DIE SCHREIE
Ich biete euch an: Irre Schreie von tausend Männern,
die schrein zu den Gnadenlosen,
sie schrein über Friedhöfe hin,
Gerippe, zu Haufen getürmt,
Knochen, aus den Gelenken gerissen.
Ich biete euch an: Tausend Geier,
sie schweben über Äckern von Fleisch,
wo, preisgegeben, Scharen durch die Hügel irren,
wo Augen verloren in Höhlen stehn,
wo der Mond sie in der Wildnis preisgibt.
Ich biete euch an: Das Kleid, in der Mitte zerrissen,
liegengelassen
im Feld, von denen, die schieden, eh ihre Kinder entwöhnt.
Sagt mir, sagt mir:
Wer trug es, bevor der Winter einfiel?
Ich biete euch an: Die einsamen Schläfer,
ihre Hände falten den Traum,
den Traum, der niemals wahr wird,
denn sie starren in tödliche Nacht.
Ich biete sie euch an, damit ihr sie in die Welt schreit.
Mazisi Kunene
Übersetzt von Karl Heinz Berger
Man muß nicht erst ein Held sein, um einen Standpunkt einzunehmen, man ist gezwungen, Position zu beziehen; die Situation ist so übel, daß man kollidieren muß.
Diese von Dennis Brutus ausgesprochene Wahrheit ist das Charakteristikum einer Lyrik, die im Land ihrer Dichter, in der Republik Südafrika, von einer humanitätsfeindlichen Zensur überwacht und nahezu ausnahmslos verboten ist. Was uns unvorstellbar erscheint, ist dort bittere Realität: Der Staat hat Gesetze erfunden, die der Mehrheit der Bevölkerung, Afrikanern und Mischlingen, den Anspruch auf elementarste Lebensrechte streitig machen. Die Herrschenden begnügen sich längst nicht mehr mit den in grausamen Kolonialkriegen erbeuteten Reichtümern; einen revolutionären Umsturz fürchtend, experimentieren sie mit der faschistischen Doktrin von der intellektuellen Überlegenheit der Weißen. Mit Besorgnis stellte der im Exil lebende südafrikanische Schriftsteller und Publizist Lewis Nkosi fest, seine vom Apartheidregime diskriminierten Landsleute seien Menschen, „deren Furcht vor dem eigenen gesprochenen oder geschriebenen Wort eine verhängnisvolle Einfalt im privaten und öffentlichen Leben bewirkt hat“. Die geistig-kulturelle Niederhaltung und Isolation der in Reservate gepferchten Afrikaner, die Verbannung Zolas, Maupassants, Hemingways, Dostojewskis, Tolstois, Gorkis und anderer Großer der Weltliteratur aus Verlagen und Buchhandlungen, das Verbot und die Verteufelung demokratischer Organisationen, der makabre Perfektionismus der Polizeimaschinerie – all das sind Zeichen der Unsicherheit einer Macht, die angesichts der wachsenden antikolonialen und antiimperialistischen Bewegung im Süden Afrikas in Panik geraten ist. Sharpeville im März 1960 – die im Blut friedlicher Demonstranten erstickte Auflehnung gegen die diskriminierenden Paßgesetze – gab das Fanal für eine neue Phase der Widerstandsbewegung. Es genügte nicht mehr, dem Regime den Gehorsam zu verweigern. Kommunisten und die im Afrikanischen Nationalkongreß vereinigten demokratischen Kräfte fanden in der politischen Illegalität eine gemeinsame Plattform, von der aus sie zum organisierten revolutionären Kampf aufriefen. Es war an der Zeit, die „Furcht vor dem eigenen gesprochenen oder geschriebenen Wort“, die „verhängnisvolle Einfalt“ zu überwinden.
