöglichte auch in der Sowjetunion die millionenfache Verbreitung seiner Lyrik. Von der sowjetischen Intelligenz, besonders von der Jugend, wurden die Filme Andrej Tarkowskis ähnlich kultisch rezipiert wie in westlichen Ländern. „Der Sohn öffnete uns das Altartor zur Poesie des Vaters, und seither dämpft die heisere, leicht bebende Stimme Arseni Tarkowskis viele andere parade- und tribünenhafte kräftige Stimmen“, schrieb 1987 ein ehemaliger Regiestudent über die Uraufführung von Spiegel in der Mitte der 70er Jahre. Ursprünglich hieß dieser Film Ein weißer, weißer Tag nach dem gleichnamigen Gedicht Arseni Tarkowskis.
Viele Szenen der Tarkowski-Filme sind ins Bild gesetzte Gedichte Arseni Tarkowskis, entsprungen aus der geistigen Traditionsfolge von Vater und Sohn. Der Sohn bereitete die umfassende und tiefe Aneignung des Vaters vor, dessen Lyrik schon vor drei Jahrzehnten eine erst heute deutlich zum Ausbruch kommende Tendenz der Zeit vorwegnahm: den verlorenen Fortschrittsglauben und die Verabschiedung aufklärerischer Zukunftsverheißungen angesichts eines in die Irre gegangenen technizistischen Größenwahns mit der drohenden Konsequenz menschlicher Selbstvernichtung. In einer Zeit noch ungebrochener weltweiter Technikfaszination und gesellschaftlicher Aufbruchsstimmung schreibt Tarkowski 1957 das Gedicht „Ende der Navigation“, von dem tiefe Beunruhigung ausgeht, Drohung und Warnung:
Falls wir die Krankheit dieser Erde sind…
Der Erde – Irdisches ist der programmatische Titel seines zweiten Lyrikbandes (1966), durch den auch die Literaturkritik auf Tarkowskis für jene Zeit ungewöhnliche Weltsicht aufmerksam wird. Alla Martschenko wies damals treffend auf den Kontrast zwischen dem in der Lyrik der 60er Jahre üblichen „Ich – in der Mitte des Jahrhunderts“ und Tarkowskis „Ich bin ein Mensch, ich bin in der Mitte der Welt“. Doch man sah darin nur die Lobpreisung menschlichen Denkens, seiner Macht über Vergangenheit und Zukunft. Tarkowski aber betonte immer zugleich die existentielle Einbindung des Menschen, der das Weltall im Kopf faßt, in ebendiese Welt, seine Verantwortung für das Ganze. Die der damals vorherrschenden optimistischen Intonation des menschlichen „Sieges über die Natur“ im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution entgegengesetzte Warnung Tarkowskis vor voluntaristischen Eingriffen in eine Natur, deren letzte Geheimnisse und unendliche Wechselwirkungen sich dem rationalen Denken entziehen und die sich für menschliche Eingriffe rächt, trug nicht gerade zur offiziellen Anerkennung seiner Lyrik bei. „Die Beziehung zwischen Dichter und Welt in der Lyrik Arseni Tarkowskis könnte man durchaus – bei aller Bedingtheit der Metapher – ,mittelalterlich’ nennen“, schrieb der sowjetische Kritiker Sergej Tschuprinin zu Beginn der 80er Jahre. „Von keinerlei Gegenseitigkeit oder Gleichberechtigung kann hier die Rede sein, zu riesig ist die hierarchische Distanz, die Welt und Menschen trennt.“
Das Wasser, Urgrund allen Lebens, ist ein zentrales Element in Tarkowskis Dichtung, das auch der Sohn in seine Filmpoetik übernahm. Arseni Tarkowskis lyrische Sprache gleicht der „Sprache des Wassers“, die den Menschen an sein verlorenes ursprüngliches Selbstgefühl „von pflanzenhaftem Los“ erinnert. Sie ist zeitlos und prophezeit:
Er dachte, taubstumm sei das Wasser
…
Daß – willst dich waschen, wasch dich – willst du trinken, trinke,
Und daß kein andrer Sinn im Wasser läge.
