I. AN GEORGES IZAMBARD
Charleville, Mai 1871
Geehrter Herr!
Nun sind Sie also wieder Professor. Man ist sich der Gesellschaft schuldig, haben Sie mir gesagt; Sie bilden einen Teil des Lehrkörpers: Sie fahren im rechten Geleis. – Ich folge gleichfalls diesem Grundsatz: ich lasse mich wie ein Zyniker aushalten; ich grabe alte Schwachköpfe aus dem Gymnasium aus; was immer mir Blödes, Dreckiges, Mieses einfällt in Wort und Tat, bekommen sie geliefert: zur Belohnung gibt es Wein und Weiber. – Stat mater dolorosa, dum pendet filius. – Ich bin mich der Gesellschaft schuldig, ganz recht – und liege also richtig. – Auch Sie liegen richtig, heutzutage. Letzten Endes sehen Sie in Ihrem Grundsatz nichts anderes als subjektive Poesie: die Hartnäckigkeit, mit der Sie sich wieder zur akademischen Futterkrippe drängen, – Pardon! – beweist es! Aber Sie werden am Ende immer nur ein Rechtschaffener sein, der nichts Rechtes geschaffen hat, weil er nichts schaffen wollte. Ganz abgesehen davon, daß Ihre subjektive Poesie immer ganz abscheulich fad schmecken wird. Eines Tages, so hoffe ich, – und manch anderer hofft es auch – werde ich in Ihrem Grundsatz die objektive Poesie sehen, und reiner sehen, als Sie es vermöchten! – Ich werde Arbeiter sein: dieser Gedanke hält mich zurück, wenn mich tolle Koller zur Schlacht von Paris treiben – wo doch, während ich Ihnen schreibe, die Arbeiter immer noch in Scharen sterben! Jetzt arbeiten? nie und nimmer; ich streike.
Fürs erste lege ich es darauf an, soweit wie möglich zu verlumpen. Warum? ich will Dichter werden, ich arbeite daran, mich sehend zu machen: das wird Ihnen völlig unverständlich sein, und ich bin beinahe außerstande, es Ihnen zu erklären. Es geht darum, durch die Ausschweifung aller Sinne im Unbekannten anzukommen. Die Qualen sind gewaltig, doch es gilt, stark zu sein, als Dichter geboren zu sein, und ich habe mich als Dichter erkannt. Ich kann überhaupt nichts dafür. Es ist falsch, zu sagen: Ich denke; man sollte sagen: Es denkt mich. – Entschuldigen Sie das Wortspiel. –
Ich ist ein Anderer. Was soll man machen, wenn das Holz auf einmal Violine wird? Ein Hohngelächter all den Ahnungslosen, die über Dinge räsonieren, von denen sie nicht das Geringste verstehen!
Für mich sind Sie keine Lehrkraft. Ich schenke Ihnen dies hier: ist es Satire, wie Sie sagen würden? Ist es Poesie? Jedenfalls ist es Fantasie. – Aber, ich flehe Sie an: nichts anstreichen, weder mit dem Stift, noch – allzusehr – mit dem Gedanken:
DAS GESCHUNDENE HERZ.
Mein tristes Herz kotzt auf dem Heck…
Mein Herz, vom Landsermief geschwärzt!
Man schwappt ihm Suppe übers Deck;
Mein tristes Herz kotzt auf dem Heck…
Indes das Pack die Zähne bleckt
Und johlt über den guten Scherz;
Mein tristes Herz kotzt auf dem Heck,
Mein Herz, vom Landsermief geschwärzt!
Die ithyphallisch soldatesken
Grobheiten haben es versaut;
Den Abend feiern sie mit Fresken,
Mit ithyphallisch soldatesken;
Fluten, ihr abracadabresken,
Rettet mein Herz, nehmt ihr es auf!
Die ithyphallisch soldatesken
Grobheiten haben es versaut!
Wenn sie den letzten Pfriem ausspeien,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?
Dann gibts bacchantische Grölereien,
Wenn sie den letzten Pfriem ausspeien!
Quäln sie mein tristes Herz von neuem?
In mir rumorts abdominal!
Wenn sie den letzten Pfriem ausspeien,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?
Das hat sehr wohl etwas zu bedeuten. – ANTWORTEN SIE MIR: An A. R., bei M. Deverriere.
Guten Tag, von Herzen, Art. Rimbaud
Je notais l’inexprimable.
Je fixais des vertiges.
(Rimbaud, „Alchimie du verbe“)
I
Rimbauds Leben und Werk, man weiß es, sind zum Mythos geworden – zum Mythos vom Aufbruch der Dichtung in die Moderne. Heute, rund hundert Jahre nach dem Tod des Siebenunddreißigjährigen – der mit neunzehn als Dichter verstummte, nachdem er die traditionellen Barrieren des Sagbaren, eine nach der anderen, niedergerissen hatte – erscheint der Mythos ungebrochen; und dies aller Banalisierung und Mißdeutung, aller eifernden Mythenzertrümmerung und allem wissenschaftlichen Erklärungswahn zum Trotz. Unsere Rück-Blicke auf eine Geschichte gewordene literarische Moderne, an deren Schwelle Rimbaud steht, oder unsere historischen Versuche, ihn von seinen Vorgängern und Zeitgenossen her zu begreifen, reichen nicht hin – so erhellende Aussichten sie eröffnen mögen.
In der zeitlichen Mitte der knapp vier Jugendjahre, in denen dieses unerhörte Werk entsteht, gibt es eine Kernzone der furchtbaren und fruchtbaren Krise, die Rimbauds rastlose Aufbruchsenergien aufs äußerste verdichtet. Im Frühsommer 1871 – der deutsch-französische Krieg hat die alte Ordnung ins Wanken gebracht, der einstige Musterschüler ist bereits mehrfach aus der Enge des Mutterhauses und der Vaterstadt ausgebrochen – unter dem Eindruck der Pariser Kommune und der sich formierenden Reaktion, definiert Rimbaud sich als Dichter des Neuen und schreibt jenes Gedicht, das sein Programm beispielhaft erfüllen soll und von dem er sich die Anerkennung der Hauptstadt verspricht. Der Auszug aus der Heimat und die Ankunft bei Verlaine in Paris, September 1871, bedeuten den Abschluß dieser entscheidenden Phase, und den Beginn einer neuen.
In diesem Kernbereich des Umbruchs gilt es anzusetzen, will man dem Phänomen Rimbaud näherkommen, das bei aller französischen Inspiration und Irritation unzweifelhaft eines der europäischen Moderne ist. Ziel der vorliegenden Ausgabe ist es, dem deutschen Leser erstmals dieses Herzstück Rimbaudscher Poetik und Poesie in Text, Übersetzung und Kommentar so vor Augen zu führen daß die Zusammengehörigkeit und wechselseitige Erhellung beider Bereiche deutlich erkennbar wird. Dies gilt schon für das Verhältnis der poetologischen Briefe zu den einkomponierten Gedichtproben (die in den existierenden Übersetzungen ausnahmslos gestrichen sind) und erst recht für die Beziehung zwischen diesen manifestartigen Briefen und der (partiellen) Verwirklichung ihres verwegenen Programms in Rimbauds berühmtester Komposition.
Das Folgende ist der Versuch, einige der wichtigsten Zusammenhänge, die diesen Texten ihre eigentümliche Gestalt und Bedeutung geben, so darzustellen, daß dadurch die Einzelbeobachtungen des Kommentars ergänzt werden. Eine Synthese verbietet der Gegenstand.
II
Zunächst ist der biographische und historische Moment von großem Interesse. „Das gräßliche Charlestown“, so nennt Rimbaud die Ardennenstadt Charleville nahe der belgischen Grenze, in der er vaterlos aufwächst und an deren Gymnasium er glänzt. Die Mutter versucht mit engstirniger, frömmelnder Strenge, an Arthur jede Spur jener Charakterzüge zu unterdrücken, um derentwillen sie seinen Vater, einen abenteuerlustigen, etwas leichtlebigen Offizier, aus dem Haus getrieben hatte, als der Sohn gerade sechs Jahre alt war. In jenen entscheidenden Monaten nach dem Ende seiner Gymnasialzeit, als sie den ganz und gar Unwilligen dazu drängt, einen bürgerlichen Brotberuf zu ergreifen, verhöhnt er sie einmal als „eine Mutter, so unbeugsam wie dreiundsiebzig Behörden mit bleiernen Mützen“. In seiner eigenen Unbeugsamkeit gegenüber ihren Pressionen steckt somit wohl einiges vom mütterlichen Erbteil.
Als Napoleon III. (den der junge Rimbaud als Karikatur eines Kaisers verachtet) in den Krieg mit Preußen hineinschlittert, steht Arthur auf dem Höhepunkt seiner Schullaufbahn: Er wird mit Preisen überschüttet und hat seit einem halben Jahr den jungen Literaturlehrer Georges Izambard zum Freund, der ihm seine Bibliothek öffnet; mit ihm kann der in seiner Familie Vereinsamte über Literatur und die eigenen Gedichte wie mit einem Gleichgesinnten reden.
Der rasch näherrückende Krieg verhindert die Wiedereröffnung der Schule im Herbst 1870. Dem abwesenden Izambard schildert ein höhnischer Brief Rimbauds die patriotische Begeisterung von Charleville:
Die Stadt meiner Geburt tut sich an Stumpfsinn hervor unter den kleinen Städten der Provinz… Weil sie zwei- oder dreihundert Landser durch ihre Straßen lustwandeln sieht, fuchtelt diese benedeite Bevölkerung um sich vor spießbürgerlicher Draufgängerei, ärger als die Belagerten von Metz oder Straßburg. Es wird einem angst beim Anblick all dieser pensionierten Krämer, die sich in Montur werfen, ihren Patrouillotismus spazierenführen und das Maul vollnehmen. Meine Vaterstadt steht auf! Mir wäre es lieber, sie bliebe sitzen. Keinen Stiefel gerührt, heißt meine Devise. Ich bin ganz aus dem Häuschen, krank, wütend, blöde, durcheinander…
Die Kriegsereignisse steigern seine Klaustrophobie angesichts des heimatlichen Spießertums und stellen zugleich eine Herausforderung dieser Lebensform dar. Arthurs Aufbegehren macht sich nicht nur verbal, etwa in sarkastischen Kriegsgedichten, Luft – er probt den Ausbruch. Schon Ende August 1870 steigt er heimlich in den Zug nach Paris, wird prompt als Schwarzfahrer in Polizeigewahrsam genommen; auf seinen Hilferuf hin von Izambard ausgelöst, findet er in dessen Haus in Douai Zuflucht, bis ihn der Lehrer bei der erbosten Mutter abliefern muß. Im Oktober folgt eine zweite Flucht: er schlägt sich als Landstreicher zwischen Charleroi und Brüssel durch, hungernd, dichtend und freiheitstrunken, landet wieder in seinem Zufluchtsort Douai (wo er den jungen Dichter Paul Demeny kennenlernt) und muß nach Hause zurück, diesmal in polizeilicher Begleitung. Er weigert sich, an das Gymnasium zurückzukehren, bricht im Februar 1871 erneut nach Paris aus und hungert sich dort wochenlang durch. Der Moment ist denkbar ungeeignet, um eine literarische Laufbahn zu beginnen; dafür erlebt er den Einmarsch der deutschen Truppen und die Machtprobe der Regierung Thiers mit den linksgerichteten Nationalgarden, die sich in der hitzigen Stimmung jener Tage zum Bürgerkrieg auswächst.
Nach Charleville zurückgekehrt, als der Aufstand der Kommune ausbricht, zieht er in den beiden Lettres du voyant, wie die Nachwelt sie taufte, die Bilanz seiner Eskapaden und der Einsichten, die ihre Ekstasen und Bitternisse für ihn als Dichter bedeuten. Wenn er darin über die willentliche Ausschweifung, ihre furchtbaren Qualen und das Bewußtsein des Ausgestoßenseins spricht als eine Askese, die sich der Dichter auf dem Weg zum Sehertum abverlangen müsse, so sind dies auf seiner jetzigen Erfahrungsstufe keine leeren Worte.
Nicht zufällig entstehen diese Briefe, während in Paris die Agonie der Kommune unter dem Granatenhagel der Regierungstruppen begonnen hat. Wenn Rimbaud auch nicht in die Hauptstadt zurückkehrt (wie sein Freund Delahaye später in seinen Erinnerungen behaupten wird) – daß er ganz im Bann der dortigen Ereignisse steht, läßt die Einleitungsphase beider Briefe klar erkennen.
Die Kommune ist ihm ähnlich: Revolte der Enteigneten.
(Yves Bonnefoy)
Er fühlt sich den Unterdrückten und Aufbegehrenden verbunden und seine Manifeste, zugleich Appell und Herausforderung an die bisherigen Leitfiguren, sind ein Akt der Revolte gegen eine als unerträglich einengend empfundene Tradition.
Seine damals entstandenen Gedichte über die Kommune lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Im „Chant de guerre Parisien“ gießt er vom Standpunkt der im Bombenhagel stehenden Proletarier aus seinen Hohn über die Angreifer, in „Paris se repeuple“ fordert er die zurückgekehrten Reichen auf in ihrer feigen Geilheit die wehrlose Stadt zu besudeln wie eine Hure, und in dem titellosen „Qu’est-ce pour nous, mon cœur“ bricht sich eine apokalyptische Rachephantasie Bahn:
Was soll uns das, mein Herz, die Lachen Blut,
Das Wutgeschrei, die tausend Morde, Wimmern
Aus Höllen, jede Ordnung stürzend, Glut
Und Feuersbrunst, der Nordwind noch auf Trümmern,
Was alle Rache? Nichts!… – Und dennoch, ja,
Sie steht uns zu! Hinweg Justiz, Senate,
Macht, Fürsten, Industrie, Geschichte, ah,
Verreckt! Blut! Blut! In goldener Kaskade!…
(übersetzt von Klaus Möckel)
In den Briefen selbst spricht die revolutionäre Angriffslust des Dichters, aber auch seine Stilisierung zum Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, eine deutliche Sprache. Wenn er erklärt, er lege es darauf an, selbst zum Arbeiter zu werden und willentlich zu verlumpen („je m’encrapule“, zu crapule: ,Lumpenpack‘, ,Pöbel‘), so liefert – wie H. Wetzel anmerkt – die Pariser Revolte seiner poetischen Revolution die Stichworte und Metaphern.