Arthur Nortje, Oswald Abuyiseni Mtshali, Mazisi Kunene und Dennis Brutus kämpfen an zwei Fronten: als Repräsentanten sozial benachteiligter und politisch verfolgter Menschengruppen erheben sie Anklage gegen das Regime und seine Dulder in der westlichen Welt; sie richten aber auch ihr Wort – Mahnung und Zuspruch – an sich selbst, um in der Isolation der Gefängniszelle und in der Einsamkeit des Exils Kraft zum Welterleben und Weiterkämpfen zu schöpfen. Ihre Gedichte, die zum größten Teil in den von verschärften Repressalien der rassistischen Regierung, aber auch vom wachsenden Widerstand der Volksmassen gekennzeichneten sechziger Jahren entstanden, sind leidenschaftliche Versuche, den Teufelskreis der Apartheid zu durchbrechen. Der Widerstreit von Resignation und Zuversicht wird, wenn auch in unterschiedlichem Maße, von allen vier Dichtern in der lyrischen Antizipation der Zukunft zugunsten der Siegesgewißheit entschieden, die sie dem trostlosen Dasein abgerungen haben.
Nadine Gordimer, eine demokratisch gesinnte südafrikanische Schriftstellerin europäischer Herkunft, nannte Mtshalis Gedichte treffend „Lieder der Unschuld und der Erfahrung“. Mtshali setzt die Worte so, wie sie der naiv empfundene karge südafrikanische Alltag ihm, dem dichtenden Briefboten, diktiert. Seine Metaphern sind von so kristallener Klarheit, daß sie uns schon nach der Lektüre weniger Zeilen dazu verleiten, die korrespondierenden Sinnes- und Gedankenebenen – eisige Kälte des auf den Bäumen lastenden weißen Schnees und Apartheid, peitschender Wind und politische Verfolgung – wie in einem Kaleidoskop voneinander zu trennen und erneut zusammenzufügen, um das dichterisch Dargestellte als Zeugnis einer Realität zu entschlüsseln, in der sich der Mensch dem Zugriff einer unmenschlichen Macht widersetzt. Mtshalis mit sparsamen Strichen umrissene Bilder mögen bei oberflächlicher Betrachtung banal erscheinen. Aber die lakonische Diktion, die dem Dichter unter den bedrückenden Lebensumständen zur Gewohnheit werden mußte, steht im ironischen Kontrast zu dem einfühlsam geschilderten ländlichen Milieu, und die eingestreuten knappen Kommentare, bisweilen zu satirischen Epitaphen auf ein vergängliches, aber noch nicht überwundenes Unrecht überhöht, verschärfen die sozialkritische Wirkung. Die Großstadtimpressionen offenbaren mit eindringlicher Symbolik und aussagekräftigen naturalistischen Details die rauhe Wirklichkeit des südafrikanischen Alltags. Unter den Bedingungen der rassischen, sozialen und geistig-kulturellen Diskriminierung hat Mtshali kaum die Möglichkeit, auf Vorbilder zurückzugreifen. Die Maßstäbe seiner in freie Verse gefaßten Erfahrungen und Anschauungen sind weder ausschließlich in der Zulu-Dichtung noch in der Lyrik westeuropäischer Vorbilder zu suchen. Inhalt und Form seiner spontanen Poesie sind vielmehr von einer intensiv wahrgenommenen Lebenspraxis bestimmt. Die südafrikanische Zensur hat den dichterischen Weg Mtshalis zwar zu einem schmalen Pfad eingeengt, nicht aber seine Richtung zu ändern vermocht. Mtshalis Kompaß ist die Wahrheit. Sein ständiger Begleiter aber ist die Ironie, mit welcher der urbanisierte Dichter die ihm noch vertraute mythische Weltschau in Zweifel zieht. Mit der ironischen Vortäuschung eines naiven Vertrauens in die Wirksamkeit des Rituals verdeutlicht Mtshali seine kritische Distanz gegenüber den in ländlichen Gebieten seiner Heimat noch lebendigen Glaubensformen, deren Humanismus er aber keineswegs ignoriert. Unverfälschter Mutterwitz und rustikale Logik mögen ihm geholfen haben, der Apartheid die Stirn zu bieten. Im Kampf gegen die Mutlosigkeit schöpft Mtshali aus der bitteren, oft schmerzvollen Erkenntnis des gedemütigten Ich ständig neues Selbstvertrauen und wird sich der sozialen Bedeutung seines dichterischen Engagements bewußt.