Jedoch des Wassers Wort war wunderlich,
War ein Erzählen über Immergleiches,
Steinglitzern, flüchtig, fernen Sternes Licht
Und einer Unglücksprophezeiung gleichend.
Und etwas war darin von Kindheitszeit,
Der fremd ist, daß das Leben Jahre säumen,
…
Und vom Gewittrigen, wie früher Jahre,
Des Selbstgefühls von pflanzenhaftem Los.
Wie die langen wehmütig stimmenden Regenfälle Rußlands fließt das Wasser durch Gedichte und Filme der Tarkowskis. Regen, Feuer, Wasser, Schnee, Tau und Felder sind hier keinesfalls bedeutungsträchtige Symbole, sondern „Teile des materiellen Milieus, in dem wir leben, eine Wahrheit des Lebens“, wie Andrej Tarkowski es formulierte. Eine Zivilisation, deren moderne Errungenschaften diese Lebenswahrheit ignorieren, zerstört sich selbst. Das Ideal der Mensch-Natur-Harmonie ist auch beeinflußt von östlicher Poesie, die Arseni Tarkowski in die russische Dichtung einbrachte, wie einst Boris Pasternak die georgische Lyrik.
Der als Sohn eines Volkstümlers in einer alten russischen Intelligenzia-Familie aufgewachsene Arseni Tarkowski (1907–1989), der bereits mit siebzehn Jahren die Redaktion „Literarisches Feuilleton“ der berühmten Zeitung Gudok leitete, wo er mit Bulgakow und Ilf/Petrow zusammenarbeitete, zog sich nach dem Studium an der Staatlichen Hochschule für Literatur (1925–1929) auf Grund der RAPP-Kritik an seinem „Mystizismus“ aus dem öffentlichen Leben zurück und arbeitete ab 1932 freischaffend als Nachdichter arabischer, armenischer, turkmenischer, georgischer und hebräischer Poesie. Durch Tarkowskis glänzende Nachdichtungen wurde Marina Zwetajewa auf ihn aufmerksam. Zwischen beiden Dichtern entstand eine enge Freundschaft, die 1941 mit dem Freitod der Zwetajewa tragisch endete und deren Echo in vielen Gedichten Tarkowskis nachhallt. Nachdem er sich freiwillig an die Front gemeldet hatte, schrieb er 1941:
Doch höre ich in all dem Knirschen, Stöhnen
Mehr einen Tod als jeden letzten Gruß.
Erst Jahrzehnte später erreicht Tarkowski Zwetajewas Antwort auf sein Gedicht „Sechs Gedecke aufgetischt…“, in dem er ein geisterhaftes Festmahl im engsten Familienkreis heraufbeschwört, bei dem verstorbene Familienmitglieder, Kummer und Traurigkeit zu Gast sind. Auf dieses Gedicht, das Tarkowski ihr einst vorgelesen hatte, kam Marina Zwetajewa in einem ihrer letzten Gedichte zurück:
Der erste Vers verfolgte mich,
Als müßte ich ein Wort verbessern:
„Sechs Gedecke aufgetischt…“
Das siebente – hast du vergessen.
Nicht fröhlich seid ihr dort zu sechst,
Auf den Gesichtern – Tränenregen…
Wie konntest du an diesem Tisch
Die siebente so übergehen.
…
Nicht Bruder, Sohn noch Mann bin ich,
Nicht Freund – und doch bin ich verletzt:
Du hast für sechs gedeckt den Tisch
Und mich nicht an den Rand gesetzt.
Der Glaube an die dichterische Gabe magischer Heraufbeschwörung von Vergangenheit und Zukunft im Schicksal von Mensch und Menschheit bestimmte Tarkowskis Konzept der Unsterblichkeit des einzelnen in der Erfahrung der Menschheitskultur. Seine poetische Rebellion gegen die Vergänglichkeit verbindet Tarkowski mit der Zwetajewa ebenso wie die Außenseiterposition gegenüber den literarischen Schulen und Ismen, sei es die enthusiastische Proklamation des Sieges über Natur und Vergänglichkeit in der nachrevolutionären proletarischen und linksavantgardistischen Dichtung oder das akmeistische Einverständnis mit der Vergänglichkeit.
