VOKALE
A schwarz E weiß I rot U grün O blau – vokale
Einst werd ich euren dunklen ursprung offenbaren:
A: schwarzer samtiger panzer dichter mückenscharen
Die über grausem stanke schwirren · schattentale.
E: helligkeit von dämpfen und gespannten leinen ·
Speer stolzer gletscher · blanker fürsten · wehn von
aaaaadolden.
I: purpurn ausgespienes blut · gelach der Holden
Im zorn und in der trunkenheit der peinen.
U: räder · grünlicher gewässer göttlich kreisen ·
Ruh herdenübersäter weiden · ruh der Weisen
Auf deren stirne schwarzkunst drückt das mal.
O: seltsames gezisch erhabener posaunen ·
Einöden durch die erd- und himmelsgeister raunen.
Omega – ihrer augen veilchenblauer strahl.
Übersetzt von Stefan George
Die Arbeiterklasse hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgoisgesellschaft entwickelt haben.
(Karl Marx: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, 1871)
Fordern wir unterdessen von den Dichtern Neues – Ideen und Formen.
(Arthur Rimbaud an Paul Demeny am 15. Mai 1871)
− Die Welt verändern −, hat Marx gesagt; – das Leben ändern −, hat Rimbaud gesagt: diese beiden Losungen – für uns sind sie nur eine.
(André Breton, Juni 1935)
Alle, so viele wir auch sein mögen, ob wir nun so oder so schreiben, ob wir untereinander zerrissen, uneinig, verfeindet sein mögen, haben dennoch den gemeinsamen Nenner, der unsere Träume bestimmt, den ewig jungen Rimbaud.
(Aragon, 1947)
Rimbaud war Rebell. Einer, der seine eher sanftmütige Natur gegen Erniedrigung und Depravation panzerte. Der auf Veränderung für sich und andere aus war und nach dem Geheimnis suchte, „das Leben zu ändern“. Der wußte, als er es für sich gefunden hatte, daß er damit zu einer „ernsten Gefahr in der Gesellschaft“ werden konnte. Sie hat ihm seine Anmaßung bis heute nicht verziehen, diese Gesellschaft der Bourgeoisie. Ihre Ideologen und Literaten webten ein Jahrhundert lang am „Mythos Rimbaud“, den René Etiemble in so glänzender Weise demontiert hat. Im Zentrum dieser interessespezifischen und weitverbreiteten Legendenbildung steht noch immer das Bild einer Künstlerexistenz, das Rimbaud als Typ des „klassischen Gammlers“ oder als Beispiel für die Verwandlung des enttäuschten Literaten in einen Vagabunden spiegelt. So wurde denn Rimbaud hartnäckig als Beweis eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Literatur und Leben gelesen. Zähe Vorurteile erschwerten die Einsicht, daß er mit seinem Werk gerade einen möglichen Weg zur Überwindung dieses Gegensatzes gewiesen hatte. „Changer la vie“, das Leben ändern, hieß für Rimbaud, der seinen Dichterberuf ernst nahm, aber vor allem, die Literatur verändern. Jene heutigen Revolteure, die den Tod der Literatur verkünden (welcher eigentlich?) und sich dabei auch auf Rimbauds Satz berufen, „die Kunst ist eine Dummheit“, haben nicht verstanden, daß Rimbaud diesen Satz auf die vom Leben isolierte Kunst gemünzt hat. Wichtiger als das Werk war der Rimbaud-Legende die Frage nach dem Unterschied zwischen Literatur und wirklichem Leben: Der Herausforderung durch das Werk konnte man mit dem Hinweis auf dessen, angebliche Zurücknahme durch seinen eigenen Schöpfer begegnen. Brecht sah in diesem Verfahren einen „der dümmsten Gegensätze, die man konstruieren kann. Die Kühnheit, das Leben in der Form der Literatur zu genießen, ist doch zumindest so revolutionär und mindestens so schwierig wie die so maßlos bewunderte, die der ältere Rimbaud ihr vorzog aus irgendwelchen Gründen. Allerdings ist es diesem Mob, nicht gegeben, diese Kühnheit zu begreifen. Es wäre dazu nötig, etwas von Literatur zu verstehen.“
Unter den Gründen des „älteren“ Rimbaud für seinen Bruch mit der Literatur, auf den Brecht anspielt, gibt es einen gewichtigen, der ihn uns auch als Folge des Boykotts einer für die etablierten Literaten der Pariser Szene schockierenden, vollkommen neuartigen Dichtung zu verstehen gibt. Bis auf einige ganz wenige Ausnahmen hat Rimbaud nämlich sein gesamtes Werk für die Schublade schreiben müssen: Als 1884 in Verlaines berühmter Anthologie der Poètes Maudits sechs seiner Gedichte erschienen und zwei Jahre später die Zeitschrift La Vogue achtundvierzig Texte der Illuminationen veröffentlichte, da erreichte diese Nachricht den seit 1880 in Äthiopien als Angestellten einer französischen Kolonialfirma arbeitenden Rimbaud nicht einmal mehr. Erst nach seinem Tode kommen, 1892 und 1895, die ersten umfangreicheren Ausgaben seines Werkes ans Licht der Öffentlichkeit. Als 1886 die junge Schule der Décadents auf Vorschlag Verlaines Rimbaud zu ihrer Leitfigur erwählte, hielt man ihn allgemein für tot oder für verschollen.
So tritt Rimbaud im Zeichen eines „poète maudit“, eines verfemten Dichters, in die literarischen Bewegungen des Fin de siècle, zehn Jahre nachdem er seine eigenen intensiven und vergeblichen Bemühungen, im literarischen Leben Fuß zu fassen, mit dem dann so mystifizierten Abschied an die Literatur quittierte. Die Umstände, die dazu führten, sind prosaischer, als es die glanzvollen Legenden über „die tragische Rebellion des Menschen der großen Anlage gegen die Unvollkommenheit der Welt“ (Alfred Wolfenstein, 1930) vorgeben. Zweimal, wandte sich Rimbaud an Théodore de Banville, das Haupt der Parnassiens, und schickte ihm Gedichte mit der Bitte, diese im Parnasse Contemporain zu veröffentlichen. „Man kennt mich nicht; was macht das schon? die Dichter sind Brüder. Diese meine Verse glauben; sie lieben; sie hoffen; das ist alles.“ Rimbauds Ersuchen blieb ohne Erfolg. Nicht anders erging es ihm in Paris, wo er alles daransetzte, literarisch Fuß zu fassen. Man fand den verstockt wirkenden, aggressiven Poeten aus der Provinz auf die Dauer unerträglich. Rimbaud war enttäuscht von dem selbstgefälligen Leben in den Pariser Künstlerkreisen. Er besuchte zuweilen den „Cercle zutique“, einen Literaten- und Künstlerklub der avantgardistischen Parnassiens, die sich in der dritten Etage des Hôtel des Etrangers in der Rue Racine, Ecke Boulevard Saint-Michel, versammelten. Hier erregte Rimbaud durch seine brillanten Pastiches und Parodien ebenso Aufsehen wie Neid und Ärger, der betroffenen etablierten Literaten. Man schätzte es nicht an diesem Rimbaud, daß er ein schlechtes Gedicht einfach beschissen nannte und den angesehenen Edmond Lepelletier als „Tintenpisser“ bezeichnete. Auf die meisten dieser einigermaßen arrivierten Literaten der Pariser Boheme, für die der Elfenbeinturm die elitäre Konsequenz ihrer antibürgerlichen Revolte des „épater le bourgeois“ war, wirkte Rimbauds Gegenwart und seine ganz andere Haltung wie ihr lebendiger Gegensatz. Und dieser Gegensatz hatte einen genau bestimmbaren literarischen und politischen Inhalt: die unterschiedliche Haltung zur Pariser Commune. Denn außer Rimbaud, Jules Vallès, Verlaine, Villiers de L’Isle-Adam und Victor Hugo, die auf verschiedene Weise mit der Commune sympathisierten, standen ihr die meisten der zeitgenössischen französischen Schriftsteller offen feindlich oder verständnislos gegenüber.
Rimbaud aber, der Rebell, war glühender Kommunarde., Sein Haß auf die Ordnung des Zweiten Kaiserreichs entsprang nicht elitärer Selbstbestätigung. Er wollte die Veränderung dieser „miserablen Ordnung“, um das Leben ändern zu können. Es ist eine bittere Ironie der Literaturgeschichte, daß die nachfolgenden Generationen Rimbaud als „gekreuzigten Schriftsteller“ auf den Schild hoben und seiner Dichtung so die revolutionäre Spitze abbrachen. So begrüßte ihn 1890, ein Jahr vor seinem Tod am 10. November 1891, Laurent de Gavoty, der Herausgeber von La France Moderne als das „Haupt der dekadenten und symbolistischen Schule“.
Rimbaud kann indes nicht anders denn als Zeitgenosse der Pariser Commune, die ein „neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit“ (Marx) war, gelesen werden. Der Aufstand der Pariser Kommunarden und ihre Niederlage sind die geschichtliche Grunderfahrung, deren Spuren das gesamte Werk Rimbauds auf eine nicht auf der flachen Hand liegende Weise durchziehen. Dieses Werk des frühreifen Dichters, Musterschüler seiner Klasse und brillanter Kenner der klassischen Rhetorik, ist in nur fünf Jahren zwischen 1870 und 1875 entstanden. Im Alter von fünfzehn bis neunzehn Jahren erarbeitete Rimbaud seine Dichtungen, die nicht nur der französischen Poesie ganz neue Möglichkeiten erschließen sollten, sondern die „eine kopernikanische Wende der modernen Dichtung“ (Werner Krauss) überhaupt einleiteten.
Am Anfang sticht die von blinder Erfahrung geprägte Revolte gegen die erdrückende Spießerwelt in der Familie und in der französischen Provinz. Die Mutter, eine verwitwete Offiziersgattin und autoritäre Megäre, die „mother“, wie Rimbaud sie nennt, überschattet seine ganze Kindheit. Charleville, seine Vaterstadt in den Ardennen, ist ihm unter allen Provinzstädten „übermäßig idiotisch“. Er verabscheut den „patrouillotisme“ ihrer Bürger und Krämer, die während des Deutsch-Französischen Krieges ihre Feigheit hinter patriotischen Parolen verstecken und im entscheidenden Moment versagen. An den zwanzigjährigen Lehrer und Freund Georges Izambard schreibt er im November 1870: „Ich sterbe, ich verfaule in der Plattitüde, in der Übelkeit, im Grau-in-Grau. Was wollen Sie, ich hab mir die Verehrung der freien Freiheit in den Kopf gesetzt.“
Rimbaud bricht ständig aus. Ist ständig in Bewegung. Er fährt als blinder Passagier nach Paris, wird als Spion verdächtigt undfestgesetzt. Freigelassen, wandert er zu Fuß durch die von preußischen Truppen besetzten Gebiete zurück nach Charleville. Er macht sich mit der Bewaffnung der Nationalgarde vertraut und, protestiert öffentlich gegen deren Unzulänglichkeit. Das ewige Unterwegs sein wird zu einem konstanten Zug im Leben dieses „Mannes mit den Windsohlen“, wie Verlaine ihn treffend genannt hat. Das Motiv des Aufbruchs, der Abreise und Erkundung als Lebensmaxime tritt in vielen seiner Gedichte aus dem Jahre 1870 auf. Rimbaud notiert Eindrücke, Bilder und Erlebnisse seines Lebens „auf den großen Straßen“. So in „Mein Zigeunerleben“, einem seiner schönsten Gedichte. Er beschreibt Kriegsszenen, wie in dem auf einen neuartigen Überraschungseffekt hin komponierten „Der Schläfer im Tal“.
1871 dann beginnt er Gedichte zu schreiben, die von einer klaren revolutionären Inspiration ausgehen. Mit wachem Bewußtsein nimmt er an der politischen Entwicklung Anteil. Am 25. Februar macht er sich erneut auf den Weg in die Hauptstadt. Er bleibt bis zum 10. März und erlebt Paris, „das einzige ernstliche Hindernis auf dem Weg der konterrevolutionären Verschwörung“ (Marx), am Vorabend des Aufstandes. Von der Erhebung des Volkes von Paris am 18. März 1871 erfährt Rimbaud zwei Tage später in Charleville. „Es ist soweit! die Ordnung ist besiegt!“ lautet sein Kommentar im Brief an den Freund Ernest Delahaye. Sein „Pariser Kriegsgesang“ dieser „Psalm der Aktualität“, ist ein Hymnus auf das kämpfende Paris und zugleich ein Pamphlet gegen die Versailler, die seit dem 2. April die Pariser Banlieu im Süden bombardierten: „Schaut her, was sie säen, genießt / Der Gäste lieb Frühlingschanson!“
„Die Hände der Jeanne-Marie“ besingt die heroischen Taten der Frauen des Volkes, die die Barrikaden auf der Place Pigalle, der Place Blanche und in Batignolles verteidigten: „Au grand soleil d’amour chargé.“ Die letzten beiden Strophen des Gedichtes, das nach der Blutwoche entstanden ist, evozieren die grauenhafte Repression und die täglichen Gefangenenkonvois (die pontons im Schlußvers des „Trunkenen Schiffs“), in denen die Versailler die Kommunarden, an den Händen gefesselt, abschleppten. Über den Heroismus der Pariser Frauen besitzen wir ein Zeugnis von Rimbauds Zeitgenossen Karl Marx: „Die Kokotten hatten die Fährte ihrer Beschützer wiedergefunden – der flüchtigen Männer, der Familie, der Religion und vor allem des Eigentums. An ihrer Stelle kamen die wirklichen Weiber von Paris wieder an die Oberfläche – heroisch, hochherzig und aufopfernd wie die Weiber des Altertums.“
Das große revolutionäre Gedicht, in dem der Dichter als Kommunarde mit dynamischer Gewalt Anklage erhebt, ist „Die Pariser Orgie“. Die zurückkehrenden Krautjunker stürzen sich in feiger Barbarei auf Paris, das Rimbaud als Frau beschreibt. Etwas Neues kündigt sich hier an. Der Dichter, der sich ganz und gar mit dem arbeitenden, kämpfenden, blutenden Paris identifiziert, wird nicht mehr schweigen: „L’orage te sacra suprême poésie.“ Aus dem gescheiterten Befreiungsversuch, aus der Enttäuschung auch der eigenen revolutionären Hoffnungen bleibt der Gedanke einer neuen Gesellschaft lebendig, deren „ruhmvoller Vorbote“ (Marx) die Pariser Commune war. Ihre einmal in Freiheit gesetzten neuen Elemente wirken weiter. Auch in der Poesie und durch die Poesie. Rimbauds Dichtung wird von nun an diesen Elementen eine Form der Dauer verleihen, wodurch der gescheiterte Befreiungsversuch in der Literatur gleichsam nachgeholt wird.