III
Die Seher-Briefe sind weder ein esoterischer Text geheimer, verschlüsselter Offenbarung, noch die wirre Aufreihung angelesener Gemeinplätze durch einen Halbwüchsigen, garniert mit pubertärer Aggression gegen die überkommene Ordnung der Dinge, – um gleich die Extrempositionen der Rimbaud-Literatur (die sich selten durch eine emotionsfreie Sicht ihres Gegenstandes auszeichnet) zu benennen. Das Verhältnis des Schreibers zu den Adressaten bestimmt die weitgehend ironische Form der Mitteilung: hier liest, ohne mit Ausrufezeichen zu sparen, der Schüler seinem Lehrer die Leviten, dort der ,neue‘ Dichter dem eher traditionellen Poeten. Im kürzeren Brief dominiert das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung, im längeren die – radikal verkürzte – Dichtungsgeschichte und -kritik. Ein Schreibender, der bestürzend rasch weit über seine literarischen Mentoren hinausgewachsen ist, gibt ihnen und sich selbst in einem Verständigungsversuch – ahnend, daß er seine Adressaten nicht erreichen wird – Rechenschaft über die eigene Entwicklung.
Diese Briefe, so privat sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, bezeichnen den Moment, wo das antiklassisch auftrumpfende Manifest der Romantik (nach Art von Hugos Préface de Cromwell, 1827) zum Vehikel wird, um den weit radikaleren Traditionsbruch der Moderne zu verkünden. Vieles vom Stil und Gehalt avantgardistischer Provokation bei den späteren Futuristen, Dadaisten, Vortizisten und Surrealisten ist hier vorweggenommen: in der Dynamik jenes doppelten Impulses, der der Vergangenheit und der von ihr überschatteten Gegenwart satirisch den Prozeß macht und für den Wortführer des Neuen das Fortschrittspathos einer revolutionären Zukunft beansprucht. Von der ,Hinrichtung‘ Mussets ist es nicht allzu weit bis zu den literarkritischen Schockveranstaltungen der Dadaisten und Surrealisten, wie dem ,Prozeß Barrès‘ von 1921 oder dem ruchlosen ,Nachruf‘ auf Anatole France („Un Cadavre“, 1924).
Beide Briefe, die in engem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, ohne daß der kürzere nur der Entwurf des längeren wäre, sind bei aller Spontaneität und Erregtheit der Schreibsituation in den großen Linien des Arguments durchaus klar. Ihre Grundstruktur wird bestimmt von der Antithetik zwischen ,subjektiver‘ (alter) und ,objektiver‘ (neuer) Dichtung, von Poetik der Zukunft und vergangener Dichtungsgeschichte, sowie vom Ergänzungsverhältnis zwischen (poetologischem) Argument und (poetischer) Illustration. Der Brief an Izambard, nur ein Viertel so lang wie der zwei Tage später folgende an Demeny, zeigt das Bauprinzip im einfachen Dreischritt: These: der Dichter/Lehrer (Izambard, zynisch parodiert von Rimbaud) als subjektiver Diener der Gesellschaft; – Antithese: der Dichter als ,objektiver Arbeiter‘ (Analogie zu den Arbeitern der Kommune; ironischer Anschein der Verlotterung); Gedichtprobe, die jede gängige lyrische Erwartung brutal enttäuscht.
Der zweite Brief verteilt seine aggressiven Gedichtparodien gleichmäßig auf Anfang, Mitte und Ende. Die so entstandenen beiden ,Hälften‘ des Arguments sind wiederum in sich symmetrisch gegliedert: Dichtungsgeschichte (ältere Abteilung) – neue Poetik (Entbehrungen auf dem Weg zum Sehertum) // neue Poetik (Erfüllung als eingelöste Utopie) – Dichtungsgeschichte (Romantiker und Parnassiens). Der Gegensatz zwischen Altern und Neuem wird dadurch etwas abgemildert, daß die sehende Dichtung für sich beansprucht, bei der höchsten und am stärksten gesellschaftsbezogenen Kunstleistung der Vergangenheit anzuknüpfen, der griechischen Poesie – freilich, um sie zu überbieten.
Zu den Strukturelementen, die bei oberflächlicher Lektüre den Eindruck des Widersprüchlichen, Zusammenhanglosen oder Banalen erwecken können, gehört die durchgängige Paradoxie des Arguments und ihre Verbindung mit Wortspielen und Schockbildern, die Grenzauflösung zwischen Eigentlichem und Metaphorischem, sowie der elliptische Stil und die Unterbrechung des diskursiven Teils durch die scheinbar beziehungslos eingeschalteten Gedichte.
Paradox und wortspielerisch wirkt nicht nur die fortgesetzte Mischung aus Ernst und Ironie, sondern auch die überraschende Neudefinition der gesellschaftlichen Pflicht des Dichters als Verweigerung gegenüber den Institutionen der Gesellschaft, der Arbeit als Streik oder aktive Passivität, der Ausschweifung als Askese; der Dichter erscheint als Instrument und Konzertmeister zugleich, als Verfemter und Anführer des Fortschritts, die Seelenbildung erweist sich als Selbstverstümmelung. Das Spiel gipfelt in den grammatischen Paradoxa Ich ist ein Anderer und Es denkt mich.
Solche Paradoxie ist gewaltsame Reaktion auf die existentielle Bedrohung durch eine leerlaufende Welt und Ausdruck eines radikalen Willens zum Umsturz und zur Umwertung der überkommenen ,Werte‘. Wenn die institutionalisierte Bildung eine Form von Prostitution ist, so wird in provozierender Umkehrung dem Dichter auf dem Weg zum Seher die Ausschweifung zur entscheidenden Bildung. Er erleidet, was er sich selbst willentlich zufügt, und der reflexive Charakter seines Tuns, seine Selbstverderbnis, Selbstvergiftung, Selbstentstellung befreit ihn – als horrende Grenzüberschreitung, die die Barrieren zwischen Hoch und Nieder, Schön und Häßlich, Subjekt- und Objektwelt, Norm und Enormität aufsprengt und damit ein neues Sehen möglich macht.
In Rimbauds Übermenschentum leben die mythischen Leitbilder der Romantik, Prometheus und Luzifer, wieder auf und fordern schrankenlose Macht für Phantasie und Sprachgewalt, um die verbrauchte Welt zu erneuern. Doch die Besessenheit des Voyant kommt daher, daß er sich selbst entschlossen in Besitz nimmt; im Gegensatz zu seinen romantischen Vorläufern, deren ,Trägheit‘ er geißelt, ist er ein Autodidakt der Inspiration: seine Selbstentmachtung als synästhetische Hingabe an die Welt der Sinnenreize, an die Exzesse der Imagination und die Abgründe des Unbewußten ist vom eigenen Willen gelenkt; seine Ausschweifung (dérèglement) – hier zeigt sich, wie systematisch Wortspiele, Metaphorisierung und Etymologisierung eingesetzt werden – ist kalkulierter Regelverstoß, seine Erfindung (invention) Entdeckung und Erforschung, sein Sehen Vision, seine Symphonie die Verwandlung von Dissonanz in magischen Zusammenklang.
Wenn die hier geforderte gewaltsame Entgrenzung (als physische und seelische ,Ausschweifung‘) das Subjekt aufzulösen und zu vernichten droht, so verspricht sie andererseits durch eine unmittelbare und grenzenlose Objekterfahrung den cartesianischen Riß zwischen denkendem Ich und materieller Welt zu schließen. Im Bewußtsein seiner erwachenden dichterischen Kräfte, und zu einem Zeitpunkt, wo das Vertrauen in die romantische Verheißung ausgehöhlt war, überfordert Rimbaud die Poesie der Zukunft mit einer großartigen Hybris, die der so andersgearteten seines Zeitgenossen Mallarmé um nichts nachsteht. Er, der später zu den unwegsamen Regionen Afrikas aufbrechen sollte, weil ihre Zivilisationsferne sein ungebärdiges, ungebändigtes Naturell anzog, erhebt auf seine Weise den Ruf der Epoche nach neuen Horizonten innerhalb der geschrumpften modernen Welt (sein Vater war Kolonialoffizier in Algerien). ,Poesie‘ definiert er im etymologischen Sinn des Wortes als wirkende Handlung, als Wegweiser des gesellschaftlichen Fort-Schritts, der drei Phasen umfaßt: das Sehen, Erforschen und Ausdrücken (d.h. Verfügbar-Machen) des Neuen. Seine bittere Attacke gegen die poetische Überlieferung – pauschal für die alte Regelpoesie, etwas differenzierter für die neue Inspirationspoesie – stützt sich auf den Vorwurf einer hinter formalen Spielereien kaschierten Erstarrung.
IV
Sehend-Werden, Teilhabe an der Allseele, Ankommen im Unbekannten – was verbirgt sich hinter diesen suggestiven, doch notwendig vagen Formeln? Ist es wirklich nur jene ,leere Transzendenz‘, die Hugo Friedrichs einflußreiche Rimbaud-Deutung im 3. Kapitel seiner Struktur der modernen Lyrik (1956) als Erbe Baudelaires konstatiert? Aus den Schlußworten von Baudelaires Le Voyage, die zugleich das letzte Wort der Fleurs du Mal sind, „Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!“, gewinnt Rimbaud die Zielbegriffe seiner Poetik. Doch was dort auf den Tod als letzte Utopie bezogen war, wird nun, im Widerspruch zu Baudelaires Pessimismus, zum Glaubensbekenntnis einer immanenten Transzendenz, einer möglichen Welt- und Bewußtseinserweiterung als Akt des ungebrochenen Willens. Bei aller dankbaren Baudelaire-Nachfolge will der Jüngere weder die Ennui-Philosophie noch die theologische Erblast des ,ersten Sehers‘ für sich gelten lassen. Die Entfremdung zwischen Dichter und Gesellschaft, die er denkbar schroff sieht, wird aufgehoben, wenn der Dichter mit seiner Seherkraft den kollektiven Fort-Schritt vorausschaut, um ihn mit seiner befreiten (und das heißt auch: demokratisierten) Sprache auszudrücken. Der andere Vater der ,sehenden‘ Dichtung heißt Hugo.
Rimbaud, der bitter unter der provinziellen Enge seiner Kindheit gelitten hat, will die französische Literatur von ihrem ,Provinzialismus‘ erlösen und eine Weltsprache der Poesie finden. Und wenn Hugo Friedrich ihn, im Hinblick auf die Klangmagie seiner Verse, unübersetzbar nennt, so hat er doch gerade mit seinen bahnbrechenden Neuerungen, der radikalen Entautomatisierung des poetischen Sehens, der weltverwandelnden Bildersprache, dem zwingenden inneren Rhythmus, der assoziativen, dissonantischen Wortmontage, sein Ziel erreicht, eine neue Sprache zu finden, die als neue Art des Sagens weltweit verstanden wird. Dem eigenen Programm getreu bricht er dort auf, wo der große Vorgänger ans Ende kam. Sein „Bateau ivre“ ist kein Abklatsch von Le Voyage, sondern Fortsetzung und Widerspruch, eine Art ,riposte‘. Rimbauds krönendes Paradox, das Ankommen im Unbekannten, ist somit nicht völlig utopisch. Er hat im Umbruch seines Lebens und seiner Zeit die Spur des Neuen entdeckt und unser Wahrnehmungsvermögen erweitert wie wenige; und er hat, auch darin seiner Voraussage treu, mit der ganzen Existenz dafür bezahlt. Aus dieser Sicht erscheint es müßig, nach der Herkunft der Rimbaudschen Ideen zu fragen, zumal die Quellen- und Einflußjagd nicht selten seinen Auslegern den Blick für den kühnen und denkbar eigenständigen Synkretismus der Gesamtkonstruktion getrübt hat. Und doch ist die Frage alles andere als überflüssig: das Muster seiner Anregungen definiert den Standort eines originalen Autors und bietet unersetzliche Einblicke in den Prozeß seiner Schöpfung, der immer eine Verwandlung des Übernommenen einschließt.
So weisen die Seher-Briefe ein unübersehbares Substrat esoterischer Lehren auf, in denen sich Aufklärungserbe mit romantischem Inspirationskult und teilweise auch mit frühsozialistischer Fortschrittsgläubigkeit zu einer Art von ,demokratischem Illuminatentum‘ (Antoine Adam) verbindet. Der Geist Rimbauds in seiner großen Zeit des Umbruchs konnte Gedanken wie die einer durch Askese vermittelten gottgleichen Einsicht in die Mysterien des Alls, des Dichters als Engel der Menschheit, der Frau als ,Seherin‘, der neuen Kunst als Wissenschaft, der Welthaltigkeit von Wörtern, Buchstaben und Klängen oder der Neubestimmung des Ich im Fluge aufnehmen, ohne sich in ausgedehnte okkulte Studien zu verlieren. Seine entschieden innerweltliche Perspektive verwandelt dabei schwärmerischen Pantheismus in eine Strategie ästhetischer Revolution.