Im Krieg, im Angesicht des Todes, wird Tarkowskis Lyrik dramatischer, tragischer, die Beziehung zur Natur intensiver. Im Krieg erlangen seine Gedichte eine Existentialität, die sie nie wieder verläßt. Nach schwerer Verwundung und Beinamputation wird Tarkowski 1943 demobilisiert.
Bin unsterblich, solange ich lebe,
beginnt Tarkowski sein Gedicht „Klingelzeichen“. Der Mensch ist unsterblich, solange er wie der letzte Telefonist nach dem Gefecht den Raum sprengt, um Zeichen zu geben für kommende Generationen. Klingelzeichen in die Zukunft – eine Metapher, die Andrej Tarkowski in seinem Film Stalker alarmierend ins Bild setzte: Die Totenstille der „Zone“, einer zerstörten menschenleeren Landschaft, wird jäh zerrissen durch das gewöhnliche Klingeln eines Telefons, das in dieser Atmosphäre geheimnisvoll und unwirklich erscheint. Das Ungewöhnliche, Überraschende spielt eine wesentliche Rolle in der Lyrik Arseni Tarkowskis. Es beruht auf der ungewöhnlichen Kombination realer Elemente, alltäglicher Wörter und Wendungen. Die entstehende Vieldeutigkeit der Bilder und Metaphern führt jedoch nie zum Verzicht auf klare Bilder.
In der Sicht auf die Kunst als Magie, die den Rezipienten aktiviert und die geistige Energie des Künstlers auf ihn überträgt, sind die beiden Tarkowskis den russischen Symbolisten sehr nah. Insbesondere der „Theurgie“ Wjatscheslaw Iwanows, auf dessen gegen vereinfachte Symboldeutung und „gültige Interpretationen“ gerichtete Symbolauffassung sich Andrej Tarkowski in seinem Buch Die versiegelte Zeit beruft: „Das Symbol ist nur dann ein wahres Symbol, wenn es in seiner Bedeutung unerschöpflich und grenzenlos ist, wenn es in seiner geheimen (hieratischen und magischen) Sprache Andeutungen und Suggestionen auf etwas Unaussprechliches, dem äußeren Wort nicht Adäquates aussagt. Es ist vielgesichtig, vieldeutig und immer dunkel in letzter Tiefe. Es ist eine organische Bildung, wie ein Kristall, sogar eine Art Monade. Eine Allegorie gibt eine Lehre, das Symbol benennt… Die Allegorie ist logisch begrenzt und in sich nicht beweglich – das Symbol hat eine Seele und innere Entwicklung, es lebt und wird wiedergeboren.“ Vom russischen Symbolismus her kommen Arseni Tarkowskis bedeutungstragende Wortklänge, die Sinn-Verbindung ähnlich klingender Wörter:
Streit bindet einen an den andern,
Für alle Zeit ist’s unser Fluch:
Ich – Wolchf, du – Wolf sind beieinander
Im Fluß des Erdenwörterbuchs.
…
Dem russischen Lied ist angeboren,
Daß Tropfen es vom Blut sich leih,
Zur Beute nachts an dich verloren.
Wolchf und Wolf – darum die zwei.