Die neue Dichtung, die Rimbaud zu schreiben beginnt, gründet sich auf eine neue Dichtungstheorie, die er in dem klaren Bewußtsein davon ausgearbeitet hat, daß mit der Commune auch die Dichtung in eine Epochenwende gestellt ist. ln den beiden berühmten Voyant-Briefen vom 13. und 15. Mai 1811 hat Rimbaud diese poetische Konzeption beschrieben. Sie geht aus von dem Bekenntnis des Dichters zur Poesie als einer eigenständigen, unverwechselbaren Weise der Wahrheitsfindung. Die, Subjektivität des Dichters, seine Visionen, müssen in ihrer unbedingten. Authentizität poetisch fixiert, notiert wie Rimbaud sagt, werden, damit der Leser das Unsichtbare zu sehen bekommt. Diese „objektive Dichtung“ sagt sich los von allen Formen „subjektiver Dichtung“, die – wie in der romantischen Tradition – Poesie als Ausdruck unkontrollierter Gefühle begreift. Im Brief an den Lehrer Georges Izambard schreibt Rimbaud am 13. Mai 1871 Sätze, in denen hinter der Solidarisierung mit den Pariser Arbeitern der Gedanke einer neuen Dichtung aufblitzt. „Eines Tages, so hoffe ich, werde ich in Ihrem Prinzip die objektive Poesie erkennen… Ich werde ein Arbeiter sein: der Gedanke fesselt mich, während die irre Wut mich zur Schlacht von Paris drängt, wo doch so viele Arbeiter sterben, während ich Ihnen das schreibe! Jetzt arbeiten, niemals, niemals, ich befinde mich im Streik.“ Im Mittelpunkt der Rimbaudschen Dichtungskonzeption steht daher auch nicht das Gefühl (sentiment), sondern der Sinneseindruck (sensation). Die imaginative Freisetzung aller Sinne, um ein Höchstmaß an Empfindungsfähigkeit zu erreichen, korrespondiert mit einer Sprachbewußtheit, die das sprachliche Material als Mittel der Erschließung von Beziehungen zwischen den Dingen, als Notat von Empfindungen versteht: „Ich will Dichtet sein, und ich arbeite daran, mich sehend zu machen: Sie werden nichts verstehen, und ich könnte es Ihnen kaum erklären. Es geht darum durch eine Entgrenzung aller Sinne zum Unbekannten vorzustoßen. Die Leiden sind unermeßlich, aber man muß stark sein, als Dichter geboren sein, und ich habe mich als Dichter erkannt.“ Der Dichter als Seher, so wie ihn Rimbaud versteht, der durch kontrollierte Arbeit zum Unbekannten, zum Neuen vordringt, liefert sich nicht irrationalen Eingebungen aus. Endgültig ist mit Rimbaud die Dichtung dem bloßen Ausdruck von Gefühlen entzogen. Dichtung ist Arbeit an und in der Sprache. Rimbaud versteht den Dichter durchaus als einen Arbeiter, der seine Sinne, kultiviert und deutlich sieht, was seine Mitwelt empfindet. Die Eroberung des Unbekannten ist ihm ein „Marsch zum Fortschritt“. Der Dichter ein „Multiplikator des Fortschritts“. So präzisiert er seine Gedanken am 15. Mai im Brief an Paul Demeny. Dieser Brief, dem er den „Pariser Kriegsgesang“ beilegt, enthält Rimbauds Programm einer „Poesie der Zukunft“, von der er sagt, daß sie eine „materialistische“ Zukunft sein wird: „Denn ICH ist ein Anderer. Wenn das Messing als Trompete aufwacht, ist es nicht seine Schuld. darüber bin ich mir klar: ich wohne der Entfaltung meines Gedankens bei: ich sehe ihn an, ich höre ihm zu. Ich tue einen Bogenstrich: die Symphonie setzt die Tiefen in Bewegung oder kommt mit einem Sprung aufs Podium.
Hätten die alten Schafsköpfe noch etwas anderes vom Ich gefunden als falsche Bedeutungen, dann müßten wir nicht diese Millionen Gerippe wegfegen, die seit unendlichen Zeiten die Erzeugnisse ihres einäugigen Geistes aufstapeln, indem sie sich als Autoren ausgeben!… Das erste Studium des Menschen, der ein Dichter sein will, geht auf seine vollständige Erkenntnis des Eigenen aus. Er, sucht seine Seele, mustert sie, stellt sie auf die Probe, lernt sie. Sobald er sie kennt, muß er sie ausbauen: das erscheint einfach: in jedem Gehirn vollzieht sich eine natürliche Entwicklung; so viele Egoisten heißen sich Autoren; viele andere schreiben sich ihren geistigen Fortschritt zu! – Aber es handelt sich darum, die Seele ungeheuerlich zu machen: nach Art der Comprachicos, ha! Stellen Sie sich einen Menschen vor, der Warzen in sein Gesicht einpflanzt und sie pflegt.
Ich meine, man muß Seher sein, sich sehend machen.
Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, unermeßliche und durchdachte Entgrenzung sämtlicher Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns; er sucht selbst und erschöpft in sieh alle Gifte, um nur ihre Quintessenzen zu behalten. Unaussprechliche Marter, in der er jeden Glauben und übermenschliche Stärke nötig hat, wo er unter allen der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verdammte werden wird – und der höchste Weise! Denn er gelangt bis an das Unbekannte! Da er seine schon reiche Seele mehr als irgendeiner ausgebaut hat! Er gelangt bis ans Unbekannte, und wenn er etwas närrisch geworden, schließlich das Bewußtsein seiner Visionen verlöre, so hat er sie doch gesehen! Mag er beim Anprall an die unerhörten und unnennbaren Dinge verrecken: andere furchtbare Arbeiter werden kommen; sie werden an den Horizonten beginnen, wo er hingesunken ist!…
Der Dichter ist wirklich einer, der das Feuer stiehlt. Er ist Beauftragter der Menschheit, selbst der Tiere; er muß seine Erfindungen, fühlbar, greifbar, hörbar machen; wenn das was er von da unten mitbringt Form hat, gibt er ihm Form; wenn es unförmig ist, gibt er ihm Unförmigkeit. Man muß eine Sprache finden;
− Da im übrigen: jedes Wort Idee ist, wird die Zeit einer Universalsprache kommen! Man muß Akademiker Sein – gründlicher tot als ein Fossil −, um sich ein Wörterbuch auszudenken, ganz gleich in welcher Sprache… Jene Sprache wird Seele für die Seele sein, alles enthaltend, Gerüche, Klänge, Farben; Gedanke, der Gedanken mit sich verhakt und nach sich zieht. Der Dichter möge die Menge des Unbekannten abgrenzen, wach werdend in seiner Zeit, in der universalen Seele: Er gebe mehr als die Formel seines Gedankens, als die Aufzeichnung seines „Marsches zum Fortschritt“! Wenn die Maßlosigkeit zum Maß wird, von allen aufgenommen, könnte er wirklich ein „Vervielfacher des Fortschritts“ sein!
Diese Zukunft wird, wie Sie sehen, materialistisch sein. Immer von der Zahl und der Harmonie erfüllt, werden diese Gedichte so gemacht sein, daß sie dauern. – Im Grunde wäre dies noch etwas griechische Dichtung.
Die ewige Kunst hätte ihre Funktionen; da die Dichter Staatsbürger sind. Die Dichtung wird nicht mehr die Aktion rhythmisieren, sie wird voran sein.“
Denn ICH ist ein Anderer: dieser grundlegende Gedanke in Rimbauds Poetik bedeutet vor allem auch die absolute Verpflichtung des Dichters gegenüber den sein eigenes Ich determinierenden Faktoren, was – freudianisch gesprochen – die Überdeterminationen einschließt. Er schließt aber auch ein kulturrevolutionäres Moment insofern ein, als damit das individuelle Schicksal des Menschen zu seiner Einbettung in die Dimension der Geschichte in ein spannungsvolles Verhältnis, gerückt wird. Und damit handelt es sich, genaugenommen, bei Rimbaud schon nicht mehr um den allgemeinen Menschen der bürgerlichen Ideologie! Rimbaud stellt das Problem der Loslösung von jeder Art konventioneller Kultur, Vernunft und Moral. Bürgerliche Ideologie und bürgerliches Kulturverständnis haben über das individuelle und über das geschichtliche Schicksal des Menschen einen Schleier des Scheins und der Tabuisierung verhängt, der allen gesellschaftlichen Verhältnissen die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“ (Marx) verleiht. Die revolutionäre Sprengkraft des Rimbaudschen Gedankens liegt gerade darin, daß er für die Dichtung eine Formel gefunden hat, die das Geheimnis (das Unbekannte) der Verkleidung aller gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Sachen mit den Mitteln einer neuen poetischen Sprache zu durchschauen erlaubt. Damit war aber auch – ein weiteres Merkmal der Modernität Rimbauds – ein neuer Begriff von der Autorschaft, des Dichters gewonnen. Das subjektive Ich des Dichters wird zum Instrument (nicht zum Anhängsel) eines objektiven Ichs. Mit diesem zutiefst demokratischen Dichterverständnis, das den romantischen Geniebegriff aufhebt, trat Rimbaud in eine solidarische Beziehung zur Mitwelt. Was dabei als unerhörte Kühnheit, ja Vermessenheit empfunden wurde, das war Rimbauds Befreiung der Dichtung von vorgefundenen, prästabilierten Ideen und Idealen jeder Form; ihre Situierung in den Tiefenzonen ursprünglicher Empfindungs- und Erlebniswelten. Die „Kultivierung der Seele“ durch die immer „durchdachte Entgrenzung sämtlicher Sinne“ ging weit über das bis dahin herrschende Verständnis von Poesie hinaus. Rimbaud entzog die Dichtung ebenso entschieden dem Terror der Gesinnung des genialen Dichters wie dem Zwang der Regeln, die für ihre Produktion Gültigkeit beanspruchten. Mit der einmal gewonnenen Einsicht entwickelt und erprobt er die neuen Möglichkeiten einer „unbedingt modernen“ Dichtung.
Da ist zunächst die Umgruppierung der poetischen Sprache nach optischen Gesichtspunkten. Dichtung soll sehen lehren, Rimbaud war nicht nur Zeitgenosse der Impressionisten, er war auch mit vielen Malern befreundet und ein begeisterter Betrachter von Karikaturen, Städteansichten, Fotografien, die durch die modernen Techniken der Reproduzierbarkeit zur Massenkunst geworden waren. In der Malerei seiner Zeit sah er einen gleichen Wandel sich vollziehen, wie er selbst ihn für die Dichtung proklamierte: „Wir müssen der Malerei ihre alte Gewohnheit des Kopierens austreiben, um sie souverän zu machen. Statt die Objekte zu reproduziere, hat sie Erregungen zu erzwingen mittels der Linien der Farben und der aus der äußeren Welt bezogenen, jedoch vereinfachten und gebändigten Umrisse: eine echte Magie.“ Das berühmte Sonett „Die Vokale“ erfährt aus dieser optischen Einstellung Rimbauds seinen Sinn. Keine synästhetische Spekulation über den Zusammenhang von Ton- und Farbskala liegt ihm zugrunde, sondern vielmehr die Erkundung der Produktivität sprachlicher Zeichen. Rimbaud geht es eher um die Form der Vokale denn um ihre Farbe, das heißt um die Beziehung zwischen Lautform und Schriftbild. Doch man wird sich in jedem Fall davor hüten müssen, ein Rimbaud-Gedicht auf eine eindeutige Aussage festzulegen. Denn mit der Absage an eine von vorgegebenen Ideen ausgehende Dichtung ist gerade die Vieldeutigkeit zum Prinzip kreativer Text-Leser-Beziehungen in der Dichtung erhoben. Der Leser eines Rimbaud-Gedichts, das Visionen poetisch notieren und vermitteln will, kann daher nicht erwarten, daß ihm eindeutige Aussagen präsentiert werden. Er ist vielmehr aufgefordert, selbst in den Texten Bedeutungen für sich zu entdecken, indem er seine Sinne schärft.
„Das trunkene Schiff“, vielleicht Rimbauds bekanntestes Gedicht, verwirklicht zum erstenmal in vollem Umfang die Rimbaudsche Dichtungskonzeption, Wenn man bereit ist, auch der Dichtung eine relativ eigenständige geschichtliche Bewegung zuzugestehen, dann ließe sich sagen, daß mit diesem Gedicht eine neue Art zu dichten beginnt. Das Gedicht, unter dem unmittelbaren Eindruck der Niederlage der Commune geschrieben, holt den gescheiterten Befreiungsversuch in der Literatur nach. Es ist ein (in dieser Hinsicht) eindeutiges Gedicht der Abrechnung! Eine der weltgeschichtlichen Bedeutung der Pariser Commune ebenbürtige poetische Vision. Da gibt es kein nur äußerliches lyrisches Ich mehr. Die sprachliche Bewegung die im Rahmen der absoluten Schiffsmetapher entfaltet wird, erzeugt eine raumbildliche Vision der Befreiung, die das Ende eines geschichtlichen Zeitalters evoziert. Hier ist poetische Sprache in eine neue Funktion eingetreten. Das Gedicht berührt keine Sachen, es erzeugt sprachlich Identitäten. So weit war bisher (den Spanier Góngora vielleicht ausgenommen) noch kaum jemand gegangen, daß er die Vergleichsebene der Metaphorik einfach wegließ und mit der so ermöglichten Identität zwischen Bildspender und Bildempfänger das Erz poetisch neuer Elemente zutage förderte. Das Gedicht, obwohl noch ganz im traditionellen Versmaß des Alexandriners geschrieben, wurde als Provokation aufgefaßt. Banville, dem es Rimbaucl geschickt hatte, bezeugt das. Er bemängelte nach der Lektüre lakonisch, daß das Gedicht nicht beginnt: „Ich bin ein Schiff, das…“, Brecht, der selbst in der Hauspostille ein Pastiche auf „Das trunkene Schiff“ veröffentlicht hatte, meinte, daß auch Marx und Lenin, wenn sie es gelesen hätten, „die große geschichtliche Bewegung gespürt hätten; von der es ein Ausdruck ist. Sie hätten sehr wohl erkannt, daß darin nicht der exzentrische Spaziergang eines Mannes beschrieben wird, sondern die Flucht, das Vagabundieren eines Menschen, der es in den Schranken der Klasse nicht mehr aushält, die – mit dem Krimkrieg, mit dem mexikanischen Abenteuer – beginnt, auch die exotischen Erdstriche ihren merkantilen Interessen zu erschließen.“
Der nächste Schritt, mit dem Rimbaud die Veränderung der Dichtung nach der Commune vorantreibt, ist die Destruktion der traditionellen, klassisch-romantischen Prosodie des französischen Verses. Bis zum „Trunkenen Schiff“ hatte er sich im wesentlichen einer traditionellen Prosodie bedient, vor allem des Alexandriners. Rimbaud hatte verlangt, daß die Dichtung nicht mehr die Handlung rhythmisiere, sondern voran sein muß, Poesie als Avantgarde! Die geordnete und genau geregelte Prosodie des französischen Verses war ihm zum Hemmnis geworden. Die Auseinandersetzung mit der Commune, ergänzt sich so durch die Auseinandersetzung mit der französischen Dichtungstradition. Die neue Dichtung beginnt bei Rimbaud nicht mit dem neuen Gegenstand, sondern mit der neuen Form, mit der Form in neuer Funktion. Das erste Gedicht, das die Auflösung der klassischen Prosodie einleitet, ist zugleich das wohl gewaltigste seiner Gedichte: der Abrechnung, der Verarbeitung der gescheiterten Commune: „Was soll uns das, mein Herz“. Anfang 1872 geschrieben; ist es auf den ersten Blick, ein ganz aus Alexandrinern gebautes Gedicht. Bis auf den letzten Vers: „Nein, nichts! Hier bin ich! Bin noch immer hier!“, der als wuchtiger Kontrapunkt zur voraufgehenden Aufforderung gesetzt ist, die alte Gesellschaft zu zerstören. Doch hat Rimbaud (was freilich eine Nachdichtung kaum herzugeben vermag) in den sechs Strophen des Gedichts in jedem Vers die Prosodie des Alexandriners aufgelöst. Dieser klassisch gebaute, harmonische Vers mit seinem regelmäßigen Wechsel von zwölf Silben mit männlichem und dreizehn Silben mit weiblichem Reim, mit seinem Einschnitt nach der sechsten Silbe, wodurch der ganze Vers seine zwischen zwei Ruhepunkten schwingende Architektonik erhält, dieser klassische Alexandriner wird von Rimbaud verabschiedet. Von da ab schreibt er keine Verse im traditionellen Verständnis mehr, das heißt Verse, die mit den beiden Hauptelementen der französischen Prosodie, Silbenzahl und Reim, ausgestattet sind. Rimbaud begründet, wie vor ihm Lautréamont und nach ihm Mallarmé auf andere Weise, eine neue Dichtung. Eine Dichtung, in der mit der Aufhebung der Grenze zwischen Poesie und Prosa zugleich die immer eine elitäre Dichtungskonzeption legitimierende Grenzmarkierung zwischen poetischer und Alltagssprache aufgehoben ist. Rimbaud hat so konsequenter als Baudelaire und in anderer geschichtlicher Situation, einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung der Poesie aus (der Bevormundung durch die klassisch-romantische Ästhetik geleistet. Denn das dieser Ästhetik zugrunde liegende Prinzip einer transzendentalen Einheit des Schönen, Wahren und Guten hatte für Rimbauds visionäre, auf die Entdeckung neuer Beziehungen gerichtete, sinnesentfesselnde Dichtung jeden realen Bezugspunkt verloren.