Die schlichte Poesie Mtshalis am sprachlichen Reichtum und an der Variabilität des Ausdrucks in der Natur- und Gedankenlyrik des akademisch gebildeten Kunene zu messen hieße ungerecht urteilen. Um der von den weißen Herrschern angeblich zur Pflege afrikanischer Kultur praktizierten chauvinistischen „Bantustan“-Politik – der Konservierung überlebter Traditionen und der Lähmung progressiver Ideen – nicht das Wort zu reden und um den relativ weiten sozialkritischen Horizont, der sich ihm im städtischen Milieu eröffnete, nicht aus den Augen zu verlieren, hat Mtshali eine stärkere Orientierung auf Motive des Ahnenkults und anderer religiöser Vorstellungen vermieden. Hingegen hatte Kunene im Londoner Exil Gelegenheit, frei von der Bevormundung durch das südafrikanische Regime, aus der traditionsreichen Zulu-Dichtung zu schöpfen. Die im Fruchtbarkeitskult und in der Ahnenverehrung aufgefundenen stammeskollektiven Emotionen werden von ihm in individualisierte dichterische Aussagen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Gesellschaft umgesetzt. Seine Gedanken gruppieren sich meist um Begriffspaare wie Leben und Tod, Knechtschaft und Freiheit, Vergangenheit und Zukunft – Antagonismen, die zugunsten des Guten, niemals aber unter Umgehung der Auseinandersetzung mit dem Bösen, der dunklen Gewalt, aufgelöst werden. Selbst bei höchster poetischer Sublimität bleiben die Bezüge zur Zeit und zu den Umständen gewahrt. Wenn es ein Refugium gibt, dann ist es das vom Menschen selbst gemeisterte Morgen. Kunene läßt den im traditionellen Weltbild waltenden Anthropozentrismus als prometheische Vision wiederkehren, in der ein philosophisches Bekenntnis zum Materialismus wie auch soziales Engagement – humanistische Parteinahme für die Geknechteten – offenbar werden. Seine dichterischen Modelle haben reale Proportionen, sie basieren auf dem von den Vorfahren überkommenen naiv-dialektischen Wissen um die Unendlichkeit der Bewegung. Der im Bild vom sterbenden Baum mitgeteilte Abschiedsschmerz – „Ich geh fort. / Der Stab ist zerbrochen, / der junge Ebenholzsprößling sinkt in den Schlamm“ – birgt schon das Vorgefühl eines neuen, reicheren Lebens in sich:
Diese Winde jammern vor Samen.
Den werden sie überm offenen Land ausstreun,
wo die Regen den Urwald gebären.
Die dem Preisgesang seines Volkes entlehnte Metaphorik erreicht besonders dann ein Höchstmaß an poetischer Ausdruckskraft, wenn es gilt, depressive Stimmungen abzuwehren, die sich im Exil ankündigen. Klage und trotziges Lied der „Heuschrecken mit gebrochenen Flügeln“, der vom Unrecht betroffenen „Kinder aus Stein“ leiten über zum Lob der „Nomaphakade“, Sinnbild einer „Rastlosigkeit“, die den Dichter davor bewahrt hat, den schmachvollen „Tod der Ameisenhügel“ zu sterben. Immer wieder zur Tat herausfordernde Fragen richtet Kunene vor allem an die Jugend, der er in preisliedhafter Diktion sein Vertrauen ausspricht:
Du wirst nie besiegt von den Feigen.