„Wolchf“ hieß der Wahrsager bei den alten Slawen, er steht für die Puschkinsche Tradition der Einheit „Poet Prophet“. Für Tarkowski ist der Dichter ein Wahrsager im doppelten Sinne von Wahrheit aussprechen und Zukunft voraussagen. Die Zukunft wird damit zugleich magisch heraufbeschworen, so wie das Schicksal des Dichters. Darin sieht Tarkowski die Gefährdung des Dichters: „In der Poesie ist etwas Magisches – nicht auf scharlatanischem, sondern auf höchstem Niveau, wenn eine mächtige poetische Realität geschaffen wird, welche die Wirklichkeit beeinflußt. Die Poesie ist eine gefährliche Beschäftigung – sie fordert Bezahlung mit Leben und Tod.“ Daher Tarkowskis strenger asketischer Umgang mit dem Wort, die Einfachheit und Präzision seiner Bilder, jene Disziplin des Denkens, die an östliche Poesie erinnert:
Das Wort ist nur die Hülle,
Haut menschlichen Geschicks,
Für dich schleift jede Zeile
Das Messer im Gedicht.
Unter einigen Gedichten Tarkowskis stehen Daten, zwischen denen zehn Jahre liegen. „Aber das ist zuwenig“, so endet jede Strophe seines Gedichts „Auch der Sommer verschwand“ – unerbittliche Strenge gegen sich selbst als Verantwortung gegenüber den Menschen. Andrej Tarkowski läßt dieses Gedicht von Stalker sprechen, dessen Lebensaufgabe darin besteht, Menschen, die ihre Hoffnung verloren haben, durch die gefährliche „Zone“ zu führen, in ein Zimmer, in dem laut Legende ihr wichtigster Wunsch in Erfüllung gehen soll. Das Gedicht wird zur philosophischen Quintessenz des Films über den Stalker, der trotz ständiger Zweifel immer wieder die Kraft findet, sich auf den Weg zu machen.
Arseni Tarkowski betonte, daß es dem russischen Lied angeboren sei, sich Tropfen vom Blut der Dichter zu leihen. Der Freitod der Dichterfreundin Zwetajewa, der Lagertod Ossip Mandelstams, dem Tarkowski sein Gedicht „Der Poet“ widmete, die unzähligen in Krieg und Stalinschen Lagern verlorenen Dichterkollegen – das Echo des oft gewaltsamen Todes russischer Dichter hallt bedrohlich in Tarkowskis Gedichten:
Das Bergesecho und – ein Fluß,
Aus nächster Nähe fällt der Schuß.
Diese Schlußzeilen des Gedichts „Ich schäme mich, Kriechern die Hand zu reichen“ (1938) assoziieren neben den Duell-Toden Puschkins am Schwarzen Fluß und Lermontows in den Bergen des Kaukasus die eigene Todesbedrohung in einer Zeit, als die in der Titelzeile benannte Haltung lebensgefährlich war. Im Duell zwischen Tod und Unsterblichkeit in der erstickenden Atmosphäre von Angst und Verrat Ende der dreißiger Jahre entwickelt Tarkowski sein Konzept der Unsterblichkeit. „Metamorphosen“ in andere Lebewesen, wie sie der von ihm verehrte Dichter Nikolaj Sabolozki (1903–1958) beschwor, sind für ihn illusionär:
Und in gewitternahen Dunkelheiten
Stand, spottend sämtlicher Unsterblichkeiten,
Prosaisch grob und nackt der Tod allein.
…
Nicht Mensch, doch Schädel des Jahrhunderts,
Sein Kupfer, seine Stirn und Stimme.
Es kann der Sonnenuntergang
Niemals zu Ende gehn am Himmel.
In den Schlußversen dieses Sabolozki gewidmeten Gedichts „Das Grab des Dichters“ setzt Tarkowski die ewige Zeitgenossenschaft des Dichters der nackten Realität des Todes entgegen. Auf dem menschlichen Gedächtnis beruht das Gewissen und die Verantwortung gegenüber der Welt, an die es den Menschen bindet. Die phantastische Materialisierung des Gedächtnisses wird in Andrej Tarkowskis Film Solaris zum Prüfstein menschlichen Verhaltens im Weltall. Der „Anti-Held“ des Films, ein schwacher, unentschlossener Mensch, besteht diese Prüfung, indem er Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt und die Kraft dazu aus der Erfahrung gewinnt, „nicht einsam in einem leeren Weltbau zu hausen, sondern durch unzählige Fäden mit Vergangenheit und Zukunft verbunden zu sein“.