Mit „Ein Sommer in der Hölle“, von April bis August 1873 geschrieben, hat der Dichter seine neue Form der Poesie gefunden. Eine Poesie in gehobener Prosa, in der die neue Form zugleich Gegenstand und Darstellung ist. Unübersehbar auch die latente dramatische Struktur des Textes, die Stückeschreiber und Regisseure immer wieder reifte. Zuerst den jungen Brecht, der in „Dickicht der Städte“ Zitate aus „Ein Sommer in der Hölle“ montierte. Zuletzt den Belgier Henri Ronse, der den ganzen Text am Brüsseler Théâtre-Poème 1967 in Szene setzte: Es ist auch das einzige von Rimbaud selbst zum Druck gebrachte Buch, das allerdings wegen finanzieller Schwierigkeiten des belgischen Verlegers nicht verkauft wurde. Rimbaud verteilte lediglich ein paar Belegexemplare unter Freunden., Dieses Buch einer neuen Poesie wurde lange Zeit im Lichte der skandal-umwitterten Beziehung zwischen Verlaine und Rimbaud ausgelegt. Die HaßIiebe zwischen den beiden Dichtern, die mit dem Revolverschuß am 10. Juli 1873 in einem Brüsseler Hotel endete und in der Rimbaud immer der Gebende gewesen war, ist jedoch keinesfalls der Ausgangspunkt von „Ein Sommer in der Hölle“. Allein Rimbauds Dichtungskonzeption verbietet es, das Buch als eine reine Erlebnisdichtung, als eruptive Gestaltung eines seelischen Schocks, oder als verzweifelten Ausdruck einer Grenzsituation zu lesen. Wir haben es mit einer genau durchkomponierten Serie von poetischen Prosastücken zu tun, die Rimbaud selbst als „histoires atroces“ bezeichnet hat. In Briefen sprach er auch von „kleinen Prosageschichten“, von seinem „Heidenbuch oder Negerbuch“. Die Präsenz des Dichters Rimbaud in diesen „Blättern aus meinem Tagebuch eines Verdammten“, die kritische Bilanzierung der durchschrittenen Stationen, sollten verstanden werden als Verwirklichung des Gedankens, Literatur zu leben und mit dem Leben zu verbinden. In einem anderen Sinne freilich als die Surrealisten, für die „Ein Sommer in der Hölle“ ein Stundenbuch war, meint Rimbaud, „das wahre Leben ist anderswo“. Die Surrealisten suchten nach der Verbindung der radikal individualisierten Menschen mit dem wirklichen Leben. Rimbaud ging es um die Vision einer neuen Gemeinschaft unter den Menschen jenseits der bürgerlichen Weltordnung. Die Solidarisierung mit der „race inférieure“, mit allen Unterdrückten, Ausgestoßenen, Kämpfenden, Verzweifelten, die dem ganzen Buch seinen großen Atem verleiht, steht auch hier wieder in nicht zu übersehendem Bezug zur Commune. Der Dichter vereint sich mit den Föderierten, die gefesselt vor den Erschießungspelotons stehen: „Das geile Einssein, die Freundschaft der Frauen waren mir verboten. Nicht ein Gefährte. Ich sah mich einer verzweifelten Menge gegenüber, im Angesicht des Exekutionspelotons, weinend über das Unglück, das sie nicht begreifen konnten. Und ich verzieh! – Wie Jeanne d’Arc! – ,Priester, Professoren, Meister, ihr irrt, wenn Ihr mich der Gerechtigkeit überliefert. Nie hab ich zu diesem Volk gehört; nie war ich Christ; ich gehöre zu der Rasse, die sang, wenn sie ihr Todesurteil empfing; ich begreife die Gesetze nicht; mir fehlt der Sinn für Moral, ich bin ein wildes Tier, ihr täuscht euch‘…“
Diese Solidarisierung schärft den Satanismus des Buches, mit dem Rimbaud auch den verbreiteten „Rassentheorien“ der bonapartistischen Reaktion begegnet, die das Proletariat als eine „Klasse von Untermenschen, die aus einer Kreuzung von Räubern und Prostituierten entstanden ist“ (G. de Cassagnac), bezeichnete. So sind die einzelnen „histoires atroces“ Sprengsätze, die ihre bedeutungsverändernde Wirkung an den Wurzeln sprachlich versteinerter Moral- und Denkformen nicht verfehlen. Rimbaud kann sich im Bewußtsein solcher poetischen Verfügungsgewalt jetzt zu einer neuen Schönheit bekennen, von der Aragon einmal sagte, daß sie die Quelle eines revolutionären Schönheitsbegriffs sei: „Heute versteh ich mich darauf, die Schönheit zu empfangen.“
Von hier aus betrachtet, endet das von den Spuren des utopischen Sozialismus durchzogene Buch nicht in Resignation und Absage an die Dichtung. Es öffnet sich ganz im Gegenteil auf eine Perspektive, an deren Horizont „die Geburt der neuen Arbeit, die neue Weisheit“ steht. Es ist vielleicht nicht nur ein Zufall, wenn Rimbaud sich einen Verdammten nennt, nachdem im Mai 1871 der Kommunarde Eugène Pottier mit seinem Manifest „Die Internationale“ die „Verdammten dieser Erde“ zum letzten Gefecht aufgerufen hatte. Am Ende von „Ein Sommer in der Hölle“ steht eine ähnliche Vision der Gerechtigkeit und des Aufbruchs: „Das ist nun der Vorabend. Nehmen wir alles auf, was an Lebenskraft und echter Zärtlichkeit naht! Und steigt das Morgenrot auf, werden wir, mit brennender Geduld gewappnet, die glänzenden Städte betreten.“
Rimbauds Forderung „Man muß unbedingt modern sein!“ bedarf keiner anderen Auslegung. Die Modernität, des Dichters ergibt sich aus einer die Dichtung revolutionierenden Perspektive, die sich stets auch mit einer sachlichen verbindet: das heißt, die die poetische Bedeutung seiner Texte in nachrevolutionärer Zeit durch den Funken des Neuen entzündet. In den optisch gestalteten Illuminationen, möglicherweise nach dem Vorbild farbiger Stiche angefertigt und benannt, die ihn in London faszinierten, bereichert Rimbaud die von Baudelaire herkommende ganz moderne Gattung des „poème en prose“. Mit Rimbaud erfüllt sich auf noch nicht gekannte Weise das Gesetz dieser Gattung, von der Baudelaire als dem „Wunder einer poetischen Prosa“ träumte, „die ohne Metrum und Reim so voller Musik, so geschmeidig und erregend genug wäre, sich den lyrischen Bewegungen der Seele, den Wellen des Traums und unerwarteten Sprünge des Bewußtseins anzuverwandeln“ (Vorrede zum „Spleen von Paris“). Baudelaire hatte auch schon den tieferen sozialen Ursprung dieser neuen poetischen Gattung bezeichnet, wenn er sagte: „Vor allem der Verkehr in den riesigen Städten und ihre zahllosen, überschneidenden Beziehungen bringen dieses verführerische Ideal hervor.“ Zu den Illuminationen gehören auch die ersten, zwei Gedichte der französischen Dichtungsgeschichte in freiem Versmaß, von denen „Seestück“ in unserer Auswahl enthalten ist:
Die große semantische Offenheit dieser Gedichte entspricht der Gestaltung „von Garben utopischer, künftiger oder in Verwirklichung begriffener Elemente“ (Werner Krauss). Auch hier bleibt die Commune gegenwärtig. So etwa in dem die Sammlung eröffnenden Gedicht „Nach der Sintflut“, das die Restauration der alten Ordnung (die feigen Hasen kehren zurück und danken Gott) in ungewöhnlichen, enormen Bildern evoziert. Neu in den „Illuminationen“ ist auch die poetische Auffassung der Großstadt. Die Städte, denen wir hier begegnen, sind phantastische Konstruktionen eines „ungeheuerlichen Geschmacks“, „kolossalste Schöpfungen der modernen Barbarei“ („Städte II“). Rimbaud zeichnet in seine Städtebilder, die nie konkret auf eine bestimmte Stadt bezogen sind, genau die Linien der sozialen Architektur der kapitalistischen Städte ein, die fein säuberliche Grenzmarkierungen zwischen den Klassen darstellen. In diesen Städten „schleichen die neuen Gespenster durch dicken ewigen Kohlenstaub“. Städte, in denen der „Tod ohne Tränen“ ist und in denen das „Verbrechen im Straßenkot plärrt“. Und dann in dem (in unserer Ausgabe, enthaltenen) „Städte“ jene Traumstadt, deren phantastische Architektur eine humanisierte moderne Großstadt evoziert, wo „von der Freude einer neuen Arbeit sangen Gefährten“. Rimbaud hat auch die fürchterliche Anonymität und Kommunikationslosigkeit der kapitalistischen Großstadt festgehalten, die Friedrich Engels in London betroffen machte. „Diese Millionen Leute, die einander nicht zu kennen brauchen, betreiben das Erziehen, das Arbeiten im Beruf und das Altern so gleichartig, daß ihr Lebenslauf gewiß um etliches kürzer ist, als die verrückte Statistik gewöhnlich für die Völker des Kontinents errechnet“ („Stadt“).
Die „Illuminationen“ sind eine schwierige Lektüre für den heutigen Leser, auch für den Franzosen. Besonders kompliziert die Entzifferung der erotischen Metaphorik. Rimbaud, der ein Polyglott war, hat sich durch genaues Studium ein reiches dialektales und Argotsprachmaterial angeeignet und sich eine regelrechte erotische Geheimsprache geschaffen. So bezeichnet „cœur“ (Herz) oft das männliche Geschlecht (z.B. in „Antik“). In dem weiblichen Namen „Hortense“ des H überschriebenen Gedichts hat man die anagrammatische Verschlüsselung seines Themas gesehen: THEN EROS. Aber auch eine Auseinandersetzung mit der homoerotischen Liebe. Die „Illuminationen“ konstituieren vor allem auch einen neuen Dichtungsbegriff. Die phantastische andere Welt, die durch das Spiel der poetischen Bezeichnungen evoziert wird, befreit die Dichtung wie den Leser von jedem direkten Bezug zur Realität.
Es wäre darum widersinnig, Rimbaud umfassend auszulegen. Wir werden beginnen müssen, ihn zu lesen und eine eigene Beziehung zu ihm zu finden. Zu diesem Arthur Rimbaud, von dem Johannes R. Becher, der sein Poetisches Prinzip unter ein Rimbaud-Motto stellte, zu Recht sagte, daß wir in ihm „nach wie vor einen heutigen, künftigen und in vielem vorbildlichen Dichter erkennen müssen”.
Karlheinz Barck, Nachwort, Mai 1975/Februar 1988
Die Übersetzungsgeschichte Rimbauds in Deutschland ist ein eigenes Kapitel des Rimbaud-Mythos. Rimbaud als „Wegbereiter des Expressionismus“ und Rimbaud „als deutschen Dichter unter den Franzosen“ (V. Klemperer) sind Urteile, die den Tenor der deutschen Rimbaud-Rezeption bis in die dreißiger Jahre in ihren Extremen bezeichnen. Bestimmend blieb auch für die zahlreichen Neuansätze deutscher Rimbaud-Rezeption nach dem zweiten Weltkrieg (Wilhelm Hausenstein, Gerhart Haug, F. Rieple, Friedhelm Kemp) das Rimbaud-Bild der Expressionisten, die in Rimbaud vor allem den „Märtyrer der Zivilisation“, in seinem Werk die Entlastung „vom Bürgertum und seiner abgewelkten Weltanschauung“ (Paul Zech) sahen. Für die erste Nachkriegsgeneration hatte Rimbaud mit seinem Werk „wie ein Sturmvogel die existentielle Krise unserer Epoche“; verkündet (Franz Walter Müller). Ein neuer Zugang zu Rimbauds Dichtung im Rahmen unserer eigenen Literaturentwicklung wurde zu lange Zeit gerade durch die Last des expressionistischen Rimbaud-Bildes erschwert. Die Folgen der Expressionismusdebatte der dreißiger Jahre spielten dabei eine gewichtige Rolle, wie sich an J.R. Bechers durch das Datum symptomatischen Auseinandersetzung mit Rimbaud deutlich ermessen läßt.
So sind die meisten deutschen Rimbaud-Übersetzungen vor 1945 immer Ausdruck des Selbstverständnisses der literarischen Richtungen und Schulen, aus deren Mitte heraus sie entstanden. Freilich ist solche Bemühung immer auch Bestandteil eines rezeptiven Prozesses, der vom Stand der literatursprachlichen Entwicklung, von herrschenden ästhetischen Konzeptionen und von einem Konsensus, der Kritik mitbestimmt wird. Auch die übertriebene Suche nach Wahlverwandtschaft kann ihr den Weg ebnen. Es gibt jedoch kaum ewig gültige Übersetzungen, wohl aber mehr oder weniger gelungene.