Unter den dichterischen Leitfiguren in Theorie und Praxis waren, wie gesagt, zwei für ihn von überragender Bedeutung: Victor Hugo und Baudelaire. Hugo, die beherrschende Dichtergestalt der Epoche, hat mehr als jeder andere dazu beigetragen, ein hohes Bild des Dichters als Künstler, Philosoph, Wissender, Magier und Seher zu propagieren, der seine göttliche Gabe dem Dienst an der Gemeinschaft weiht. In den Châtiments (1853) übernimmt er aus der Verbannung die Rolle des moralischen Gewissens der Nation; als Autor der Contemplations (1856) will er mit seiner Vision in die Bereiche des Unsichtbaren und Kosmischen vordringen und das Ich mit der Weltseele vereinen; und seine Légende des siècles (erste Serie: 1859) feiert in einem grandiosen Panorama die Menschheitsgeschichte als große menschliche Reise hin zum Göttlichen, als ,Fortschritt‘ im technischen und philosophischen Sinn.
Bei aller Kritik an der ,Dickköpfigkeit‘ Hugos, an seiner Altertümelei und religiösen Weihe, scheint Rimbaud diese Dichtungsauffassung weit zukunftsträchtiger als Resignation und Weltschmerz à la Musset. Wie dem Schlußgedicht der Fleurs du Mal, so entnimmt er auch dem großen Diptychon am Ende der ersten Légende des siècles, den antithetischen Gedichten „Pleine Mer“ und „Plein Ciel“, wichtige Anregungen für sein „Bateau ivre“; er rückt es damit, über die gemeinsame Schiffsmetaphorik, in eine aufschlußreiche Nachbarschaft philosophisch programmatischer Gedichte. In den Symbolen des ,Leviathan‘ (eines riesigen Schiffes, das wegen seiner Übergröße nicht einsatzfähig war und hier, abgetakelt und verlassen, durch die Wasserwüste geistert) und des Luftschiffes (Luftballons) stellt Hugo Scheitern und Fortschritt, umnachtete Vergangenheit und lichte Zukunft, Verlorensein in grenzenloser Leere und Grenzüberschreitung zu höherer Bestimmung der Menschheit einander dualistisch gegenüber. Mit einer Planke auf dem Meer, so heißt es da, mit einem Stück Stoff im Himmel überwindet das Menschenatom mit hoher Stirn den grund- und grenzenlosen Raum, entriegelt die Finsternis, sieht und berührt das Unergründliche, beackert den Abgrund und erhebt sich zum blauen Aufstieg:
Il est dans l’invisible, il est dans l’inconnu…
Das alles steht den Paradoxien Rimbauds, die das Sehertum als künftige Aufgabe des Dichters beschreiben, recht nahe: doch die einfache Antithese, der ungebrochene technische Optimismus und das metaphysische Pathos Hugos sind bei ihm verschwunden. Sein trunkenes Schiff durchmißt Weite, Tiefe und Höhe, die Nacht- und Sonnenregionen gleichermaßen; und wie die Gesamtbewegung durch den entgrenzten Raum, so hebt die semantische Bewegung jeder einzelnen seiner kühnen Metaphern traditionelle Unvereinbarkeiten in spannungsvollen Synthesen auf.
Das Bekenntnis zu Baudelaire in den Seher-Briefen ist eindeutig, aber es ist nicht uneingeschränkt: daß einer, der die dichterischen Möglichkeiten so radikal erweitert hatte, im formalen Bereich eher konservativ blieb, wollte Rimbaud nicht so ganz einleuchten. Doch den großen ästhetischen Neuansätzen Baudelaires – schöpferische Destruktion der Wirklichkeit durch Phantasie, Kunst als Befremdung, Ästhetisierung des Häßlichen, programmatische Modernität, Korrespondenzsymbolik und Synästhesien – verdankt der Jüngere viel. Wenn Baudelaire Poes Begriffe des Grotesken und Arabesken dafür lobt, daß beide „das menschliche Gesicht zurückstoßen“, so sind wir dem warzeneinpflanzenden Seher Rimbauds schon sehr nahe. Von besonderer Bedeutung für seinen Begriff des Sehertums sind Baudelaires Abhandlungen über die Künstlichen Paradiese (1851; 1860) – über die Rauschmittel Wein, Haschisch und Opium als verlockende, doch moralisch höchst gefährliche Stimulanten der poetischen Einbildungskraft.
Diese Schriften sind nicht nur für die Bildersprache der Ausschweifung und Entgrenzung in den Seher-Briefen von einigem Belang, sondern auch für ihr Konzept einer aktiven Passivität als Weg zum Sehertum, im Sinn einer willentlichen und riskanten Depersonalisierung. Die Sinneseindrücke verschmelzen, das Subjekt erfährt sich als Objekt seiner selbst, das Ich wird zum Gegenstand der Außenwelt:
Die Klänge besitzen Farbe, die Farben besitzen Musik… Du bist es, den deine Pfeife raucht; du bist es, den du da in bläulichen Wolken ausstößt… Zeitweise löst sich die Persönlichkeit auf. Die Objektivität… geht so weit, daß du dich mit Wesenheiten der Außenwelt vermischst… Du bist ein Baum, der im Winde tost… Jetzt schwebst du im Blau eines unendlich geweiteten Himmels…
Diese Verdinglichung, heißt es später, ist nichts anderes als die übermäßige Entwicklung des poetischen Geistes, der sich zum Unendlichen erhebt, in einer gefährlichen und köstlichen Gymnastik, die geheimnisvolle Trunkenheit, Schau eines leuchtenden Abgrundes bedeutet.
Ohne daß wir uns den Kaffeehausstreuner von Charleville als Opiumesser und Haschischraucher vorstellen müssen, liegt es auf der Hand, wie suggestiv solche Worte auf den jungen Dichter im Werden gewirkt haben, und zwar gleichermaßen auf seine Theorie und Praxis. Denn das „Bateau ivre“ mit seiner rauschhaften Aufhebung aller Grenzen (zwischen Ichwelt und Dingwelt ebenso wie zwischen Meer und Himmel), mit seinen intensiven Farb- und Synästhesieerlebnissen, seiner Gleichzeitigkeit von Entzücken und Grauen, seinen Kapriolen und Exzessen, ist eine solche Orgie der poetischen Phantasie. Und wenn Rimbaud auch im Leben die beschwörende Warnung Baudelaires vor dem Katzenjammer danach, vor dem Zerstörtwerden durch die entfesselten Kräfte der inneren Schau (rêve) in den Wind geschlagen haben mag, seine Poetik kennt die Nemesis, und in seinem Gedicht folgt der Absturz auf die Ekstase.
V
Das Ergänzungsverhältnis zwischen Poetik und Poesie, wie es für den Rimbaud der Aufbruchsphase schon mehrfach betont wurde, scheint auf den ersten Blick für die Gedichte innerhalb der Seher-Briefe nicht zu gelten. „Keines dieser Gedichte hat mit dem Sehertum, wie es in dem [zweiten] Briefe verlangt wird, auch nur das geringste zu tun“, schreibt Walter Küchler in seinem Rimbaud-Buch.
Und doch sind sie (wie H. Wetzel gezeigt hat) lauter Proben aufs Exempel. Sie tragen den satirischen Angriff gegen die herrschende ,träge‘ und subjektive Dichtungstradition in den Bereich der literarischen Parodie. Seelenbeichte, Frühlings-Erwachen, sentimentale Liebeslyrik und Aufschwung zum Himmel werden ebenso grausam wie virtuos in ihr Gegenteil verkehrt; die Klischees des Ichkultes, der idyllischen Natur, des Eros und der religiösen Inbrunst vernichtet eine zur Schönheit des Häßlichen, zu dissonantischer Musik (H. Friedrich) befreite Sprache, die von krassen Bildern, Vulgarismen und befremdlichen Wortschöpfungen strotzt.
Diese Gedichte sind Exorzismen: sie feiern den Bruch mit der Tradition. Die Inkongruenz zwischen der überkommenen lyrischen Form und der Verhöhnung ihrer Inhalte ist ihre raison d’etre. Doch auch ein Bezug zu wichtigen Themen beider Briefe läßt sich bei genauerer Lektüre entdecken: das „Geschändete Herz“ drückt den Selbstekel vor der zuvor beschriebenen Prostitution des eigenen Talents aus, der „Pariser Kriegsgesang“ reiht den Dichter als neuen „Arbeiter“ ein unter die bombardierten Kommunarden, „Meine Schätzchen“ gibt sich als Zerrbild der umfassenden Liebe des Sehers für die Menschheit sowie des idealen Frauenbildes der Zukunft zu erkennen, und „Im Kauern“ stellt der zuvor geforderten Entgrenzung und Erhebung des Dichtergeistes die stickige kreatürliche Enge der berufsmäßigen Transzendentalisten gegenüber.
Ihre Bezeichnung als aktuelle Psalmen und fromme Gesänge stellen sie in den Kontext parodistischen Widerspruchs, doch ihre neologistischen Wortungetüme („Ithyphalliques et pioupiesques…“, „Un hydrolat lacrymal lave…“) und ihre grotesken Bilder setzen zugleich bisher unbekannte poetische Reize frei. Der Weg zum neuen Sehen führt über das Monströse, auch im Sinn einer Verzerrung vertrauter lyrischer Sehweisen, doch das Monströse ist Ort des Übergangs zu einer neuen ästhetischen Wahrnehmung. Die zur Schau gestellte Herzlosigkeit dieser Texte – der Dichter zeichnete in dieser Zeit gern als „ce sans-cœur de Rimbaud“ – ist satirisch funktional.
Der Kult des Häßlichen ist Diagnose.
(Ezra Pound)
„Le Bateau ivre“ läßt die Übergangsphase der satirischen Parodie weit hinter sich. Seine wenigen Vulgarismen wie „azurner Rotz“ oder „Mist von kreischenden, blondäugigen Vögeln“ heben die Grenze zwischen dem Häßlichen und dem Schönen auf und verschmelzen beide zu neuer imaginativer Wirklichkeit. Seine gewaltsamen Wortneubildungen ( wie „lactescent“ oder „cataractant“) sind frei von Burleske und fügen sich in ein Klangmuster von zwingender Suggestion. Dieses Gedicht macht den Aufbruch ins Unbekannte und das neue Sehen zu seinem Thema; der Affekt gegen die alte Welt ist nur im brutalen Bild der Entfesselung am Anfang und im Grauen des Ufers am Ende zu spüren.
Nicht erst die Metapher vom „Gedicht des Meeres“ in der 6. Strophe läßt die poetologische Dimension des Ganzen ahnen; die Bezüge zu den Seher-Briefen sind eng und vielfältig, und das Schiff als topisches Gefährt des Lebens, der Dichtung und des gesellschaftlichen Fortschritts hatte auch schon vor Hugo und Baudelaire eine gewisse Tradition. Der Schlußvers der zweiten Strophe „Les Fleuves m’ont laissé descendre où je voulais“ zeigt genau jene eigentümliche aktive Passivität, die die Voraussetzung für das Rimbaudsche Sehertum schafft.
Die zentrale Metapher ist absolut gesetzt und wird nirgends durch eine Gleichung erklärt – im Gegensatz zu Baudelaires Le Voyage, wo sich die menschliche Seele als Dreimaster auf der Suche nach seinem Ikarien (Ort der Utopie / des Schiffbruchs) definiert, oder zu dem Gedicht „Le vieux solitaire“ des Parnassien Leon Dierx, das mit den Worten beginnt: „Je suis tel qu’un ponton…“ (eine Kreuzung von „Le Voyage“ mit Hugos „Pleine Mer“, in der – sehr verbreiteten – Strophenform Baudelaires, die auch Rimbaud für sein Gedicht übernimmt). Rimbauds Ich wechselt übergangslos von der Subjektebene des Reisenden zur Materialität des Bootes. Das ganze Gedicht ist, wie schon Hugo Friedrich feststellt, ein einziger Ausweitungsakt – und eine Ausschweifung im Doppelsinn des Wortes. Alle Räume, Elemente, Farben und Klänge, höchste Lust und tiefes Grauen, Wildheit und Zartheit werden vermischt, und die dominanten Pluralformen entfesseln und dynamisieren die Wildnis nach dem Muster jener mythischen „aus der Verankerung gelösten Halbinseln“ der 3. Strophe. Der Wille dazu, sich ins Äußerste treiben zu lassen, übersetzt seine Gewaltsamkeit in die maßlose Dynamik explodierender Bilder.
Am Ende steht, als dritte Phase nach der einleitenden Abstoßung und dem zentralen Ausbruch, das Zusammenbrechen der Bewegung, die Sehnsucht nach dem Schiffbruch, die scheinbare Regression in die Begrenztheit einer traurigen Kinderwelt, wo ein Papierschiffchen auf einer Pfütze das gesamte Hoffnungspotential der Phantasie verkörpert. Doch nach dem Schwindel des Grenzenlosen ist der Blick zurück auf die alten Begrenztheiten wohl kein Scheitern; eher ein Ausdruck der Erschöpfung nach der Fahrt durch das Unbekannte in jene Neue Welt, die eine Abkehr von Europa bedeutet, wie sie Rimbaud nach seinem Verstummen als Dichter später wirklich vollzog. Mit der Sehnsucht des Knaben am Teich kann sich das Ich identifizieren – die Pontons, in denen sich die Diabolik von Hugos Leviathan mit einem aktuelleren Sinnbild der Unterdrückung verbindet, sind dagegen die Antithese des Trunkenen Schiffs. Es gibt kein Zurück zum Ausgangspunkt.
Als Rimbauds Eingeständnis des endgültigen Scheiterns seiner Experimente mit der voyance gilt weithin die zwei Jahre später entstandene Prosaphantasie Une Saison en Enfer. Doch ihr Rückblick auf die Qualen und Wonnen des neuen Dichtertums beschwört aufs neue, mitten im Abgesang, die unerhörten Energien dieses Aufbruchs. Auch wenn die Warnung hier, wie bei dem Baudelaire der Künstlichen Paradiese, an Eindringlichkeit nicht zu überbieten ist, der Glaube an das Potential dieses Aufbruchs ist nicht tot, und er hat weitergewirkt.