Diese lebenswichtige Bindung des Menschen an seine Wurzeln findet ihren Ausdruck in der letzten Filmszene, wenn der auf die Erde zurückgekehrte Sohn vor dem Vater auf die Knie fällt. Es ist zugleich eine Verbeugung des Regisseurs vor seinem Vater, Arseni Tarkowski, dem die „Rückkehr des verlorenen Sohnes“ aus der Emigration nicht vergönnt war. Es ist die symbolische Verbeugung der Söhne vor einer Generation von „Vätern“ entgegen der zerstörerischen Stalinschen Losung: „Der Sohn ist nicht verantwortlich für den Vater.“
„Arseni Tarkowski gehörte zu der tragischen Generation russischer Dichter…, von der ein Teil 1937–1938 vernichtet wurde, ein anderer Teil fiel dem Krieg zum Opfer. Von den übriggebliebenen waren die einen zerbrochen, die anderen wanderten in die Übersetzung ab und lösten sich darin auf, und nur die mutigsten und wahrhaftigsten blieben in der Dichtung ihrer Zeit und gingen in die Zukunft ein. Tarkowski war einer von denen, die für lange Zeit in die Übersetzung gejagt wurden, doch er hatte eine Kraft, die von der schweren selbstlosen Arbeit des Nachdichters nicht ausgesaugt werden konnte. Er arbeitete, und als die Zeit gekommen war, trug er die Ernte zum Leser, reif, fertig, weise und wunderbar“, schrieb der Dichter David Samoilow. 1946 fiel Tarkowskis schon im Druck befindlicher Gedichtband einem Beschluß des ZK der KPdSU zum Opfer, der sich unter anderem gegen die Veröffentlichung unpolitischer Literatur richtete und eine Hetzkampagne gegen Anna Achmatowa einleitete. Bis zur Veröffentlichung vergingen nochmals zwei Jahrzehnte stiller Arbeit. Doch ein Regisseur kann nicht im stillen arbeiten. Erschütternd ist, daß in den 70er Jahren die Filme seines Sohnes auf Grund der ähnlichen eigenwilligen Bildersprache und naturphilosophischen Konzeption dasselbe Schicksal erlitten: „Vielleicht hast du es nicht gezählt, aber von über 20 Jahren meiner Arbeit im sowjetischen Kino war ich 17 Jahre hoffnungslos arbeitslos“, antwortete Andrej Tarkowski aus Rom in seinem in der Sowjetunion veröffentlichten letzten Brief an den Vater. Es war die Antwort auf Arseni Tarkowskis Aufruf zur Rückkehr, in dem er schrieb, daß ein Künstler vor allem in der Heimat schaffen muß, wo seine Wurzeln sind: „Ich bin kein Dissident…, ich bin ein sowjetischer Künstler geblieben und werde es immer sein, was auch die Schuldigen sagen, die mich ins Ausland getrieben haben…“ ich beende hier die Arbeit und kehre sehr bald nach Moskau zurück, um dich zu umarmen, auch wenn ich in Moskau (wahrscheinlich) arbeitslos bleibe,“ Der frühe Tod des Sohnes, der die Rückkehr verhinderte, ist der bitterste Verlust im Leben Arseni Tarkowskis. In seinen letzten Lebensjahren wird er noch Zeuge der Rehabilitierung des Sohnes und seiner Filme in der Sowjetunion.
Die Gedichte und Filme der beiden Tarkowskis rühren an die Grundfragen menschlicher Existenz, sie verweigern sich dem Konsumenten und können nicht nur mit verstandesmäßiger Logik begriffen werden. Sie müssen erfahren und gefühlt werden, sie machen betroffen. In den Gedichten Arseni Tarkowskis ist die Welt Schöpfung, nicht System. Sie sind nie Ideenpredigt, sondern spannungsvolles Denken in Bildern als Ergebnis eines qualvollen Prozesses von Selbst- und Welterkenntnis, eines langen Weges zur Weisheit, geprägt von rastloser Geistigkeit und Suche nach dem Sinn des Lebens:
Unsterblich alle. Und unsterblich alles. Fürchte
Den Tod mit siebzehn Jahren nicht,
Mit siebzig nicht. Es gibt nur Sein und Licht,
Nicht Finsternis noch Tod auf dieser Erde.