In unsere Auswahl wurden einige Nachdichtungen von Schriftstellern aufgenommen, die zu den gelungensten Leistungen deutscher Rimbaud-Übersetzungen gehören und die zugleich einige Stationen ihrer Geschichte dokumentieren, Stefan Georges Nachdichtungen stammen aus dem Jahre 1905; K.L. Ammers seinerzeit epochemachenden, im Geiste des Expressionismus verfaßten Übersetzungen (die Brechts Rimbaud-Lektüre zugrunde lagen) enstanden 1907 und 1911, und Alfred Wolfensteins für die Neue Sachlichkeit repräsentativen Übertragungen erschienen 1930. Paul Celans Version des „Trunkenen Schiffs“, seine einzige Rimbaud-Nachdichtung, erschien 1959. Sie ist vor allem auch darin bemerkenswert, daß sie durch die gelungene Wiedergabe des wohl schwierigsten Rimbaud-Gedichts, die von Hugo Friedrich vertretene Meinung besonders augenfällig widerlegt, Rimbaud sei prinzipiell unübersetzbar.
Angesichts dieser verbreiteten Meinung mag der Leser sich anhand der verschiedenen Übersetzungsleistungen ein eigenes Urteil bilden. Der überwiegende Teil der für diese Ausgabe ausgewählten Gedichte wird ihm in neuen Nachdichtungen vorgestellt, die seine Rimbaud-Lektüre auch zu einem Vergleich anregen können, Rimbaud zu übersetzen ist gewiß schwierig, aber keineswegs unmöglich. So unterschiedlich das Rimbaud-Verständnis in den neuen Nachdichtungen im einzelnen ist, eins ist ihnen gemeinsam: die von Mystifizierungen unbelastete Zuwendung zum Werk Rimbauds. Darin erweisen sich die Nachdichter, die alle selbst Schriftsteller sind, als „Verräter“ gegenüber dem Original in dem Sinn, daß sie uns etwas von dem verborgenen Sinn der Rimbaudschen Dichtung verraten.
Die Dichter schaffen sich ihre Vorbilder selbst, sagt Borges. Ihr Motiv ist nicht Denkmalpflege, sondern Erfahrungsaustausch. „Das glänzende Sein der Sprache an den Grenzen der abendländischen Kultur“ (Michel Foucault) als Widerstand gegen versteinerte Traditionen. Die Dichter zitieren die Vorbilder nicht als Kronzeugen, sie ziehen sie als Partner ins Gespräch über eigene und andere Erfahrungen. Rimbaud ist ihnen kein aufgegebenes Pensum. Er ist der faszinierende Dichter der Grenzsituationen ohne privatisierte Lösungen: die poetische Utopie einer „materialistischen Zukunft“. Sein Werk ein Beispiel möglicher Folgen aus dramatischer Spannung zwischen individuellem und geschichtlichem Schicksal die Flucht aus der Literatur in die Wüste als Verzweiflungstat. Aus solchen Erfahrungen zieht der Rimbaud-Mythos seine Fäden, dessen Netzwerk die Arbeit der Dichter ist.
Rimbauds Werk als „erster Versuch, dem Kollektiv in der Dichtung Rechnung zu tragen“ (Walter Benjamin), wird vorbildlich erst durch den verjüngenden Dialog der nachfolgenden Autoren. Er ist immer wieder auf andere Weise Einlösung einer Hoffnung Rimbauds: „Je devins un opéra fabuleux“ (Ich wurde eine Fabeloper).
Die Texte von DDR-Autoren verschiedener Generationen dokumentieren unterschiedliche Beziehungen zu Rimbaud. Sie ziehen sein Werk auf je eigene Weise ins Gespräch; aktualisieren jeweils ein bestimmtes Bild des poetischen Universums. Die darin hinterlassenen Fragen erscheinen in der Sicht der Autoren nicht als erledigt.
Isoliert aus dem Zusammenhang des Werkes, werden an den Texten Spuren des Umgangs mit Rimbauds Werk in unserer Literatur erkennbar. Das sind auch Spuren einer praktizierten Poetik, die in der Arbeit an der Sprache und ihren poetischen (bildhaften) Funktionen Rimbauds unumgängliche Forderung, nach der je zeitgemäßen Modernität aufgreift.
Karlheinz Barck, Nachwort
Die letzte Aufnahme: Rimbaud auf Felsgestein vor einem wirren trockenen Dickicht. Heller Anzug, abgetragen, die weite Jacke schlotternd um den Leib. Füße und Hände schwarz und nackt, knochig, die rechte auf dem Oberschenkel des rechten (später amputierten) Beins, die Linke in die Hüfte gelegt. Andeutung einer Pose, die sich vergißt vor dem Gesicht, ein Hottentottenkopf, von Schatten zernarbt, der Mund zugepreßt, die Augen in Abgründen, kalt auf die Kamera gerichtet. 1883 in Abessinien, er trug diese Maske noch acht Jahre.
Die Trauer fraß ihn innen auf, Knochen und Gewebe. Er wußte es nicht. Sechzehn Neger transportierten auf der überdachten Trage den Panzer, aus dem ein Stöhnen drang. Auf dem weißen Laken des Marseiller Hospitals zur Unbefleckten Empfängnis will ihn die Schwester zum Glauben überredet haben. Er starb den Krebstod.
Wir können nur für uns etwas sagen.
Ich benutze seine Begriffe, Überschriften für einen Untertext, den ich heute lese aus seinen Gedichten und Lästerungen. Ich hörte von ihm mit neunzehn in dem Alter, als er die Literatur verließ. Er blieb ein Gewährsmann meiner Erfahrungen. Scheiß auf Gott, o sanfte Süße.
Ich zitiere Enid Starkie, Henry Miller, Hans Mayer, Yves Bonnefoy, Maurice Choury, Rosemarie Heise, mich und einen zukünftigen Autor.
Die Hölle der Frauen. Alle geben der Mutter schuld. Madame hatte ein „saures Wesen“, sie war eine „abscheuliche Megäre“, die ihre Kinder versklavte. „Hart, brutal“, das Krokodil. Aber sie war eine alleinstehende Frau aus einer Grande Rue, in ein Arbeiterquartier abgestiegen. Hauptmann Rimbaud hatte sie im Streit verlassen, ihre Brüder waren verkommen (der Landstreicher, der „Afrikaner“). Sie hatte nur ihren Stolz, ihren Geiz, ihre Tugend. Nicht wahr, mère Rimb., es war die Hölle für die Frauen. Die Söhne sollten nicht werden wie diese Männer. Sie hielt sie fern von den Schmuddelkindern. Sie wurde Aufsichtsperson, aus Sorge streng: „Voran gingen die beiden Mädchen, Vitalie und Isabelle, Hand in Hand; dann kamen die beiden Jungen, ebenfalls Hand in Hand; in gehörigem Abstand folgte die Frau Mutter als Abschluß der Kolonne.“ Mit weißen Kragen und steifen schwarzen Hüten, hellblaue Schirme in den Fäustchen; zum Gespött der Leute auf der Place Ducale. Wohl behütet! Es gibt eine Zeichnung Rimbauds: da stolziert Vieh und Volk sonntags so im Gänsemarsch. Noch der Fünfzehnjährige wurde von der Schule abgeholt. Ein Musterschüler, er triefte von Gehorsam (sagte er bald), der abonnierte Preisträger des Gymnasiums. Auf dem Klosett nur atmete er frei (Der Duft von Mist beschlug die Haut mit Kühle). Gängelei, das ekelerregende Taschentuch, das, man mir in den Mund stopft: die Moral des Christentums, die ins Gewissen redet und ihn bald zur Höllenqual verdammte.
Wie vertraut ist mir Anderem dies.
Zwar meine Mutter war eine milde Herrscherin. Und ich wuchs, ohne Vater, u n t e r B r ü d e r n auf. Unsere Erzieherin aber – die Gesellschaft, strenge sorgend. Eine andere Moral im Schild; wir sollten nicht verkommen wie die Fähnleinführer. Sie hat uns in ihre Obhut genommen. Gouvernante, die uns ihre Liebe verbarg. Sie hat uns ferngehalten von der harten Welt. Die Schule – nicht das. Leben. Der Glaube – nicht die Widersprüche. Das Kollektiv – nicht die Gemeinsamkeit. Schon gut, sie hatte den blauen Blick, der lügt. Wir sollten rein bleiben, Muttersöhnchen des Sozialismus. Sie hat uns wie Kinder gehalten, als wir längst Männer werden wollten. Das muß zu einem Aufbegehren führen, wie es sich das Krokodil, tränenden Augs, nicht träumen läßt. Izambard, Arthurs Rhetoriklehrer, berichtete, daß „jede neue Auseinandersetzung mit seiner Mutter ein Aufblühen skatologischer Bilder in seinen Gedichten bewirkte“. Scheißstaat: höre ich mich sagen. Es war eine obszöne Existenz. Miller schildert aus eigener Erfahrung einen Menschentyp, dem die Welt zu bejahen so sehr schwer falle, weil „in der Kindheit die gesamte dunkle Seite des Lebens, und natürlich auch des eigenen Wesens, unterdrückt worden war“. Der Typ sitze nun auf der Türschwelle des Mutterschoßes, „für immer draußen!“, keiner Umarmung fähig. Was wir entbehrten, war Vertrauen.
Papiertiger Ein Gedicht des Fünfzehnjährigen: „Le Forgeron“: Ich zitiere ab V. 132:
Die ganze, von der Wut der Sonne glühnde Masse
Der Unglücklichen kommt, sie kommt an, dich gedrängt,
Der diese Anstrengung beinah den Kopf zersprengt…
Hut ab, ihr Herrn Bourgeois! Die Menschheit kommt gegangen!
Arbeiter sind wir, Sire! Arbeiter! Wir verlangen
Die große neue Zeit, die Zeit der Wissenschaft,
Wenn sucht von früh bis spät der Mensch mit aller Kraft
Die großen Ursachen und Wirkungen zu jagen,
Daß, wie er langsam siegt, ihn alle Dinge tragen
Und er auf alles dann aufspringt wie auf ein Pferd!
O helle Schmiedeglut! Das Böse ausgekehrt!
− Was man nicht weiß, vielleicht ists, schrecklich! doch wir wollen
Wissen! – Drum gilts, das, was man weiß, durchs Sieb zu rollen,
Den Hammer in der Hand: Dann, Brüder, marsch, voran!
Den großen, schönen Traum zu träumen dann und wann
Vom schlichten Sein, voll Glut und ohne Stunk zu machen;
Arbeiten immer bei dem wundersamen Lachen
Des Weibes, das man liebt und das man hoch verehrt;
Arbeiten voller Stolz, solang der Tag nur währt;
Wie einen tönenden Hornruf den Pflichtspruch hören
Und völlig glücklich sein! Und keiner würde stören,
Oh! und es wagen, uns zu beugen, keiner mehr!
Und über unserm Herd, da hinge ein Gewehr…
Oh! noch ist ja die Luft verqualmt von Schlachtgetümmel!
Was red ich bloß? ich, die Kanaille, ich, der Lümmel!
Noch gibt es Wucherer, noch Spitzel wie zuvor.
Wir aber, wir sind frei! wir haben den Terror,
Der uns die Größe gibt, die herrlichen Gebärden,
So wie ich eben sprach vom Heim, vom Friedlichwerden…
Schau nur zum Himmel auf! – Für uns ist er zu klein.
Wir müßten knien, wir gingen in der Hitze ein!
Schau nur zum Himmel auf! – Ich geh zurück zur Meute,
Zur großen, schrecklichen Kanaille, die als Beute.
Deine Kanonen rollt auf schmutzgem Pflasterstein:
− O wenn wir tot sind, wird er abgewaschen sein!
− Und wenn vor unserm Schrei nach Rache auch die Klaue
Goldfarbner alter Könige durch Frankreichs Gaue
Die Regimenter stößt, geputzt, als gings zum Ball,
Na schön, so hört: Wir scheißen auf die Hunde all!“
− Er nahm den Hammer wieder auf.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Menge brüllte,
Sie fühlt’, wie dieser Mensch ihr Herz mit Rausch erfüllte,
Und durch den weiten Hof, durch jede Galerie,
Wo keuchend, heulend wild jetzt ganz Paris aufschrie.
Lief heiß ein Schauer hin bis an die fernsten Enden.
− Dann, mit den breiten und so prächtig schwarzen Händen
Warf der furchtbare Schmied dem königlichen Tropf
Die rote Mütze auf den schweißverklebten Kopf!
Das Gedicht eines Fünfzehnjährigen, wie gesagt; er konnte schon alles, was andere konnten. Er hatte den tapferen Stoff, und er hatte die dienliche Sprache. Dieser erstaunliche Text ist nur zu vergleichen den souveränen Jugendbildern Picassos, die auch alles können, nur auch nichts eigenes. Denn der Stoff ist angelesen, und aufgelesen die Form. Arthur kannte Holbach, Helvétius, Voltaire, Rousseau, schließlich Babeuf, Louis Blanc, Proudhon. Er hatte Villon, Rabelais, Chateaubriand, Michelet, Hugo hineingefressen. (Als er Les Misérables von Izambard entlieh, erntete er Ohrfeigen von der Mutter.) Er schrieb in der Manier der Beiträger der Revue pour Tous und des „Parnasse Contemporain“. Ein Verse-Schmied; das heißt noch nicht zugeschlagen.
Wie sein Anfang aus der Großen Revolution, so speiste sich der unsere aus dem Großen Oktober. Diese Frühphase unseres Dichtens (in manchem grauen Kopfe auch): eine Papierwelt, angelernt, Brecht, Majakowski, Neruda, Whitman, Weimar. Kindlich versifiziertes Programm, von sozialer Erfahrung kaum betroffen. Wirklich eine „Provokation für mich“ – und anders als ichs dachte. Der Zeitungsgeist, aktionistisch tönend. Auf Stelzen über die Tatbestände: ohne den Boden der Poesie zu berühren.
Der Ekel der Provinz. Charleville, am 25. August 1870. Meine Vaterstadt ist die weitaus blödeste aller kleinen Provinzstädte. Erschreckend, diese pensionierten Krämer, die sich wieder in die Uniform schmeißen! Wirklich toll, diese Herren Notare, Glasermeister, Steuereinnehmer, Holzwürmer und Dickwänste, die mit der Knarre vor dem Bauch an den Toren von Mézières Wache schieben; mein Vaterland steht auf! Ich bin in einem fremden Land, bin krank, rasend, blöd und auf den Kopf gestellt… Charleville, am 2. November 1870. Hier und dort einige Schießereien. Eine erbärmliche Krätze an Idiotie, das ist der Geist der Bevölkerung. Man hört schöne Dinge von ihr, geht mir weg. Es zersetzt einen förmlich.
Etc.
Das war nicht Flauberts „ennui“ oder Baudelaires „spleen“, jener unbestimmte Überdruß des Kleinbürgers, dem an dem Tische unwohl wird, an dem er morgen wieder fressen möchte. Rimbaud hatte nicht Lust, Platz zu nehmen. Der ganze Stall schien ihm lächerlich und hinfällig. Provinz, wo man sich von Hülsenfrüchten und Dreck ernährt. (Wenige Generationen zuvor viel sträfliches Pack, hier ausgesiedelt – nun gab man sich mit Fleiß honett. So wie auf seinem Reisepaß der zur Macht ernannte deutsche Arbeiter eine Krawatte zeigen muß.)