VI
Sind die Gedichte Rimbauds übersetzbar? Die Antwort lautet (wie stets): nein und ja. Nein, weil noch die einfachste Übertragung beim Fehlen voller Bedeutungsentsprechung zwischen den Sprachsystemen letztlich utopisch ist: die integrale Umsetzung komplexer Form- und Klangstrukturen stellt nur den Sonderfall einer generellen Unmöglichkeit dar. Ja, weil der hermeneutische Dialog der Epochen und Kulturen die eigensprachliche Annäherung an außerordentliche fremde Ausdrucksleistungen immer neu wollen und vollbringen muß. Die Aufnahme Rimbauds in die deutsche Sprache, die bald nach der Jahrhundertwende mit George und Ammer einsetzte und bis heute anhält, zeigt in den höchst vielfältigen Ergebnissen dieser Annäherung, wie stark der Sprachreiz – und der Mythos – Rimbauds, wie wenig abschreckend die Schwierigkeit des Unterfangens gewirkt hat.
Freilich, die Gedichte aus den Lettres du voyant, ohnehin kaum als zusammengehörig empfunden und eher zu den marginalen Teilen des Werkes gerechnet, hatten lange Zeit wenig Übersetzungs-Glück. Ammer überging sie; Rexroth reimte 1925 den Auftakt der „Petites amoureuses“ so:
Den grünen Himmelsraum
aaaWäscht Tränenregen.
Laßt unterm Kautschukbaum
aaaEuch niederlegen.
In weißem Mondenschein
aaaAuf grünen Auen,
Schlagt euch die Köpfe ein,
aaaIhr Höllenfrauen.
Von lexikalischer Verfremdung und kakophonem Klangreiz ist nichts übriggeblieben, und die Rückkehr der lyrischen Klischees läßt den Umschlag in die Aggression absurd erscheinen. 1927 dichtet Paul Zech frei nach Rimbaud und eng nach Rexroth:
Den grünen Himmelsraum
fegt Tränenregen.
Laßt unterm Apfelbaum
euch niederlegen.
Im mondweißen Schein
auf silbernen Auen:
schlagt euch den Schädel ein,
verdammte Frauen.
Nach dieser ökonomischen Intensivierung und Mythisierung – mit dem Apfelbaum aus Eden – löst sich Zech von beiden Vorlagen, um aus dem „bleu laideron“ der einen und dem „Weib, das hell“ der anderen sein ureigenes Standardmotiv der „tierischen Lust“ zu entwickeln:
Einst liebte ich Vieh
die schönste der Ziegen.
Ich schonte sie nie
und fing ihr auch Fliegen…
Zechs Kitsch-Expressionismus und Walter Küchlers bemühte, aber arg holperige Gesamtübertragung von 1946/1955 haben, dank ihrer großen Verbreitung, das deutsche Rimbaud-Bild wesentlich geprägt und getrübt. Neuere Versionen, wie 1989 die Reclam (Leipzig)-Ausgabe aus der Feder mehrerer Übersetzer, zeigen mehr Sinn für die sprachliche Herausforderung dieser Texte. Dies gilt in besonderem Maße für die experimentelle Fassung von H. Therre und R.G. Schmidt (1979/80), die – reimlos, dem Freivers angenähert, lustvoll zotig und slangbetont – die expressive Sprachkraft der Originale in zeitgenössische Vorstellungen und Vulgarismen umsetzt:
Ein geplatzter Tränenhydrant
aaawäscht die kohlgrünen Himmel.
Unterm großen Zärtlichkeits-Baum
aaaeure Kleppermäntel.
Weiß ausgefeilter Monde,
aaaoblatenrund,
Bumst eure Kniekissen,
aaameine Schreckschräubchen!
Das „Bateau ivre“ als anerkanntes Meisterwerk Rimbauds und Wendepunkt hin zu seinen ,späten‘, dunklen Texten hat in ganz anderem Umfang als die Gedichte der Seher-Briefe große und kleinere Übersetzer angezogen; angefangen von K.L. Ammers rhythmisch bewegter, bildkräftiger Version von 1907 mit ihrer – von P. Zech nachgeahmten – Umstellung beider Schlußstrophen, über Theodor Däubler, Alfred Neumann, die drei nur dem Namen nach ähnlichen Nachdichter Paul Thun-Hohenstein, Alfred Wolfenstein und Wilhelm Hausenstein, bis hin zu Paul Celan, und über ihn hinaus.
Celans (relativ wenig bekannte) Fassung wurde für diese Ausgabe gewählt, weil sie von einem großen Lyriker der Gegenwart stammt, in dessen Werk die Nachdichtung einen ähnlichen Rang und Raum einnimmt wie bei Rilke und George, und der dem französischen Sprachbereich besonders eng verbunden war. Celans Übertragungen sind sehr bewußtes Wieder-Sagen und Wider-Spruch zugleich; beides verrät eine intensive Auseinandersetzung mit dem Original.
Ich nehme bei der folgenden knappen Charakterisierung von Celans ‑ „Trunkenem Schiff“ Gedanken aus einer erhellenden Arbeit von Sonja Binder auf. Die Übertragung verändert die ursprüngliche Spannung zwischen traditioneller Gedichtform und Anarchie der inneren, bildhaften Bewegung. Die Alexandriner der Vorlage verwandeln sich durch Verlängerung (mit jeweils einer ,weiblichen‘ Mittelzäsur) und Einhalten der Alternanz zu einer für deutsche Ohren sehr fremden und künstlichen Versstruktur. Größere Satzzusammenhänge erscheinen in ein Nebeneinander kürzerer Einheiten aufgesplittert, viele Enjambements sind getilgt. So wirken die Bildfolgen mehr als Momentaufnahmen und weniger als fließende, ineinander übergehende Abläufe. Am deutlichsten ist diese Tendenz bei dem langen, anaphorisch gegliederten Bogen von Strophe 18 bis 21, wo der Überschwang des ekstatischen Sehens in den Zusammenbruch, in die Sehnsucht nach der Enge Europas mündet. Das schmerzliche Paradox dieser Umkehr ist im Deutschen entdramatisiert.
Neue subtile Prozesse finden dagegen auf engem Raum statt, wenn aus einem Einzelwort der Vorlage eine semantische Stufung in zwei oder drei Gliedern entsteht, wie in dem Vers „ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl“. Der Vokalwechsel der drei Adjektive, die aus dem ,nachdenklich‘ zur Tiefe sinkenden Ertrunkenen gewonnen wurden, macht die Stufen dieser Bewegung im Klang anschaulich. Im Reichtum ihres Klangspiels, mit Binnenreimen, Alliterationen und Assonanzen, liegt ein besonderer Reiz dieser Rimbaud-Nachfolge. Die zahlreichen Wortwiederholungen und etymologischen Figuren be-sprechen den Echocharakter der Übertragung.
Stärker auf die äußeren Turbulenzen der Vorlage, auf ihre gewaltsame Rhythmik, explosiven Bilder und verwegenen Neologismen ausgerichtet ist die genuin expressionistische, rund fünfzig Jahre ältere Nachdichtung von Theodor Däubler, das wohl aufschlußreichste Gegenstück zur Fassung Celans. In Paris war Däubler früh von Rimbauds Dichtung angezogen worden. Unter dem Titel „Empfindung“ reihte er das Gedicht „Sensation“ unter die eigenen Verse ein und übertrug 1917 für seinen Sammelband Der Hahn vier satirische Kriegsgedichte Rimbauds. Seine Version des „Bateau ivre“ entstand zwei Jahre später und war lange vergessen, bis Friedhelm Kemp sie wiederentdeckte.
Ihm als Kenner, kritischem Leser und Enthusiasten verdankt meine Übersetzung und Kommentierung ungezählte Anregungen und willkommene Korrekturen. Was darüber hinaus an Fragwürdigem stehen blieb, geht auf das Konto der Provokation Rimbauds – und meiner eigenen Spekulation.
Werner von Koppenfels, Nachwort
entwirft der 16jährige Arthur Rimbaud das rebellische Manifest einer Poesie der Zukunft. In dieser zweisprachigen, eingehend kommentierten Ausgabe leg der Komparatist und Übersetzer Werner von Koppenfels erstmals eine integrale deutsche Fassung vor. Sie wird ergänzt durch jenes Gedicht, das Rimbauds Programm einer ,sehenden Poesie‘ beispielhaft einlöst: „Le Bateau ivre – Das trunkene Schiff“, in der deutschen Übertragung von Paul Celan.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Klappentext, 1990
Es ist gewiß seltsam und selten, daß ein genialer Dichter, nach einer poetischen „Praxis“ von nur drei Jünglingsjahren, sich von jeglicher Literatur abwendet – radikal und unerbittlich. Das ist der Fall des großen französischen Lyrikers Arthur Rimbaud, dessen von ihm selbst höhnisch beiseite geschobene Leistung alle späteren Geister in ihren Bann gezogen hat. Fasziniert waren (und sind) sie alle von dieser tiefen, kalten Wildheit, von dieser abenteuerlichen inneren Entwicklung, die aus dem provinziellen Bürgerkind einen Strolch, einen erleuchteten Dichter und kurz darauf einen unbedenklichen Geldverdiener gemacht hat. Von seinem achtzehnten Jahre an hatte Rimbaud nur noch den einen Wunsch: ein Millionenvermögen zu erwerben als kolonialer Kaufmann großen Stils. Viele haben diese Wandlung bewundert; anderen ist sie, als Abtrünnigkeit gegen den eigenen Geist, höchst verdammenswert erschienen. Wie dem auch sei: dieser Fall ist einzigartig, und daher mag ein kurzer Ueberblick über Rimbauds Leben manchem Leser erwünscht sein.
Geboren wurde Arthur Rimbaud am 20. Oktober 1854 in der Stadt Charleville im französischen Departement Ardennes. Sein Vater war Offizier; er starb früh. Seine Mutter, von bäuerlicher Herkunft, war eine strenge Frau. Sie allein erzog den kleinen Arthur und dessen drei Geschwister. Arthur kam aufs Gymnasium, zeigte sich sehr begabt, aber auch als frühen Kritiker. Mit acht Jahren schrieb er in ein Schulheft:
Warum muß ich lateinisch lernen? Kein Mensch spricht diese Sprache! Haben jemals Lateiner gelebt? Und selbst, wenn sie existiert haben sollten: was habe ich ihnen getan, daß sie mich zu solchen Folterqualen verdammen?
Mit fünfzehn Jahren übersetzt Rimbaud römische Dichter in französische Verse, kennt Rabelais und Baudelaire, fühlt sich aber sehr bald „angeekelt von aller vorhandenen Poesie“. Und nun, 1869, will er selbst ein Dichter werden. Das halbwüchsige Kind schreibt das wunderschöne Gedicht: „Empfindung“, die sanften Erregungen eines Abendspaziergangs durchs Korn, voll zärtlichsten Naturgefühls. – Aber schon damals machte Arthur auch wildere Strophen.
Jetzt bricht ihm Freiheitsdrang und Haß gegen die Konvention aus allen Poren, und das Abenteuer seines Lebens beginnt. Die lockende Geliebte heißt: Paris! Viermal hat Rimbaud sich aufgemacht, sie zu gewinnen. Es war das Kriegsjahr 1870. Am 29. August verkauft Arthur seine Schulbücher, löst auf dem Bahnhof seiner Heimatstadt ein Billett nach einer nahen Station, fährt aber, unter der Coupébank versteckt, bis Paris. Dort, auf dem Nordbahnhof, wird er, weil er kein gültiges Billett vorzeigen kann, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Hier bleibt er vierzehn Tage – die ersten vierzehn Tage seiner „Freiheit“! Dann expediert ihn die Polizei nach Hause zurück.
Es folgt der Versuch, Journalist zu werden. Ohne einen Heller wandert Rimbaud nach der belgischen Fabrikstadt Charleroi, bietet dem dortigen Zeitungsdirektor seine Dienste an, wird abgewiesen und vagabundiert nun umher, bis ihn der Hunger an die mütterlichen Fleischtöpfe zurücktreibt. Aus seinen Taschen quillt zerknülltes Papier, beschrieben mit der Landstreicherpoesie des erstaunlichsten Kraftgenies, das die moderne Literatur kennt!…
Im Februar 1871 unternimmt Rimbaud eine zweite Reise nach Paris. Diesmal verkauft er seine Uhr, ersteht ein einwandfreies Billett und eilt, in der Hauptstadt angelangt, alsbald zu André Gill, dem Lyriker und Karikaturisten, der ihn in die Kunst einführen soll. Aber Gill ist verdutzt und schickt dem sechszehnjährigen Wildling weg. Rimbaud, obdachlos, irrt acht harte Wintertage in Paris umher, schläft unter Seinebrücken und auf Kohlenschiffen und pilgert dann, fast verhungert, zu Fuß in die Heimat zurück. Bald darauf bringen ihn sechs Tagemärsche abermals nach Paris, und wiederum macht die Wirrnis der Zeit sein Bleiben unmöglich. In der Heimat schreibt er – August 1871 – das „Trunkene Schiff“, sein grandiosestes Gedicht, den in teuflischer Schärfe brennenden Fiebertraum seines Daseins.
Es rücken die phantastischen Monate der Freundschaft mit dem Dichter Verlaine heran, Rimbauds literarische Glanzperiode. Er sendet dem ebenso unglücklichen wie berühmten Poeten seine Gedichte, wird enthusiastisch eingeladen und verlebt nun drei Vierteljahre, vom Oktober 1871 bis Juli 1872, als Gast Verlaines im endlich gewonnenen Paris.
Das struppige Wunderkind, siebzehn Jahre alt, wird von dem großen Victor Hugo im Café aufgesucht und als „Shakespeare-Kind“ angeredet. Ein Bild des Malers Fantin-Latour zeigt ihn, wie er damals aussah: ein verwahrloster Junge, halb Engel, halb Rowdy. Dieser Junge wirft ein Gedicht nach dem anderen auf schmierige Papierfetzen und bildet eine Zeitlang die Sensation des Lateinischen Viertels.