Wir stehn am Meeresrand schon lange Zeit,
Ich bin bei denen, die die Netze nehmen,
Wenn wie ein Schwarm zieht die Unsterblichkeit.
…
Ich rufe ein beliebiges Jahrhundert,
Ich bau ein Haus darin und geh hinein.
Wille und Kraft zu einer möglichen Zukunft in bewußter organischer Einbindung in Natur und Menschheitskultur das ist Tarkowskis magische Beschwörung vor dem Hintergrund apokalyptischer Bilder vom Selbstmord menschlicher Zivilisation, In Andrej Tarkowskis letzten Filmen Nostalgia und Opfer bringen zwei Außenseiter der Gesellschaft ihr Leben und ihren Wohlstand zum Opfer, um die Menschen zum Widerstand aufzurufen gegen den Wahnsinn der modernen Zivilisation, die sich selbst vernichtet. Sie werden von den sogenannten normalen Menschen für wahnsinnig erklärt. Doch in den letzten Szenen von Opfer trägt der stumme Sohn geduldig Wasser zu dem vertrockneten Baum, den er mit seinem Vater gepflanzt hat. Der Baum bleibt tot, dennoch geschieht ein Wunder – der Junge spricht die ersten Worte in seinem Leben, und sie sind an den Vater gerichtet: „Am Anfang war das Wort. Warum ist das so, Vater?“
Die poetische Sehnsucht nach Harmonie von Mensch und Natur, das Streben nach dem Idealen gibt dem heutigen Menschen mit seinem instabilen Selbstgefühl Glauben und Hoffnung als Widerspruch zu einer immer hoffnungsloseren Welt, als Antriebskraft der Bewegung, den Widerstand nicht aufzugeben.
Katja Lebedewa, Nachwort, Juni 1989
– Hinweis auf neuere Publikationen. –
Keine Frage, daß die russische Lyrik des 20. Jahrhunderts an Glanzpunkten besonders reich ist. Es genügt schon, die Namen von Alexander Blok und Andrej Belyj, Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak, Wladimir Majakowskij und Welimir Chlebnikow zu erwähnen, wobei gleich neue nachdrängen, bis hin zu den beiden wohl bedeutendsten Exponenten zeitgenössischer russischer Dichtung: Joseph Brodsky und Gennadij Ajgi. Ein weites Feld, für Entdeckungen wie gemacht.
Das einzige Problem, das sich bei Lyrik – insbesondere so großartiger Lyrik – stellt, ist ihre Übersetzbarkeit. Läßt sich inhaltliche und formale Äquivalenz erreichen, und mit welchen Mitteln? Soll beispielsweise der Reim, der bis heute zu den Konstanten russischer Lyrik gehört, im Deutschen grundsätzlich beibehalten werden oder eher nicht, da er im Kontext moderner deutscher Lyrik einen anderen Stellenwert besitzt? Fragen, die sich nicht immer eindeutig beantworten lassen, doch sorgfältig bedacht werden müssen.
Indes fehlt es nicht an Übertragungen russischer Dichtung, geglückten und weniger geglückten. Und die Zahl der Versuche nimmt erfreulicherweise zu – ein Umstand, der geeignet ist, das allgemeine Niveau der Übersetzungen zu heben und das Interesse des Lesers für einen immer noch ungenügend erschlossenen literarischen Kontinent zu verstärken.
In diesem Zusammenhang sei auf vier neuere Publikationen hingewiesen; zwei davon gelten dem Schaffen eines einzelnen Lyrikers, zwei weitere sind als Anthologien konzipiert.