Der Kriegsrausch entblößte die Visagen. Das stand subaltern in den Stiefeln. Es war nicht der Moment Mitleid zu lernen. Rimbaud kein Georg Büchner, der mit der Kreatur empfand: (Ein Satz wie dieser, der so büchnerisch klingt, wäre Georg nicht aus der Federgegangen: Aber sehn, wie das schöne Wetter zu jedermanns Vorteil ist und jederman ein Schwein: das macht mir den Sommer verhaßt… Danton aber: Geht das nicht lustig? – lch wittre was in der Atmosphäre; er ist, als brüte die Sonne, Unzucht aus…. Ich begreife nicht, warum die Leute nicht auf der Gasse stehen bleiben und einander ins Gesicht lachen.) Rimbaud sah sie sitzen und kauern von Sackgeschwülsten schwarz. Sein physischer Widerwille ist in den widerwärtigen Wörtern zu lesen. Nun malte er nicht mehr eine geglaubte Welt aus – er kritzelte wütend über den Rand; ein schöpferischer Akt. Poesie ist eine Gegensprache. Und ist sie weiter nichts: eine Grimasse.
Aber dieses gefährliche Vokabular in der Faust war er fähig, jenes großartige „L’Orgie parisienne“ zu schreiben – als Paris, nach der Niederschließung der Commune, in die Provinz zurückkippte.
Unser Ekel ist ein doppelter Ekel: wir haben an mehrere Weiten zu würgen. (Aber wir saugen sie auch ein, lassen sie auf der Zunge zergehn, lecken sie, genießen sie.) Und unsere Satire ist ein zweischneidiges Ding. Enzensberger wußte es als erster – und nannte den westlichen „Schaum“ das kleinere Übel. Dies nun klingt mir wie Hohn, und ich stecke im sozialistischen Kies. Provinz, das ist der leere Augenblick. Geschichte auf dem Abstellgleis. Status quo. Was uns ersticken machen kann: aus der bewegten Zeit in eine stehende zu fallen.
Der Haß macht nicht blind, aber er sieht nicht durch. Nur der Liebende lernt seine Lektion. Davon soll die Rede sein, wenn ich Atem habe.
Vagabonds. Ich gehöre nie zu diesem Volk da; ich bin nie Christ gewesen; ich gehöre zu der Rasse derer, die in der Folter sang; ich verstehe die Gesetze, nicht; ich habe keinen Sinn für die Moral, ich bin ein Vieh… Jedenfalls trug er die Haare lang und rauchte Pfeife mit dem Kopfstück nach, unten. Ein Strolch. Er hatte die Schule verlassen, er war nach Paris, nach Brüssel geflohen (und der Mutter wieder zugeführt worden) – „lang lebe die Freiheit!“ Er hatte sein sexuelles Anderssein brutal erfahren, und auch der anmaßende Biedersinn der Charleviller gêneurs machte ihm Feuer unterm Hintern. Er ließ sich schamlos aushalten. Ich spüre einige alte Dummköpfe vom Gymnasium auf, und denen biete ich dann, was ich an Blödheiten, Schmutz und Dreck in Wort und Tat zu erfinden vermag: man zahlt mit Schnäpsen und Bieren. Das ist, im Brief an den Lehrer, harmlos geplaudert. In der „Widerwärtigkeit und Angeberei eines Sechzehnjährigen im Café de la Promenade“ („Strichjungenallüren“: sagt Mayer auch) sah er die einzige Möglichkeit, „sich selbst zu akzeptieren“. Er war im Exil seiner Revolte. Während in Paris die Revolution siegte/unterging, während die neue Poesie, BaudeIaire, Verlaine, sich kräftige Freiheiten erlaubte. Er zerstörte seine Verhältnisse; ohne Bedauern, wie er im belagerten Mézières die alten Bäume des Bois d’Amour stürzen sah. Wir werden uns daran gewöhnen, ihren Schatten zu entbehren. Aus diesem Schatten tretend, stand er in der Sonne der Folter. „Ausgestoßensein, das immer noch zu steigern war, wenn man etwa in Brüssel schließlich vor aller Augen einander umarmte.“ Im späten Text „Vagabonds“ beschrieb er die höllische Liaison mit Verlaine: und ich getrieben, den Ort zu finden und die Formel. Die Formel für ein menschliches Leben, den Ort der Poesie. Für einen Augenblick hat er ihn gewußt: nicht die Provinz, sondern die Revolution. In diesem Augenblick schrieb er die Briefe über den Seher.
Unsere jungen Dichter, Kinder der administrativen Beamten, suchen auch das Loch in der Mauer. Sie verbrauchen ihre Phantasie an Tunnels und Fesselballons, ihre „monologe gehen“ rechtens „fremd“. Fluchten wieder, aber auf Hasenpfoten. „Ein Stück, nur aus einem Schrei gebaut, das wäre ehrlich.“ Das ist tierischer Laut. Gesang, ihr unfreundlich Asyl, nur ein privates Eigentum.
Dabei wissen wir doch; daß uns die Freiheit, nicht auf den Versen folgt. Wir müssen, gräßliche Vernunft, Provokateure bleiben.
Ich gehöre diesem Volk an, und bin doch ein Landstreicher: unbediensteter Autor. Das Privileg ist asozial. Ich gehöre diesem Kampf und bin nicht bereit, in seine staatlichen Bedingungen zu resignieren. Der Konflikt ist endlos. Meine vage hygienische Zerstreuung.
Freunde und Feinde warten auf meine endgültige Reise ins Aus, den Abgang vom Gerät. Sie sagen ihn voraus als die Konsequenz: die Zerreißprobe endet; (Westdeutsche Lexika führen mich als Republikflüchtigen; wo nicht, dann als „linientreuen Propagandisten“. Beschreibungsimpotenz.) Aber ich bin nicht nur das zerrissene Fleisch, ich bin es auch, der es zerreißt. Ich entkomme nicht, es sei denn über die eigene Grenze.
Wir haben die Pflicht hinter uns; wohlan, wagen wir die Kür.
Der Sehende. Die beiden Briefe über die Zukunft der Poesie entstanden in den Tagen des Aufstands, im Mai 1871. Rimbaud teilte den Freunden mit, daß er ein Dichter sein wolle: ein „Arbeiter“, und dies halte ihn in Charleville fest, auch wenn ein furchtbarer Zorn mich in die Schlacht von Paris treibt – wo ja noch immer so viele Arbeiter sterben, während ich Ihnen hier schreibe! (Der zweite Brief beginnt mit dem „Chaot de guerre parisien“, einem Psalm der Aktualität.) Er erniedrige sich, mit anderen Worten: er arbeite an sich, um aus sich einen Seher zu machen (: Sie werden das natürlich nicht begreifen). Was nun folgt, und wofür er kein Verständnis erwartete, ist nicht neu, es wurde von Baudelaire vorgedacht. Die Sätze, mit denen Rimbaud sein Programm umriß sind ein geniales Zitat. Es geht darum, durch ein Entgrenzen a l l e r Si n n e am Ende im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein… Es ist falsch, wenn einer sagt: ich denke; Man sollte sagen: es denkt mich… Ich ist ein anderer. Schlimm genug für das Holz, das als Geige erwacht… Nur ein Text Baudelaires sei daneben gestellt, mit dem bezeichnenden Titel „Die Menge“: „… Der Dichter besitzt das unvergleichliche Privileg, nach Belieben er selbst zu sein und ein anderer. Wie jene irrenden Seelen, die einen Körper suchen, geht er, wenn er will, in das Wesen eines jeden ein. … Er macht sich alle Berufe zu eigen, alle Freuden und alles Elend, wie die Umstände es ihm bieten. Was die Menschen Liebe nennen, ist sehr gering, sehr beschränkt und sehr schwach, verglichen mit jenem unsagbaren Rausch, jener heiligen Preisgabe der Seele, die sich ganz hingibt, als Dichtung und Caritas, ans Unverhoffte, das erscheint, ans Unbekannte, das vorüberzieht.“ Verwandtschaft und Abstand der Sprache; Rimbaud interpretierte die „spleenige“ Moral und Ästhetik radikal. Und das, indem er Baudelaire wörtlich nahm, die idealen Anschauungen (und Abneigungen) als handfeste Praxis. Auf den mit den Fleurs du Mal bestreuten Wegen war er vorangejagt, aber was ihn jetzt innehalten und mit erborgten Begriffen sprechen machte, war der Entschluß, das verzweifelte Leben zu ändern. Er buchstabierte sich seine Hoffnung zwei Tage später noch einmal: Ich sage, daß man ein Seher werden, sich zum Seher machen muß. Bisher habe sich der Menschengeist auf natürliche Weise entwickelt, zufälliger Fortschritt, da der Mensch noch nicht an sich arbeitete … Funktionäre, gewiß, Schreiberlinge, ahnungslos – den Schöpfer habe es noch nicht gegeben. (Hier klingt, in ahistorischer Plattheit, Trotzkis große Vision an vom Menschen, der wie die gesellschaftlichen auch seine Körperprozesse beherrschen lerne.) Doch es geht darum, die Seele zum Ungeheuer zur weiten: … Man muß sich einen Menschen vorstellen, der Warzen in sein Gesicht einpflanzt. Novalis, Poe, Hugo, Baudelaire, die Illuminaten, Ballanche, er holte sie gelassen ein mit seinen gräßlich ernsten Sätzen – er hatte kein Gesicht zu verlieren: Novalis mochte „fast sagen“, das Chaos müsse in der Dichtung durchschimmern, indem die Welt an „allzu großer Klarheit“ leide; eine revolutionäre Formulierung: sie meint die Klarheit der unerschütterlichen Weltordnung – Rimbaud schrieb das Rezept aus für die notwendige Verwirrung. Langdauernde, unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. Alle Formen der Liebe und des Leidens, des Wahnsinns; der Dichter durchforsche sich selbst, er schöpfe alle Gifte seines Wesens aus und bewahre nur ihre Quintessenz für sich. Unsagbare Folter, für die er seinen ganzen Glauben braucht, seine ganze übermenschliche Kraft, und durch die er unter allen Wesen der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verdammte und der Allwissende wird! – Denn er kommt an im U n b e k a n n t e n ! Weil er seine Seele, die schon reich ist, noch reicher ausgebildet hat als je ein Mensch! Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließlich, gestörten Geistes, seine Visionen nicht mehr begreift, so hat er sie doch gesehen. Mag er in seinem Sprung zu den unerhörtn und unnennbaren Dingen auch umkommen: es wird neue schreckliche Arbeiter geben. Sie werden an jenen Horizonten beginnen, wo er hinsank! (Er unterbrach sich, um das niederträchtige, also fromme Gedicht „Mes petites amoureuses“ einzufügen; und dachte aber wohl an die schrecklichen Arbeiter von Paris, die an den Horizonten der Stadt füsiliert wurden:) er war jetzt beladen mit der ganzen Menschheit, sogar mit den Tieren (wir heute auch mit den Bäumen) – ein Satz, der uns geläufig ist wie eine Phrase. Für ihn war es der rettende Gedanke: „In seiner unerträglichen Erschöpfung findet Rimbaud plötzIich einen Sinn: sie ist die Auflösung der schlechten und entmenschlichten Subjektivität. Er steigt hinab in die Hölle, um als Erlöser wiederzukommen.“ Nämlich mit einer Sprache für das, was er von da unten heraufholt, aus der Tiefe der allen gemeinsamen sinnlichen Erfahrung, die er erdichtend entdeckt. (Die Erfahrung wird vom Denken buchstabiert, aber sie ist auch die Arbeit des Gefühls, des Traums, der Vorstellungskraft. Gefühlen eignet Realismus, sie sind real Gewordenes: abgelagertes Gewußtes, ins Unterbewußtsein gesunken; ein Potential, das das Denken unterstützt und mit ihm kollidiert, das es lähmt oder ermutigt zur Utopie und steigert zur Vision.) Das Unsichtbare sehen und es in seiner Form oder Formlosigkeit wiedergeben; jedes Wort ein Gedanke. Das heißt alles gewohnte Material wegkippen, womit die subjektive Poesie spielte, das sie breittrat, allen Zierat und die metrische Halterung kappen. Sprache, ganz, aktuell und sinnlich: der Duft, der Ton, die Farbe, und der Gedanke, der dem Gedanken folgt. Äußerste. Entzauberung und vollkommene Funktionalität – materialistisch wie de Zukunft, um die es ausgesprochen geht. Der Dichter, der das Ausmaß des erwachten Unbekannten bestimmt und das Ungewöhnliche zum Gewöhnlichen macht, wird ein multiplicateur de progrès. Die Dichtung wird die Tat nicht mehr rhythmisieren; besingen, sie wird ihr vorauseilen. Die Gegensprache, sie wird auch Fürsprache sein. Und auch die Frau wird seltsame, unergründliche, schwierige, wunderbare Dinge entdecken (und wir werden das verstehn), wenn ihre Knechtschaft gebrochen ist.
So unordentlich seine Vorlagen, er schrieb, oder wir, lesen doch, einen einleuchtenden Text. Der mag blenden, so daß man die Augen: schloß für den Moment einiger Generationen. Die schwächlichen Ausleger versuchen ihn zu verdunkeln. Sie kleben ängstlich an seinen Kategorien – Abnormität; sie können dieses Kollektivwesen nur füsilieren. Mit ihren Stichworten, der „leeren Transzendenz“. Hugo Friedrich zitiert befriedigt Rivières Unfug: „Seine Sendung besteht darin, uns zu desorientieren.“ Nein, er orientiert uns weg aus der tyrannischen Zucht des elenden Lebens. Nicht „dichterische Schau … in das leere Geheimnis“, wie der waltende Hugo befindet; Poesie sieht durch in die Schrecken/Freuden der Verwandlung. Sie ist nicht zu brauchen, wo man die vortrefflichen Verhältnisse nicht ändern will. Nicht die Einsamkeit des Rasierspiegels: das Brennglas der sozialen Erfahrungen. Die Metaphern werden sie nicht beschönigen oder schmücken für den jeweils „Gegenwärtigen Parnaß“, sie decken nicht zu: sie klären auf. Die decouvrierende, die sehende Metapher, die Metapher als Auge. Die Widersprüche am/im Werke. Die Struktur, die den Kampf austrägt. Nicht der Reiz der Erscheinungen: das Wortwesen, im Augenblick der Sprengung durch das Neue, Aus der höchsten Trennung/der Vorschein/der neuen Vereinigung; die Poesie der Aderlaß an den Göttern, sie streift die Klarheit der Vorurteile ab, die Betriebsblindheit der Ideologie. Es genügt nicht, daß beim Dichter, wie gewöhnlich, einige Sperren locker sind und er auf die Freitreppen pißt, meine Freunde: Er muß sich wirklich verwandeln, indem er ins Dunkle des Kampfes geht, in den Schmutz der Strukturen, in den Dreck der Ungleichheit. G e n o s s e : das ist die Erniedrigung so tief ich kann.