Es folgen Irrfahrten Rimbauds und Verlaines durch Belgien und England. In Brüssel begibt es sich, daß der zerrüttete und verzweifelte Verlaine, durch den höhnischen Trotz seines Freundes zur Verzweiflung getrieben, ein paar Revolverschüsse auf ihn abfeuert, die eine leichte Verwundung der Hand verursachen. Verlaine kommt auf zwei Jahre ins Gefängnis; Rimbaud geht ins Hospital und von dort in die Heimat, wo er einen Band nachtwandlerischer Prosa: Ein Sommer in der Hölle drucken läßt und gleich darauf vernichtet, bis auf wenige Exemplare. Denn Arthur Rimbaud, achtzehn Jahre alt, ist jetzt fertig mit der Literatur! Sie hatte ihm nur eine der Möglichkeiten bedeutet, Kraft und Sinnlichkeit auszugeben, sich zu rächen an der Einförmigkeit des Hergebrachten. Wenn Freunde versuchen, ihn der Poesie zurückzugewinnen, ruft er:
Lächerlich! mit der Gespensterseherei ist es gründlich zu Ende!
1873 ist er wieder ein paar Tage in Paris, und es amüsiert ihn, zu sehen, wie sich die Literat en von dem Abtrünnigen lossagen. Er will nun im Orient Millionär werden, und, immer nur auf das Reisegeld dorthin bedacht, geht er zunächst als Sprachlehrer nach England; dann, 1875, nach Stuttgart, wo er als höchst ehrbarer Hauslehrer in der Familie eines Arztes tätig ist. Der erste Versuch, den Süden zu gewinnen, reicht bis Liverno; dort schenkt dem Zusammengebrochenen der französische Konsul das Reisegeld nach Marseille. Rimbaud wird Hafenarbeiter, läßt sich für die spanische Karlistenarmee anwerben und brennt mit der Werbeprämie in seine ardennische Heimat durch. 1876 stößt der standhafte Orientreisende bis Wien vor, gerät mit der Polizei in Konflikt und wird abgeschoben. Er stromert nach Hamburg, findet eine Anstellung bei einer niederländischen Kolonialtruppe und kommt, nach sechswöchiger Ueberfahrt, auf Java an. Alsbald reißt er aus, wird zum Tode verurteilt und verbirgt sich lange im Urwald. Endlich schleicht er nach Batavia zurück, in der Maske eines Engländers, den ein nach Liverpool bestimmtes Schiff an Bord nimmt. Als Sankt-Helena in Sicht kommt, verlangt Rimbaud, daß man Napoleons Todesinsel anlaufe. Der Kapitän weigert sich. Rimbaud springt über Bord, um schwimmend das Eiland zu erreichen; er wird mit Mühe aufgefischt. Ein Jahr später sehen wir ihn als Kassierer eines Wanderzirkus Skandinavien durchziehen.
1878 ist er auf Cypern, zunächst als Aufseher von Steinbrucharbeiten, dann als Oberaufseher beim Bau des Palastes für den Generalgouverneur. Von dort fährt er nach Aden und wird Einkäufer einer großen Handelsfirma für Kaffee, Gummi, Weihrauch, Straußenfedern, Elfenbein, Leder, Gewürze. Er durchstreift Arabien. 1880 übernimmt er für seine Firma die afrikanische Filiale Harar als selbständiger Leiter. Die Filiale blüht schnell auf. Rimbaud macht weite Geschäfts- und Forschungsreisen in Gebiete, die noch kein Europäer betreten hatte. 1886 rüstet er, von Tadjura, eine Karawane aus mit ein paar tausend Gewehren für den König Menelik von Abessinien. Im Mai 1888 errichtet er in Harar eine eigene Faktorei. Drei Jahre lang hat er sie geleitet. Die Eingeborenen lieben ihn. Er ist auf dem Wege, viel Geld zu verdienen.
Da – im Februar 1891 – bemerkt er eine Beule an seinem rechten Knie. Das Uebel verschlimmert sich rasch. Am 8. April muß Rimbaud Harar verlassen. Der englische Arzt in Aden konstatiert eine gefährliche Gelenkentzündung. Als Rimbaud in Marseille landet, ist er todkrank. Man amputiert ihm das Bein. Nach furchtbaren Leiden stirbt, am 10. November 1891, in tiefer Gläubigkeit, dieser afrikanische Kaufmann, dieser einstige Empörer und Lyriker, dessen Stil, in Leben und Dichtung, eine immer noch fortdauernde Wirkung üben sollte auf die geistige Jugend aller folgenden Generationen. Arthur Rimbaud ist siebenunddreißig Jahre alt geworden.
Patient: Rimbaud, J.A. Alter: 37. Zimmer 23. II. Etage, Hauptgebäude. Hôpital de la Concepcion, Marseille, Dep. Bouches du Rhône. Zust. nach Amputation. Osteosarkom.
Das stimmt nicht, was da steht. Ich bin 73. Ich war nicht zehn Jahre in Afrika, es waren fünfzig. Fünfzig Jahre die Stoßzähne zur Küste geschleppt, bis die Knie… nein, die Kniegelenke waren schon strapaziert, weil ich jahrelang, zu Fuß, kreuz und quer durch Europa… bis Stockholm bin ich gelaufen. Mehrmals die Alpen überquert von Wien nach Mailand… einmal bis Neapel, und von dort repatriiert wegen irgendwas… Kolik? Malaria?… Ach, tatsächlich? Siebenunddreißig? Ist das zu fassen. Und du irrst dich nicht, Isabelle? Nein, meine Schwester irrt sich nie. Nicht in einem Fall von Erbsenzählerei.
Nein, ich habe Djami nicht. Auch wenn es jeder denkt. Meinen Hausboy? Bollocks.
Körperliche Nähe, schon bei Paul, schon als Kind – zwanghaft, debil, keinen Millimeter über dem Tier.
Auch wenn er Weißer gewesen wäre: Nein.
War ich auch in Penang? Georgetown? Mae Sot?
Fort, nur fort. Und dort – dasselbe wie hier.
,Arthur, où t’as mis le corps!‘ Wir brachten dem chinesischen Koch einen verstümmelten Schenkel, und er warf ihn auf den Grill. Als wir ihm den zweiten brachten, schrie er: „Eeeeeh! Is tattooed! Flucken cannibals! Out!“
Bein ab, dann Tumor. Nein, vorher schon Tumor. Dem Einbeinigen ist nicht zu helfen, aber er macht das Zimmer nicht frei.
Make no mistake, messieurs: Ich bin zum Sterben hier. Ihr nur zum Pfuschen und Geldverdienen.
Wirres Zeug? Von wegen. Nein, ich werde jetzt immer klarer.
Am Ende bestehe ich nur noch aus Wasser, Eiter und Metastasen, und meine Knochen haben sich zersetzt zu einer schwarzbraunen Gallerte, so daß sie mich direkt in einen Zinksarg werden schaufeln müssen.
Les Canailles de la Concepcion Immaculée! Beuarkh! Ja, ich bin wehleidig. Na und? Laßt euch ein Bein absägen und von hirntoten Ordensschwestern wertloses Zeug zur Schmerzlinderung verabreichen, dann sprechen wir uns wieder!
Das zerstörte Selbstbild. Das macht jeden fertig.
Ich bin nicht ich, und die Hölle das sind die anderen. Fünfzig Jahre habe ich mich wieder und wieder zur Küste geschleppt… Nicht einmal Sisyphus kann mich verstehen.
The East African. Homo afarensis. L’homme aux semelles de vent. Was für eine Idee.
Der Pathologe denkt, seine morbiden Geschichten hätten eine belebende Wirkung auf mich. Auf dem Boden neben dem Stuhl hat er eine Neuerscheinung liegen lassen: Geschichte des Sozialismus in Marseille. Des was??
Es liegt mir auf Stumpf und Unterbauch wie ein giftgrün schillernder Blutegel, der sich festgesaugt hat und nicht genug bekommt. Es ist ein Parasit aus dem All, gegen den es kein Mittel gibt.
Ja, gebt mir das gute pure Schiaparelli-Morphium und macht mich zum Seher, ihr Kanaillen! Laßt mich die Zukunft des verfluchten Kontinents sehn!
Im Mai ’72 wohnte ich in der Rue Monsieur-le-Prince. Von meinem rechten Fenster sah man einen der Gärten des Lycée Saint-Louis. Um drei Uhr früh wurde das Kerzenlicht fahl. Ich schrieb nur nachts…
„C’est merde à Perrin.“
Brief an Ernest Delahaye, Juni 1872
Flucht aus Paris, mit Paul, am 7. Juli. Le pauv’ Lélian, er brachte es zu nichts, nicht einmal in England… „My past is an evil river.“ Right. You wish.
Mein Freund Bretagne, der Okkultist. Troppman, der Massenmörder. Rudolf Wagner, Pfarrer im Ruhestand, Stuccardo. M’sieu Koch, ,le decouvreur du vibrion cholerique‘, zu Besuch in Marseille während der Cholera-Epidemie von 1885, die beinahe die halbe Stadt auslöschte… Eine Epidemie, schlimmer als alle Seuchen der Vergangenheit… Ein drückender Leichengestank liegt wie eine verfettete Hure auf der Stadt… In wenigen Stunden war das Wasser des Vieux Port zu einem zähen Brei geronnen, schwarz und goldbraun glänzend wie Teer.
J’vais te ruiner si tu vieng! Espèce de mongolien abruti! T’y a compris?! Amène-toi le con de ta mère…! Et mets pas la maing darrière parce-que je te chope le six-trente-cinq et t’y mangeras des coups quand-même…
Und achtzehn Monate Gefängnis reichen M’sieu Verlaine, um sich Gott an den Hals zu werfen. Dabei hatte er solchen Spaß mit Lizzy, oder hieß sie Lola, die wir im East End aufgegabelt hatten… „I’m such a pig when it comes to suckin’ dick, mate…“ Der Chinese am Hafen mit seinem teuren Opium, an dem noch der Kameldung pappte… Im British Museum ließen sie mich nicht die Werke von de Sade lesen, weil ich noch keine einundzwanzig war…
„Buy the ticket, take the ride“ – die Lebensphilosophie eines Zuhälters in Soho: Warum fällt mir das grade jetzt ein? Falsche Frage. Nicht ich erinnere mich an ihn, sondern er denkt mich. Etwas denkt mich doch immer, warum also nicht auch der tätowierte Shitbird aus der Gerrard Street.
Ich schreibe absichtlich so platte Briefe nach Hause. Mother und Isabelle verstehen ja das kaum. Charlestown. Mother. Ja, nur noch Englisch: Um ihren Pesthauch abzuwehren! Ihren Schadenzauber! Ihr Gift!
„La mother m’a mis là dans un triste trou.“
Brief an Ernest Delahaye, Mai 1873
Der holländische Zahlmeister in Batavia blättert mir einen unverschämt gekürzten Sold hin und sagt: „Bißchen wenig Kanaken gekillt die letzten Wochen, hm?“ Es geht ihm nicht um die Quote. Er nimmt es nur als Vorwand, um mir seine Verachtung auszudrücken. In Wien einen Kutscher ausgeraubt und mit dem Geld nach Rotterdam gefahren und in die niederländische Kolonialarmee eingetreten, um kostenlos nach Java zu kommen – was für eine Idee! Eine Weile war ich stationiert in Salatiga, dreißig Meilen südlich von Semarang, und dort bin ich desertiert.
Und warum ausgerechnet Larnaka, Zypern? Aufseher in einem Steinbruch! Ich glaube, ich bekam Fieber und schiffte mich nach Marseille ein, und dort stellt sich heraus: Typhus. Alles so sinnlos. Deshalb: Ich verlasse Europa. Mögen die Städte am Abend in Flammen aufgehen. Mein Ziel heißt Aden. Jemen. Ich werde wiederkommen mit Gliedern wie aus Messing, mit rauchgeschwärzter Haut, mit wutentbranntem Auge… Sie werden glauben, ich gehörte einer starken Rasse an. Ich werde Gold haben. Ich werde faul und brutal sein. Ich werde verenden wie ein Tier.
Deine Gedanken sind ein Alptraum, der dich auffrißt.
Kathy Acker
Und Hassan O’Leary, bei dem man das beste Haschisch rauchte, ließ in Aden eine geladene Pistole fallen, zerschoß sich die Eier, drückte sich Morphium in die Venen und legte sich zum Sterben ins Bett. Ein vorbildlicher Mensch, wie ich selten einen getroffen habe.
Alphonse Godillot! Gambier! Wolff-Pleyel! Menier, Leperdriel, Kinck, Jacob, Boubonnel! Veuillot! Troppman! Augier! Gill, Mendès, Manuel, Gonin – L’Hérissé! Cirages onctueux! Pains vieux! Aveugles!… Un noir angelot… De sang sale un lèger cloaque – how shall I put it: A shallow cesspool of dirty blood.
Léon Dierx! Jacques Austerlitz! Louis Ratisbonne! Armand Silvestre!… Sie alle werden irgendwann dieselben dreidimensionalen Koordonaten einnehmen und zu einem Klumpen Ektoplasma verschmelzen, den der hustende suchtkranke Portier am frühen Morgen hinausfegt in die Gosse.
Es wird einer kommen und ein Buch schreiben, das von nichts anderem handelt – vom Ekel, von der Lähmung, vom Haß auf die eigene Haut.