Du wirst ihre Burg zerbrechen,
das Blatt befrein, das so lange begraben war…
Stärker noch als Kunene und Brutus leidet Nortje unter der Einsamkeit des Exils. War dem Auge beim Abschied von der Heimat die Welt im Zerrbild der Träne noch verlockend groß erschienen, so findet der Dichter in der fremde nur tödliches winterliches Schweigen, wird er von einer Unruhe gequält, die er selbst als Sorge um das Wohl und Wehe seines Volkes deutet. Der außerordentlich sensible junge Dichter ist bisweilen von der Humanitätsfeindlichkeit seiner Umwelt so überwältigt, daß er, bis zur Selbstaufgabe getrieben, seine Identität bei den Deklassierten der westlichen Großstadt sucht. Die gelegentlich von anarchistischen Stimmungen durchsetzten Gedichte Nortjes, von ihm selbst als „ungehobelt“ charakterisiert, führen jedoch zu der in tiefster Not gewonnenen Gewißheit vom Triumph der Humanität. Nortje pflanzte seine Worte in „dies kalte Elend“ und versprach sich von der Ernte neuen „Mut zur Entscheidung“. Er ließ die Monotonie des Spätherbstes auf sich einwirken, projizierte seine nostalgischen Stimmungen in das düstere Grau der fremden großen Stadt, um auf der trüben Leinwand des Londoner Nebels die Konturen einer rationalen Strategie für sein eigenes wie für seines Volkes Leben zu suchen. Mit der noch wenige Monate vor dem tragischen Tod getroffenen Feststellung, „denn manche von uns müssen die Festungen stürmen, / andere das Geschehen erklären“, bekundete der Dichter seine Verbundenheit mit dem Befreiungskampf seines Volkes. Wie Mtshali, Kunene und Brutus empfindet er den anbrechenden Tag als befreiendes Erlebnis. Doch auch in seiner Dichtung ist die Hoffnung vom Trauma der Apartheid überschattet. Aber der Ruf der Vögel, die Im Morgengrauen „das Weltall wecken“, verkündet den Freiheitswillen einer jungen Generation, als deren Vertreter Nortje der Welt seine Gedichte offeriert:
… sie vereinen
am Ende uns alle, eine Vision
unwiderlegbar, nehmt mich als Beweis
Die Idee des Widerstandes, von Mtshali aus dem Erlebnis des südafrikanischen Alltags abgeleitet, von Kunene in der poetisch aktualisierten Folklore zum Ausdruck gebracht und von Nortje im beharrlichen Ringen mit der Verzweiflung zum Appell formuliert, wird In der Lyrik Dennis Brutus’, des ältesten der vier Dichter, durch die Dimension der eigenen Kampfeserfahrung erweitert. Genugtuung über die gelungene politische Aktion – Brutus, diskriminierter Farbiger, war unter anderem am Ausschluß der Apartheidrepublik von den Olympischen Spielen 1964 beteiligt –, ehrendes Gedenken an Mitstreiter und Volkshelden wie Albert Luthuli, verheißungsvolle Intonation der Antiapartheidhymne – dies sind die konkret-historischen Aspekte einer Poesie, die vom Bewußtwerden einer noch unterdrückten, aber in „schweigender Übereinkunft“ aller Eingekerkerten heranreifenden revolutionären Kraft zeugt. Weder in der Gefangenschaft noch im Exil bricht das lyrische Ich die Korrespondenz mit dem gesellschaftlichen Wir ab. „Mein Leid“ ist tausendfacher Schmerz, ist Ausdruck des „wortlosen, schlichten Verlangens“ all jener, die im Gefängnis und im Getto den Tag der Freiheit herbeisehnen. Auch Brutus findet in der Natur einen Verbündeten, dem er seine Sorgen anvertraut, von dem er Trost empfängt, der ihn zur Tat ermuntert. Die vom augenblicklichen Gemütszustand bestimmte Naturbeschreibung entbehrt nicht der mobilisierenden Wirkung:
da Sterne zu speerspitzem Glanz sich härten
und wilden Drang nach Frieden bündeln
An keinem der vier Dichter ist der Kelch mit dem „bitteren Trunk der Verzweiflung“ vorübergegangen; aber sie verlieren sich nicht im Irrgarten der Introversion, geben sich keiner Selbsttäuschung hin. Natur und Gesellschaft, Gegenwart und Geschichte erscheinen als untrennbare, einander bedingende Sphären, innerhalb derer sich das lyrische Ich eine neue, bessere Welt erschließt. Bei einem Vergleich dieser realistischen Poesie mit der romantisch-exotistischen Lyrik südafrikanischer Autoren englischer oder burischer Herkunft, die sich gleichgültig, abwartend oder loyal gegenüber dem Regime verhalten, fallen der Patriotismus und die Volksverbundenheit der Gedichte Nortjes, Mtshalis, Kunenes und Brutus’ als wesentliche Unterscheidungsmerkmale ins Gewicht. Die selbstkritische Bestandsaufnahme des anglo-südafrikanischen Dichters Guy Butler – „Uns fehlen die Wurzeln im Volk,… unsere kulturelle Hauptstadt ist immer noch London oder als Alternative New York“ – kennzeichnet die kulturelle Misere, in die sich die in Südafrika herrschende weiße Minderheit seit der Gründung ihres Staates im Jahre 1910 hineinmanövriert hat. Schon in den zwanziger Jahren mußten die Bemühungen einiger liberaler weißer Autoren um die Schaffung einer antirassistisch-demokratischen Literaturbewegung am Einspruch der Geldgeber scheitern. Seit ihrem Machtantritt Im Jahre 1948 hat die reaktionäre Nationalistenpartei mit mehr als hundert Diskriminierungsgesetzen nicht nur die Kultur der Afrikaner und Farbigen in Acht und Bann getan; sie hat auch, im rassistischen Verfolgungswahn befangen, die Kultur ihrer eigenen Klasse in der hermetischen Isolation der Apartheid dem Erstickungstod preisgegeben, gegen den sich allerdings engagierte Humanisten und Demokraten wie die Romanciers Alan Paton, William Piomer, Jack Cope, Harry Bloom, Nadine Gordimer und Phyllis Altman mit Erfolg gewehrt haben.