… verbrennen Sie, ich verlange es… alle Verse, die ich töricht genug war, etc.
Pariser Orgie. Als die Zeitungen den Pariser Aufstand meldeten, trat Rimbaud, eben aus der hungernden Hauptstadt zurück, vor die Läden der Rue Napoléon: Das wär erreicht! Eure Stunde schlägt. Die Ordnung ist besiegt! Aber der Clochard entwarf auch eine Constitution, révolutionnaire, eine Verfassung für die Commune. Sie ist uns erhalten in Andeutungen seines Freundes Delahaye – und im Klartext seiner Gedichte: Viel Glück, schrie ich, und ich sah ein Meer von Flammen und Rauch am Himmel; und rechts, links, allen Besitz auflodern in Milliarden Schlägen. Delahaye hielt fest: „Von der Erklärung, die er mir zu seinem System gab, habe ich folgendes behalten: in den kleinen Staaten, aus denen sich das alte Griechenland zusammensetzte, war es die ,agora‘, die alles leitete… das heißt der öffentliche Platz, die versammelten Bürger, die mit gleichen Rechten über das beratschlagten und abstimmten, was zu tun war. Er begann also damit, daß er das Repräsentationssystem abschaffte und es, kurz gesagt, durch die Regierung eines permanenten Volksentscheids ersetzte. Er beseitigte die gewählte Vertretung, in der er nur MachtIosigkeit und Betrug sah, und fand ein System, das die gegenwärtigen Theoretiker der ,direkten Regierung‘ eigentlich anerkennen müßten. In der Verfassung, die Rimbaud schuf, verwaltet sich das Volk ohne Vermittlung, indem es ganz einfach in Kommunen oder Kommunefraktionen zusammenkommt, um über die Entscheidungen abzustimmen, die der Gruppe nützlich sind: Jeder unerläßliche Gebrauch der Autorität, jede Anleitung für die Arbeit hängt von der Abstimmung ab, und der so erteilte Auftrag muß nach Ablauf einer kurzen Frist auf die gleiche Weise erneuert werden. Da diese ideale Republik kommunistisch ist, da sie sich auf der Abschaffung des Geldes und der Organisation einzig lebensnotwendiger Arbeit begründet, funktioniert sie, ohne sonstige Komplikationen: Das föderale Zentrum setzte sich – soweit ich mich erinnere aus Delegierten zusammen, die für eine bestimmte Zeit gewählt waren, aber ein strikt den Anweisungen der Gemeinschaft folgendes Zwangsmandat besaßen.“ Rimbaud faßte zusammen, was die Föderierten in ihren Klubs forderten. Früher schon hatte er dem Mann, nach dem seine Straße hieß, vorgeworfen: Napoleon hat nichts von der Mission begriffen, die ihm die Umstände auftrugen. Durch die Revolution zum Ziel gekommen, hat er sie dumm verkümmern lassen. Statt den Kommunismus zu organisieren – eine einfache Sache, weil das Eigentum de facto nicht mehr da war, noch weniger aber moralisch und legal existierte −, errichtete er eine Gesellschaft neu, die ungerechter war als die alte. (Delahaye überlieferte es in den „Souvenirs familiers à propos de Rimbaud“.)
Das Bewußtsein des Thermidor ist es, das unsern Kommunismus produziert: das Begreifen der Niederlagen. Dies souvenir social von Braun.
Die Commune eine Regierung der Arbeiterklasse, die „endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“ (Marx). Ihr Untergang entsetzlich, und sie traf den abwesenden Kommunarden voll. Ich rief die Henker herbei, um meine Zähne noch im Verrecken tief in die Kolben ihrer Gewehre zu schlagen. Jetzt diktierte ihm die Enttäuschung Gesänge des Hasses, der einen Namen hat.
Er hat den Kommunismus; der mit Militärgewalt vertagt wurde, nicht aufgegeben, solange, er schrieb. Aber er schrieb nur mehr drei Jahre. Im November führte er Delahaye zum Pantheon, um ihm die Einschläge der Mitrailleusen zu zeigen. „Er kannte welche, Rasende, die ihre Gewehre abfeuern würden, bis sie nicht mehr lebten… Sein Ideal bestand in dieser letzten Hingabe, er hatte kein anderes.“
Ce n’est rien! J’y suis! J’y suis toujours.
Selbst in dem so in der literarischen Strömung schwimmenden „Bateau ivre“, mit dem er sich bei den Pariser Dichtern einzuführen gedachte, hielt er Ausschau nach der künftigen Kraft. Das Schiff ist der Seher der Briefe: das sich auf eine enorme Fahrt begibt. Wo Baudelaire seine Voyage 1859 abbrach (beim bloßen Vorsatz, ins Unbekannte, Himmel oder Hölle, zu dringen), fährt es fort auf dem Malstrom unersättlicher Metaphern: Es treibt, von seinen Treidlern verlassen: frei, dampfend, im Sog violetten Dunsts verschlungen. Freilich, es sieht zuletzt: die Pfütze, die Mutter, die Provinz.
In der Poesie erschöpft sich rapide die Hoffnung; der Realismus verbraucht die Illusionen. Unsere Desillusionierung, in der langsamen Revolution, erfolgt in der Zeitlupe. Wir haben, zähere Leute, mehr Hoffnung verbraucht.
Und etliche sind entnervt; aus dem Kahn gekippt (der „Müggelsee“ weiß, davon zu sagen), Die Mannschaft aber rudert, jeder für sich, in die Flaute, unter dem geteilten, gefährlichen Himmel. Ausgenüchtert, auf der Drift im noch allzu Bekannten. Schlamm und Kies die Wogen in der preußischen Prärie. Grauer Sand Gegenwart graslos: wenn ich recht sehe. Ernüchterung ist die Arbeit unserer Literatur. Arbeit gegen die Deckgebirge der Verheißungen, wenn wir uns nicht zu „Propheten von übermorgen“ machen wollen. Diejenigen (um Brechts Gedanken zu benutzen), „die den Kommunismus lediglich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten“ vorschlagen, „ihn gleichzeitig natürlich auch als Ausnutzung geschaffener ebenso bestimmter und benennbarer Möglichkeiten“ herbeizuführen gedenken, wir hier also, müssen uns fragen, ob wir „nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere Möglichkeiten außer acht gelassen“ haben, die den Völkern gegenwärtig näher liegen. Darunter der Weg in den Sumpf, und in die Barbarei, in die Vernichtung. Der Kommunismus, als Erbteil des Klassenkampfs, mit der Menschheit und der Natur beladen, bleibt im Sozialismus subversiv wie die Poesie: wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben.
„Wir lernen“, sagt die Lehrerin Geneviève in den „Tagen der Commune“ – und dieses Wir ist das Pronomen der poésie objective −, „wir lernen… Ich spreche nicht von dir und mir, ich sage ,wir‘. Wir, das sind mehr als ich und du.“ Und sie stirbt.
Le Bateau ivre / Schiff im Land. Sommer 1871, Charleville: Das trunkene Schiff. Die Übersetzung von Löffler. Sommer 1963, Dresden-Rochwitz: Schiff im Land. Später wurde aus dem Schiff ein Eisenwagen.
Alchimie du verbe, Theorie notiert sich der Autor als Herausforderung. Rimbaud, der Besessenste, nahm sie an als ein Schicksal „… all diese Dinge sind für mich, für mich, für mich geschaffen! Für mich hat die Menschheit gearbeitet, gelitten und Opfer gebracht – um meinen unstillbaren Hunger nach Erregung, Wissen und Schönheit zu stillen… niemand wird sich wundern, daß schließlich ein letzter Gedanke dem Gehirn des Träumers entspringt: Ich bin Gott geworden!“ hatte Baudelaire geschrieben. Der Mann war tot, und alle die lebenden Berühmtheiten fand Rimbaud lächerlich. Das Hochgefühl des raschen Gelingens pumpte sein Selbstbewußtsein auf. Was bei Baudelaire Experiment war, zynisches Spiel, nie vollzogener „Verkauf der Seele“, begann er im Ernst. „Ganz gleich wohin, nur hinaus aus der Welt!“ (tönte der Tote) – aber die Welt war frisch vernagelt; und eben jetzt hatten den Jungen die Treidler verlassen, sie lagen auf dem Friedhof Père-Lachaise oder in Neu-Kaledonien. Zwar verfügte er, diktatorisch, über alle erdenklichen Landschaften – aber nur kraft seiner Einbildung, Es mußte ein Alleingang werden, in seinem Kopf herum. Es fing harmlos an als Übung, mit intuitiven Versen. Er wurde vertrauter mit der einfachen Halluzination: ohne weiteres sah er eine Moschee an der Stelle einer Fabrik, eine Schule, in welcher Engel das Trommeln lehrten, Kaleschen auf den Straßen des Himmels, einen Salon auf dem Grund eines Sees… er sah dies alles an der Stelle der uninteressanten Wirklichkeit, die keinen Durchblick bot. Dann verdeutlichte ich meine magischen Sophismen mit Hilfe der Halluzination der Wörter! Nicht nur der Gedanke, der dem Gedanken folgt – auch das Wort, das aus dem Wort folgt, im Sog des Lauts. Nicht nur der assoziierte Sinn, auch der assoziierte Klang. Das ist freilich ein Zauber, man höre nur. Und eine Lust: als ein schöpferischer Impuls (beim Schreiben und beim Lesen), Aber diese bekannten Möglichkeiten brachten ihn noch nicht ins Unbekannte. Die Sprachmagie langte nicht hin, einen Gott zu machen; woher die übernatürlichen Kräfte reißen? Er mußte Gewalt brauchen. Baudelaires verdammtes Buch hieß: „Les Paradis artificiels“ … Vive l’Académie d’absomphe, schrieb Rimbaud (Wohnort: Parmerde, Juinphe 72), auch wenn die Kellner bösartig sind! Ein feines und zartes zitterndes Kleid, der Rausch, den dieser Salbei der Gletscher uns schenkt, der Absumpf! Aber auch nur, um hinterher in der Scheiße zu schlafen! Nach dem Absinth endlich Haschisch, das probate Mittel. In „Matinée d’ivresse“ frohlockte er: Trunkenheit! – und wäre es nur eine Maske, die du uns gabst: Methode, wir bejahen dich!… Wir glauben an das Gift. Und wissen unser Leben hinzugeben – kindische Methode; er fiel auf Baudelaire herein. Er ließ auch seine inneren Treidler, die Sinne über Bord gehen. Für einen Traum – ich zitiere ihn böse −, der grober Faulheit entsprang. Das Enthemmen der Sinne und das Freischaufeln des Unterbewußtseins ist notwendige Arbeit des Dichters – die F r e i h e i t beginnt jenseits. Das Halluzinationen offenbarte ja (Baudelaire:) „durchaus nichts anderes als die gesteigerte eigene Natur“… die er doch verwandeln, bereichern wollte. Künstliches, nicht künstlerisches Verfahren. So begann die Zukunft der Poesie, wie die Zukunft oft, als Zerrbild ihres Entwurfs. Als Rimbaud den faulen Zauber begriff, retirierte er aufs mütterliche Gut in Roche und schloß sich wochenlang auf dem Speicher ein. „Während der Arbeitsstunden hörte man durch die Decke immer wieder das Schluchzen, unterbrochen von Seufzern, Stöhnen, Kichern, Zornschreien und Verwünschungen“ erinnerte sich die Schwester Isabelle. All diese Laute sind in „Une saison en enfer“ zu lesen. Im Entwurf zum Abschnitt „Delirien II Alchimie des Wortes“ notierte er:
Nach und nach ging es vorbei
Ich hasse jetzt die mystischen Aufschwünge und die Bizarrerien des Stils.
Jetzt kann ich sagen, daß die Kunst eine Torheit ist.
In der törichten Kinderstube der Moderne halten sich immer wieder die Poeten fest. Futuristen, Surrealisten, die beat generation richteten sich darin ein, mit Manifesten als Mietverträgen, und schlossen ihre automatischen Schreibmaschinen an den Bewußtseinsstrom. Der Surrealismus war für Breton, Aragon, für Soupault, ich fragte ihn: die „große Befreiung“. Die Befreiung, antworte ich, auch von der Last, von der Erniedrigung, ein Arbeiter zu sein? Die „Automatisierung“ des Schreibens macht den Dichter arbeitslos. Die Technik aber sein Werkzeug. Es darf ihn nicht ersetzen; so enorm er sie entwickelt, sie ist nicht Zweck, sie ist Mittel, die Wirklichkeit zu öffnen, Und anders als es die Zeitungen können (die haben ihre eigene Technik, „metallisches System“, sagt Weiss, der Ordnungssprache, Rotationsdruck). Der „schwarze Schnee“ auch unter der Oberfläche der Vernunft, „diese unberechenbare Masse von Emotionen, diese Wildnis, dieses Ausgeliefertsein an die Triebe“, und „das Eigentliche… wo die Träume sich abspielen“. Kunst kann diese Kluft überbrücken (sichtbar machen), in der Behauptung der schmerzhaften körperlichen Konkretheit ihres Materials. Sie kann konstruktiv sein, gerade weil sie aus den Widersprüchen baut. Rimbaud hat geahnt, welche Quellen er an das Röhrenwerk der Dichtkunst anschloß – und wie trübe sie fließen willkürlich verrührt. (Kerouac, der führende Beatnik: „Sei immer blödsinnig geistesabwesend! My style is based on spontaneous get-with-it unrepressed wordslinging.“) Unsere vermeintlichen Neutöner, Hausbesetzer in den romantischen Quartieren (wo sie sich ordentlich führen), sind wohl gute Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen. Hucker, nicht Maurer. Aber auch in dem Schüttgut werden Reize, Assoziationen, Anstöße geliefert; in dem bedeutenden Wortmüll sind verschwiegene Gefühle und Gedanken deponiert, die uns, s e l b s t r e d e n d mehr zu sagen haben als die gestanzte Festtagskunst, Technisch die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe. Und wenn der Gebrauchswert gegen Null strebt, wird Dichten Beschäftigungstheorie, „siegreiche Monomanie“ nannte es Baudelaire.
Und ich rede noch nicht von unseren élans mystiques, von der künstlichen Steigerung der braven Ichs zu einem behaupteten Wir. Einem Wir ohne soziale Differenzierung, einem Phantom der Gemeinschaft, während wir, auf so vielen Feldern, noch immer leibhafte Einzelbauern sind. Die reale Mystik des Sozialismus, der stumpfe Sinn der Planung. Die Frohe Zukunft in den Baubaracken. Die Sprichwörter unserer politischen Magie.
In dem entsetzlichen Moment, als er seine Verrücktheit benannte, wagte Rimbaud unter das Kapitel zu schreiben: Heute weiß ich, die Schönheit zu grüßen.
Aber was grüßen wir, die wir mehr sehen als je ein Mensch sah?