AUS BURGEN, ERBAUT AUS KNOCHEN, DRINGT NIE GEHÖRTE MUSIK…
Drum’n bass, Dubstep, Casio-Core, jungle, NewRave AcidGarage, Kitsune Disco-Punk, Gypsie-Ska, Anarcho ElektroPunk, Psy-Trance, Hiphop-Bullerengue, Mutilation Cumbia, G-Spot-Champeta, Delay-heavy Livedub-in-Surround, Choc Quib Currulao, ShitHouse HyperDub, Ferkakte Psychosis Funk, Moebius Clusterfock KrautReggae, Deadzone Breakbeat Lindy Hop, Balkan Emo TinPan Jerkoff, AcidBleep AlarmTango, Deathmetal Hardcore Hillbilly, Mestizo Muffdiver Mambo, Messianic ElectroTrash, Fuckblaster Mondo Cane, DeepHouse Datscha Hangar, DeathGrind Ambient Hula, Triphop Trash Tzigan, Rembetico Klezmer KillerKrach.
Der demente Chansonnier im Zimmer unter mir übt mit verstimmter Gitarre ein neues Lied: „ J’suis l’pornographe du phonographe…“ Eine Wohltat nach den Stunden und Stunden, wenn er wütet in seinem Wahn. Er kommt wohl aus Sête oder Perpignan…
Aber nichts ist so tödlich wie die Assitenzärzte hier, ausnahmslos im Wagner-Wahn. Zu dritt und viert kommen sie durch den Korridor und pfeifen den Ritt der Wälküre!
Von Michelet kann man etwas lernen, Maurice: Den Wert des freiwilligen Exils, den Sinn in der Zerstörung des Bestehenden, das gierige Interesse an Wissenschaft und Technik. Und daß die dumpfe Rasse der Gallier am Ende ist. Sie haben alles gehabt: Dombaumeister, Guillotine, eine Heilige als Heerführerin; Mittelalter, Absolutismus, Revolution. Nachdem sie sich verausgabt haben, bleiben nur noch Langeweile, Überalterung und gutes Essen.
Geheimnis und Gewalt. Die Eleganz, die Wissenschaft und der Wahnsinn.
Habe ich nicht im Frühjahr ’71 den Entwurf einer kommunistischen Verfassung geschrieben, für die Pariser Commune? Die nichts davon wissen wollte.
Am 22. Mai, als schon alles verloren war, kam ich an die Barrikade, die ein Bataillon Frauen vor der Place Blanche gebaut hatte. Aus einer dunklen Toreinfahrt trat eine dunkel gekleidete Gestalt, mit phrygischer Mütze, das Chassepot in der Hand, die Patronentasche an der Seite: „Halt, Bürger! Hier wird nicht flaniert! Verzieh dich!“
Mit Weibern kann man keine Revolution machen. Das muß erst noch begriffen werden.
„Nous étudions la possibilité de faire sauter Marseille.“
Johannes Weinrich an Carlos, 198311
Darf man noch ein kompliziertes Innenleben haben, wenn die Geschichte wahnsinnig wird?
Absinth! Dieser Stupor. Dieses schwarze Loch…
Aufruhr! Die Kaminfeger greifen zum Schwert! Chouf les femmes ach tay3jbhroum! Auf dem Boulevard Raspail! Unter den hängenden Gärten von Clamart! Auf dem Friedhof von Thiais… Vom Rond Point fährt jeden Donnerstag eine Postkutsche nach Wien. Sie braucht sechs Wochen. Niemand weiß, warum!
Mit Wundfieber auf der Landstraße von Brüssel nach Charlestown. Alles so aussichtslos.
„I spent the better part of my losing streak in the back of an Army Jeep (far’s I can remember)…“
Sheryl Crow, Leaving Las Vegas
Herbst ’73. Boulevard Edgar Quinet. Rue Campagne-Première. Impasse Enfer.
Deutsch gelernt. In Aube das deutsche Wort „Wasserfall“ verwendet. Also bitte.
Und Haschisch geraucht. Schon im Herbst ’71. Aber nichts als schwarze und weiße Monde gesehen – ein präzise verfehltes künstliches Paradies.
Kurpfuscher, die ganze Bagage hier! Kanaillen! Frommlerische Fotzen! Verlogene Schwarzröcke! Du warst dabei, Maurice, als sie mich amputiert haben: War es nicht rückständiger als im Dreißigjährigen Krieg? Ich kenne verdorbenste Stricher in Suez und Alexandria, die menschlich wertvoller sind. Das gilt auch für dich, Isabelle! Sieh dich an – verhärmt, verklemmt, verheult. Zurückgeblieben und bigott, zum Erbrechen…
Wie hoch ist der Ras Daschan im äthiopischen Hochland? Sag es mir! Warum weißt du es nicht? 4.533 Meter! Und wo sind die Felsenkirchen?… Hm, ich weiß es selbst nicht mehr… Lalibela?…
Die Kamele weigerten sich, das bittere Wasser zu trinken. Wir hielten ihnen die Nüstern zu. Es half nichts. Zwei Männer mußten ihnen das Maul aufstemmen, und ein dritter goß ihnen das Wasser in den Hals. Überall Kamele, die husteten und würgten, sich auf die Seite warfen und mit den gefesselten Beinen auskeilten…
Die Danakil-Wüste, mußt du wissen, liegt zwischen dem Hochland und dem Roten Meer, nördlich der Linie Addis Abeba – Dschibuti. Ein grausames Land mit einem grausamen Ruf. Das Ansehen eines Danakil richtet sich danach, wie viele Feinde er umgebracht oder verstümmelt hat. Um auf eine große Anzahl zu kommen, muß er nicht jeden umbringen. Aber der Schwanz des Gegners muß an seinem Gürtel baumeln.
Der Europäer hat Grund, beunruhigt zu sein, wenn er von Danakil angestarrt wird, die seinen Wert als Trophäe abschätzen.
Ich weiß, daß sie einen Haufen Schwachsinn über mich schreiben werden („Rimbaud devant Dieu!“ etc.) aber auch, einzig von Belang: „La carrière africaine d’Arthur Rimbaud“. Mindestens als Feature in der Zeitschrift zur Geschichte der französischen Kolonien. Mindestens! Ich bestehe darauf!
Warum habe ich mich mit dieser Schwuchtel Paul V. eingelassen. Der Suff erklärt es nicht. Wenn ich mir alles verzeihen wollte, was ich falsch gemacht habe, käme ich zu nichts anderem mehr.
„That fucking croaker in Panama bungled my ass.“
William Burroughs
In Filmen, höre ich, kann eine Träne auf der Leinwand so groß sein wie dieses Zimmer hier. Dabei wiegt die menschliche Standard-Träne grade mal 15 Milligramm. Sie werden Schlange stehen und Eintritt zahlen, um sich Illusionisten auszuliefern und ihren Alltag im Kopf hassen zu lernen.
Wenn man hinter Mézières, wo mir die preußische Artillerie einmal den Tag versaut hat, aus dem Wald kommt, an einem bleiernen windstillen Tag im August, ist die Landschaft ein schlechtes Ölgemälde. Das Korn ist grau, die Erntewagen sind zu groß, der See auf der anderen Seite des Tals sieht aus, als wäre er 15 Grad nach hinten oben gekippt. Mir graut vor defekten Landschaften, und Frankreich ist voll davon.
Man kann über Marseille nicht schreiben oder reden, ohne daß es ein Exkurs über den Dreck wird. Der Dreck, der alles mit einem grauen Belag von Endgültigkeit überglänzt, beherrscht das ganz Tun und Denken der Bevölkerung. Herr Virchow, als er vor ein paar Jahren in die Stadt kam, war hingerissen von den verwahrlosten Zuständen, welche die Ausbreitung einer Seuche wie Cholera so ungemein begünstigen. Marseille war eines seiner liebsten Studienobjekte in ganz Europa.
Die Stadt ist verdreckt, das Hospital ist verdreckt, und niemand kann verstehen, daß ich mich zurücksehne nach Afrika! Dort fegt eine Amah zweimal am Tag den Steinfußboden meines Hauses, die Tischdecke wird täglich gewaschen, die Bettwäsche zweimal die Woche. Das bekäme ich in Frankreich nur bei aufgeklärten Aristokraten geboten, und auch dort nicht grade oft.
Harar Arthur Rimbaud House Tour (YouTube)
„Rimbaud, in his modest house in Harar, has a Keeper of the Lightbulbs.“
(,The negro is turned on by electricity.‘ Marshall McLuhan, 1967)
Lord Byron. Der ist mit 37 gestorben, nicht? „His Lordship died at Missolonghi on the fifth of April…“
Schon als Kind hatte ich nur ein Lebensziel: Einmal ein WC nur für mich.
Ich mußte Tausende von Meilen durch die Welt reisen, bis ich mir endlich in Ostafrika eines bauen lassen konnte. Mit einem wuchtigen Vorhängeschloß, zu dem ich den Schlüssel an einer Lederschnur um den Hals trage – hier, das ist er.
Daß mir hier eine katholische Ordensschwester in vollem Ornat die Scheiße aus der Arschfalte putzen muß, ist unangenehm, aber für zehn Francs am Tag nur recht und billig.
Der Geisteskranke, der vor zwei Jahren die beiden Nonnen erschossen hat, mit einer alten verdreckten Pistole – eher riskiert er eine Ladehemmung, als daß er das Gerät auseinandernimmt und die Einzelteile mit einem weichen Tuch und etwas Waffenöl…
Man sollte ihm ein Denkmal errichten. Er verkörpert wahrscheinlich am reinsten die hiesige Mentalität.
Tod durch Knochenkrebs
Chiara Luce Badano, Paul Birch (American Football), Ron Burton, John Allan Cameron, Lucien Carr (Freund von Kerouac), John Cazale (The Deer Hunter), Alistair Cooke, Rama P. Coomaraswami, Simon Dee, Pietro di Donato, Cameron Duncan, Brian Gibson, Mel Gussow, Armand Hammer (Milliardär), Eddie Harris, Percy Heath (Modern Jazz Quartet), Richard Helms (CIA)…
Detlev von Liliencron hat in Straßburg seine Endlosballaden rezitiert. Eine handelt von einem Bahnhofsvorsteher, der mit Frachtbriefen unterm Arm über die Perrons hetzt. Würde er es wenigstens im Zickzack tun, aber nein… Was ist los mit dem Kollegen? Was ist los mit den Landsleuten, die Eintritt zahlen und stillsitzen für den Dreck?
Als in Harar die erste Lieferung von Hassan O’Leary2 eintraf, probierten wir es als Vorspeise: 2 Teelöffel Haschisch, pulverisiert und mit Puderzucker gemischt.
Nach einer Viertelstunde keine Wirkung. Wir essen zu Abend. Kamelfleisch mit gebackenen Rüben. Salat aus Zwiebeln, Bohnen, Tomaten, Knoblauch, Rettich. Brot, Butter, Käse.
7 Uhr 10: Ich friere. Puls 70. Obwohl eine Pfanne mit glühenden Kohlen vor mir steht. Ich lasse mir von Djami einige Datteln bringen.
7 Uhr 20: Puls 120 oder darüber. Der Boden schaukelt. Mir scheint, daß ich langsamer spreche und oft vergesse, wie der Satz angefangen hat.
7 Uhr 45: Hämmernder Herzschlag. Puls zu hoch zum Mitzählen. Djami zündet mir eine Nargile an. Ich rauche und fliege, obwohl ich mit den Händen fühle, daß ich liege. Ich habe den Eindruck, daß ich beim Schreiben dieser Zeilen Stunden zubringe.
8 Uhr. Mein Blut schlägt Wellen. Von meinem Körper fallen Teile ab.
8 Uhr 20. Ich sehe, als würde ich träumen, daß die Straßen der Stadt sich verlängert haben und mir fremd sind. Die Häuser sind unbegreiflich hoch. Ich bin vollkommen willenlos. Die Wand des Hauses gegenüber ist bunt tapeziert. Ich höre von ferne fremdartige Musik. Ich will mich hinlegen, aber ich liege schon. Bin ich verrückt geworden? Ich liege da wie gelähmt.
Ich möchte ewig so liegen; meine Schenkel so warm; die Haut prickelt. Das Licht brennt seit Stunden und ich kann es nicht ausblasen…
„The Pan-African Ruler owned a porno bookstore and keestered his neighbour’s goat.“
James Ellroy, Blood’s A Rover
Ich habe sie in allen Schattierungen kennengelernt: Die scheißfreundliche Scheiße, die tierdumpfe Scheiße, die organisiert brutale Scheiße und die angeblich geistig hochstehende Scheiße. Eine so tödlich wie die andere. Und die Prinzessin von der Pfalz sagte zu Voltaire, der in ihrem Badehaus in Schwetzingen ein Apartment für die Sommermonate hatte: „Und wasch er sich zweimal am Tag unter den Achselhöhlen, sonst kommt er mir nicht als Tischnachbar an die Tafel, der Herr Philosoph. Vu? D’ac?“
„Habe ein hübsches Zimmer in der rue Victor Cousin, an der Ecke geht’s auf die Place de la Sorbonne, aber es hat ganze drei Quadratmeter. Ich trinke die ganze Nacht Wasser und ersticke. Voilà.“
Brief an Delahaye, Juni 1872
Daß Zellen entarten, ohne Grund, als Strafe für nichts, und aus dem Nichts. (,Wenn Dinge zu lange gedacht werden, fallen sie ins Nichts.‘) Nie wird sich jemand auskennen in diesem Nichts. Man kann es in seiner Sinnlosigkeit nicht einmal hassen.
Jeff Wahl „Search of premises“, 2009, 192 x 263 cm.
Singend sind wir unter der hohen eisernen Fußgängerbrücke durch die Hafeneinfahrt hinausgesegelt aufs offene Meer, und sein Schwanz pumpte in meinem Arsch. Noch eine Woche danach roch meine Scheiße nach Fischöl. Jetzt schau nicht so pikiert, Isabelle, ich kann nichts dafür, daß du eine alte Jungfer bist.