Hatte die englischsprachige Lyrik eines Thomas Pringle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der Antisklavereibewegung, noch aufklärerische Intentionen, die in der romantischen Glorifizierung des Afrikaners als „edlen Wilden“ zum Ausdruck gebracht wurden, so hatte sich hundert Jahre später der Philanthropismus in subjektivistische Schwärmereien für eine exotische Szenerie verwandelt, in welcher der Afrikaner lediglich als schwarzhäutiges Dekor in Erscheinung trat. Die Suche nach einer „jungfräulichen Muse“ im „lieblichen Bananenland“, wie sie Roy Campbell, Parteigänger der Faschisten im Spanienkrieg, in seiner Lyrik zum Ausdruck bringt, mutet dubios an – war doch Südafrikas Erde nach jahrhundertelangen Eroberungskriegen vom Blut unschuldiger Menschen durchtränkt. Verschämte Abwendung von einer schlechten Welt, Flucht in ekstatische Naturschilderungen und historische Selbsttäuschungen sind die Krisensymptome im Schaffen jener weißen bürgerlichen Dichter, die sich, wenn sie ehrlich sind wie Guy Butler, als „kulturelle Siedler“, als „ewig Reisende in einem fremden Land“ erkennen müssen. Hingegen repräsentiert die in diesem Band erstmals in deutscher Sprache vorgestellte Lyrik, von vier herausragenden südafrikanischen Dichtern unserer Zeit geschaffen, eine demokratische, heute hauptsächlich im Exil wirkende Widerstandsliteratur diskriminierter „nichtweißer“ Autoren, die nicht die Zugehörigkeit zur Rasse zum Primat erheben, sondern Partei ergreifen für die sozial Betrogenen und politisch Verfolgten. Die Gestaltungsmittel dieser Poesie sind so variabel und verständlich, wie die Themen weltoffen und sozial sind. Der philosophisch motivierte Bezug auf die Zulu-Folklore bei Kunene, die meist in Satire übergehende präzise Beobachtung scheinbar banaler alltäglicher Begebenheiten bei Mtshali und die sensiblen und assoziationsreichen Naturschilderungen bei Nortje und Brutus sind frei von übermäßigem rhetorischem Aufwand. Die Themen dulden keinen Ästhetizismus, vertragen keine sich selbst gefallenden eigengesetzlichen Fiktionen. Prosodie und Wortwahl entsprechen den Lebenssituationen der Dichter – Verfolgung, Gefangenschaft, Exil. In Kunenes Lyrik wird der Widerspruch zwischen folkloristischer Überlieferung und europäischer Form, wie er noch in der mit Blankversen und Endreimen drapierten Zulu-Dichtung Benedict Vilakazis und Herbert Dhiomos in den dreißiger und vierziger Jahren erkennbar war, zugunsten befreiender afrikanischer Rhythmen gelöst. Blieb Vilakazis in strengen Metren artikulierte Auflehnung gegen die schändliche Ausbeutung afrikanischer Bergarbeiter noch in der romantisch-ironischen Trostsuche bei den Vorvätern stecken, so ist es bei Kunene der seit Ahnengedenken vom ständigen Kommen und Gehen der Generationen kündende Rhythmus des Blutes, der fortschwingt in der vom Dichter geschaffenen neuen Wirklichkeit und zum Pulsschlag einer ersehnten, mit den legitimen Mitteln volksverbundener Poesie heraufbeschworenen Zukunft wird. Dennoch werden europäisches Versmaß und europäische Reime nicht völlig zurückgewiesen. Nortje beispielsweise schuf nicht nur freie Verse, er hinterließ auch Gedichte, in denen der Kontrast zwischen der prononcierten Klarheit der poetischen Form und der düsteren Thematik die satirische Wirkung erhöht.