Wüsten der Liebe. Aber die Orgie und die Vertraulichkeit der Frauen blieben mir versagt. Nicht einmal ein Gefährte. Ich befand mich vor einer rasenden Menge, dem Vollstreckungskommando gegenüber, weinend über das Unglück, das sie nicht verstehen konnten, und verzeihend! Aber sein Unglück lief herum mit grinsendem Trotzkopf. Er unterschrieb, mit sechzehn Jahren, als der Ohne-Herz (doch die Operation sollte länger dauern). Und überblickte, mit siebzehn, tausend Witwerschaften, Enttäuschungen seiner Hingabe – an die Kirche (die Jungfrau war nur die im Buch gemalte), die Schule (die Wissenschaft ist zu langsam), den Lehrer Izambard. Die Briefe an Letzteren zeigen den raschen Umschlag von Liebe in böse Verachtung; Roheit aus Verletzlichkeit. Die Frau war nicht die barmherzige Schwester, die ihm helfen, konnte:
Riesenäugige Blinde, ders nie scheint zu tagen
In jeden unsern Kuß mischt sich ein falscher Ton:
Du Brüsteträgerin, wir müssen dich ja tragen
Du hängst uns an, schwer und betörende Passion.
Dein Hassen, deine starre Stumpfheit, deine Schwächen
Die Brutalität, die einst niederschlug auf dich
Du gibst sie uns, o Nacht, und nicht, um dich zu rächen
Wie überflüssig Blut, das strömt allmonatlich.
− Nur kurz: trägt er das Weib, mit wachsendem Entsetzen.
Das hatte er hinter sich. Der Knabe. Und Verlaine, der Höllengefährte? Rimbaud ließ ihn, im spöttischen Rollentext, seine, Rimbauds!, geheimnisvolle Zartheiten (ja e i n d r i n g l i c h e Liebkosung) bezeugen und fortfahren: das ist kein Mensch. In Brüssel schoß Verlaine auf ihn. (Später: Wühl diesen Dreckhaufen nicht auf) Blieb er selber, in seiner Eigenliebe – die nach seinen Verbrechen im Selbsthaß loderte. „Rimbauds Stolz war immer wie eine offene Wunde, er hatte keinen Panzer, um sich gegen Demütigungen zu schützen“ – er reagierte mit der Zote. Aber tief in ihm die Hydre intime sans gueules / Qui mine et désole. Er mußte sich selbst demütigen, ein Provokateur auch gegen sein Talent wieder Picasso gleich, alle beherrschten Formen verlassend. In den „Illuminations“ gelangen ihm seine freiheitlichsten Texte, umstürzlerisch in allen Mitteln: Prosaform, sachliche Distanz und Ironie, Verfremdung durch Disparatheit des Materials und Offenheit der Bedeutungen. Es ist wirklich eine autonome Sprache, Emanzipation von Lebenssinn jenseits der Konventionen. Er konnte nun das Eigene sagen: im Moment der Verzweiflung, après le déluge, als das Schiff versank. Der radikale Bruch, die ästhetische Revolte: aber nun nur als kunstvolle Inszenierung. Wie bei Müller das Theater, mangels gesellschaftlichen Spielraums, zusehends zur Lyrik gerinnt, wurde in den „Illuminations“ die Lyrik zusehends Theater. Rimbaud gab Vorstellungen davon, was sein könnte, er stellte eine imaginäre Bühne auf mit den unterdrückten Figuren und verdrängten Welten, mit einem Fundus von provozierenden Visionen und Impulsen – um die Komödie mit dem Blitz seiner Einsicht zu vernichten (eine härtere SpieIart der romantischen Ironie). Er spielte nicht mehr die angemaßte Rolle Gottes; er war der Halbheit seiner Kunst gewahr. Die betörendsten Texte zeigen zugleich Aufbau und Zerstörung ihrer Struktur, ein immer wieder geprobter Abschied. Er putzte diese Geliebte herunter, bis er schließlich auch sie verstieß: Poesie? Spülicht. Er war nicht Realist genug, die Wahrheit zu ertragen. Auf jede Freude habe ich, sie zu erwürgen, den dumpfen Sprung des wilden Tiers gemacht. Er suchte die Wüste; „kein Getriebener, sondern ein Aktivist seiner Erfahrungen“. Nichts, nichts hier macht mir Illusionen, um mit ihnen das Leben zu fristen – er wollte alles Unglücklichsein freilassen. Mit neunzehn hat er den Vorsatz verwirklicht. Es wird mir gestattet sein, die Wahrheit in einer Seele und einem Körper zu besitzen. Der triumphierende Schlußsatz seines Höllenbuchs enthält die Summe seines Scheiterns, die kleinmütige Nachricht eines nicht zu Rettenden. Er hatte sich selbst zur Wüste gemacht.
Dieses unsichere Kind, diesen wilden Toren können wir nicht umarmen, oder nur, um uns mit seinem Dämon auf dem Boden zu wälzen.
Ich sehe in den Spiegel dieses leeren Blattes, um mich wahrzunehmen. Ich beschreibe es mit meinen Zügen. Ich in der Haut meiner Freundlichkeit, meiner Beherrschung. Darunter, verborgen, meine Begierden, meine Eitelkeit, Unaufrichtigkeit. In der Tiefe, im innersten Gewebe, Zärtlichkeit, Furchtlosigkeit, Gemeinheit, meine Freiheit. Aus welcher Tiefe heraus schreibe ich. In der Hülle aber lebe ich. In dem Panzer. Ich lebe in Ungeduld, unfähig, mich ganz hinzugeben. Daher rührt meine Obsession: auszubrechen aus den Zwängen. Aus dem Panzer zu brechen.
Aber ich stehe auch Panzern gegenüber.
Immerhin, ich nehme keine Befehle entgegen. Ich folge dem Ratschluß meiner Glieder. Ich will die Verantwortung tragen. Und doch, ohne die Literatur und die Gesellschaft zu verlassen, schleppe ich mich durch die Kälte der fadenscheinigen Beziehungen und zehre vom Kleister der Hoffnung. Ein gebremstes Leben. Meine Orientierungen sind kühl, amtsmäßige Daten, einer kaum kenntlichen Person. Ich führe nur Buch wie ein Kommis.
Beschriebenes Blatt. Unmöglich ist, sagt eine heutige Frau, sich „eine behagliche, ,passende‘ Identität aufzubauen“. Ich habe zu tun, die Rollen zu tauschen, die Rituale zu verlernen. Aufbauen, „bau auf bau auf“, können wir V e r h ä l t n i s s e: mit unseren weichen, wütenden Leibern.
Um nicht mehr die Knochen in die Mühle zu reichen. Der Staat, die Wüste der Liebe. Die Wanderdüne durch die Zeiten. Der Sand der Gewalt. Mit den dienstlichen Liebespaaren noch immer, Hinze und Kunze, in fester Umarmung. „Das Raffinement der Varianten wird gähnender Langeweile abgetrotzt, die überall sich ausbreitet, wo Handeln unmöglich wird, nichts bewirkt, sinnlos ist, weil die nächsten ,Sieger der Geschichte‘ schon die Tür eintreten“: ein altes mechanisches Spiel.
Wir können das Spiel beenden, und keiner wird Sieger sein. Wir werden lebend den Panzer verlassen. Die Wüste wird nicht mit Schweiß bewässert, und nicht Sperma macht sie grünen, sondern die befreite Arbeit. Wir sehen Frauen neben uns, die wir lieben können. Frauen, nicht mehr geknebelt im Haus, in Abhängigkeit, in Dumpfheit. Frauen, die unser Leben teilen, in den enteigneten Betrieben. Und sich ihm versagen: nicht gedrückt in die winterliche Struktur. Frauen, die schreiben, mutiger, schonungsloser, entschlossener als wir. Es wird uns gelingen, die Liebe zu erfinden, Wir gehn über die grauen Wiesen. Wir grüßen den lautlosen Regen über dem Leunawerk. Wir stehen vor dem Horizont, wo die Alten hinsanken, verbraucht von wunschlosem Unglück.
An der armorikanischen Küste. „Wenn der Dichter nicht länger für die Gesellschaft, sondern nur für sich selber sprechen kann, befinden wir uns im letzten Schützengraben.“ Er stand an der Küste und sah in den Nebel. Er hatte den Kontinent durchschritten und auch die greifbare Zukunft abgegrast. Die Strände am Himmel, bedeckt mit hellen heiteren Nationen, verblaßten. Seine wilden Zweifel würden fortan nicht zu Taten werden. Das Leben war, so w e i t e r s a h, nicht zu ändern. Er war am Ende seines Witzes. Am schlausten ist, diesen Kontinent zu verlassen. Ein Neger sein, ein Bauer. Die Weißen landeten, mit der Kanone/der kanonischen Satzung. Sie tauften, kleideten ein, trieben christlich zur Arbeit. Industriedunst, undurchsichtig. Auch seine Hölle hatte ein Weißer geöffnet: Christus in Gestalt von Monsieur Prudhomme, dem Kleinbürger. Rimbaud hatte mit den Bourgeois kämpfen können, der Kleinbürger rang ihn nieder. Schnürte ihn in seine einzige Haut. Verhöhnte ihn, weil seine Ideale Schimären seien; Du darfst eine Hyäne bleiben, etc… Stolz wie er war, verließ er schweigend den Kampfplatz. Der Stoß der Gnade hatte ihn ins Herz getroffen. Ich kann nicht mehr sprechen. – „Ich habe niemals Hölderlin geheißen.“ – „Wie lang ist es her, seit ich aufhörte, mir ähnlich zu sehn.“ (Lautréamont) Aus seiner absoluten Macht entlassen, hatte er „Charakter genug“ (Friedrich), schlechten Charakter, zu verstummen: Er war nun réellement jenseits des Grabes und wie der Kleinbürger auch: ganz ohne Auftrag. Das Ende des Dichters. Er wurde der „Mann mit den Windsohlen“, Waffenhändler in Afrika, der „Hottentotte“. Das Leben ist nichts als Elend, Elend ohne Ende.
Die Küste Europas, unter unsern Füßen Plastikmüll, gedunsene Fische, der Schrott der Kriege. Die fetten Leiber gegen das Gemurmel des Meers gebreitet, Windflüchter, von den Sendern besudelt. In unserem Rücken die Megamaschine, die langsam vorwärts drängt in den Schlick. (Es kann auch eine Steilküste vermutet werden; der Himmel ist dunkel, oder ist es der Goulasch auf unseren Augen?) Was seh ich denn, in diesem Schützengraben, der mit wahnwitzigen Waffen bestückt ist. Wenn wir noch für uns sprechen wollen, müssen wir für die Welt sprechen. Schwefelgelber Horizont, ein brüchiger Reifen. Diese Wolken tödlicher Jauche, entsetzliche Verhöre auf Zeitungspapier. Der Donnergang der Industrie, der Duft und Erde erschüttert. Die Gelben landen, die Schwarzen, die Braunen! Gewehre und Programme. Der Kolonisator packt die Luftkoffer. Die Unterdrückten buchstabieren ihren Namen. Ah, wie sie in dem Strudel rudern unseres leuchtenden Standards. Supermärkte empfangen sie, Raffinerien der Ideologie. Die Interessen verkabelt für die Religion vom Neuen Menschen. Mein Paradies wurde vom roten Soldaten geöffnet, mit dem der Genosse Haltsmaul auf die Welt gekommen ist, (Es ist eine Steilküste: jetzt reißt der Himmel auf, der Sperrmüll der Revolutionen ragt bis in den Schritt.) Was kann ich für euch tun, meine dunklen Brüder. Keine Gesten mehr. Wenden wir uns um in unser Unglück. Gehen wir wieder in das alte Land hinein. Keine Ausflüchte; wir müssen ins Innere gehn. Das ist ein schrecklicher Gang: in das Ende der Schrecken. Kommunismus oder Barbarei. Wir werden den Kontinent nicht verlassen. Die Unterdrückung, begraben wir auf diesem blutigen Grund. Über den Gräbern empfange ich den Auftrag. Die Paradiese nicht noch die Hölle: der „Aufenthalt auf Erden“. Realismus. Er wird uns ins innerste Afrika führen. Blindflug. Den Menschenfragen / Dem Commune-Elan / Heißt es hier entsagen / Und du fliegst hinan übersetze ich hart eine luzide Strophe. Mag der Leser sehen. „Nur dem, der das Glück verachtet, wird Erkenntnis“ – diesen Satz hieb sich Trakl zurecht, der Rimbauds Werk „als Steinbruch benutzt hat“ (Grimm). Wir müssen ihm diese Erbschaft streitig machen. Rimbaud hat das Glück gehofft, und es hat ihn getäuscht. Trakl, der sich auch sein Fegefeuer bereitete (die Schwester hatte hergehalten), begnügte sich mit dem Bruzeln seines Seelenfetts. Lyrik der Ablaß des Alltags; er blieb darin, in „dem so unendlich banalen Banalen“, er sah nicht durch seine Verhältnisse durch. Und formulierte das Bleiben; es ist, so erschütternd sie immer empfunden sind, ein Bleiben bei den alten Bildern. (Die Moderne arbeitete ein dutzendmal den Steinbruch durch.) Fühmann zeigt, wie Trakl, gerade wo er etwas Neues sah, ins Klischee zurückfiel. Die kühne Strophe
Traumsüchtige wandeln, die ein Wunsch, verzehrt.
Arbeiter strömen schimmernd durch ein Tor.
Stahltürme glühn am Himmelsrand empor.
O Märchen in Fabriken grau versperrt!
lautet in der 2. Fassung:
Ein Knabenlächeln, das ein Wunsch verzehrt.
Verschlossen starrt ein altes Kirchentor.
Sonaten lauscht ein wohlgeneigtes Ohr;
Ein Reiter trabt vorbei auf weißem Pferd.
Verlust der Sehkraft in der bevorzugten „Dämmerung“. Die Visionen verfallen und bezeugen einen Verfall; der Dichter beansprucht seine Ohnmacht bis in das Wort. Wer das Glück verachtet, sieht nicht durch die Tore. Es bleibt uns die peinigende, süße Faszination einer Blindensprache.
Einst in der klassischen Helle der „Kunstperiode“ beredeten sich die Dichter, die Augen zu schützen, mit einem grünen Schirm, oder der vorgebundenen Serviette. So kam es zu dem bedeutenden Blindekuhspiel auf den Weimarer Wiesen, wo SchiIler, seinen Affekten „Würde“ gebend, „alle Vorteile der Natur, ohne ihre Fesseln mit ihr zu teilen“, genoß – mit dem Recht eines Mannes, für den „der ganze Zauber des Erhabenen und Schönen in dem Schein und nicht in dem Inhalt liegt“. Er wich dem „Pöbel“ aus, um das, „ideale Allgemeine“ zu fangen; dem Pöbel, den er zwar „scherzend und spielend zu sich“ auf die elysische Flur „heraufzuziehen“ gedachte. Er tappte mutig voraus, bemüht, „Seltenheiten“ zu vermeiden, als welche freilich das Leben sind; doch „das Leben ist nicht für sich selbst… wichtig“. Dennoch, nach „Umgang mit Goethen“, in „Goethens Gebiet“, probierte er zuletzt wieder, „durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealität“ zu „entschädigen“. Die Binde aber gab er weiter, an Baudelaire auch, der dankbar verlautbarte: „Es ist das wunderbare Vorrecht der Kunst, daß das Schreckliche, kunstvolI ausgedrückt, zur Schönheit wird und daß der rhythmisierte, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt.“ Vielleicht dürfte man sagen, daß die Décadence mit der Weimarer Abbiegung Schillers begänne – wenn jene der feigen Würde nicht entbehrte und nicht gierig, durch die Finger, und schlechten Gewissens, in das Elend starrte.