Und trotzdem. In Aden habe ich mir im Lauf der Zeit fünf oder sechs junge Dunkelhäutige gehalten und mit Befriedigung festgestellt, daß mit einem a tergo von Paul Verlaine längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Also nichts gegen die Hafennutten von Aden, ihre legere Art, ihr Raffinement und ihren Fatalismus.
Und in Harar hatte ich ein Jahr lang eine abessinische Schönherit von sechzehn Jahren im Haus, die mir der Ras Tafari, Sohn des Gouverneurs, zum Geburtstag geschenkt hat. Man stellt sich dort den Europäer unwillkürlich als einen vor, der süchtig ist nach dem Temperament und den Reizen der Abessinierinnen. Nicht falsch gedacht. Ich bin der lebende Beweis. Aber wie lange noch.
„You began and ended in air.“
Marilyn Monroe, ,After one Year in Analysis‘
Wann wird der Körper zum Verräter der Willenskraft. Wir hätten es an dem Gefangenen aus dem Norden studieren können. Wenn wir gewollt hätten.
Am Ende des Verhörs war der Überläufer vollkommen entstellt. Er hatte keine Ohren mehr, keine Augen, keine Nase.
Sein Mund war ein roter blubbernder zermalmter Mollusk.
Die Fingerknöchel waren gesplittert, die Fingernägel ausgerissen.
Der Stuhl, auf dem er festgebunden war, stand in einer Blutlache.
,Insect on Chair‘, David Lynch, 2007
Natürlich wäre ich längst tot, wenn ich in Harar oder Addis geblieben wäre. Aber ich hätte noch gesehen, wie die Armeen während des Großen Aufstands zum Kampf aufbrechen, wie sie tagelang über die Ebene ziehen, mit flatternden Fahnen, die Häuptlinge mit ihrem Kopfputz aus Löwenmähne, jeder einen gewaltigen glitzernden Krummsäbel an der Seite.
Ich hätte das Klagegeheul gehört, als die Truppen des Ras beim Versuch, den Vormarsch des Negus aus dem Norden aufzuhalten, vernichtet wurden.
Und dann die Siegesfeiern, als weitere Stämme sich dem Negus entgegenwarfen und seine müde gekämpfte Armee auslöschten…
„Tagelang tobte die Masse der siegreichen Krieger, umweht vom Gestank nach Blut und Schweiß, unterm Donnern der Trommeln und den gellenden Stößen der Kriegshörner um den Palast des Ras“, hieß es in der poetischen Depesche, die der französische Gesandte nach Hause schickte.
Und ich hätte den Negus aus dem Norden gesehen, den einzigen, den man am Leben ließ, wie er in Ketten durch das Spalier der tanzenden Menge geführt wird, einen Stein auf der Schulter zum Zeichen der Unterwerfung – ein alter Mann in einem schlichten schwarzen Burnus, einen weißen Tuchfetzen um den Kopf…
„I did go to Addis to investigate the luggage cancer. The cancer had caused several airplane crashes by affecting the luggage in the hold.“
Jürgen Ploog, Flesh Film, 2010
Ich leide noch nicht genug. Ich bin noch nicht am Ende.
Wenn man in ,Modern Warfare 2‘ getroffen wird, hört man erst zing, dann flumb. Das Blickfeld wackelt, und an den Rändern tauchen Blutspritzer auf Man hört sich keuchen. Die Geräusche werden dumpf, der Controller vibriert, und man weiß, daß man nur noch einen Moment zu leben hat.
Wenn der Kopf am Boden aufschlägt, blendet der Bildschirm aus. Man hat ein Rauschen in den Ohren, gefolgt von einem Pfeifen wie bei einem Teekessel.
Zuletzt hört man, weit entfernt, die Stimme von McTavish: „Roach, such am nordöstlichen Ende der Landebahn.“
Ist dieser blutverschmierte Augenblick des Todes erreicht, wird man mit einem Zitat belohnt. Es sind Sätze von Einstein, Zora Neale Hurston, Voltaire, Bukowski oder Dick Cheney. Oder Grace Slick: „Life is a bitch, and then you die.“
Diese ewigen Störungen. Sie rauben mir die letzte Kraft. Hier kommen mir keine Schwarzröcke rein! Raus!! Bordel de merde! Und sorgen Sie dafür, M’sieu Belmont; daß endlich mein stinkender Verband gewechselt wird. Habt ihr hier keinen Geruchsinn?! Nein, ich will, daß das Fenster geschlossen bleibt! Und weg mit dieser Kuttenträgerin! Keine Eigenmächtigkeiten! Und her mit diesem neuen Schmerzmittel, wie heißt es noch, ich werde noch wahnsinnig! Für zehn Francs am Tag bin ich umgeben von Versagern und Scharlatanen, die man im Keller von Les Baumettes einlochen müßte, denn sie sind eine Geißel der Menschheit! Jeder stumpfnasige Curandero im Quellgebiet des Amazonas versteht mehr von der Heilkunst!…
„Wir haben im Haus für Privatpatienten einen Knochenkrebs im Endstadium, der sich aufführt wie ein Irrer. Kann man ihm nicht die Morphium-Dosis erhöhen?“
Dr. Antoine Trastoul; médecin en chef
Nein, ich esse jetzt nichts mehr. Von dem Morphium habe ich Verstopfung, das habe ich dir schon vor Tagen gesagt, Isabelle, soll ich das etwa mit Abführtee bekämpfen? Gib mir die Flasche Médoc da – nein, weg mit dem Glas, das fällt mir doch nur aus der Hand, ich trink ihn aus der Flasche, herrgottnochmal… Wenn ich dir nicht alles dreimal sagen müßte, wäre ich nicht so heiser…
A meeting, in Japan, between psychologist Robert Epstetn (drrobertepstein) and Repliee Q1, a beautiful android. And the first comment is from crispybacon100 (6 hours ago): I’D SCREW HER!
Ich kann den rechten Arm nicht mehr bewegen. Der Linke ist auch schon zur Hälfte gelähmt. Herzrasen. Schlaflosigkeit. Ekel.
Meine jüngste Schwester, von der ich lange nicht gesprochen habe, ist mir wieder so nah. Erschreckt von der grenzenlosen Langeweile des Kaffs kurz vor der belgischen Grenze hat sie eines Tages die Bäume an den Straßen gezählt. „Hundertelf Kastanienbäume auf der Allee, dreiundsechzig rings um den Bahnhofsplatz“, stand in ihrem kleinen Tagebuch. Da war ihr Leben in der Strafkolonie schon fast zu Ende. Sie konnte sich nur noch aufgeben.
„Vorgestern in Vouziers gewesen und den Preußen zugesehen. Ca m’a ragaillardi… Sollen sie doch die Ardennen besetzen und alle hemmungslos unterdrücken.“
Brief an Delahaye, Mai 1873
Ich sehe so schlecht. Das Reden fällt mir schwer. Mein Herz setzt aus, dann wird mir schwarz vor den Augen, und im nächsten Augenblick drückt mir mein eigener Gestank den Hals zu. Ich muß hier weg. Sagen Sie mir, wann das Schiff nach Suez ablegt. Ich bin völlig gelähmt, also müssen mich meine schwarzen Träger beizeiten an Bord bringen…
„Molloy, alt, verwirrt und mit einem, noch dazu gelähmten, Bein – liegt in einem Krankenzimmer und weiß nicht, wie er da hingekommen ist…“
Beckett, Inhaltsangabe von Molloy
Sogar die Staubwolken in den schrägen Strahlen der Sonne riechen gut, wenn am Abend die Herden zusammengetrieben werden. Und ich sehe sie wieder vor mir, meine Danakil, schlanke sehnige Gestalten, auf ihre Speere gestützt, in kurzen Lendentüchern, die langen schwarzen Haare mit Butter eingerieben… Ich höre die Spottlieder, die sie am Lagerfeuer singen, das Geheul der Schakale und Hyänen in der Nacht, das Brüllen der Kamele, die am kalten Morgen beladen werden. Ich schmecke das Salz auf meinem verschwitzten Unterarm, und ich schmecke die Kamelpisse im Wasser der Tränke, die unsere Rettung ist nach neun Tagen in der Leere der Wüste.
Der Ras Makonen in Harar läßt mir durch die Messageries Maritimes eine Nachricht zukommen: Er wünscht mir baldige Genesung und versichert mir, daß ich einer seiner angenehmsten und zuverlässigsten Geschäftspartner bin. Er weiß nicht, daß ich morgen sterbe.
10. November 1892, kurz vor 10 Uhr
Das angetrocknete Blut
Raucht auf meinem Gesicht.
Carl Weissner, aus Carl Weissner: Aufzeichnungen über Außenseiter. Essays und Reportagen. Herausgegeben von Matthias Penzel, Verlag Andreas Reiffer, 2020
Peter Gan: „Die Affaire Rimbaud“, Merkur, Heft 26, April 1950
Karl August Horst: Der Mythus um Rimbaud, Merkur, Heft 94, Dezember 1955
Maurice Choury: Rimbaud – Der erleuchtete Kommunarde, Sinn und Form, Heft 4, 1971
Hans-Thies Lehmann: Die Sprache neu (er)finden. Anmerkungen zum Thema Arthur Rimbaud, Merkur, Heft 399, August 1981
EIN PSEUDOROMAN ÜBER DAS LEBEN VON ARTHUR RIMBAUD3
Buch 1
Kapitel I
Das Büro für unzustellbare Briefe
„Die Tür kannst du nicht schließen, da sie sich in der Zukunft befindet.“ Das stellte die französische Geschichtsschreibung fest, als sie in Charlieville zur Welt kam. Es war vor dem Bürgerkrieg und ich nehme an, dass damals noch nicht einmal James Buchanan4 Präsident war.
In jedem französischen Dorf oder jeder Kleinstadt oder jeder Metropole von der Größe von Paris gab es seinerzeit ein Büro für unzustellbare Briefe. Dieses Büro gibt es noch immer. Rimbaud wurde in der Poststelle von Charlieville geboren. Er war ein dickes Kind.
Apollinaire pflegte Golf zu spielen, während andere Leute mit Maschinengewehren herumballerten. Riesige Schmetterlinge taten ihr Bestes, um ihn von den liberalen Hirntoten zu befreien. Rimbaud aber krabbelte auf die Buchseite, die ihn über seine Neffen erheben sollte.
Nun war’s in der Welt.
Buch 1
Kapitel II
Der Bürokrat für unzustellbare Briefe
Herr Stille-Wasser-gründen-nicht-den-nächstgelegenen-Ausgang-Nehmen war ein Bürokrat der französischen Regierung. Seine noms des ailes lauteten Izzard,5 Cixambert und David-das-Schwein. Er hatte sich in die französische Regierung aufnehmen lassen, als er noch sehr jung war und ihm der Gedanke schmeichelte, er könnte ihr angehören, während Geschichte geschrieben wird.
Er registrierte Rimbaud bei der Volkszählung – und auch Schmetterlinge-die-von-Schimmel-befallen-Sind, Gedanken-dieser-Generation, Augenlider-von-Personen-die-keine-Personen-mögen-welche-die-Volkszählung-Durchführen sowie Gott. Er war ein Liberaler.
Ich meine, solange dies ein Roman ist, solange bleibt Herr Stille-Wassergründen-nicht-den-nächstgelegenen-Ausgang-Nehmen ein Liberaler. Nicht Gott.
Rimbaud war weder Gott noch ein Liberaler. Er wurde in zeitlicher Nähe der Regierung von Präsident Buchanan geboren.
Buch 1
Kapitel III
Was in den unzustellbaren Briefen stand
„Lieber X,
aaaich liebe dich mehr als irgendwer,
aaaaaagezeichnet
aaaaaaY.“
… „… Ja, Virginia, da gibt es eine Poststelle.“
… „… Ich werde mich jetzt nach Hause begeben und Rosenblätter verspeisen.“
… „… Das hat sich alles lange abgezeichnet, nun bleibt dir nichts mehr zu tun übrig.“
„Liebster Y,“
Jack Spicer
Übersetzung: Stefan Ripplinger
Rob Kiefer: Schwul, wild und genial
I
Ruf, Anrufung Rimbauds.
II
Beschwörung der Zeit. Versinken der Materie.
Ein Schiff lichtet den Anker in der Unordnung und der Finsternis. Das Schiff dringt ein in die Materie und den freien Raum. Riffe, Wracks. Stephane der Lotse (Licht), Paul der Matrose, Arthur der Schiffsjunge.
Gekommen von der Taube des Geistes. (Die Taube selbst war die reine Idee.)
Mitten im Wortschwall erstrahlen Symbole.
Unterschiedliche Definitionen des Symbols. Kurze Litanei des Symbols. Symbol: Zeichen des Unendlichen, Profil eines neuen Gottes.
Sie sind die Embleme der Zukunft.
III
Auf einer goldenen Insel eine Krippe, zu der ein Stern führt.
Nun steigen sie aus: drei Magier und Könige.7
Sie gehen zur neuen Schönheit.
In diesem Augenblick hat sie das Licht der Welt erblickt, denn sie haben es gewollt, aus dem Sexus des Geistes.
Sie war die Tochter der Dreifaltigkeit.
Sie waren das Licht selbst, das in ihnen herangewachsen war.
Mallarmé trug das Geheimnis, Verlaine die Liebe, Rimbaud die Einbildungskraft.
_____________________________________
Am Rand:
Menschensturm
Taube.
Goldene Insel der Neuen Schönheit.
Die 3 Könige.
Sie haben gelebt, geherrscht. Du, du hast
nicht die Krone, das Zepter.
Wir bringen es dir.
IV
Da dies rein und herrlich war, bezichtigte man die Drei aller Verbrechen der Erde.
Erstens der Dummheit, den Narren.
Zweitens der Trunkenheit, den Heloten.
Drittens des Lasters, den Jungen.
Als Gegenstücke der Tugenden gibt es die Laster.
Orgien, Kanaillen.