Leid, verzehrende Furcht, aber auch eine immer wiederkehrende Hoffnung, die über den in der individuellen Liebe gefundenen momentanen Trost hinausweist, sind Empfindungen, die dieser Dichtung das Gepräge geben. Alle vier Poeten bekennen sich zur Schönheit der Natur, begeistern sich für die Klarheit des Sternenhimmels, lassen sich überwältigen vom Tosen der Meeresbrandung. Doch niemals wird der von der Gesellschaft geformte Mensch aus der lyrisch wahrgenommenen Welt verdrängt. Bei der poetischen Wiedergabe der Harmonien und Dissonanzen im unentwegten Zusammenspiel von Sonne, Wasser, Erde, Pflanze, Tier und Mensch erscheint kein Detail zu gering, als daß es nicht humanistische Ideale, aber auch bittere historische und zeitgeschichtliche Erfahrungen und politische Überlegungen in sich aufnehmen und reflektieren könnte. Wo ein menschenfeindliches Herrschaftssystem dem Denken und Handeln unerträgliche Schranken auferlegt, wird die einfachste menschliche Regung gleichbedeutend mit Auflehnung gegen die Tyrannei: Lachen wird Protest, Liebe wird Revolte – leben heißt kämpfen. Das Klopfgeräusch an der Wohnungstür läßt den Augenblick der Angst zur Ewigkeit werden, löst Zweifel an der Vergänglichkeit des Unrechts aus; doch der Blick des Gefangenen aus dem schmalen Kerkerfenster auf die dahinstürmenden Wolken verrät ungebrochene Kampfbereitschaft, und das Gefühl der Einsamkeit im Exil wird zur bewußten Solidarisierung mit den Daheimgebliebenen, schlägt um in ein aufrüttelndes Bekenntnis zum streitbaren Humanismus.
Burkhard Forstreuter, Nachwort
aus dem Schaffen von Arthur Nortje, Oswald Mbuyiseni Mtshali, Mazisi Kunene und Dennis Brutus gibt einen Einblick in die südafrikanische Lyrik der Gegenwart. Vier unterschiedliche Temperamente reflektieren die Wirklichkeit in Naturgedichten, Liebesgedichten und philosophischen Lehrgedichten. Leidenschaft und Resignation, Zorn und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung schwingen in dieser Poesie mit, in der die Erfahrungen der rassisch unterdrückten Bevölkerung Südafrikas gültigen Ausdruck gefunden haben. „Und man ist gefangen im eiskalten Fließen / der Zeit, die sich selbst nie bewegt“, so artikuliert Dennis Brutus sein Erlebnis der Haft, während Mtshali mit sarkastischem Humor Impressionen des Johannesburger Alltags heraufbeschwört. Die Entwurzelung des Emigranten und seine Suche nach Hoffnung ist das zentrale Thema des Jungen, früh verstorbenen Arthur Nortje, und Mazisi Kunene besingt in ausdrucksstarken, an die Metaphorik der traditionellen Zulu-Lyrik anknüpfenden Gedichten die Schöpferkraft des Menschen. Die in dieser Anthologie vereinte Dichtung kündet vom bedrohten einzelnen im Schatten der Gewalt, zugleich zeugt sie von seinem Ringen um Selbstbehauptung und vermittelt die Gewißheit, daß der Mensch unbesiegbar ist.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1975
Dennis Brutus liest sein Gedicht „Gull“.
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