Eine dritte Prozession am Stocke seh ich, voran geht ,ihr die glückliche E r b i n eines Vermögens, sie nennt es: „Freisetzung und Entgegensetzung nichtintegrierter und nicht einzuordnender Realität, des Klangs oder der lexikalischen Assoziation, des Schriftbildes oder der Bedeutung, gegen ein verantwortungslos lineares, aggressiv totalitäres Verständnis. Oder anders gesagt: eine spielerisch willkürliche Bevorzugung des Unwillkürlichen und Unterdrücktgewesenen.“ Ich habe mich dem Zug angeschlossen, oder schleiche längst in die Richtung, aber nicht blind. Die Erbin glaubt, dies Vermögen zu erhalten, müsse sie es dem öffentlichen Zugriff entziehn, der sattsam bekannten Forderung des Tages. Es diene nicht sozialen Zwecken: da käme sie nicht weit mit ihrer Kunst! sie brauche es für sich. Weitergehenden Ansprüchen müsse sie sich verweigern. Sie müsse das Vermögen einsetzen, der, wahrlich dubiosen, Arbeit der Gesellschaft eine unbehelligte Individualität entgegenzusetzen; jedes Verausgaben in den größeren Widersprüchen (in den Sozialismus z.B.) sei Preisgabe des Eigenen. Kein Wunder, daß sie hinter dem Text nach „knabenhafter Reinheit, Unschuld, Gespanntheit und Zartheit der Jugend“ sucht, aber in dieser Gestalt kann man sich nur im Reservat der Poesie pure zeigen. Beim Gang in die Tiefe unserer wahnwitzigen Wahrnehmung verliert die Poesie ihre Unschuld, wird sie besudelt von Scham und Lust, wird sie alt wie die Not. Sie kann nicht ihre Jugend retten, sie muß den Tod suchen, das neue Leben. Poesie entsteht im Widerstand und in der Solidarität, und wie die Worte der Verwandlung heute heißen; kein frommes und kein apparatliches Vokabular, es sind die Worte der Straße. Der Einzelne und sein Eigentum, meint unsere Flip-out-Elke, nur ist dieser doch ein armer Mann. Literarische Befreiungseffekte, nicht die Befreiung der Literatur; das Ordnungsmodell und der Harmoniezwang werden bei dieser Erb-Sache umgangen, aber nicht zerbrochen, Das verlangt radikalere Sätzlein; noch einmal und mit Müller zu reden: Zerreißung der Fotografie des Autors. Sie hält sich am eignen, geduldigen Faden, so webt sie nur mit am Programm der neuen Romantik.
Das innerste Afrika. Die späten Gedichte des jungen Rimbaud gelten für unergründlich, nicht zu betretendes Terrain. „,Les Illuminations‘ sind ein Text, der nicht an den Leser denkt. Sie wollen nicht verstanden werden.“ Rimbaud selber sagt, am Schluß von „Parade“: Ich allein besitze den Schlüssel zu diesem sonderbaren Spiel. Das glaubte man ihm; ein Gott konnte nur Monologe murmeln. Aber ein Gott hätte nicht solche Stöße Papier verbraucht für ein Gedicht.
Verschlüsselt ist poetische Mitteilung allemal, es macht ihre Eigenart, daß die scheinbar unverfängliche Notierung doppelten Charakter hat, Ausdruck und Inhalt gekoppelt sind in Zeichen, Zeichenketten, im Gesamtzeichen des Gedichts. Die Worte das Chaos, der Unsinn; in den Zeichen ist der Inhalt modelliert, Chiffrierung, die die vielfältigen Informationsebenen, auch die außersemantischen, der natürlichen Sprache ineinanderschließt. Eine Zwiebel aus Sinn, Matrjoschkapuppe (sagt Lotman), mit innerlichen Seelen, semantische Verdichterstation. Texte aber wie die „Illuminations“, die so bewußt Wahrnehmung und Sprache erneuern, konnten nicht mit üblichen Chiffren arbeiten, sie sind auf jeweils eigenen Kodes aufgebaut. Man wird sie nicht knacken mit einem unwirschen Blick. Wir müssen uns auf eine Forschungsreise begeben ins Innere, bereit ein Abenteuer zu bestehen. Wir haben zunächst spärliche oder verwirrende Anhaltspunkte. Ästhetische Wanderkarten helfen nicht weiter, wir müssen einen unbekannten Pfad finden durch die Bedeutungsschichten. In gemuten Lektüreschritten in die undurchsichtige Konstruktion, vorwärts und zurück blickend, die tragenden Teile abklopfend (jedes, Teil trägt), den Zusammenhang suchend aus Klängen, Parallelismen, Mehrdeutigkeiten, Brüchen, Widersprüchen; Muster entdeckend oder besser gesagt: die Strategie der Worte, um endlich, den Kampf verfolgend, den die Struktur austrägt, an einem (einem?) Punkt herauszusteigen – um was nun zu (die Expedition kann scheitern in den Schrecken, sie mag sich wieder auf den Weg machen. Sie muß sich ausrüsten, alle kritischen Kräfte aufbieten und sinnliche Energie. Diese Poesie ist ja keine Zuflucht, sie ist ein Arbeitsraum. Laboratorium, wo nicht das Gold absoluter Wahrheit gesucht wird, sondern das akute Material der authentischen Erfahrung) – um was nun zu sehen? Daß das Chaos kalkuliert ist. Es läßt sich nicht auflösen in eine gängige Sprache, aber es liegt jetzt in einer Helle. Wir halten ihr stand, wir öffnen die Augen, die Seele: wir können ein Land erschließen. Wir können s c h a l t e n in dieser neuen Welt. Die unerhörte Freiheit, die sie in sich verwirklicht, muß uns aus unseren Städten stören. „Der Mensch wird aus seinen Unterständen heraustreten, und im Angesicht der Zauber und Entzauberungen“ (so sagt es Eluard) „wird er sich berauschen an der Kraft seines Taumels. Dann wird er nicht länger ein Fremder sein. Alle elfenbeinernen Türme werden niedergerissen… werden. Wir haben alle den gleichen Rang.“ Während Rimbaud unfaßbar davongeht in die Somaliwüste, stehen wir in der gleißenden Weite seines Gedichts.
Le nu harmonieux. „Sie versäumten etwas, daß Sie nicht auf der letzten Versammlung der Affreux Bonshommes anwesend waren. Dort wurde ein höchst beunruhigender, noch nicht achtzehn jähriger Dichter von Paul Verlaine vorgeführt… Große Hände, große Füße, das Gesicht eines dreizehnjährigen Kindes, tiefblaue Augen! Sein Temperament ist mehr wild als sanft. Das ist der Knabe, dessen Phantasie eine Mischung von gewaltiger Kraft und unerhörter Verderbtheit ist. Er hat alle unsere Freunde fasziniert und erschreckt… ,Der Teufel inmitten der Schriftgelehrten.‘“ (Valade in einem Brief an den Kritiker Blémont) Die Bonshommes aber ließen den Störenfried nicht mehr in ihre Lesungen ein: der für ihre Dichtungen nur ein Wort fand, Scheiße Scheiße Scheiße. Die französische Literatur ließ es sich nicht bieten! Sie verstand sich, nach der nationalen Katastrophe von 1871, als „redressement moral“. Sie hielt die Stellung auf dem Parnaß, sicher vor der Geschichte, die so ungeheure Veränderungen bereithält. Heitere Höhe, auf die sich die Schönheit flüchtete; man öffnete die Antiquitätenläden wieder für das nostalgische Bewußtsein der Epoche. Wozu sich hinabbegeben in die unordentliche Wirklichkeit? Die alten Stoffe erlaubten die harmonische Behandlung, die den beruhigten Klassen zu gönnen war. Hier oben lag das „Glück der Ferne leuchtend nah“.
In Übereinstimmung mit den Beschlüssen und der realen Harmonie unserer Kunst schließe ich mich über ein Jahrhundert hinwegsetzend den Vorrednern an, und unterstreiche die Notwendigkeit, entsprechend der ernsten Lage und der allgemeinen Beschränktheit der Mittel das Erreichte zu festigen und zu stärken. Wir müssen jeden Groschen unseres Verstandes dreimal umdrehen und fragen, ob wir ihn ausgeben können und wofür, wir müssen die Ideen einsparen und und nicht an Experimente verschwenden, und vor altem kommt es jetzt darauf an, die eigene Ungereimtheit, einmal beiseite zu lassen und uns auf den Hauptfeind, zu konzentrieren, die unbeschreibliche Hochrüstung, mit der wir vollauf zu tun haben, endigte der Satyr.
Volker Braun, 1983, zuerst erschienen in Sinn und Form Heft 5, 1985
das frühreife Dichtergenie, Zeitgenosse der Commune, erfüllte ein kraftvoll sensuelles und dynamisches Wirklichkeitsverhältnis, dem er in neuen, ursprünglichen Sprachgebilden und kühnen Metaphern Ausdruck verlieh. Aus radikalem Protest schuf er seine das Unbekannte erobernde Dichtungen, die geprägt sind von neuartiger Wahrheitssuche, von der Vision einer Gemeinschaft jenseits der bürgerlichen Ordnung. In überwiegend neuen Nachdichtungen stellt die Ausgabe ein Drittel des Gesamtwerkes Rimbauds vor, mit Schwergewicht auf den explosiven Versen des Dichters. Im Anhang belegen Texte die Annäherung von DDR-Autoren verschiedener Generationen an Rimbaud, herausragend der Essay von Volker Braun.
Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Ankündigung
Karl August Horst: Der Mythus um Rimbaud, Merkur, Heft 94, Dezember 1955
Hans-Thies Lehmann: Die Sprache neu (er)finden. Anmerkungen zum Thema Arthur Rimbaud, Merkur, Heft 399, August 1981
Maurice Choury: Rimbaud – Der erleuchtete Kommunarde, Sinn und Form, Heft 4, 1971
EIN PSEUDOROMAN ÜBER DAS LEBEN VON ARTHUR RIMBAUD1
Buch II
Kapitel X
Wer bist du?
Was hat vier Beine, drei Füße und spricht selten mit jemandem? Eine Leiche.
Was ist in der Ferne zu erkennen, wenn das Gewisper von ein paar überwundenen Vorstellungen oder Leben oder selbst Träumen plötzlich unüberhörbar wird?
Ein Geist.
Was lebt ewig, hat sich drei Knoten in seinen Regenbogen geknüpft, spart seine Leidenschaften auf wie ein Eichhörnchen Futter für den Winter, was hat sich von allem Wertlosen losgesagt, hat keinen blassen Schimmer von dem, was Dichter erträumen, und beachtet auch den Fluss nicht
Sie.
Beachte das Fehlen eines Fragezeichens in der letzten Frage, beachte ihre Wurfweite
Eine Niederlage.
Buch III
Kapitel I
Ein ontologischer Rimbaud-Beweis
Ihr Dichterinnen und Dichter unter uns, stellt euch einen guten Dichter vor. Verleiht ihm mögliche Eigenschaften. Er sollte mmmmm und nnnnn und ooooo und ppppp sein, aber vor allem sollte er existieren.
Das nennt man Ockhams Rasiermesser oder ein Seemannsgrab.
Wenn sie ihn mittels ihrer Logik heraufzitieren, dann existiert er nicht. Johannes der Täufer, Flusshändler, Logiker.
Erst wenn es sechzehn, siebzehn, achtzehn wird, wird Das Wort Fleisch. Es ist Das Wort, vor Dem wir alle nackte Einfalt sind.
Wäre Rimbaud vom Storch weggeschafft worden, bevor wir uns auch nur hätten vorstellen können, dass es ihn gibt, gäbe es keine Geschichte.
Während wir auf dem Weg zu unserer Gebärmutter sind, sind hysterische2 Stimmen zu hören.
Buch III
Kapitel II
Das Büro für unzustellbare Briefe
Gefühle tun nichts zur Sache. Ein unzustellbarer Brief befindet sich hier, weil er keine reale Adresse mehr hat.
Hätte Präsident Buchanan einen Brief an Cordell Hull3 (ebenfalls tot) geschickt, würde dieser Brief hier aufbewahrt werden. Das geschieht nicht etwa im Sinne der Zweckmäßigkeit. Vielmehr wird ein unzustellbarer Brief so behandelt, als wäre er doch jemandem zugestellt worden.
Was Rimbaud oder sonst jemand wusste, ist nicht zufällig. Gefühle tun nichts zur Sache. Diese toten Dichter wussten genau, was auf sie zukommt.
Da4 gab es ein Buch mit leeren Seiten, dem die Geister oder ihre Zeit zuhörten. Nämlich dem, was die andern sagten. Wie dem Gold in einem Ohrring.
Ein Blankoscheck.
Oder dem, was die andern sagten. Sterbend schwor Präsident Buchanan auf seine Wahrheit.
Jack Spicer
Übersetzung: Stefan Ripplinger
a.: Arthur Rimbaud
Die Tat, 11.11.1941
Hansres Jacobi: Arthur Rimbaud – ein Leben der Revolte
Die Tat, 23.10.1954
Rüdiger Görner: Die Schwarzkunst der Worte
Die Furche, 14.10.2004
Arthur Rimbaud – Diashow mit Bildern aus seinem Leben, Zeitdokumenten von Charleville, Paris, London und viele von Rimbaud selbst gemachte Fotografien von Adens und Harrar. Dazu handschriftliche Manuskripte von Rimbaud, Zeichnungen von Delahaye und Freunden.
Von Joan Baez gelesene Gedichte wurden mit Musik unterlegt, im Bestreben, ein Bild von Rimbauds Leben, seinen Freunden und Plätzen zusammenzusetzen, das er wiedererkannt hätte.
Großartige Texte zu Rimbaud, insbesondere von Karlheinz Barck, nur: Woher stammen sie? Aus welchem Nachwort zu welchem Buch? Hat dort auch Volker Braun geschrieben? Können Sie bitte die Quellen ergänzen? Vielen Dank!!
Wenn ein Text mit „Nachwort“ gekennzeichnet ist, handelt es sich ohne weitere Erwähnung immer um das Nachwort des vorgestellten Buches. Ebenso die „Nachbemerkungen zu den Übersetzungen“.
Volker Brauns „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“ erschien zuerst in Heft 5/1985 der Zeitschrift Sinn und Form – Angabe wurde ergänzt – ist aber auch in Arthur Rimbaud: Gedichte abgedruckt.
die schatten flüstern du du du
die schatten flüstern du der tod
Einfach echt klasse was sich mir hier beim Lesen über A. Rimbaud neu offenbart. Die dbzgl. soundfiles fügen sich wunderbar ein.
… bin totaler Enthusiast was diesen Dichter der Worttiefe angeht.
Herzlichen Dank für diese Aha!Momente
l. G.