Man hat nur dies gesehen, um jenes nicht zu sehen.
Man hat nur den Abartigen gesehen, das war der Geist.
Die beiden anderen zelebrieren, du, du herrschst.
Sie haben die ganze Glorie, wir schulden dir die deinige.
Ende.
Verteidigung Rimbauds, Mist die Blume.
Einbildungskraft-Flugbahn-Punkt des Sturzes es gibt das Meisterwerk
_____________________________________
Am Rand:
Man hat die beiden ersten geweiht.
Mallarmé… Perfektion. Er herrscht.
Aber du, der du nicht gelebt hast,
du hast nicht geherrscht,
du bleibst der Junge, du hast kein
Recht auf das Zepter. Hier ist es!
… Die Greise bringen es dir.
Du bist König.
O dich der Sünde zu bezichtigen. Geh, du warst nur, bei Verlaine, du warst nur eine Magdalena, die ein Mann sein würde.
Was er liebte; der Faun der Ardennen,8 war die unbeschreibliche Nymphe deiner Seele, die vor den Augen Verlaines einherging, wie im Leben Jesu eine Magdalena einhergehen würde, und man richtet die Genies nicht, es sei denn vor dem Tribunal des Unendlichen.
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Am Rand:
Sünden der
Götter.
(Um den Gerüchten um Verlaine – Rimbaud ein Ende zu machen.)
O Verlaine und Rimbaud, wir vereinigen euch fromm mit der Weisheit des reinen Mallarmé in diesem Azur9 der Glorie, wo lebendige Flügel den Platz eurer toten Beine eingenommen haben.
Um das Laster zu entschuldigen: alle Schätze der Pharaonen entstammen dem fruchtbaren Schlamm des Nils, so wie die jahrtausendealten Liebkosungen Jesu seither nichts weiter sind als die nie versiegenden Dividenden des Kusses, der zu seiner Zeit kaum 30 Silberlinge einbrachte.
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Am Rand:
Und wir kommen hin zu dir,
denn du wurdest am meisten verspottet,
um dich im heiligen Wasser
unserer Tränen reinzuwaschen.
Bestehen auf:
l. Symbol.
2. Eingeborene Wörter. Reine Idee.
3. Prähistorie Posthistorie. Die Idee die von der Prähistorie zur Posthistorie geht, die Idee, die von der Historie und ihren Untertönen, ihren Regeln, ihren Sprüngen und ihren Unordnungen verformt wurde.
Rimbaud ist im ersten Gesetz, dem ursprünglichen.
4. Das Genie entmenscht sich, um zu vergotten, so wie es sich entnaturiert, um seine Flora, seine Fauna und seine Art zu schaffen.
Laster hier, Tugend da, solcherart ist das Genie im Orkan der Jahrhunderte.
Mallarmé, Verlaine sind auf den Altären, nachdem ihre Probezeit beendet ist. Rimbaud, er ist immer noch der Vagabund, er wartet darauf, der dritte Gott zu sein. Öffnen wir den Tempel
Panisches Phänomen, Rimbaud ist ein panischer Geist.
Die Liebesbriefe (die Liebesliteratur) sind eine Art von Masturbation.
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Am Rand:
um
dieses Laster
zu verteidigen.
Naturalismus. Man wurde von den Formen und den Körpern überschwemmt. Damals befand man sich auf einem Schiff, dem der Seelen. Die Ära des Geistes. Die Taube selbst ist eine reine Idee. Weihnachten: neue Schönheit. Die Hoffnung leuchtet wie ein Strohhalm im Stall.10
Jenseits des alten Globus, beehrtest du die junge Morgenröte.
Mallarmé war die Intelligenz, Verlaine der Instinkt, Rimbaud die Einbildungskraft (Flugbahn…).
Andere haben Säulen von Büchern errichtet, die kein Gebälk tragen werden, kein Dach, keinen Gott. Dies erhebt sich im Wind wie tote Stümpfe, die keinerlei Schatten spenden, schon gar keine Früchte. Sie haben viel geschrieben, aber alles ist ausgelöscht. Wenn sie noch lebten, fänden sie, dass sie noch nicht genug geschrieben haben, und ihre Zukunft wäre ein weiteres ehemals, denn die Zukunft verläuft für sie stets im Rückstand.
Du, du hast nur einige Seiten eingefasst, aber deine Tinte war aus Licht, und wie der Strahl entsprang deine Feder der Sonne. Du hast vielleicht nur das gesagt, was zu sagen war, so gut, dass alle Welt sich ihrerseits anschickt, es nochmals zu sagen.
Unsere zeitweilige Unwissenheit genügt es, nur ein Wort zu hören, damit unsere Seele von der all der Wissenschaft geheilt werde… von all unseren Leiden. Nicht die verbrauchten Wörter waren die deinigen, deine Wörter waren nicht die toten Insekten in den uralten Vitrinen, du schriebst mit Blumen, Früchten, Gebärden, Düften, du bandest Bildersträuße. Du schufst die Wörter nackt. Nackt die Wörter, das WORT, wie zu Anbeginn schwammst du in der Morgenröte.
Ihr kamt, drei Könige und Magier, die Arme voll von Bildern. Mallarmé trug die Intelligenz, Verlaine den Instinkt, Rimbaud den Enthusiasmus. Die 3 Könige der Schönheit, sie gingen durch die Menge wie drei Narren und das Zepter in ihrer Faust glich einem Narrenstab.
Ihr wart nicht die Könige toter Städte, aus denen ihr den angehäuften Sand entfernt.
Nein, die neue Stadt entstieg euren Begierden und eurem Gehirn zu den Göttern.
Man kommt, um dich zu weihen. Man hat Verlaine und Mallarmé geweiht. Sie sind schon durch die Ewigkeit, wie in sich selbst, verwandelt. Dich sehen wir immer noch beschmutzt, entehrt. Doch wir wollen dich rein wie eine eingeborene Freude und deine jungfräuliche Natur. Verschüttete Greise, die Kinder waren, als du sie mit deinem Glanz geblendet hast.
Du gingst einher wie ein Narr, sagt man, nein, du gingst einher wie ein Sämann der Gleichnisse.
Die Einbildungskraft ist nur die Flugbahn des Genies: Im Augenblick des Sturzes entsteht das Meisterwerk.
RIMBAUD JONGLIERTE MIT DEN GESTIRNEN.
Es ist Zeit, dass man dich als einen Gott des Geschicks, als einen Riesen des Absoluten sieht und NICHT als einen Halunken der Unsterblichkeit.
***
Nein, es gilt nicht, Bücher aufeinanderzustapeln, es gilt, das Samenkorn zu bringen, es gilt das Wort von seinem jahrtausendealten Schmutz reinzuwaschen und es ganz neu darzubieten.
Das eingeborene Wort im Sumpf der Welt und im Schlamm der Geschichte wiederzufinden.
Du brichst auf aus dem Urschlamm, dem Mist, um zu den Ähren, zur Blume hinaufzusteigen.
Du brichst auf aus dem Wahnsinn, um zur Weisheit zu gelangen.
Du stiegst hinauf bis zum Instinkt…
Du stiegst hinauf durch die Rohre der Jahrhunderte und findest dich wieder vor Gott im Ursprung (im Anbeginn) der ersten Morgenröte.
Und dort nimmst du als Spielzeug die Wörter, die geboren werden. Du gabst dem Taumel einen Halt.
Der Prophet ist ein Narr, der sich in den Azur verkrallt und der mit der Sonne spielt.
Halunke Gottes, Priester der Menschen, Papst des Menschen.
Dann tauchst du hinab in die Hölle, die doch vollständig illuminiert.11
Du brachtest ein Klima, mehr als einen Schauder, mehr als eine rote Weste12 und mehr als einen Totschläger,13 du brachtest alle Strahlen, alle Düfte…
Und du kommst gekrönt mit fünfzig Diamanten14 (Rubinen).
Könige Magier
Zurück aus Abessinien15 kommt Melchior, um sich krönen zu lassen.
Königin von Saba und der König des Sabbats. Ardennen.
Transmutationen
Rimbaud Kaleidoskop
Atomkerne
Rimbaud ist ein Rosenkranz aus brüsken Sprüngen. Er entwickelt sich nicht, er mutiert.
Verlaine entwickelt sich, Rimbaud mutiert.
Sie sind die zwei Verfluchten eines unbekannten Himmels.
Rimbaud sagt: „Ich habe allein den Schlüssel zu dieser wilden Parade.“16
(Parade.)
Rimbaud, das ist Orpheus, der die Hölle getrunken hat (die Vokale17 sind die Saiten seiner Lyra).
***
Auf Knien schleudern wir den keltischen Schrei: Arthur ist nicht tot! Er ist in uns.
Spermatozoen auf der Brust der Schönheit, und wir sind wimmernd gekommen zum Nachgeburts-Faktum der Bücher aus deinem Blut.
Du warst der Thronerbe der Schönheit, der großen Sonne.
Es gibt eine Heilige, die heilig war, weil sie sich prostituiert hatte.
Im Grunde bist du nur eine Magdalena in Gestalt eines Mannes.
Aus all deinen Fehlern haben wir Vorzüge gemacht, beziehungsweise aus all deinen Lastern Tugenden und aus der Kohle den Diamanten.
Geh, du bist nicht mehr der Verfluchte. Deine Rasse ist so groß wie ein Königreich, und der Azur des Sieges ist auf die ewigen Flammen gefolgt.
Du warst eine Gebärde und du warst nur ein Schrei. Nachdem du gehandelt, nachdem du geschrien hast, machtest du dich davon, damit wir mit deinem Mist / unleserlich18 / die Blumen der Göttlichkeit.
Kind, Meister, der sich – unter der vergangenen Last unsrer künftigen Sünden – auf und davon machte, hin zur Wüste über das trunkene19 Meer unter einem Himmel-aus-Vokalen, großes männliches Tier mit goldenen Hörnern, sei gesegnet mit dem Duft aus Fiebern und Schwefel, der aus dem Abgrund deiner Lippen steigt, wo deine Bücher wallen zu unseren Ziegenseelen, die dich wieder leben lassen.
Das Laster eines jeden von uns ist im Grunde nur die Tugend der anderen. Es ist der Glaube der Apostel, der die Religion der Götter macht.
Die Sünde ist der Mist, der die Lilie auf den Altären sprießen lässt. Welche Heilige bot sich den Matrosen an, um das Schiff vor dem Hai der Fluten zu retten? Es ist euer Schock, mit Verlaine, der die Feuersbrunst entfachte, um sie besser löschen zu können. Auf den Wegen Galiläas ist er davongegangen, und du warst im Grunde nur eine Magdalena in Gestalt eines Mannes. In Wahrheit, ich sage es euch, seid ihr beide nur in die Hölle der Verfluchten hinabgestiegen, um daraus ein Paradies zu machen.
Wir leben am Rande der Ewigkeit.
Wir werden in sie eingehen.
Man wird sich entharmonisieren, um göttlich zu werden oder, wenn ihr wollt, um sich zu entuniversalisieren. Jedes Wesen ist eine Parzelle des Ganzen.
Man wird eingehen in das große Unendliche, das Universum, die Ewigkeit, durch die große Tür des kleinen Unendlichen, des Atoms. Dann werden die Elemente in allen Welten gleich sein, es wird eine Transmutation durch die Explosion der göttlichen Kerne geben.
Saint-Pol-Roux, aus Saint-Pol-Rpoux: Rimbaud jonglierte mit den Gestirnen. Texte über Victor Hugo, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, ausgewählt und aus dem Französischen übersetzt von Joachim Schultz, Moloko Print, 2023
GRAB RIMBAUDS
Er ist der Gestorbene. Was bleibt
in seinem Gedächtnis, das Salz
aus dem Wind, die weggeholte
Blume, rechtzeitig da,
wenn er die Tränen prüft, den toten Ruß,
der schwer und ausgekühlt das Gras aufweht
wie früher; und keine Hände,
gefaltet ins Porzellan, so still
der Boden schwer und hart
für alle Zeit ins Offne
brach
Frans Budé
Übersetzung Gregor Laschen
RIMBAUDS GRAB
Er ist ein Gestorbener. Was bleibt
in seinem Gedächtnis, das Salzige
des Windes, die abgepflückte
Blume, die da ist zur rechten Zeit.
Wenn er Tränen schmeckt, die toten Krumen
die rauh und kühl das Gras aufstören
wie früher als so still
noch nicht unter Händen aus Porzellan
die Erde schwer und dunkel
sich für alle Zeit offen-
barte
Frans Budé
Übersetzung Ursula Krechel
RIMBAUDS GRAB
Er ist ein Gelebter. Was bleibt in
seinem Gedächtnis, das Salz
in Winden, die fortgetragene
Blume, beizeiten anwesend
Wenn er Tränen schmeckte, toten Staub,
der schwerlastend kühl das Gras bauscht
wie ehdem als leis
unter bald schon Porzellanhänden
der Boden sich schwer und hart
für immer ins Offne
brach
Frans Budé
Übersetzung Johann P. Tammen
la deutsche vita + max goldt – le cœur volé
a.: Arthur Rimbaud
Die Tat, 11.11.1941
Hansres Jacobi: Arthur Rimbaud – ein Leben der Revolte
Die Tat, 23.10.1954
Rüdiger Görner: Die Schwarzkunst der Worte
Die Furche, 14.10.2004
Arthur Rimbaud – Diashow mit Bildern aus seinem Leben, Zeitdokumenten von Charleville, Paris, London und viele von Rimbaud selbst gemachte Fotografien von Adens und Harrar. Dazu handschriftliche Manuskripte von Rimbaud, Zeichnungen von Delahaye und Freunden.
Von Joan Baez gelesene Gedichte wurden mit Musik unterlegt, im Bestreben, ein Bild von Rimbauds Leben, seinen Freunden und Plätzen zusammenzusetzen, das er wiedererkannt hätte.
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