(…) Nur eine Generation jünger als Alexander Blok, erlangte Arsenij Tarkowskij (1907–1989), der Vater des bedeutenden Filmregisseurs Andrej Tarkowskij, jedoch erst spät Bekanntheit. Während der Stalin-Zeit betätigte er sich – wie Pasternak, Anna Achmatowa und viele andere – als literarischer Übersetzer und lernte in dieser Funktion 1940 Marina Zwetajewa kennen, mit der ihn bis zu ihrem tragischen Tod (1941) eine intensive Freundschaft verband. Seine in langen Jahren entstandenen Gedichte konnte er erst ab 1962 in Buchform veröffentlichen – sie umfassen zehn schmale Bände; einzelne Gedichte fanden Eingang in die Filme des Sohns und wurden auf diese Weise berühmt (z.B. „Erste Begegnungen“, „Der Wald von Ignatewo“).
Die stille Poesie Tarkowskijs erschließt sich dem deutschen Leser in einer schönen zweisprachigen Edition des Berliner Verlags Volk und Welt – Auf der anderen Seite des Spiegels –, die siebzig Gedichte aus dem Zeitraum 1926 bis 1979 vereinigt. Es handelt sich um Stimmungs- und Gedankenlyrik, die in ihrem klassischen, lakonischen Duktus vor allem der akmeistischen Tradition (der etwa auch Anna Achmatowa zugehörte) verpflichtet ist. Tarkowskijs Verse kreisen um Zeit und Erinnerung, um die Natur und das dichterische Wort, häufig apostrophieren sie ein Du – verhaltene Liebesgedichte und bittere Epitaphe (so im Falle von Marina Zwetajewa). Herbe Töne machen sich bemerkbar, nicht zuletzt im poetologischen Bekenntnis:
Das Wort ist nur die Hülle,
Haut menschlichen Geschicks,
Für dich schleift jede Zeile
Das Messer im Gedicht.
Doch dominiert der Tonfall elegisch-verträumten Sinnierens:
Der Fluß Sugakleja verliert sich im Schilf,
Ein Schiff aus Papier schwimmt auf dem Fluß,
Ein Kind steht am Ufer im goldenen Sand,
Libelle und Apfel hält es in der Hand.
Das schillernde bunte Flügelnetz
Summt, und das Schiff aus Papier auf den Wellen
Schaukelt, der Wind raschelt im Sand,
Und alles für alle Zeit bleibt, wie es ist…
Doch wo ist die Libelle? Fortgeflogen. Doch wo
Ist das Schiff? Fortgeschwommen. Und der Fluß? Er floß.
„1929–1940“
(übers. v. Katja Lebedewa)
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 15./16.6.1991
– Oleg Jurjew erinnert sich an Arseni Tarkowski. –
Das letzte (und erste) Mal, als ich ihn gesehen habe, streichelte er mit seinen trockenen, unbeweglichen Fingern das verweinte runde Gesicht einer französischen Studentin, die ihm aus Paris einen Gruß von seinem Sohn, dem Regisseur Andrei Tarkowski, mitgebracht hatte. Das war im Sommer 1986. Arseni Tarkowski las seine Gedichte in einem Moskauer Kulturzentrum. Andrei Tarkowski war im Westen und sterbenskrank. Das wussten wir alle, die wir zu dieser seltenen Lesung gekommen waren. Im Dezember desselben Jahres starb Tarkowski-Sohn. Tarkowski-Vater starb drei Jahre später. Nun ist er 100 Jahre alt. Seltsam: Er schien immer 100 Jahre alt zu sein, zumindest für meine Lyriker-Generation, die Generation der 70/80er Jahre.
Vielleicht kam es daher, dass ihm erst sehr spät erlaubt worden war, seine Gedichte zu publizieren. Im Jahr 1962, in welchem der erste Film des 1932 geborenen Andrei Tarkowski („Iwans Kindheit“) auf die Leinwand kam, erschien auch der erste Lyrikband seines 55-jährigen Vaters. Bald darauf wurde er zum „alten Tarkowski“, einem Splitter der russischen Moderne, des „silbernen Zeitalters“. Er sagte es selbst: „Ich bin der Jüngste in der Familie der Menschen und der Vögel, zusammen mit ihnen allen hab ich gesungen.“ Der Jüngste, der alle großen russischen Dichter des XX. Jahrhunderts beweinen durfte. Zugleich war er der Älteste. Die letzte Stimme des nichtsowjetischen Russlands. Dafür wurde er bewundert – als ein (als das!) Bindeglied zwischen uns und der früheren Kultur. Das Wortfleisch seiner Gedichte schien nicht von der Sorte zu sein, die im Angebot war – nicht von der sowjetischen. Sie waren einfach in einer anderen Sprache geschrieben, in einem anderen Russisch.
Aus seiner Biografie ist es nicht abzuleiten – warum wurde eben er zu einer in der Sowjetliteratur so einmaligen Inkluse? In den 40ern und 50ern war er ein „Übersetzer aus den Sprachen der Bruderrepubliken“ (ein Beruf, der aus der „Völkerfreundschaft“ und der ideologischen Notwendigkeit, alles ins Russische zu übersetzen, entstand). Und so erfolgreich, dass ihn Kremlschranzen als Übersetzer des Tyrannen, der in seiner Jugend – man sagt, nicht ohne Talent – auf Georgisch gedichtet hatte, auserwählt haben sollen. Unter völliger Geheimhaltung („Genosse Stalin, Über-ra-a-schung!“). Der Große Führer habe die Idee gar nicht so gut gefunden, die interlinearen Übersetzungen und Nachdichtungen seien beschlagnahmt worden, aber man habe Tarkowski nichts getan – danke, Genossen.
Im 2. Weltkrieg schrieb er Kampfreime für eine Frontzeitung, die von Soldaten ausgeschnitten und auswendig gelernt wurden, kämpfte auch selbst, verlor ein Bein. In den 30ern war er Journalist, in den 20ern Student, im Bürgerkrieg (1918–1921) war er ein Kind und wanderte, hungernd und frierend, zu Fuß durch ganz Südrussland.
1907 wurde er in Jelissawetgrad (heute Kirovograd, Ukraine) geboren. Die Tarkowskis entstammten nicht einfach dem Adel, ihre Vorfahren sollen Schamchals, dass heißt Fürsten oder gar Könige des kaukasischen Volkes der Kumiken gewesen sein, die auf der Burg Tarki (in Dagestan) residierten. Daher der Name. Zum Zeitpunkt von Arsenis Geburt waren sie allerdings vollkommen russisch geworden (und „progressiv“ noch dazu: Sein Vater war als Revoluzzer unter polizeilicher Beobachtung gewesen, sein älterer Bruder, der im Bürgerkrieg fiel, war Anarchist).
All das führt allerdings nicht zwangsläufig zu dem, was er wurde, was seine Sprache wurde. Viele sowjetische Lyriker seiner Generation hatten ähnliche Biografien, waren talentiert und schrieben gute Gedichte.
Warum also er?
Ich glaube eine Antwort zu wissen: Unter allen, die das konnten, war er der Einzige, der das wirklich wollte.
Hätte sich niemand gefunden, der diesen Platz hätte annehmen wollen, wäre der durch die sowjetische Nacht gezogene verbindende Faden gerissen. Dann wäre auch ich nicht vorhanden (zumindest nicht so, wie ich jetzt bin). Deswegen verspüre ich für Tarkowski-Vater, den Jüngsten in der alten Familie der russischen Dichtung und den Ältesten in unserer jüngsten Familie, tiefe persönliche Dankbarkeit.
Vyacheslav Amirkhanyans Film Arseny Tarkovsky: Eternal Presence aus dem Jahr 2004.
Arseni Tarkowski liest sein Gedicht „Alles ist unsterblich“ in dem Film Der Spiegel von Andrei Tarkowski.
Gedicht Arseni Tarkowskis in dem Film Der Spiegel von Andrei Tarkowski.
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